PRAXIS Bilder: Gasser Fassadentechnik AG PRAXIS B Totalsanierung MFH Energie verpuffen war gestern Das Tessiner Wohngebäude aus 1960er-Jahren war eine Bausünde. Dank einer umfassenden Sanierung und einer ausgeklügelten Fassade mit Dünnfilm- und Hochleistungs-Photovoltaikmodulen hat es sich zum energetischen Vorzeigeprojekt gewandelt. ei Altbausanierungen gilt es, die Gebäudehülle prioritär zu behandeln. Mit einer umfassenden und fachmännischen Planung kann eine Fassade zum optischen Aushängeschild und energetischen Kraftwerk werden. Ein Beispiel einer Komplettsanierung aus Chiasso zeigt den Wandel: Das Quartier südlich des Rangierbahnhofs ist geprägt von bis zu achtgeschossigen Wohngebäuden aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Dort befindet sich auch das Gebäude an der Via ai Crotti 1, welches 1965 mit einer Tragstruktur aus Beton erstellt wurde. Die Gebäudestruktur besteht aus tragenden Betonstützen und nichttragenden Wänden aus Backstein sowie einer völlig ungedämmten Fassadenkonstruktion. Das Gebäude verfügte bis vor der Sanierung über 14 3½-Zimmer-Wohnungen und fünf 4½-Zimmer-Wohnungen verteilt auf acht Etagen sowie einer Ladenfläche im Erdgeschoss. Seit der Erstellung vor 49 Jahren sind nur die nötigsten Unterhaltsarbeiten getätigt worden. Insbesondere die Fenster und Balkone waren baufällig, die Dämmung miserabel oder gar fehlend, die Haustechnik völlig veraltert. Und auch die technischen Installationen waren wie der gesamte Bau desolat. Kein Wunder, dass sich für das Gebäude – obwohl bis 1996 noch voll vermietet – immer weniger Mieter finden liessen. Im Juni 2012 waren nur noch sieben Wohnungen bewohnt. Dennoch mussten für die Beheizung jährlich rund 32 000 Liter Heizöl aufgewendet werden und für die Allgemeinbeleuchtung (Strom allgemein, Beleuchtung, Tore, Lift und so weiter) rund 13 000 Kilowattstunden Elektrizität. Das Gebäude galt als völlig unwirtschaftlich, war in keiner Weise zeit- gemäss. FAKTEN Totalsanierung statt Abriss ■■ Objekt: MFH, Via ai Crotti 1, Chiasso Obwohl der marode Bau eigentlich nach einem Abbruch verlangte, wurden verschiedene Sanierungskonzepte ausgearbeitet. Da das Gebäude nicht mehr der geltenden Bauordnung entsprach, hätte bei einem Ersatzbau die heute bestehende Bruttogeschossfläche nicht mehr erhalten werden können. Letztlich hat sich die Bauherrschaft um den Solarpionier Josias F. Gasser mit seiner Churer Gasser Baumaterialien AG Ende 2011 entschieden, das Gebäude gemäss Passivhausstandard zu sanieren. Dieser entspricht dem schweizerischen Minergie-P-Label. Im Frühling 2012 erfolgte die Baufreigabe für die Sanierung. Anfangs Juni konnte mit den Bauarbeiten begonnen werden. Im Hinblick auf das Erreichen des angestrebten Minergie-P-Labels und der Suche nach einer geeigneten Fassadenverkleidung wurden verschiedene Lösungen entwickelt und analysiert. Auf Grund der schwierigen Situation hinsichtlich Beschattung wurde der Einsatz von monokristallinen Photovoltaikelementen, also von Modulen mit hohem Wirkungsgrad, verworfen. Ertrag und Investitionskosten hätten bei dieser Variante in keinem Verhältnis gestanden. Da eine hinterlüftete Fassade bereits budgetiert war, fiel der Entscheid auf Photovoltaik-Dünnfilmmodule, einer den Verhältnissen angepassten Lösung sowie einem preislich konkurrenzfähigen Produkt zur ursprünglich vorgesehenen Keramikverkleidung. Vier Monate nach Beginn der Sanierung änderte die Bauherrschaft die Zielvorgabe vom Passivhausstandard zum Plusenergiegebäude, was ■■ Baujahr: 1965 ■■ Anzahl Wohnungen: 7 3½-ZimmerWohnungen, 7 2½-Zimmer-Wohnungen und 5 4½-Zimmer-Wohnungen ■■ Ladenfläche: 100 Quadratmeter im Erdgeschoss ■■ Anzahl Geschosse: 8 Obergeschosse und 1 Untergeschoss ■■ Energiebezugsfläche: 1755 Quadratmeter ■■ Kosten für die Gesamtsanierung: 6,6 Millionen Franken, davon 1,3 Millionen für die Fassade zur Folge hatte, dass neben den Fassaden zusätzlich sämtliche verfügbaren Flächen mit Hochleistungsmodulen belegt werden mussten. Heute bietet die gesamte Fassade eine Energiebezugsfläche von 1755 Quadratmetern. Fassade im Fokus Um den Passivhausstandard (Minergie-P) zu erreichen, ist eine massive Reduktion des Wärmeverlustes über die Gebäudehülle nötig; die ungedämmte Fassadenkonstruktion des bestehenden Gebäudes wurde deshalb mit einer hinterlüfteten Aussenwärmedämmung von 280 Millimetern Steinwolle versehen. Den Wetterschutz gewährleisten die Photovoltaik-Dünnfilmmodule. Im Sockelbereich und für die Aussenwände im Bereich Von Gerald Brandstätter* Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende 2 baublatt Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende LegendeLegende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Nr. 35, Freitag, 29. August 2014 Nr. 35, Freitag, 29. August 2014 Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende baublatt 3 PRAXIS PRAXIS insbesondere für die Belüftung mehrgeschossiger Passivhäuser oder passivhausnaher Gebäude entwickelt. Die Heizung wird unabhängig von der Lüftung über ein anderes System abgedeckt. Für die erforderliche Frostfreihaltung der Aussenluft können ein Solekreis oder das konventionelle Heizsystem genutzt werden. Optional kann auch Wärme über die Zuluft in die Wohneinheiten eingebracht werden. Energieüberschuss Nach der Sanierung kann sich das Gebäude und dessen Energiebilanz sehen lassen. Die Fassade mit den Photovoltaik-Dünnfilmmodulen zur Erzeugung von elektrischem Strom aus Sonnenlicht verleiht dem Bau einen futuristisch schimmern- den Look. Insgesamt wurden 651 Quadratmeter Dünnfilmmodule an der Fassade und 176 Quadratmeter Hochleistungs-Photovoltaikmodule auf dem Dach installiert. Heute produziert das Gebäude 66 324 Kilowattstunden Elektrizität pro Jahr. Das entspricht einem Selbstversorgungsgrad von 108 Prozent oder einem beachtlichen Überschuss von 4846 Kilowattstunden pro Jahr. Durch die vollflächig vorgehängte neuartige Photovoltaikfassade und der umfassenden Sanierung konnte am 50 Jahre alten, maroden Gebäude ein energetisches Exempel statuiert werden. Die Kosten für die gesamte Sanierung beliefen sich auf 6,6 Millionen Franken, wobei für die neuartige Fassade rund 20 Prozent davon investiert werden musste. NACHGEFRAGT Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende LegendeLegende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende Legende der Balkone wurde eine Kompaktfassade angebracht. Die mit der Fassaden- und Ausführungsplanung beauftragte Gasser Fassadentechnik AG entwickelte eigens für dieses Projekt ein neuartiges Aufhängemontagesystem. Dieses ist mitt- BETEILIGTE ■■ Bauherrschaft: Gasser Baumaterialien AG, Chur ■■ Architektur/Bauleitung: TUOR Baumanagement AG, Bad Ragaz ■■ Passivhausplanung: Gasser Gebäude AG, Chur TUOR Baumanagement AG, Bad Ragaz ■■ Haustechnikplanung: HT-Plan AG, Chur ■■ Fassaden- und Ausführungsplanung, Entwicklung Aufgängemontagesystem: Gasser Fassadentechnik AG, St.Gallen ■■ Fassadenverleger: Burkhardt Gebäudehüllen AG, Maienfeld 4 baublatt lerweile als Serienprodukt unter dem Namen «Thermico horizontal Unterkonstruktion» auch für andere Bauprojekte erhältlich. «Die Fassade und deren Unterkonstruktion bilden den Grundpfeiler für das heutige Plusenergiegebäude. Der Planungs- und Entwicklungsaufwand war beträchtlich. Doch die neu entwickelte Unterkonstruktion und die gewonnenen Erkenntisse bei der Fassadenplanung können nun bei Nachfolgeprojekten ebenfalls eingesetzt werden», erklärt Iwan Thür, Geschäftsführer der Gasser Fassadentechnik AG. Die hinterlüftete Fassade beim Projekt «Via ai Crotti» ist heute dank der neu entwickelten Unterkonstruktion und dem Aufbausystem «BWM ATK 102-GH / GA» komplett wärmebrückenfrei und erreicht einen U-Wert von 0.12 W/m²K . Die bestehenden, stark sanierungsbedürftigen Fenster wurden durch Holzfenster mit 3-fach Isolierverglasung (Ug = 0.50 W/m²K) ersetzt. Die bestehende 100 Millimeter starke Wärmedämmung des Flachdachs wurde belassen und durch 300 Millimeter expandierten PolystyrolHartschaum ergänzt, wodurch das sanierte Flachdach heute einen U-Wert von 0.076 W/m²K aufweist. Auf dem Dach wurden zudem Hochleistungs-Photovoltaikmodule installiert. Um Wärmebrücken zu eliminieren, wurden der Dachrand und die westlichen Balkone überdämmt. Die Balkone im Osten wurden abgerissen und durch neue, vorgestellte Konstruktionen ersetzt. Sanierung auch im Innern Um die Wohnung auf den heutigen Ausbaustandard zu bringen, mussten einige Korrekturen beim Innenausbau vorgenommen werden. So wandelte man zugunsten grösserer Nasszellen sieben südliche 3½-Zimmer-Wohnungen in 2½-ZimmerWohnungen um. Sämtliche Nasszellen und Küchen sind ersetzt worden, ebenso alle Oberflächen an Wände, Decken und Böden. Abgesehen von der Heizungsverteilung sind sämtliche Verteilleitungen (Wasser, Strom, Telefon, Fernsehen) ausgewechselt worden. Folglich mussten neue Steigzonen für die Komfortlüftung geschaffen werden. Kernstück der neuen Haustechnik ist der Kombispeicher mit einem Volumen von 4000 Litern (davon 750 Liter Warmwasserboiler). Die Heizverteilung und die gesamte Warmwasserversorgung werden vom Speicher gespiesen. Dieser wird von einer thermischen Solaranlage IQ-Solar und einer Luftwasserwärmepumpe beladen. Die semizentralen Lüftungssysteme wurden Nr. 35, Freitag, 29. August 2014 Das Gebäude wurde mit 280 Millimetern Steinwolle eingepackt. Was hatte das für Folgen für die Unterkonstruktion der Photovoltaik-Module? Die Unterkonstruktion bleibt an sich dieselbe, wie bei anderen Verkleidungsmaterialien. Beim Projekt in Chiasso wurde die wärmebrücken- Nr. 35, Freitag, 29. August 2014 *Gerald Brandstätter ist Fachjournalist BR und Mitinhaber der Conzept-B GmbH in Zürich. … BEI CHRISTIAN VON BALLMOOS Das Gebäude aus den 1960er Jahren war vor der Sanierung eine Bausünde: Welches waren die massivsten Eingriffe in die alte Baustruktur, um den Bau zeitgemäss zu machen? Der massivste Eingriff war der Abbruch der östlichen Balkone und deren Ersatz durch eine vorgestellte Konstruktion. Zudem waren die Steigzonen für den Einbau der Lüftungsanlage zu klein. Dadurch musste im Erschliessungsbereich des Treppenhauses zusätzlicher Raum für Leitungen geschaffen werden. Die Fassade gilt als Schlüsselelement zum Erreichen des Passivhausstandards: Wie ist man diesbezüglich bei der Planung vorgegangen? Ursprüngliches Ziel war, das sanierungsbedürftige Gebäude zu einem Passivhaus beziehungsweise Minergie-P-Gebäude umzuwandeln. Dabei war von Anfang an eine hinterlüftete Fassadenkonstruktion mit einem U-Wert von 0.12 W/ m²K vorgesehen. Um den Passivhausstandard für Neubauten zu erreichen, musste die gesamte Gebäudehülle energetisch optimiert werden. Die Schwierigkeit war dabei, die unvermeidbaren Wärmebrücken und die aus konstruktiven Gründen nicht dämmbaren Bauteile zu kompensieren. Mit diesem Leuchtturmprojekt haben der Bauherr und die ausführenden Unternehmen bewiesen, dass eine umfassende und fachmännische Sanierung, die insbesondere dank einer ausgeklügelten Fassade mit Photovoltaikmodulen einer Verdichtung nahekommt, nachhaltig und sogar wirtschaftlich sein kann. Oder wie es der Fassadenspezialist Iwan Thür umschreibt: «Die Fassade ist zum Generator geworden; wo früher Energie verpufft wurde, erzielen wir heute einen eindrücklichen Stromüberschuss. Zudem hat das Gebäude ein Gesicht erhalten, dass zeitgemäss wirkt und für die Zukunft gerüstet ist». n len anstelle der Dünnfilmmodule ausgerüstet. Zudem haben wir alle Dachflächen auf der Garage und dem Hauptdach mit Sunpower-Modulen belegt. Zusätzlich ist die Dachterrasse im fünften Obergeschoss mit einer Pergola zur Beschattung ausgerüstet worden. Darauf sind ebenfalls Sunpower-Module installiert worden. Zu guter Letzt haben wir die Füllungen der Balkonbrüstungen mit Photovoltaikzellen belegt. Christian von Ballmoos ist Raumplaner FH mit Diplom für nachhaltiges Bauen. Er ist Projektleiter bei der Tuor Baumanagement AG mit Sitz in Bad Ragaz und war massgeblich verantwortlich für das Projekt «Via ai Crotti» in Chiasso. freie Unterkonstruktion «Thermico horizontal» und das Aufbausystem «BWM ATK 102-GH / GA» der Firma Gasser Fassadentechnik eingesetzt. Die Hinterlüftungsebene wurde für die Verkabelung der Module genutzt. Vier Monate nach Beginn der Sanierung änderte die Bauherrschaft die Zielvorgabe vom Passivhausstandard zum Plusenergiegebäude. Welche Konsequenzen hatte dies für die Planung? Dies hatte natürlich grosse Auswirkungen. Zumal sich das Gebäude ja in einer städtischen Umgebung befindet und ausser auf der Nordseite von etwa gleich hohen Gebäuden umstellt ist. In der Fassade haben wir die am wenigsten beschattete Seite mit monokristallinen Modu- Würde eine solche Sanierung mit einer Fassade aus Dünnschicht-Modulen auch nördlich der Alpen einen Energieüberschuss generieren? Die Dünnfilmmodule alleine reichen weder im Süden noch im Norden, um einen Energieüberschuss zu produzieren. Hier konnte dies nur durch die Nutzung sämtlicher verfügbaren Flächen mittels Photovoltaikelementen erreicht werden. Die Ausgangslage für ein Plusenergiegebäude ist in diesem Fall alles andere als ideal. Die städtische Situation mit den hohen Nachbargebäuden führt zu einer starken Verschattung und einem dementsprechend geringeren Stromertrag. Da die Dünnfilmmodule jedoch preislich vergleichbar mit herkömmlichen Verkleidungsmaterialien wie zum Beispiel Faserzementplatten sind, kann der Einsatz sogar auf Nordfassaden interessant sein. Wie lange dauerte die gesamte Planung, wie lange die gesamte Sanierung? Die Planung dauerte circa drei Jahre, wobei sie praktisch während der gesamten Bauzeit weiterlief. Die Bauarbeiten selbst dauerten eineinhalb Jahre. (Gerald Brandstätter) baublatt 5