Der Weg der USA ins totalitäre Desastre

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Hans-Dietrich Sander
Der Weg der USA ins totalitäre Desastre
Es gibt unter den politischen Entwicklungen der Neuzeit wohl nichts Diffuseres und zugleich Unheimlicheres als die Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie ist in
vielen Darstellungen in der Form von Ereignisgeschichte beschrieben worden, ohne daß ihr
Eigentliches, aus sich selbst Bestimmendes überzeugend definiert werden konnte. Das liegt
hauptsächlich daran, daß die USA nie das Land eines Volkes gewesen sind, aus dessen Geist
und Charakter seine Geschichte resultierte. Die USA waren und sind das Land von Immigranten, aus unterschiedlichen Ländern, welche die Urbevölkerung, die Indianer, zu
Randgruppen in Reservaten dezimierte.
Man hat aus diesen Gründen versucht, die amerikanische Geschichte in Parallelen zu
verstehen. Das ist beileibe nicht nur von außen geschehen. Die Amerikaner haben auch selber
versucht, sich so zu verstehen. Da aber Parallelitäten keine Identitäten hervorbringen, sieht
man, daß sich die Parallelen in der amerikanischen Geschichte mal befeuerten, mal überkreuzten, mal behinderten, was die Wirrnis freilich nur noch steigerte.
Es hat zwei Parallelen gegeben, die bis zum heutigen Tag diskutiert werden: die französische
und die russische Parallele. Eine dritte, die deutsche Parallele, ist seit über einem Jahrhundert
aus der Literatur verschwunden.
Die französische Parallele ergab sich aus einer Gleichung von amerikanischem Unabhängigkeitskrieg und Französischer Revolution. Sie fanden nacheinander statt, waren aber personell
verschränkt durch die Advokaten der Menschenrechte Marquis de Lafayette,
der nach Amerika eilte, um am Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen, und Thomas Paine, der
nach Frankreich fuhr, um die Revolution zu verteidigen – vor allem gegen ihren britischen
Kritiker Edmund Burke. In dieser Parallele wurde der Unabhängigkeitskrieg in eine
Revolution umgedeutet. Sie führte Frankreich und Amerika als Mächte vor, die Arm in
Arm für Demokratie und Freiheit eine Welt in die Schranken wiesen, die zur Staatsbildung
drängte. In diesem Stil schrieb der französische Politiker und Historiker Guizot eine
Biographie über George Washington, die einen exponierten Porträtplatz im Weißen
Haus erhielt.
Die russische Parallele stieg aus der berühmten Prophezeiung Alexis de Tocquevilles auf,
der am Ende des ersten Bandes seines Werkes „Über die Demokratie in Amerika“ geschrieben hatte: „Es gibt heute auf Erden zwei große Völker, die … dem gleichen Ziel zuzustreben
scheinen: die Russen und die Amerikaner … Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege
sind ungleich, dennoch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung
berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten.“
Die Vorsehung ließ nicht lange auf sich warten. Sie parallelisierte die beiden Mächte zum
ersten Mal, als Rußland 1861 die Leibeigenschaft und Amerika 1864 die Sklaverei
aufhoben. In dieser Parallele profilierten Rußland und Amerika sich als die Mächte, die
im Namen von Demokratie und Gleichheit gegen die konkreten Ordnungen des Jus
Publicum Europaeum antraten, doch überall soweit sie reichten, Materialismus, Mittelmäßigkeit und Kollektivismus förderten. Die Parallele erfuhr am Ende eine Prägung,
die Tocqueville wahrlich nicht voraussehen konnte. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts
hat in Amerika Ralph Waldo Emerson vor den ansteigenden Nivellierungen ausgerufen:
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„In dieser Gesellschaft kann ein richtiger Mann nur ein Dissident sein.“ Und der britische
Epiker Charles Dickens, der um diese Zeit Amerika bereiste, brachte seine Eindrücke in seinem Roman „Martin Chuzzlewith“ auf den Nenner: Amerika ist ein Land, in dem es für den
Mann gefährlich ist, eine Meinung zu äußern, hinter der keine Partei steht.
Der geopolitische Autor Colin Ross hat 1942 in seinem Buch über die „westliche
Hemisphäre“ geschrieben: „Die Vereinigten Staaten sind zur Macht gelangt mit Hilfe ihrer
Ideologie, der These von der demokratischen Freiheit und Gleichheit, die in Amerika zwar
niemals tatsächlich verwirklicht wurde, und die man auch niemals je ernsthaft zu verwirklichen trachtete, an die man aber trotzdem glaubt, und die vor allem das Leitmotiv der
amerikanischen Außenpolitik ist, und die immer ein Deckmantel für alle Gewaltmaßnahmen,
ja selbst Brutalitäten der Dollardiplomatie abgeben.“ Und ein paar Seiten weiter: „Einen
‚Amerikaner’ im Sinn eines Volkes, einer Nation hat es nie gegeben, zum mindesten seit
hundert Jahren nicht mehr. Es war vielmehr die Annahme einer Führungsschicht, die es
verstanden hatte, ihre Ideen und Ideale, ihren Lebenszuschnitt und ihre Anschauungen als
maßgebend hinzustellen, nach denen sie nicht nur die Masse der in Amerika Lebenden zu
formen suchte, sondern die auch die übrige Welt als die amerikanische Norm hinnahm.“
Das ist im Prinzip richtig gesehen. Man muß sich freilich hüten, auch Colin Ross war nicht
ganz frei davon, diese Sicht zu generalisieren. In seiner Nebenbemerkung „zum mindesten
seit hundert Jahren nicht mehr“ klingt noch ein Bruch in der amerikanischen Entwicklung an.
In der Tat hat es zwei epochale Zäsuren gegeben, die von der ideologischen Betrachtung
der amerikanischen Geschichte, sei sie nun von innen oder von außen betrieben, ignoriert
worden sind. So wie sich die USA ausbildeten, haben es nämlich weder ihre Gründerväter
noch ihre ersten Präsidenten gewollt.
Die ideologische Rezeption ging in doktrinärer Kaltblütigkeit darüber hinweg, daß das Wort
Demokratie weder in der Unabhängigkeitserklärung noch in der Verfassungsurkunde vorkam.
Die amerikanische Verfassung hatte die Grundzüge einer aristokratischen Republik entworfen, die mit einer absoluten Republik schwanger ging, einer Variante des preußischen
Absolutismus, der nach dem Auslaufen der Monarchien die Aufgabe zugefallen wäre, dem
Staat als der politischen Form der Neuzeit neue Impulse zu geben – im Gegensatz zu den
demokratischen Prozessen, die den Staat sukzessiv tilgen sollten.
Das ist in Washington frühzeitig erkannt worden. Die Gründerväter machten sich keine Illusionen über den schwankenden Charakter der Massen. Sie lehnten auch Parteien als die
Hauptträger politischer Willensbildung und politischer Handlungsbestimmung ab. Sie
wollten das amerikanische Gemeinwesen nicht von Mehrheiten. sondern von prägenden
Autoritäten beherrscht wissen. „Es hat noch nie eine Demokratie gegeben, die nicht
Selbstmord verübt hätte“, schrieb John Adams. Selbst Jefferson, der von demokratischen
Neigungen im Stile Lafayettes nicht frei war, erkannte. „Die Demokratie wird alle beneiden,
mit allen streiten, alles niederreißen, und wenn sie zufällig der Oberhand bekäme, würde sie
rachsüchtig, blutig und grausam werden.“ So dachten auch Washington, Hamilton, Madison
und Monroe, der 1823 mit seiner nach ihm benannten Doktrin die USA auf den amerikanischen Kontinent beschränken und anderen Kontinenten den Zugriff auf den amerikanischen
versperren wollte – eine Vorstufe des ein Jahrhundert später von dem deutschen Staatsrechtler
Carl Schmitt entworfenen Großraumdenkens mit dem Interventionsverbot für raumfremde
Mächte.
Dieser furiose Auftakt bot die Grundlage für die dritte, die deutsche Parallele, die
nichtdemokratische Form der Industriegesellschaft. Sie ist zweimal in wesentlichen
Überschneidungen hervorgetreten, in der zeitlichen und substantiellen Nähe des
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Unabhängigkeitskrieges mit dem Siebenjährigen Krieg, den Friedrich der Große gegen
die destruktive habsburgische Dominanz im Alten Reich führte, und in den Affinitäten
zwischen dem Sezessionskrieg und den Unabhängigkeitskriegen, die Bismarck und
Moltke zur Begründung des neuen Reiches bestritten. Den Zeitgenossen sind in beiden
Fällen die Amerikaner und die Deutschen als die jungen, freiheitsliebenden, schöpferischen
und zukunftsträchtigen Völker erschienen, die sich aus dem despotischen Verfall der alten
Mächte herauslösten.
Die deutsche Parallele wurde im ersten Fall durch die gleichzeitige Entstehung des Allgemeinen Preußischen Landrechts und der amerikanischen Verfassung unter Federführung
Hamiltons unterstützt, deren Geist und Absichten dem Reformwerk Friedrichs des Großen
verwandter sind als den drei Konstitutionen der späteren Französischen Revolution.
Der alte Fritz schickte George Washington aus Bewunderung seinen Degen und den General
Steuben, der aus den amerikanischen Freischärlern eine reguläre Armee machte und zum
Stabschef avancierte, zu dessen Gedächtnis noch heute die traditionelle Steuben-Parade,
wohlweislich keine Lafayette-Parade, abgehalten wird.
George Washington,
US-Präsident (1789 1797)
Friedrich der Große
(1712 1786)
Friedrich Wilhelm von Steuben
(1730 1794)
„Die Freundschaft zu Preußen“, schrieb Sven Hedin in seinem Buch „Amerika im Kampf der
Kontinente“, 1942, wurde wenige Jahre nach Friedrichs Tod durch einen Vertrag besiegelt,
den John Quincy Adams als amerikanischer Gesandter in Berlin mit der preußischen Regierung schloß und während seiner späteren Präsidentschaft pflegte.
Der junge Gneisenau kämpfte im Unabhängigkeitskrieg zwar auf der englischen Seite,
machte aber mit seinen Beobachtungen der mobilen Gefechtsführung der Unionstruppen
Erfahrungen, die den preußischen Truppen in den Befreiungskriegen zugute kamen. Im
Rückblick schrieb später Feldmarschall Graf Schlieffen in seiner Abhandlung über Gneisenau
als Begründer des deutschen Generalstabs: „Er gelangte zu der Überzeugung, daß die englischen Truppen nicht sowohl in Feldschlachten besiegt, als durch einen durch die Natur von
Land und Leuten begünstigten Volkskrieg und durch eine gegen früher erhöhte
Anwendung des zerstreuten Gefechts ermüdet und zum Nachgeben bewogen worden waren.“
1829 brach mit der Wahl Andrew Jacksons zum Präsidenten die erste Zäsur in der
amerikanischen Geschichte ein. Die deutsche Parallele trat zu einer reinen Formsache in
den Hintergrund, statt dessen kam die französische Parallele zu einer uneingeschränkten
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Wirkung. Erst jetzt kam die Demokratie in Amerika zum Zuge. Die demokratische Revolution, die Jackson in Gang setzte, hat niemand besser beschrieben als G. A. Zimmermann, der
Verfasser einer 1893 in Milwaukee deutsch erschienenen „Amerikanischen
Geschichte“. Es heißt da: „Jackson genoß während seiner achtjährigen Amtszeit große Popularität und wurde von seinen Bewunderern Old Hickory genannt. Seine Einführung ins
Amt war eine überaus glänzende und der Jubel der Massen kannte keine Grenzen. Augenzeugen erzählen, wie dem neuen Präsidenten ein unordentlicher, riesig anschwellender Haufe
Volkes folgte, der sich in das Weiße Haus drängte und etwas von den Erfrischungen,
die gereicht wurden, zu erwischen strebte. Gläser und Porzellan im Werthe von mehreren tausend Dollars wurden in diesem Kampfe um die Herrlichkeiten des Büffets zerbrochen.
Fässer voll Orangenpunsch waren bereitet worden und wurden den Dienern mit Gewalt
entrissen; Hinterwäldler mit schmutzigen Schmierstiefeln standen auf den Damast-Sofas,
stießen die fremden Diplomaten bei Seite, drückten sogar den neuen Präsidenten an die Wand
und bemächtigten sich des Gefrorenen. Richter Story bemerkte: ‚Ich sah nie so gemischte
Gesellschaft, König Mob schien zu triumphieren.’“ Über den Regierungsstil schrieb dieser
heute völlig vergessene Historiker: Jackson „war der erste Präsident, welcher alle Beamte, die
ihm Opposition gemacht, absetzte und seine Freunde mit Ämtern belohnte. ‚Dem Sieger die
Beute’, diesen verderblichen, herabwürdigenden Grundsatz verfolgte Jackson nicht so sehr
aus eigenem Antrieb, sondern von seiner Partei gedrängt.“ Goethes berühmter Satz „Amerika,
du hast es besser“, war schon bei seiner Niederschrift überholt.
Andrew Jackson, US-Präsident (1829 1837)
Old Hickorys Machtübernahme war die Geburtsstunde des sogenannten Spoil-Systems, über
das der desgleichen vergessene Göttinger Amerikanist Paul Darmstaedter 1909 in seinem
Werk „Die Vereinigten Staaten von Amerika“ geschrieben hatte: „Seit der Zeit Jacksons wird
die Überzeugung allgemein, daß jeder mit einem Durchschnittsverstand begabte Mann für
jede beliebige Stellung geeignet sei.“ Und ein paar Zeilen tiefer: „Die Folgen des SpoilSystems sind nach jeder Richtung hin unheilvoll gewesen: Da nicht die Fähigkeit, sondern die
politische Parteistellung des Kandidaten den Ausschlag gab, so wurden die Ämter meist
schlecht und nicht selten unehrlich verwaltet; und nicht minder bedenklich war die andere
Folge, daß zahlreiche Personen begannen, sich mit der Politik zu beschäftigen, um ein einträgliches Amt zu erhalten, die Politik also für viele zur reinen Geschäftssache wurde.“
Diese Entwicklung gab es in England und Frankreich auch, aber sie lief langsamer und unspektakulärer an. In den USA wurde sie nach der Zäsur von 1829 handgreiflich. Man
kann sogar sagen: mit Old Hickory ergriff der Wilde Westen das Panier.
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Es trat mit dieser demokratischen Revolution alles ein, was die Gründerväter und die ersten
Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika befürchtet hatten. Ihr Gedankengut
setzte sich freilich noch fort und mündete in den zweiten Fall der deutschen Parallele ein,
die auf der deutschen Seite um Bismarck kreiste, der sich in seinen Gemächern mit Bildern
und Statuen von Washington, Hamilton und Grant umgab, mit einflußreichen Amerikanern
Freundschaft bis in den Tod pflegte und einmal unumwunden erklärt hatte: „Ich habe eine
Schwäche für Amerikaner, und sie wissen das.“ So stellte das Moritz Busch in seinen „Tagebuchblättern“ dar.
Diese Einzelheiten finden eine treffliche Ergänzung bei Erich Marcks, der als junger Historiker den alten Bismarck noch in Friedrichsruh aufgesucht hatte. Er schrieb 1919 in einem Reisebericht über George Washingtons Herrenhaus Mount Vernon: „… sehr vornehm in seiner
Sonderstellung, mit der Einfachheit seiner Terrasse, seiner Aussichtshalle mit den
acht hohen Holzpilastern, alles sehr schlicht und doch sehr herrenhaft: man denkt bei aller
Verschiedenheit ihrer Welt und ihres Wesens an den Landedelmann Bismarck.“ Der unsägliche, Formen und Inhalte verschlingende Common sense, über den Thomas Paine
einen durchgeladenen Panegyrikus geschrieben hat, gehörte weder in Friedrichsruh noch on
Mount Vernon zu den Genien des Hauses.
Der zweite Fall der deutschen Parallele begann mit der aktiven Hilfestellung Bismarcks
im Sezessionskrieg für die Nordstaaten, während die Südstaaten von den Engländern und
Franzosen begünstigt wurden. Darüber schrieb später Charles Callan Tansill, Historiker an
der Johns Hopkins University in Baltimore: „Ich kann die Tatsache nie vergessen, daß
während der großen Krise des amerikanischen Bürgerkriegs es der deutsche Beistand für
die Nordstaaten war, der den Streitkräften der Union den Sieg sicherte. Als die Geldmärkte
Englands und Frankreichs den Vertretern der amerikanischen Bundesregierung verschlossen
waren, boten die großen Finanzzentren Deutschlands alle ihre Hilfsmittel auf, um die Administration Präsident Lincolns zu unterstützen. Die Deutschen kauften für eine Milliarde
Dollars amerikanische Bonds und halfen dadurch mit, ein finanzielles Gebäude zu retten, das
beinahe vor dem Zusammenbruch stand. Und überdies kämpften 200.000 Deutsche in den
Heeren der Nordstaaten, um die Welt vor einem Kasten- und Standesgeist zu retten, der die
westliche Hälfte beherrscht hätte, wenn der Süden siegreich geblieben wäre.“ Tansill hat das
richtig gesehen. Die deutsche Unterstützung entsprang nicht allein einem verständlichen
politischen Kalkül. Schon Daniel Franz Pastorius, der Führer der ersten deutschen Einwanderungsgruppe, hatte 1688, fünf Jahre nach seiner Landung, eine Denkschrift
veröffentlicht, in dem er zum Befremden der aus England eingewanderten Quäker die
Abschaffung der Sklaverei forderte.
Die Vereinigten Staaten revanchierten sich, als sie während der deutschen Einigungskriege
mehr als wohlwollende Neutralität an den Tag legten. Bismarcks amerikanische Freunde
standen auf entscheidenden Posten: im Preußisch-Österreichischen Krieg war John Lothrop
Motley, den er schon von seinen Studienjahren in Göttingen kannte, amerikanischer Gesandter in Wien, und im Deutsch-Französischen Krieg nahm George Bancroft die
amerikanische Gesandtschaft in Berlin wahr. General Sheridan, der den Krieg in Frankreich
an der Seite Moltkes erlebte, wunderte sich über die höfliche Schonung, mit der die deutschen
Truppen der französischen Zivilbevölkerung begegneten, aus der sich damals schon eine
Menge Franctireurs, wie man früher Partisanen nannte, rekrutierten.
Motley und Bancroft waren nicht nur Diplomaten, sondern auch Historiker, deren Stil heute
noch Gordon Craig, der sonst wenig mit ihnen gemein hat, als vorbildlich lobte. Motley, der
eine berühmte Geschichte der Niederlande geschrieben hat, porträtierte seinen Jugendfreund
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in der Novelle „Morton’s Hope“ als Otto von Rabenmark. Bancroft hat die erste Geschichte
der Vereinigten Staaten geschrieben. Sein Vater war Gesinnungsfreund und Waffenbruder
von Washington und Hamilton gewesen. Er stand schon von seiner Familie her in der Tradition amerikanischer Demokratiekritik. Er ging in Berlin nicht nur im Hause Bismarcks ein und
aus, er war auch stets willkommener Gast bei Moltke und Treitschke.
Heinrich v. Treitschke hat in seinen Vorlesungen über „Politik“ nachgerühmt: „Der frühere
amerikanische Gesandte Bancroft hat zu uns oft gesagt, er liebe sein Vaterland, aber wenn er
wieder zu Hause sein würde, dann würde er doch einen Umgang wie hier in Deutschland
vermissen. Es herrscht da drüben eine Dünne der geistigen Luft, die nicht bloß mit der jungen
kolonialen Kultur, sondern auch mit der demokratischen Staatsform zusammenhängt. Hier
sollen Talente über eine gewisse Höhe nicht steigen, das ist undemokratisch. Daß ein Mann
glänzt im geistigen Leben, wird nicht gerne gesehen, das Dollarmachen allein wird verziehen.“ Schmoller hat in seinem „Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“
hervorgehoben, daß Hamiltons ökonomische Ansichten eher den Vorstellungen von Friedrich
List verwandt waren als der Theorie von Adam Smith, deren entwicklungspolitische Schwäche er klar erkannte.
Die deutsche Parallele war in ihren zwei Fällen nicht nur personell verbunden. Ihre Substanz
wies jedesmal ein imposantes Spektrum auf, das von politischen, historischen, soziologischen,
ökonomischen und geistesgeschichtlichen Elementen durchsetzt war. Sie übertraf bei weitem
die französische und die russische Parallele zur amerikanischen Geschichte. Neben der Vision
einer nichtdemokratischen Form der Industriegesellschaft, die auf das Gemeinwohl bedacht
war, rangierte als zweites Hauptmotiv die Vision einer nichtuniversalen konkreten Ordnung
der Weltpolitik in Großräumen. Amerika sah in jenen Zeiten in Deutschland die europäische
Ordnungsmacht.
Bancroft hat deshalb die Einigung Deutschlands als das größte Ereignis des Jahrhunderts genannt – in einem Brief an Moltke, der mit Verweis auf Geschichte, Geographie und Volksgeist von der natürlichen Hegemonie Deutschlands in Europa handelte. Anders der
britische Premier Disraeli, der die weltpolitische Bedeutung dieser Einigung ebenfalls
erkannte, sie als ein größeres Ereignis als die Französische Revolution begriff, aber
mit feindseligen, vernichtungslüsternen Blicken. Die USA war von Lincoln bis Ulysses Grant
von der Moltke-Doktrin überzeugt, die forderte, daß zur Regelung des europäischen Friedens
„im Herzen Europas sich eine Macht bilde, die, ohne selbst eine erobernde zu sein, so stark
ist, daß sie ihren Nachbarn den Krieg verbieten kann“.
Helmuth Graf von Moltke (1800 1891)
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Das haben weitblickende Engländer auch so gesehen. William Pitt zur Zeit Friedrichs des
Großen und Thomas Carlyle zur Zeit Bismarcks. Sie haben indessen die traditionelle
britische Politik Europa gegenüber, wie wir heute wissen: zu ihrem eigenen Schaden, nicht
herumreißen können. So durchkreuzte London, das den Aufstieg der neuen Mächte Amerika
und Deutschland mit Neid und Argwohn betrachtet hatte, im Bund mit Frankreich kurzerhand
die sich abzeichnende Konjunktion.
Hier brach die zweite Zäsur in die amerikanische Geschichte ein, die nicht nur Deutschland
und Europa, sondern auch Großbritannien und am Ende die USA selbst im nächsten Jahrhundert in den Ruin trieb. Die Auflösung des britischen Empire wurde im Zweiten Weltkrieg
nach der Zerstörung des Deutschen Reiches zum zweiten amerikanischen Kriegsziel. Es war
wieder einmal ein Beispiel dafür, daß Politik durchaus nicht immer aus wohlverstandenem
eigenen Interesse gemacht wird. Daß die USA schon nach dreißig Jahren bereit waren, ihren
Kurs gegenüber dem Deutschen Reich, dem sie ihre Stabilisierung verdankten, zu ändern,
zeigt nicht nur die Kurzsichtigkeit, sondern auch die Skrupellosigkeit der Führungsschicht,
wie sie sich nach Jacksons demokratischer Revolution etabliert hatte.
Die zweite Zäsur begann 1896, als Großbritannien sich im Burenkrieg international isoliert
sah. Es hatte Deutschland schon seit der Gründung des Zweiten Reiches als seinen gefährlichsten Konkurrenten betrachtet. 1878 mußte es auf dem Berliner Kongreß erleben,
daß es den Zenit seiner Weltmachtposition überschritten hatte. London geriet durch den
fortschreitenden Aufstieg Berlins in eine solche Panik, daß es sich von der außenpolitischen
Linie des europäischen Gleichgewichts, die das Empire großgemacht hatte, entfernte und
zu der Devise Germaniam esse delendam überging. Bismarck nahm sie so ernst, daß er es für
unmöglich hielt, dieser Feindschaft zu entgehen, es sei denn, man würde, und das hielt er für
unzumutbar, der deutschen Wirtschaft Produktionsschranken auferlegen.
London erblickte in Washington seinen wichtigsten Verbündeten gegen das Reich. 1896 begann es, die traditionelle Erbfeindschaft Englands mit den Vereinigten Staaten von
Nordamerika, die vom Abfall seiner amerikanischen Kolonien herrührte und das ganze 19.
Jahrhundert erfüllt hatte, zu beenden. Es münzte sie in eine Special relationship, wie
Balfour das nannte, in buchstäblichem Sinn des Wortes, um. Es warb mit allen Mitteln um
die besondere Beziehung zu der transatlantischen Macht, deren Monroe-Doktrin es bisher als
eine dreiste Einschränkung seiner kolonialen Ambitionen gesehen hatte. Es warb darum mit
Geld, das zu Zwecken deutschfeindlicher Propaganda in die amerikanische Presse investiert
wurde und mit einer Geschichte der Vereinigten Staaten, aus der die Amerikaner lernen
sollten, wie sie ihre politische Entwicklung zu begreifen hätten. Ihr Verfasser Lord Bryce war
in jenen Jahren Botschafter in Washington.
Im Deutschen Reich war nach Bismarcks Entlassung das Gespür für das neue politische Element der Öffentlichkeitsarbeit verkümmert. Berlin nahm kaum war, wie es England in zwei
Jahrzehnten gelang, die deutsch-amerikanische Parallele zu zerstören. Ihre Wirkung war in
den USA allerdings noch nicht gänzlich erloschen. Als Erich Marcks vor dem Ersten Weltkrieg Amerika besuchte, stellte er fest, daß sich im akademischen Bereich die Fäden der
Verbindung mit Deutschland vermehrt hätten. Er sprach von einer „wahren Wanderung
deutscher Gelehrter durch die Universitätsstädte der Union“, und hob dabei die Johns Hopkins
University in Baltimore hervor, wo damals Tansill und nach dem Zweiten Weltkrieg Gottfried
Dietze und David Calleo lehrten, die versuchten, das amerikanische Deutschland-Bild zu differenzieren. Sie erlangten freilich noch weniger Einfluß als nach der ersten Zäsur Motley und
Bancroft. Der einfache Grund dafür war, daß ihre Sicht von keiner Partei geteilt wurde.
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Die Auflösung der deutschen Parallele hat eine große weltgeschichtliche Tragik entfesselt. Sie
wurde zur Hauptursache der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie hat negativ bestätigt, was
sie einst positiv verheißen. Die Moltke-Doktrin ist vom Ende der beiden Weltkriege verifiziert
worden. Die Schwächung und Zerschlagung seiner Mitte hat Europa nicht befriedet, sondern
in einen dauernden Krisenherd verwandelt. Ebenso hat das Fiasko der Verbindung von Demokratie und Wirtschaft das deutsche System gerechtfertigt, das Amerika in seiner französischen und russischen Parallele missionarisch bekämpfte.
Der Zeitpunkt, den England für die Einbindung Amerikas gewählt hatte, war außerordentlich
günstig. Es stieß auf einen Stimmungswandel in verschiedenen Bereichen. Motley und
Bancroft waren schon aus ihren Ämtern entlassen worden. Giselher Wirsing hat in seinem
Werk „Der maßlose Kontinent“, 1942, darauf hingewiesen, daß die Monroe-Doktrin schon in
den achtziger Jahren bröckelte. Er zitierte aus dem Buch des Stahlkönigs Andrew Carnegie
„Die triumphierende Demokratie“, 1886, den Satz: „So wird also Amerika die Welt bald zu
seinen Füßen sehen; die amerikanische Verfassung wird mehr und mehr als das Muster aufgestellt werden, das neue Nationen adoptieren und die alten zu erreichen suchen werden.“ Es ist
darin auch schon von der Amerikanisierung des Globus die Rede und von einem Verfassungsdenken, das nichts mehr mit den Gründervätern zu tun hatte. Sven Hedin
hat darauf aufmerksam gemacht, daß die amerikanische Agrarwirtschaft zu dieser Zeit schon
zu Exporten drängte, die nur mit der Zerstörung fremder Agrarmärkte zu verwirklichen sein
würden.
Den ersten großen Schritt in diese Richtung machte 1907 Präsident Theodore Roosevelt,
als er erklärte, Amerika würde den Ländern, die sich seinem Handel nicht öffneten, die
Türen eintreten. Der zweite große Schritt erfolgte als am Ende des Ersten Weltkrieges der
Präsident Woodrow Wilson, es als Aufgabe der USA bestimmte, „to make the world safe
for democracy“ und zwar zielgerichtet auf das Deutsche Reich im Sinne des Germaniam
esse delendam.
Theodore Roosevelt, US-Präsident
(1901 1909)
Woodrow Wilson, US-Präsident
(1913 1921)
Obwohl die USA in beiden Weltkriegen gegen Deutschland fast mit einer Weltkoalition antraten, waren die Resultate nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. In beiden Fällen erfolgte die Ernüchterung schnell. Als die USA 1917 in den Krieg eintraten, rief der Kommandeur der amerikanischen Truppen noch frohgemut: „Lafayette, we are here!“
1923 war Wilson über die französische Arroganz und Intransigenz so erbittert, daß er
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an der Vorstellung Gefallen fand, Deutschland würde den Übermut Frankreichs schon wieder
zügeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg entfachten die USA nach dem Zerfall der Illusionen
über Stalin als dem guten „Uncle Joe“ den Kalten Krieg.
Der extreme Ausgang des Zweiten Weltkrieges ist ein klassisches Beispiel für eine verfehlte
Strategie. Wie Walter Lippmann in seiner „Außenpolitik der Vereinigten Staaten“ 1944
darlegte, sollte nach Kriegsende die Kernallianz USA, England und Frankreich im Bündnis
mit der Sowjetunion dafür sorgen, daß das entmachtete Deutschland in der Mitte Europas
politisch und strategisch uninteressant sein würde. Ein neutraler Gürtel osteuropäischer Staaten sollte für Europa eine zusätzlich Garantie der Sicherheit bilden. An diesem Kriegsziel war
schon die Vorstellung naiv, die Sowjets würden nach der Besetzung ihre Zone wieder verlassen. Moskau machte denn auch zwei dicke Striche durch diese Rechnung. Es schmiedete den
osteuropäischen Gürtel in einen Satellitencordon um und faßte festen Fuß
in seiner deutschen Besatzungszone. So sah sich Washington genötigt, woran es nicht im
Traum gedacht hatte, Deutschland in seinen westlichen Teilen wieder aufzurüsten. So entstand das Gleichgewicht auf einer dauerhaften Teilung Deutschlands, wie David Calleo
das nicht nur unübertrefflich klar definiert, sondern auch gleich eingeschränkt hatte, indem er
es nur einen Urlaub von den alten Problemen nannte. Sie kehrten auch, wenn nicht gleich,
zurück, als sich Deutschland nach der Implosion des sowjetischen Besatzungsstaates wieder
vereinigte. Da aber das Kriegsziel der Zerstörung Deutschlands blieb, war Washington
nicht willens, zur deutschen Parallele zurückzukehren. Statt sich in einer tiefgreifenden
Besinnung an die Zeiten der deutschen Parallele zu erinnern, schickte es sich an, langsam
aber sicher Deutschland wirtschaftlich, politisch und geistig plattzumachen. Die Unfähigkeit
zu einer neuen Strategie entsproß den totalitären Strukturen, welche die USA auf ihrem Weg
zur Weltmacht angenommen hatten.
Ich hatte mit einem Aufsatz für die Zeitschrift „Criticón“ schon 1982 die deutschamerikanische Parallele in die Öffentlichkeit werfen wollen. Es war vergebens. Gottfried
Dietze übersetzte von sich aus den Text sofort ins Amerikanische, um für mich ein
zweijähriges Stipendium zu erwirken, mit dem ich in Amerika zu diesem Thema eine
gründliche Quellenforschung betreiben könnte. Allein, die konservative Stiftung, die er
anschrieb, erwiderte kurz und bündig, es stünde einem Deutschen nicht an, die USA
zu kritisieren. Abgelehnt wurde mein Text auch von der Steuben-Gesellschaft in Düsseldorf,
die an transatlantischen Strippen hängt. Diese Forschungs- und Diskursverweigerung ist
typisch für totalitäre Geisteshaltung. Die totalitären Strukturen in den USA gehen von dem
Präsidenten Franklin Delano Roosevelt aus, haben sich aber erst in Etappen und
Unterbrechungen handgreiflich ausgebildet. Die Unterbrechungen und der aus ihnen resultierende Zickzackkurs haben Carl Schmitt und Moritz Julius Bonn, Diplomat und Politikwissenschaftler in den zwanziger Jahren, veranlaßt, das Grundgesetz der amerikanischen Außenpolitik im steten Wechsel von Intervention und Isolation zu
sehen. Das aber setzt eine Ziellosigkeit voraus, die nicht verifizierbar ist.
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Franklin D. Roosevelt, US-Präsident (1933 1945)
Im Jahre 1932 verglich Emil Ludwig in seinen „Gesprächen mit Mussolini“ den Moskauer
Kommunismus mit dem römischen Faschismus. Der Hauptpunkt war die Bändigung des Kapitalismus, der wie sein Gesprächspartner ausführte, die Politik vertilgt. Sechs Jahre später
zog Ludwig in seiner Roosevelt-Biographie den amerikanischen Präsidenten in diesen Vergleich hinein. Roosevelt selbst, der 1933 gleichzeitig mit Hitler an die Macht kam, verglich
sich auch in dieser Weise. Er wollte den Kapitalismus mit dem New Deal zähmen, konnte
sich aber gegen die Hochfinanz nicht durchsetzen. Als er die Erfolge Hitlers sah, beschloß er,
ihn zu beseitigen – mit Hilfe Stalins, und später Stalin, als der sich weigerte,
den Rubel zum Dollar hin konvertibel zu machen, mit dem Kalten Krieg. Er dünkte sich noch
vor seinem Tode als Herrn der One world. Auch solche Zielvorstellungen sind totalitär.
Ebenso die Mittel, welche die USA in ihrer Kriegsführung und Nachkriegspolitik anwandten.
Sie setzten sich vor und nach 1945 über das Völkerrecht wie über die Hegung des Krieges
hinweg. Sie verteufelten ihre Gegner als Schurken und behandelten sie entsprechend, sie
warfen den ehrwürdigen Begriff des justus hostis, des gerechten Feindes, ersonnen, um einen
dauerhaften Frieden herzustellen, in die weltgeschichtliche Mottenkiste. Sie wollten uns nicht
nur niederwerfen, sondern auslöschen und erlegten zu diesem Zweck Deutschland eine dauerhafte Schuld am Ausbruch des Krieges und unvergleichlichen Greueln auf, damit nicht eines
Tages, wenn es doch anders liefe, Revisionsansprüche gestellt werden könnten. Die USA
setzten sich, wenn die Mittel es heiligten, selbst über die Satzungen der von ihr inspirierten
UNO hinweg. Mit dem Sicherheitsrat verschaffte sich Washington den Hebel, um jede unerwünschte Entwicklung in der Weltpolitik blockieren zu können. Die USA gingen immer mehr
mit Foltermethoden vor und eskalierten ihre Geheimdienste global, die heute
in jeden internetfähigen Rechner eindringen können.
Der totalitäre Drall nach innen machte sich zuerst in der Episode des McCarthyanismus
bemerkbar, mit welchem Sympathisanten der ehemals verbündeten, im Kalten Krieg zum
bösen Feind avancierten Sowjetunion aus der Öffentlichkeit verbannt wurden. In geradezu
perfekter Manier wurden solche Strukturen in der BRD, dem amerikanischen Besatzungsstaat,
vom CIA errichtet, der sogar, wie erst Jahrzehnte später bekannt wurde, die sogenannten
„Kongresse für die Freiheit der Kultur“ inszenierte. Die BRD war nur zum Schein freiheitlicher als der russische Besatzungsstaat, die DDR. Wer Ansichten vertritt, die nicht genehm
sind, wird seit jeher aus der Öffentlichkeit katapultiert, durch Ausgrenzung, Totschweigen
und Kriminalisierung zur Existenz eines lebenden Leichnams verdammt. Gruppen, aus denen
sich eine wirkliche Opposition bilden könnte, werden unterwandert und zerschlagen. So führte auch die Vereinigung der beiden Besatzungsstaaten zu einer Begünstigung ihrer Systemlinge zu Lasten aller, die für die Einheit gekämpft hatten.
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Die Selbstdarstellung der USA als Hort der Freiheit im 20. und 21. Jahrhundert ist mehr als
heuchlerische Verbrämung, mehr als der Cant, mit dem früher die Briten über Jahrhunderte
alle Welt in die Irre führten. Sie ist eine militante Ideologie, die auch die eigene Geschichte
retuschierte. Sie verhüllt, daß sich die USA von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zur dritten totalitären
Macht gemausert haben – in der Variante eines demokratischen Totalitarismus, der sich nur in
der Form vom bolschewistischen und nationalsozialistischen unterschied. Antizipationen dieser Variante traten schon in den Staatsaufassungen hervor, wie sie sich in Frankreich bei
Saint-Simon oder Considerant und in Italien bei Mazzini herausgebildet hatten. Der israelische Historiker Jakov Talmon hat sie in seinen Monographien „Die Ursprünge der totalitären
Demokratie“ (1961) und „Politischer Messianismus“ (1963) analysiert. Auch sie wurden ausgegrenzt. Schon 1975 erwähnte sie das Brockhaus-Lexikon nicht mehr, obwohl doch sonst
Werken solcher Herkunft, wie Gottfried Benn sagen würde, mit hündischer Kriecherei begegnet wird.
Der Nationalsozialismus hinterließ ein desolates Europa. Der Kommunismus hatte an seinem
Ende über ein Viertel des Erdballs verheert. Die dritte totalitäre Macht verwüstete noch vor
ihrem Sturz im Grunde alle Länder dieser Erde.
Die USA drangen in zerstörerischer Weise in die gewachsenen Kulturen ein, lösten die
Volkswirtschaften nach und nach auf, zwangen die Völker in politische Strukturen, die zu
ihnen nicht paßten, und stellten sie durch beständige Einwanderung in Frage. Schließlich
wurde die These laut, die Völker seien nur eine Erfindung der Historiker gewesen. Ist das
nicht etwa Völkermord?
Das ungezügelte Kapital, das um den Erdball vagabundiert, richtet überall schwerste Schäden
an. Der Funktionsmodus ist rigorose Gleichschaltung, die sich ebenfalls eines alten britischen
Herrschaftsmittels bedient, der Korrumpierung der Eliten. Das war der lange Marsch von der
One world zum Globalismus, der aber auch die USA wider Willen in den Ruin treibt. Sie haben trotz modernster Waffen und Milliarden Dollars die Kriege in Korea und Vietnam nicht
gewinnen können. Vor unseren Augen scheitern sie im Irak.
Daß eine totalitäre Macht keine dauerhafte Herrschaft begründen kann, hat vielerlei Ursachen.
Eine wesentliche ist ihre begrenzte Optik, die unvermeidlich ist, wenn das Ganze von einem
Teil her definiert wird. Ein Hauptgrund liegt in ihrer Realverfassung einer kommissarischen
Diktatur, die auftritt, um eine verfahrene Lage aufzuheben, sich aber in der Übergangsform
verewigt, statt eine neue Ordnung zu begründen. Stalin hatte erst kurz vor seinem Tode begriffen, daß die führende Rolle der Partei von einer führenden Rolle des Staates abgelöst werden müsse. Nach seinem Tod verhinderte das die um ihre Entmachtung fürchtende Bonzokratie mit der Parteirenaissance. In den USA ist das Parteienestablishment daran auch nicht interessiert. Die Niederlage der Republikaner bei den Kongreßwahlen 2006 erfüllte die Demokraten keineswegs mit einer Aufbruchstimmung. Sie haben weder dynamische Politiker noch
mobilisierende Konzepte. Die politische Klasse der USA ist ausgebrannt.
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George W. Bush, US-Präsident (seit 2001)
In diesen Wochen erschienen in Moskau die Protokolle der Politbürositzungen aus der
Gorbatschow-Zeit. Sie offenbarten eine frappierende Hilflosigkeit, Starrköpfigkeit und
Unfähigkeit, den brodelnden Dingen auf den Grund zu gehen. Was später ein KGB-Resident
in der DDR bekannte, daß man mit den herrschenden Begriffen die Ereignisse nicht mehr
begreifen könnte, traf auf den ganzen Kreml zu. Als ich den Bericht des „Spiegels“ über die
Protokolle las, dachte ist, daß dies jetzt wohl auch in Washington so ähnlich aussieht.
Die USA stehen heute an der Spitze des globalen Ruins, den sie angerichtet haben. Der Crash
des Dollars ist nicht mehr abzuwenden und in 35 von 50 Großstädten der USA bilden die
Weißen nur noch eine Minderheit. „Wir haben’s vergeigt“, sagte der unbeugsame Schriftsteller Gore Vidal in einem Interview in der Zeitung „Die Welt“ vom 9. Januar dieses Jahres.
Der Vorsprung im Verfall begünstigt die globale Abkoppelung von ihrem Verursacher.
Das beginnt ausgerechnet in Mittel- und Südamerika, das Nordamerika so lange im Griff hatte, daß anzunehmen war, hier würden sich überhaupt keine selbständigen Impulse
bilden können. Dagegen sind die sechzig Jahre amerikanischer Vorherrschaft in Europa ein
Klacks. Noch blockieren die politische Klasse und ihre Medien ähnliche Regungen. Aber sie
können das nicht mehr, wenn ihnen die Probleme über den Kopf wachsen. Raymond Aron hat
schon 1985 in seiner brillanten, gleichwohl totgeschwiegenen Analyse „Demokratie und Totalitarismus“ festgestellt, daß jede politische Ordnung mit der Unfähigkeit zur Problemlösung
ihr Ende findet.
Das könnte sehr schnell geschehen, wenn eine Handvoll wichtiger Staaten die internationalen
Institutionen verläßt, welche die USA zu ihrer Vormachtstellung geschaffen haben; die UNO,
die NATO und der IWF würden schon genügen. Die USA haben sich so vergeigt, daß sie sich
ohne den Beistand der sogenannten Weltgemeinschaft auf keinem Schauplatz dieser Welt
mehr halten können. Das aber ist wohl leider nicht zu erwarten, denn dazu fehlt diesen Politikern nicht nur die Courage, sondern auch der Weitblick.
So wird das Chaos, das in Rußland noch herrscht und Amerika noch bevorsteht, eines Tages
auch uns übermannen. Je eher wir uns darauf vorbereiten, um so besser werden wir es
durchstehen. Daß das nicht von heute auf morgen geht, darf uns nicht schlapp machen.
Betrachten wir das Unvermeidliche als eine Herausforderung unserer Kräfte, die allzu
lange lahmgelegen haben.
[20.1.2007] Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Verfasser am 13. Januar 2007 auf Einladung
der Burschenschaft Frankonia in Erlangen gehalten hat.
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