Text 129: Life and Death and the Lawyer

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Mit uns Juristen auf Leben und Tod
DR. ERICH STEFFEN
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D.
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Interdisziplinäres Zentrum
Medizin-Ethik-Recht
Herausgegeben von
Prof. Dr. Hans Lilie
Prof. Dr. Hans Lilie (Hrsg.), Schriftenreihe Medizin-Ethik-Recht, Band 7, 2007
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
ISSN 1862-1619
ISBN 978-3-86010-920-5
Schutzgebühr Euro 5
Interdisziplinäres Zentrum Medizin-Ethik-Recht (MER)
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Universitätsplatz 5
D- 06108 Halle (Saale)
[email protected]
www.mer.jura.uni-halle.de
Tel. ++ 49(0)345-55 23 142
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Einleitung
Wissen Sie, was ein Pessimist ist?
1929 hat der Dresdner Erich Kästner ihn so beschrieben:
„Ein Pessimist ist, knapp ausgedrückt ein Mann,
dem nichts so Recht ist, und insofern ist er verdrießlich,
obwohl er sich, andererseits, schließlich
(und wenn überhaupt) nur freuen kann,
eben weil alles schlecht ist.
Einer von ihnen hat mir erklärt, wie das sei
und was ihn am meisten freute:
‚Im schlimmsten Moment, der Geburt, sind die Leute’,
(hat er gesagt) ‚schon dabei.
Doch gerade das schönste Erlebnis
erleben sie nie: ihr Begräbnis“.
Wir Juristen müssen mit dem Rechtsbuch auch bei Tod und Begräbnis zugegen sein.
Ich werde zeigen, dass im Streit über Anfang und Ende des Lebens manche von uns
ihren Tod sogar erst lange Zeit nach ihrem Begräbnis erleben wollen. Sind das nun
Optimisten? Jedenfalls hält es sie am Leben.
1. Rechtsschutz vom Lebensanfang bis zum Lebensende
Denn auch wenn es die Philosophen und die Ethiker und die Naturwissenschaftler
und die Kirchen beleidigen muss: es ist auch eine Aufgabe der Jurisprudenz, zu sagen, wann Leben beginnt und wann es endet; dies aus mehren Gründen.
Juristen müssen bestimmen, wann der Rechtsschutz für das Leben anfängt; wann es
z.B. nicht mehr nur um den Schutz für das Interesse von Eltern geht, ein Kind zu planen, sondern um das Interesse des Kindes selbst am Werden und Leben und vielleicht auch daran, vor dem Leben eines Schwerstbehinderten bewahrt zu werden.
Dasselbe gilt für das Lebensende: wie lange schützt das Recht den Sterbenden im
Krankenhaus vor den Begehrlichkeiten der Medizin auf seine Organe, wann geht es
bei der Organentnahme um Tötung und nicht nur um Störung der Totenruhe und Lei-
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chenschändung. Und umfasst der Lebensschutz für den Sterbenskranken auch seine
Bewahrung vor einem qualvollen Lebensende?
Noch zu Beginn des 20. Jahrhundert erschien uns das Verständnis vom Leben und
seinem Schutz einfach: klare Anbindung des Rechts an Daten aus der Naturwissenschaft. Als Leben kam für eine Bestrafung wegen Tötung in Betracht die Zeit vom
Einsetzen der Geburtswehen bis zum Ausfall der Atem- und Kreislauffunktionen, dem
Herztod; was davor lag, war nur als Abtreibung strafbar; was danach lag, war nur
noch Einbruch in die Totenruhe. Wir Zivilrechtler gewährten darüber hinaus dem werdenden Kind, dem „nasciturus“, Schutz gegen Verletzungen, sei es auch durch einen
unsorgfältigen Gynäkologen – dies aber nur im Vorgriff auf die Geburt; der Fötus war
bei einer vom Arzt verschuldeten Fehlgeburt kein rechtliches Schutzsubjekt.
Anfang des 21. Jahrhunderts ist dieses schlichte Werteverständnis des Juristen einer
gewissen Ratlosigkeit gewichen. Wir Juristen mussten vom Baum der Erkenntnis essen, was Gentechniker, Biomediziner, Intensiv- und Transplantations-Medizin uns
daran aufgehängt haben: künstliche Befruchtung außerhalb des Mutterleibs, die sog.
„in vitro“ Fertilisation; Austragen des Embryos durch eine „Leihmutter“; Auslese von
Embryonen mit guten bzw. schlechten Erbanlagen vor ihrer Implantation; Tieffrieren
und Nutzen von Embryonen als Stammzellen-Reservoir durch Kerntransfer zur
Schaffung von Embryonen mit anderen Erbinformationen, um kranke Organe zu therapieren, das sog. „therapeutische Klonen“; bis zu Frankenstein-Monstern à la Lucy,
dem Retortenbaby, und Dolly, dem Schaf.
Wir sind uns bewusst geworden, dass Anfang und Ende des Lebens keine punktuellen Daten sind, sondern Prozesse, deren Dauer und Inhalte – in Grenzen – der
Mensch manipulieren kann. Und wir erkennen, dass wir nicht der Naturwissenschaft
und ihren Daten das rechtliche Terrain überlassen können, wenn wir nicht ihre Manipulationen zu rechtsfreien Räumen erklären wollen. Sondern Juristen müssen das,
was wir – auch wir Richter - im modernen Verständnis unseres Auftrags überall, so
auch hier tun: über Interessenfeststellung, Interessenbewertung und Interessenabwägung normativ festlegen, wo von Rechts wegen Leben – genauer: Rechtsschutz
für das Leben – beginnen und wann er enden muss.
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Lassen wir Leben beginnen etwa:
mit der Entstehung von Individualität iSv Identität in einem neuen genetischen
Programm durch das Verschmelzen beider elterlichen Chromosomensätze;
oder erst mit der Nidation, also der Einnistung der befruchteten Eizelle in der
Gebärmutter als der Basis zur Freisetzung der Entwicklungspotentiale des
Embryos;
oder mit der Entstehung des Fetus, d.h. wenn sich die Organe zu differenzieren beginnen: 56 Tage nach der Befruchtung oder erst mit der Ausbildung der
Gehirnfunktion;
oder erst mit der Überlebensfähigkeit des Fetus außerhalb des Mutterleibs, also im Durchschnitt ab der 26. Woche?
Lassen wir den Rechtsschutz für das Leben enden, wenn die Fähigkeit zur Kommunikation endgültig erloschen ist; z.B. beim irreversiblen Wachkoma; oder mit dem
Herztod; oder mit dem Hirntod, also wenn die Zentrale für die Steuerung der Organe
aufgehoben ist; oder erst mit dem Eintreten von Leichenstarre und der Bildung von
Totenflecken?
Wir haben schutzwerte Interessen aufzuzeigen und gegeneinander abzuwägen, wo
sie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen:
¾ den Lebensschutz für das werdende Kind gegen das Recht der
Mutter auf Selbstbestimmung in Bezug etwa auf ihre Familienplanung oder auf ihr Interesse an der eigenen Gesundheit;
(dieser Interessenkonflikt liegt der Rechtsprechung des BGH zur Beteiligung des Arztes am Kindesunterhalt zugrunde, wenn er durch fehlerhafte Sterilisation oder falsche
vorkonzeptionelle Beratung die Familienplanung durchkreuzt hat: Schadensersatz
wegen wrongful life und wrongful birth)
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¾ das Interesse von Wissenschaft und Gesellschaft an einer Embryonenforschung, die ohne „Verbrauch“ von Embryonen nicht
möglich ist;
¾ das Interesse einer effizienten Krankenversorgung, die begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen nur für "therapiewürdiges“ Leben einzusetzen, etwa den Lebensschutz nach der
Sozialwürdigkeit des Patienten zu modifizieren;
¾ das Interesse Schwerstkranker an noch lebfrischen Organen zu
Zwecken der Transplantation gegen das Interesse des Sterbenskranken am Schutz vor einer zu frühen Beendigung des Sterbeprozesses.
Das alles verlangt nach normativen Wertungen des Rechts; und sie sind für das
deutsche Recht von besonderer Brisanz durch die historische Schuld aus dem Umgang mit den Menschen und ihren Rechten unter den Nationalsozialisten – eine sehr
gegenwärtige Hypothek vor allem für Juristen, die wie ich – wenn auch als Jugendlicher, aber doch bewusst - diese Zeit selbst erlebt haben. Uns muss nicht
das
BVerfG an die Bedeutung des Art. 2 des GG erinnern, der dem Staat den Schutz des
menschlichen Lebens aufgibt und die Entfaltung des Individuums in Selbstbestimmung und Freiheit; dies im Bezugsrahmen des Art. 1 GG als dem obersten Grundrechtsgebot, das die Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde verlangt.
Schutz des menschlichen Lebens, Schutz der Selbstbestimmung des Einzelnen, Achtung der Menschenwürde: das sind die verfassungsrechtlichen Wertvorgaben für den
Juristen bei der Konfliktbewältigung, um die es uns hier geht: richtungsweisend, aber
auch richtungserschwerend wegen des Spannungsverhältnisses, in dem sie zu einander stehen und das uns Juristen gelegentlich vor unlösbar erscheinende Aufgaben
stellt.
Außerdem sind für die normative Arbeit der Juristen in der modernen Industriegesellschaft mit ihren pluralistischen Wertvorstellungen ethische Leitprinzipien als allge-
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meinverbindliche Handlungsanweisungen zunehmend schwerer auszumachen, zumal sie im Umfeld neuer Möglichkeiten zur Lebenserzeugung und Lebensverlängerung sich einander selbst befragen und infrage stellen.
Ist es noch ethisch, die Embryonenforschung deshalb zu verbieten, weil sie zur Abtötung, zum Verbrauch von Embryonen zwingt, wenn man dadurch Schwerstbehinderten die Chancen eines menschenwürdigen Lebens vorenthält? Ist es noch ethisch,
die Menschen auf den Import von embryonengestützten Therapien zu verweisen aus
Ländern, die solche Bedenken nicht habe oder sie sich ökonomisch nicht leisten
können? Ist es ethisch vertretbar, sich dem Wunsch des Sterbenskranken nach Beendigung seines Lebens in Würde zu verschließen, solange die Möglichkeiten der
Medizin zur Lebensverlängerung noch nicht erschöpft sind? Oder auf die Leben
spendende Organtransplantation zu verzichten, weil auch nach dem Hirntod in Einzelteilen des Organismus immer noch Leben ist, das man zerstören müsste?
Aber jede Gesellschaft definiert sich auch durch ihre Rechtsordnung und durch den
rechtlichen Rahmen, den diese Ordnung der menschlichen Existenz gibt, um die die
Ordnung zentriert. In erster Linie ist die Gesetzgebung berufen, klare Antworten zu
geben, das Parlament. Zwar hat jeder Mensch sein höchst individuelles Verständnis
von Dasein und Tod; darüber kann nicht abgestimmt werden. Aber die rechtlichen
Rahmenbedingungen dafür sind konsensfähig und konsensbedüftig. Wo das Parlament schweigt aus strategischen Gründen oder aus fehlender Vorausschau oder
schlicht aus Nachlässigkeit, da ist der Rechtsanwender gefragt, der Advokat, letztlich
der Richter. Und sie alle, Gesetzgeber und Rechtsanwender, stehen in Deutschland
unter der Kontrolle des BVerfG, das die Antworten sehr wachsam auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechtsgarantien für den Lebensschutz, das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde kontrolliert.
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2. Rechtsschutz am Lebensanfang
Für den Beginn des Lebensschutzes sind verhältnismäßig klare Positionen bezogen
durch das Embryonenschutzgesetz von 1990, das Gentechnikgesetz von 1993 und
das Stammzellgesetz von 2002.
Mit ihrem ziemlich umfassenden Schutz des menschlichen Lebens gegen todbringende Eingriffe und Manipulationen schon vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an;
zwar kein Rund-um-Lebensrecht des Embryos mit einem Anspruch auf Ausbildung
seiner Lebenspotentiale, aber Schutz der Menschenwürde schon in diesem Stadium
vor einer Instrumentalisierung des Embryos zu fremdnützigen Zwecken:
¾ keine gezielte Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken, keine Forschung und Therapie mit embryonalen Stammzellen – außer mit
vor Inkrafttreten des Stammzellgesetzes im Ausland erzeugten Stammzellen;
¾ keine Befruchtung im Reagenzglas von mehr als 3 Eizellen innerhalb
eines Zyklus;
¾ keine Präimplantationsdiagnostik, kurz PID , d.h. keine Untersuchung
der Gene im Reagenzglas zum Zweck der Aussonderung unerwünschter Zellen vor der Implantation;
¾ keine „gespaltene“ Mutterschaft, also das Ausleihen einer Frau dazu,
ein Kind auszutragen.
Damit hat der Gesetzgeber den Rechtsstandpunkt den Zeitläufen angepasst, den
Friedrich der Große, der Alte Fritz, 1794 im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten in § 10 Abs. 1 sehr modern so formulieren ließ:
„Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern, schon von der Zeit der Empfängnis“.
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Deutlich ist das Bestreben des Embryonenschutzes, Dammbrüchen vorzubauen.
Seine Radikalität, im Ausland gelegentlich apostrophiert als „deutsche Krankheit“, als
German Disease, ist zu verstehen auch als Reaktion auf die unsäglichen Manipulationen an Müttern; Säuglingen, Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus im Zuge
von Rassenzüchtung und Erbgesundheitsgesetzen.
Allerdings wird das Gesetz auch bei uns infrage gestellt; nicht zuletzt wegen der Wertungswidersprüche zu den Abtreibungsregeln, die z.B. einen Schwangerschaftsabbruch in Grenzen erlauben, wenn sich bei der Untersuchung des Fruchtwassers eine
schwere Missbildung des Kindes herausstellt und deshalb das „Haben“ des Kindes
die Gesundheit der Mutter schwer zu schädigen droht. Muss also wegen des Verbots
der Präimplantationsdiagnostik die in-vitro-befruchtete Eizelle erst eingepflanzt werden, damit sie im Wege einer Pränatal-Diagnostik untersucht werden kann?
3. Rechtsschutz am Lebensende
Genug von den juristischen Problemen mit dem werdenden menschlichen Leben.
Existentieller herausgefordert werden wir Juristen an den Schnittebenen von Sein
und Vergehen; so für die ärztliche Betreuung von Sterbenskranken oder Lebensmüden durch die Fragen danach: Wie weit muss, wie weit darf der Rechtsschutz für das
Leben gehen, wo darf, wo muss er enden? Darf der Mensch selbst über sein Lebensende bestimmen, darf oder muss der Arzt ihm dabei helfen? Wenn ja, wie kann
der Mensch seinem Willen Geltung verschaffen, wenn er ihn nicht mehr äußern
kann?
Auch hier bewegen wir uns in dem Spannungsfeld der Grundrechte, von dem ich eingangs schon sprach: dem Grundrecht auf Leben, das das deutsche Strafrecht sogar
durch das Verbot einer Tötung auf Verlangen zu garantieren sucht; dem Recht auf
Selbstbestimmung, das das Zivilrecht, hier vor allem durch Richterrecht, zu einem
umfassenden Kodex für den Arzt ausgebaut hat, damit keine Behandlung ohne die
Einwilligung seines Patienten begonnen oder fortgesetzt wird; und das überformt wird
durch das Gebot, die Menschenwürde zu achten, als dem obersten Gebot für den
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Umgang des Staats und seiner Juristen mit dem Bürger nicht nur im Leben, sondern
auch im Sterben.
Einige grobe Wertungsmuster hat das Recht dem Arzt vorgezeichnet. Eingriffe des
Arztes mit dem Ziel der Lebensbeendigung, also die sog. aktive Sterbehilfe, verbietet
das deutsche Recht; anders als heute z.B. das Niederländische Recht bei entsprechendem Patientenwillen. Die Narkoseschwester, die in einem Krankenhaus in Wuppertal Schwerstkranken mittels einer tödlichen Injektion den Todeskampf ersparte,
wurde wegen Totschlags verurteilt; und nur deshalb nicht wegen Mordes aus Heimtücke, weil der BGH es ihr abnahm, dass ihr Mitleid mit den Kranken ganz im Vordergrund ihrer Taten stand.
Verurteilt worden wäre die Schwester auch dann, wenn die Patienten sie um die Giftspritze gebeten hätten. Den Willen des Selbstmörders erklärt das Strafrecht insoweit
also für unbeachtlich. Dem Arzt wird sogar die Pflicht auferlegt, den bewusstlosen
Selbstmörder nach seinem Suizidversuch wieder ins Leben zurückzuholen. Im sog.
Krefelder Fall des BGH aus 1984 war die 76-jährige lebensmüde Patientin bei einem
Hausbesuch ihres Arztes bewusstlos aufgefunden worden; unter den gefalteten Händen ein Zettel: „An meinen Arzt – bitte kein Krankenhaus – Erlösung!“ Wie der Arzt
erkannte, hatte sie eine Überdosis Morphium und Schlafmittel genommen. Der Arzt
wachte bei ihr, bis er nach Stunden den Tod feststellen konnte. Vor einer Verurteilung
wegen unterlassener Hilfeleistung rettete ihn nur, dass er bei seinem Eintreffen annehmen durfte, dass die Patientin bereits durch die Medikamente irreparabel geschädigt war.
Heute erkennen immerhin selbst die strengen Strafsenate des BGH, dass ein Tod in
Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten ein höherwertiges Rechtsgut ist als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen. Mit diesem Leitsatz hat der BGH 1996
einer Ärztin zugestanden, dem Krebspatienten in aussichtsloser Lage hochdosierte
Schmerzmittel zu geben, auch auf die Gefahr hin, dass damit der Tod schneller herbeigeführt wird; andererseits kann die Entkrampfung durch das Medikament auch
lebensverlängernd wirken.
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Zwar ist der BGH noch weit entfernt davon, das Sterben als einen wichtigen Lebensvorgang anzuerkennen und es deshalb als untrennbaren Bestandteil des Lebensschutzes zu verstehen. Zu tief ist das Misstrauen der hohen Richter vor Angehörigen
und Behandelnden, die eine solche Auffassung, die meines Erachtens am ehesten
auch der Menschenwürde-Garantie entspricht, für die eigenen Interessen missbrauchen könnten. Immerhin erlaubt der BGH heute dem Arzt bei schweren Erkrankungen mit aussichtsloser Prognose, auch schon bevor das Sterben unumkehrbar eingesetzt hat die sog. „passive Sterbehilfe“. Ein Umstellen der therapeutischen Bemühungen auf die sogenannte palliative Medizin, beschränkt im wesentlichen auf die
Linderung der Schmerzen, die psychische Betreuung und eine Basisversorgung in
Gestalt von Körperpflege, Freihalten der Atemwege und von Hunger- und Durstgefühl, was der Medizin heute auch mit kalorienfreien, zumindest mit kalorienarmen Mitteln möglich ist.
Voraussetzung ist allerdings, dass der Patient das will. Denn der Arzt braucht zum
Behandeln zwei Rechtfertigungen: Seine Maßnahme muss medizinisch indiziert sein:
leider sieht die Medizin bei dieser Bewertung auch heute noch allzu sehr auf das medizinisch Mögliche einer Lebensverlängerung und allzu wenig auf die Zumutbarkeit
der Therapie für den Patienten in seiner individuellen Situation. Umso wichtiger ist,
dass die Maßnahme von der Einwilligung des hinreichend aufgeklärten Patienten gedeckt sein muss, durch seinen „informed consent“. Insoweit ist der Patient nach deutschem Recht „Herr“ zwar nicht über seinen Tod, aber darüber, mit welcher Intensität
die Medizin sein Lebensende begleitet.
Gleichwohl bleibt die Persönlichkeit des Arztes entscheidend und sein Respekt vor
dem Willen des Patienten. Der Arzt kann versucht sein, den Wunsch des Patienten
nach Beendigung der Behandlung beiseite zu schieben mit der Erklärung, der Patient
habe nur Angst vor dem, was auf ihn zukommt. Oft wird die Entscheidung des Patienten gegen die Weiterbehandlung in der Tat nur die Unfähigkeit des Arztes offenbaren, ihm Vertrauen in einen humanen Umgang mit seinem Leiden zu vermitteln. Die
Sorge, dass der Arzt in der letzten Phase der Krankheit seine Entscheidungen nicht
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mehr ernst nimmt, treibt manche Patienten in die Arme von Leuten, die mit
Gebrauchsanweisungen zum Selbstmord Geschäfte machen.
Patientenautonomie am Ende des Lebens wird – das hat die Diskussion auf den
Deutschen Juristentagen 2000 und 2006 zu diesem Thema gezeigt – am sichersten
gewährleistet nicht durch das Recht und die Gerichte, sondern durch die Erziehung
der Medizin zu einem Bewusstsein, das im Mittelpunkt ärztlicher Arbeit die Individualität des Patienten sieht und zu einem menschenwürdigen Leben auch ein menschenwürdiges Sterben zählt. Dieses Bewusstsein sollte schon für die medizinische Indikation Allgemeingut werden. Rechtliche Sanktionen können nur äußerste Ränder erfassen und können nicht das Klima ersetzen, das für die Vertrauensbeziehung zwischen
Arzt und Patient nötig ist.
Die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten steht besonders auf
dem Prüfstand, wenn der Patient sich nicht mehr äußern kann, weil er bewusstlos ist
und für diesen Fall nicht durch ein Patiententestament oder eine Vorsorgevollmacht
vorgesorgt hat. Der BGH verlangt, dass dann nach dem mutmaßlichen Willen des
Patienten geforscht werden muss, etwa aus früheren Erklärungen gegenüber seinen
Angehörigen oder seinem Arzt, aus seiner Lebensführung. Indes wird diese Leitlinie
des BGH konfrontiert mit einer in der Ärzteschaft tief verwurzelten Tendenz, sich am
medizinisch Machbaren zu orientieren und die Ernsthaftigkeit und Aktualität des früher geäußerten Willens zu bezweifeln.
4. Problemkreis Hirntod
Nicht nur die Entstehung des menschlichen Lebens ist ein Prozess und das Sterben,
sondern auch der Tod selbst; ein Prozess, der bis zum Erlöschen aller Lebensfunktionen in den Zellen weit über das Grab hinaus reicht. Auch seine rechtliche Festlegung bedarf der normativen Bewertung, nachdem die Intensivmedizin den biologische Sterbeprozess aus der Ordnung gebracht hat durch ihre Möglichkeiten, ausgefallene vitale Funktionen des Organismus künstlich weiterzuführen bis hin zur Vision
von dem im Reagenzglas schlagenden Herzen, das nur noch „sich selbst lebt“.
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Auch diese normative Festlegung geschieht im Wege einer Abwägung der Schutzrechte, die uns in meinem Referat begleitet haben:
¾ des Grundrechtsschutzes für das Leben, das die Existenzbasis für die Verwirklichung der Individualität schützt;
¾ des Gebotes, die Menschenwürde zu achten und den Menschen auch im
Tod nicht zum Objekt zu erniedrigen;
¾ und sogar das Selbstbestimmungsrecht begegnet uns hier wieder, was prima vista etwas irritieren mag im Umfeld eines Rechts, das wie gesagt das
Töten auf Verlangen unter Strafe stellt.
Wir Juristen setzen das Selbstbestimmungsrecht hier vor allem ein, um die Entnahme
von Organen für eine Transplantation auf eine Legitimationsgrundlage zu stellen, die
in der Individualität des toten Spenders wurzelt; und ein bisschen vielleicht wollen wir
damit auch die Schärfe unserer normativen Festlegung für die Kritiker abmildern.
Woran soll das Recht den Tod heute festmachen?
Am irreversiblen Koma, d.h. am Tod des für das Bewusstsein maßgebenden Teils
des Gehirns?; am Hirntod als dem Tod des für die Steuerung des Organismus notwendigen „Gesamtgehirns“, allein oder nur in Verbindung mit dem Herztod?; am Ausfall aller ohne das Gehirn möglichen Vitalfunktionen einzelner Organe?; am Eintreten
von Leichstarre und Totenflecken? (Manchen wäre auch das noch zu früh!)
Kann man den Tod überhaupt durch ein Gesetz festlegen oder zwingt der Pluralismus der Auffassungen darüber, was das Menschsein ausmacht, auch das Recht dazu, die Antwort auf solche letzten Fragen offen zu lassen? Sollte der Jurist oder muss
er sogar auf eine einheitliche Festlegung verzichten und stattdessen differenzieren
nach den Aufgaben, die das Recht dem Todeszeitpunkt zumisst? Das deutsche
Transplantationsgesetz von 1997, dem eine lange und heftige Diskussion zu diesen
Fragen vorausgegangen ist, verlangt für die Organentnahme die Feststellung des
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Hirntods des Spenders. Ist damit der Todeszeitpunkt auch für andere rechtliche Problemfelder festgelegt?
Was die Legitimation des Rechts zur Festlegung des Todes angeht, so gilt dasselbe
wie für die Festlegung des Beginns für den rechtlichen Lebensschutz: In der Frage,
was der Tod ist, gibt es keine Abstimmung. Der eine beantwortet sie kraft seines
Glaubens; der andere mit Methoden und Mitteln der Naturwissenschaft; ein Dritter
anthropologisch-philosophisch. Aber die Gesellschaft kann und muss darüber abstimmen, bis wann die menschliche Existenz als Leben zu schützen ist vor Fremdeingriffen und Fremdverfügungen und bis wann das Verdikt der „Tötung“ reicht.
Und das Recht muss diesen Zeitpunkt einheitlich festlegen. Jede Differenzierung
nach der rechtlichen Aufgabe relativiert Tod und Leben durch Fremdinteressen, die
hier nicht mitzureden haben. Der Arzt muss wissen, ob er nach dem Verständnis der
Gesellschaft, in der er lebt, das Organ einem Lebenden oder einem Toten entnimmt;
denn die Entnahme eines für die Vitalfunktion notwendigen Organs bei einem Lebenden tötet.
Außerdem muss das Recht seine Festlegung an „Todeszeichen“ festmachen, die
eindeutig festzustellen und leicht nachzukontrollieren sind. Diese Zeichen kann der
Jurist nur von der Naturwissenschaft erhalten.
Die deutsche Gesetzgebung hat sich, wie gesagt, im Transplantationsgesetz 1997
zum Hirntod durchgerungen. Das war nicht selbstverständlich. Viele Menschen haben Angst davor, dass man sie zu früh für tot erklärt, um den großen Bedarf an lebfrischen Organen für eine Transplantation zu decken; ebenso wie manche der Medizin
zutrauen, sie zu Zwecken medizinischer Forschung künstlich am Leben zu halten.
Außerdem schafft es die Medizin, unter künstlicher Aufrechterhaltung der Atem- und
Kreislauffunktionen den Hirntoten wie lebendig erscheinen zu lassen: er behält alle
Funktionen, die auf das Rückmark angewiesen sind, und das vegetative Nervensystem: Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit; Fähigkeit zur Blutbildung; Beschleunigung
des Pulses bei der Operation zur Organentnahme; Muskelkontraktionen.
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Aber mit dem Versagen des Gesamthirns erlischt das Bewusstsein und die Fähigkeit
zur Steuerung der Organfunktionen unwiederbringlich; es ist die biologischphysiologische Grundlage für die Individualität aufgehoben. Biologisch entspricht der
Hirntod der Enthauptung. Das ist eine Zäsur, die zuverlässig und nachprüfbar medizinisch festzustellen ist. Auch das Grundrecht auf Leben verlangt die Erstreckung
seines Schutzes auf einen späteren Zeitpunkt nicht: das Grundrecht soll den Bürger
bei der Verwirklichung von geistigen, ideellen, kulturellen, wirtschaftlichen Werte
schützen; vor Fremdverfügungen nach dem Hirntod schützt ausreichend und angemessener das Recht auf Achtung vor dem Toten.
Nicht zuletzt zu ihrem Schutz verbietet das Transplantationsgesetz den Handel mit
Organen und verlangt die schriftliche Zustimmung des Spenders zu der Organentnahme; hat er sich zu Lebzeiten nicht erklärt, so ist die Organentnahme nur zulässig,
wenn die nächsten Angehörigen ihr zustimmen.
5. Zusammenfassung
Meine Ausführungen sollten Ihnen zeigen:
Das Recht ist nicht legitimiert dazu, dem Einzelnen sein Verständnis von Leben und
Tod vorzuschreiben. Aber das Recht muss den Beginn und das Ende seines Schutzes für das Leben festlegen. Die wachsenden Möglichkeiten dazu, Geburt, Sterben
und Tod zu manipulieren, haben diese Aufgabe des Rechts für den Juristen wichtiger, aber auch schwieriger gemacht.
Seine Festlegungen in den Prozessen von Beginn und Ende des Lebens hat das
deutsche Recht normativ aufgrund einer Interessenabwägung zu treffen, die sich an
den Grundrechtsgarantien für den Integritätsschutz für das Leben, für das Selbstbestimmungsrecht und für die Unantastbarkeit der Menschenwürde, aber auch an den
Forderungen der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit ausrichtet. Die normativen
Festlegungen sind in erster Linie Aufgabe der Gesetzgebung.
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Der Gesetzgeber kann nur sehr abstrakte Vorgaben geben; wenn er das denn überhaupt geben will. Gesetzeslücken hat die Rechtsprechung durch Richterrecht zu
schließen. Diese schwierige Aufgabe für den Juristen ist durch die Erfahrungen aus
der Zeit des Nationalsozialismus zusätzlich belastet. Die Ethik ist dabei heute eine
nur schwache Hilfe. Mit den „reinen“ Lehren des Papstes, von Moralphilosophen und
Ethikern tun sich Juristen schwer, zumal sie auch hier nie die rechts- und sozialpolitischen Dimensionen ihrer Entscheidungen außer Acht lassen dürfen.
Die Prozesse von Leben und Tod durch Wegmarken und Orientierungslinien justitiabel zu halten; dies auf der Grundlage von schwierigen Güter- und Interessenabwägungen: Balanceakte für uns Juristen, bei denen Abstürze vorprogrammiert sind. In
ihnen zeigt sich die Dynamik des Lebens und beweist sich die Lebensnähe der Juristenarbeit – auch ihre Gefährlichkeit für uns.
Aber wie sagte doch der schon eingangs zitierte Erich Kästner: „Leben ist immer lebensgefährlich“.
Der Autor:
Dr. Erich Steffen ist als Richter in dem für die Arzthaftung zuständigen VI. Zivilsenat
des Bundesgerichtshofs 23 Jahre mit medizinrechtlichen Problemen befasst gewesen, davon 11 Jahre als Senatsvorsitzender. Er ist durch zahlreiche Publikationen
zum Medizinrecht hervorgetreten. Er ist gemeinsam mit Dressler Autor des Werkes
„Arzthaftungsrecht“.
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In dieser Reihe sind bisher folgende Bände erschienen:
Band 1
Prof. Dr. Gerfried Fischer "Medizinische Versuche am Menschen", 2006
Band 2
Verena Ritz "Harmonisierung der rechtlichen Regelungen über den
Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen in der EG: Bioethik im
Spannungsfeld von Konstitutionalisierung, Menschenwürde und Kompetenzen", 2006
Band 3
Dunja Lautenschläger "Die Gesetzesvorlagen des Arbeitskreises Alternativentwurf zur Sterbehilfe aus den Jahren 1986 und 2005", 2006
Band 4
Dr. Jens Soukup, Dr. Karsten Jentzsch, Prof. Dr. Joachim Radke
"Schließen sich Ethik und Ökonomie aus", 2007
Band 5
Prof. Dr. Hans Lilie (Hrsg.) "Patientenrechte contra Ökonomisierung in
der Medizin", 2007
Band 6
Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und
Geweben (Transplantationsgesetz – TPG)
Auszug aus dem Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG)
Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens (Transfusionsgesetz TFG), 2007
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