Grundlagen einer Sozialpsychologie der Mensch-Tier

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R. Bergler (2008). Grundlagen einer Sozialpsychologie der Mensch-Tier-Beziehung.
Vortrag auf dem 2. Kongress Mensch und Tier – Tiere in Prävention und Therapie, Humboldt-Universität Berlin.
(1) Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie: Die Sozialpsychologie hat die Erforschung des Verhaltens
und Erlebens des Einzelnen aber auch von Gruppen in Interaktion mit anderen und seine innere Begründung
zum Gegenstand; im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen die Ereignisse des menschlichen
Zusammenlebens – auch des Zusammenlebens von Mensch und Tier. Hinzu kommt die Untersuchung
menschlichen Verhaltens in multikulturellen aber auch kollektiven Situationen. Zentrale Forschungsthemen
sind: (1) Sozialisationsforschung: Sozialisationsagenten – auch Tiere – und deren Bedeutung für die
menschliche Entwicklung. (2) Massenkommunikation: Grundlagen und Wirkungen: z. B. Heimtiere im
Fernsehen und der Werbung. (3) Gruppen und Gruppenverhalten, soziale Wertungen, z. B. die Vernetzung
der Mensch-Tier-Beziehung im persönlichen sozialen Umfeld (Familie, Partner, Freunde, Bekannte, Kinder);
das soziale Netzwerk in Reitställen als kommunikativer „Marktplatz“; Reitställe sind Prototypen eines sich
ständig fortentwickelnden sozialen Interaktionssystems mit unterschiedlichen Gruppenbildungen
(Gruppendynamik): Die Sozialpsychologie des Reitstalles als verkleinertes Abbild des sozialpsychologischen
wissenschaftlichen Forschungsfeldes. (4) Einstellungen, Vorurteile, Stereotype: z. B. die hochgradig
verfestigten „Images“ über typische Hunde-, Katzenhalter, „Aquarianer“, Dressur-, Geländereiter usw. Images
etikettieren Menschen und positionieren sie in unserem sozialen Umfeld; sie bestimmen
zwischenmenschliches Verhalten, wenn wir auf so etikettierte Menschen treffen. Der soziale „Kosmos“ wird
von einer Vielzahl solcher Vorstellungsbilder „bevölkert“; Menschen sind meistens davon überzeugt, dass
diese etablierten „Psychogramme“ die Wirklichkeit abbilden, also diagnostisch relevant sind. Alle
Vorstellungen, Einstellungen und Meinungen sind allerdings immer gruppenspezifisch, auch wenn sie so
behandelt werden, als ob sie das Resultat individueller Erfahrungen und Einsichten wären. Die
Gruppenspezifität wird z. B. sichtbar in den qualitativen Unterschieden zwischen dem Selbst- und Fremdbild
von Hundehaltern, Aquarianern, Katzenbesitzern, Reitern u. a. Die gruppenspezifisch stereotype soziale
Positionierung ist immer auch Basis der Zuordnung von Sympathie und Antipathie, sowie der Konfliktlösung
und -entstehung. (5) Soziale Wahrnehmung und die Psychologie des ersten Eindrucks; z. B.
Untersuchungen zur sozialen Eindrucksbildung am Beispiel des Schlüsselreizes „Hund“: Menschen mit
einem Hund werden qualitativ anders wahrgenommen als Menschen ohne Hund. Ein erster Eindruck
bekommt niemals eine zweite Chance. (6) Psychologie der verbalen und nonverbalen Kommunikation. Z. B.
steht im Mittelpunkt der Mensch-Tier-Beziehung die individuelle Qualität der nonverbalen Mensch-TierKommunikation; effektive Kommunikation auch zwischen Mensch und Tier ist an die Prägnanz und
wechselseitige Verständlichkeit des angewandten Codes gebunden, d. h. die Bedeutung der zur Anwendung
kommenden Zeichen muss wechselseitig identifiziert werden können. Das Ergebnis der Mensch-TierKommunikation ist nur der Verhaltensbeobachtung zugänglich. Verhaltensstörungen von Tieren sind
wesentlich in Kommunikationsstörungen zwischen Tier und Mensch begründet. Der Mensch und sein Tier
sind – sozialpsychologisch formuliert – immer eine Kommunikationseinheit. So ist der Hund für den
Menschen wesentlich ein soziales Wesen, dessen Verhalten in Wechselwirkung zum eigenen Verhalten
erlebt und bewertet wird. Die Qualität dieser Interaktions- und Kommunikationseinheit findet ihren Ausdruck
in der individuellen Beziehungsqualität und dem Beziehungsverhalten, wie sie sich zwischen den beiden
Kommunikationspartnern entwickeln.
(2) Sozialpsychologische Feldforschung: Eine Sozialpsychologie der Mensch-Tier-Beziehung ist primär eine
empirisch hinreichend begründete wissenschaftliche Feldforschung, d. h. sie muss in Theorie, Methode,
Auswertung und Interpretation dem Standard wissenschaftlichen Arbeitens entsprechen. Noch immer wird
bei vielen Veranstaltungen, Veröffentlichungen und dann auch in der angewandten Praxis wissenschaftlich
Nicht-Vertretbares quasiwissenschaftlich „verkauft“. Defizite der Diagnose der Beziehungsqualität und des
Beziehungsverhaltens schaden mittelfristig auch dem Forschungsgegenstand in der Öffentlichkeit wie in der
Wissenschaft. Tierliebe als Motivation garantiert noch lange nicht seriöse Forschung. Vier Leistungskriterien
sind an die Konzeption, Durchführung, Auswertung und kritische Bewertung solcher Untersuchungen
anzulegen: (1) Beschreibung: Sozialpsychologische Feldforschung zur Qualität und Intensität der MenschTier-Beziehung muss die Gesamtheit möglicher empirisch gefundener Erlebnisqualitäten in positiver
(benefits) wie negativer (risks) Hinsicht vollständig abbilden, d. h. alle Merkmale, die für die Beschreibung,
Erklärung und Vorhersage der spezifischen Untersuchungsthematik von zentraler auch theoretischer
Bedeutung sind, müssen erst einmal empirisch explorativ ausfindig gemacht werden und damit eindeutig
identifiziert sein: Die Findung des repräsentativen, konzeptadäquaten Itempools als Basis aller Forschung
zur Mensch-Tier-Beziehung. (2) Erklärung: Psychologische Feldforschung muss Verhalten replikationsfähig
hinreichend erklären, d. h. Beobachtungen und Einzeldaten müssen immer in ein übergreifendes logisches
theoretisches Modell eingeordnet werden. (3) Vorhersage: Die Diagnose der spezifischen Mensch-TierBeziehung ist nur dann ausreichend, wenn der Vorhersagewert der gewonnenen Daten hoch ist und z. B.
Fragen eindeutig beantwortet werden können wie: Unter welchen Bedingungen der Mensch-Hund-Beziehung
findet eine Steigerung bzw. Reduzierung der individuellen Stressbelastung statt? Unter welchen
Bedingungen, d. h. bei welcher Qualität der Mensch-Tier-Beziehung lassen sich bei Kindern – Jugendlichen
– positive Einflüsse eines Hundes auf die Entwicklung schul- und leistungsrelevanter sozialer Kompetenzen
nachweisen? (4) Intervention: Nur eine eindeutige Diagnose der Mensch-Tier-Beziehung und ein hoher
Erklärungswert dieser Befunde macht es möglich, Forschungsergebnisse anwendungsorientiert in
Verhaltensstrategien umzusetzen, also Verhalten zu verändern und z. B. das Ausmaß der alltäglichen
Stressbewältigung zu reduzieren. Empirische Sozialpsychologie ist immer verpflichtet, einen Beitrag zur
Kontrolle, Entwicklung und weiteren Evaluierung Erfolg versprechender Interventionsstrategien zu leisten.
Die gravierenden Defizite vieler vorliegender Untersuchungen zur Mensch-Tier-Beziehung liegen in den
Bereichen von Theorie und Methode aber auch der Vernachlässigung von systematischen Literaturanalysen
jenseits des Internetniveaus: Literaturanalyse als Grundlage für die Entwicklung des eigenen theoretischen
Erklärungsmodells. Jede Untersuchung muss implizite theoretische Modellvorstellungen explizit machen.
Symptomatisch für viele Untersuchungen der Mensch-Tier-Beziehung ist nicht selten der naive Umgang mit
vielfach naiv entwickelten Erhebungsinstrumenten oder aber auch der naive Rückgriff auf Fragebogen oder
auch Skalen, bei denen die kritische Frage nach deren Entwicklung und Überprüfung überhaupt nicht gestellt
und damit Fehldiagnosen vorprogrammiert sind.
(3) Offene Fragen an die Forschung: Die differentielle Sozialpsychologie der Mensch-Tier-Beziehung bedarf
verstärkt (1) einer theoretischen Begründung und der darauf aufbauenden Generierung von
Untersuchungshypothesen; (2) der weiteren zielgruppenspezifischen Modifizierung also Evaluierung und
Validierung standardisierter Methoden mit hohem Erklärungs- und Vorhersagewert; (3) der Entwicklung und
Anwendung kausalanalytischer Statistikmodelle, mindestens aber der Anwendung von Regressionsmodellen;
(4) der Berücksichtigung von Erkenntnissen der Verhaltensforschung wie des wechselseitigen
Beziehungsverhaltens von Mensch und Tier.
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