Erscheinungsort: Wien; Verlagspostamt: A-8600 Bruck/Mur Jahrgang 13, Ausgabe 5/09 - REPRINT REPRINT ISSN 1682-6833 Procalcitonin zur Diagnose bakterieller Infektionen und Steuerung der Antibiotikatherapie Klinische Anamnese und Untersuchung sowie radiologische und konventionelle laborchemische Befunde ermöglichen keine suffiziente Differenzierung zwischen bakteriellen und nicht-bakteriellen Infektionen oder nicht-infektiösen Krankheitsbildern. Selbst mikrobiologische Standardverfahren wie Blutkulturen und Sputumdiagnostik haben nur unzureichende Sensitivität und Spezifität. Dies gilt ebenfalls für molekularbiologische Tests, die darüberhinaus bislang eingeschränkt verfügbar sind. Um das Problem des fehlenden Goldstandards zu umgehen, wurden randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, bei denen der klinische Outcome im Vordergrund steht und die Antibiotikagabe mit Hilfe eines Procalcitonin (PCT-)basierten Algorithmus gesteuert wird. Dabei geht man davon aus, dass Patienten, die kein Antibiotikum erhalten, jedoch eine komplikationslose Heilung erfahren, keine schwere, das heißt Antibiotika-bedürftige, bakterielle Infektion hatten. Aufgrund ihrer Häufigkeit und ihres Spektrums von banalen grippalen Infekten bis zu vitalbedrohlicher septischer Pneumonie stellen sie ein ideales Modell zur Entwicklung und Validierung von Biomarker-gesteuerter Antibiotikatherapie dar, insbesondere weil Atemwegsinfekte für ca. 75% aller Anti- 100 10 1 0,1 0,01 Kein SIRS Keine Infektion SIRS Sepsis Schwere Sepsis Septischer Schock Abb. 1: Wahrscheinlichkeit bakterieller Infektionen in Abhängigkeit der Höhe des Procalcitonin-Werts bei Patienten auf Intensivstationen (nach Müller B; Crit Care Med 2000; 28:977) SIRS – systemic inflammatory response syndrome biotikaverschreibungen verantwortlich sind, obgleich mehrheitlich viraler Ätiologie. Procalcitonin (PCT) ist zum einen ein Vorläuferpeptid des Hormons Calcitonin. Andererseits wird PCT, getriggert durch Endotoxin und Cytokine, bei bakteriellen Infektionen sowie bei schweren systemischen Entzündungen ubiquitär aus parenchymatösen Organen mehrere tausendfach über den Normwerten freigesetzt. Seine Werte steigen nach 4 Stunden an und erreichen nach 8 bis 24 Stunden ein Maximum mit einer biologischen Halbwertszeit von 22 bis 35 Stunden. Obwohl auch die Höhe des PCT-Wertes mit Schweregrad und Ausmaß der Infektion korreliert, muss betont werden, dass PCT weder eine bakterielle Infektion beweist noch ausschließt, sondern als Surrogatmarker lediglich deren Wahrscheinlichkeit und auch www.intensivmedizin.at | www.dgiin.de | www.sepsis-gesellschaft.de | Archiv: www.medicom.cc Procalcitonin zur Therapiesteuerung Schweregrad widerspiegelt (Müller B. Crit Care Med 2000; 28:977) (Abb. 1). Entsprechende cut-off Bereiche, die mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit für oder gegen eine schwere bakterielle Infektion und damit für oder gegen eine Antibiotikagabe sprechen, wurden je nach Krankheitsbild und Setting berechnet (Abb. 2). Verschiedene Tests zur Messung des PCT sind derzeit kommerziell erhältlich. Gegenüber relativ insensitiven Assays (Lumitest®, PCT-LIA®), die beispielsweise die Diagnose einer Sepsis auf einer Intensivstation ermöglichen, sind sensitivere Tests wie Kryptor® oder Vidas® (funktionelle Assay-Sensitivität 0.06 µg/L) vorzuziehen, die auch den Nachweis nur leicht erhöhter Werte bei Patienten mit weniger schweren Infektionen sowie die Steuerung der Antibiotikatherapie erlauben. Bei Atemwegsinfektionen wurden bislang fünf randomisierte kontrollierte Interventionsstudien zur PCT-gesteuerten Antibiotikatherapie mit dem Kryptor-Assay publiziert. In der ProRESPStudie wurden 243 Patienten mit Verdacht auf Atemwegsinfekt auf der Notfallstation der Universitätsklinik Basel in zwei Gruppen randomisiert, von denen die PCT-Gruppe Antibiotika gemäß einem PCT-basierten Algorithmus, die Kontrollgruppe dagegen entsprechend lokalen und internationalen Richtlinien erhielt (Christ-Crain M. Lancet 2004; 363:600). Dabei konnte ohne erhöhtes Risiko für Komplikationen die initiale Antibiotikagabe signifikant von 83 auf 44% gesenkt werden, mit der größten Reduktion bei Patienten mit Bronchitis (bzw. nicht-pneumonischen Atemwegsinfektionen). In der Folgestudie Pro-CAP bei Pneumonie-Patienten ermöglichte die alle zwei Tage durchgeführte PCT-Messung eine signifikante Verkürzung der Antibiotikatherapiedauer von 12.9 auf 5.8 Tage (Christ-Crain M. AJRCCM 2006; 174: 84). Dabei wurde die Fortführung oder Beendigung der Antibiotikatherapie je nach aktuellem PCT-Wert unter Anwendung der gleichen cut-off-Bereiche empfohlen. Interessanterweise war im Gegensatz zur Kontrollgruppe nur in der PCT-Grup2 PCT-gesteuerte Antibiotika-Therapie Abb. 2: PCT-gesteuerte Antibiotikatherapie. Cut-off Bereiche variieren je nach Diagnose und Behandlungsort. PCT – Procalcitonin; Sept. Schock – septischer Schock; GP – general pracitioner (ambulante Behandlung); ER – emergency room (Notfallstation); ICU – intensive care unit (Intensivstation); COPD – chronisch obstruktive Bronchitis; RTI – respiratory tract infection (Atemwegsinfektion). (Nach Schuetz P; Curr Opinion Crit Care 2007; 13:578). pe die Dauer der Antibiotikatherapie bei bakteriämischer Pneumonie länger als bei nicht-bakteriämischer Pneumonie. Dieser Algorithmus erwies sich als ebenso sicher und effizient bei ambulanten Patienten mit Atemwegsinfekten mit einer Reduktion des Antibiotikakonsums um 75% und einer Verminderung der Antibiotika-assoziierten Nebenwirkungen wie Diarrhoe ohne Zunahme der Krankheitstage. Bei Patienten mit COPD-Exazerbation, die nach diesem Algorithmus behandelt wurden, war das Risiko eines 6-Monats-Rezidivs nicht erhöht trotz einer Reduktion der Antibiotikaexposition um 44% während der Indexhospitalisation und um 24% über die gesamten 6 Monate (Stolz D. Chest 2007; 131:9). Die multizentrische, randomisierte, kontrollierte ProHOSP-Studie an 6 Schweizer Spitälern bestätigte die Sicherheit und Effizienz der PCT-gesteuerten Antibiotikatherapie an 1359 Patienten mit Atemwegsinfekten. In einer randomisierten, kontrollierten Studie bei kritisch-kranken septischen Patienten auf einer Genfer Intensivstation ermöglichte ein ähnlicher PCT-Algorithmus die Verkürzung der Antibiotikadauer von 9.5 auf 6 Tage bei unveränderter Mortalität und Relapsrate (Nobre V. AJRCCM 2008; 177: 498). Dabei wurde ein Stopp der Antibiotikatherapie empfohlen, wenn die ab dem dritten Tag täglich gemessenen PCT-Werte im Verlauf um >90% des Initialwertes oder auf <0.25 µg/l abfielen. Bei einer Vielzahl anderer infektiologischer Krankheitsbilder liegen Observationsstudien, jedoch keine interventionellen Studien zum diagnostischen Stellenwert von PCT vor. Bei ihrer Würdigung sollte immer der inhärent fehlende Goldstandard berücksichtigt werden. In einer retrospektiven Untersuchung an Erwachsenen mit Fieber wurde postuliert, dass ein PCT-Wert <0.4 µg/L in 98.8% eine Bakteriämie ausschließt und damit Blutkulturen eingespart werden könnten. Kritikpunkte an dieser bislang nicht reproduzierten Studie sind die Anwendung des für diese Indikation zu insensitiven LUMITest® PCT-Assays soNr. 5, 2009 Procalcitonin zur Therapiesteuerung wie die klinische Erfahrung, dass auch nicht-bakteriämische Infektionen mit hoher Morbidität und Mortalität einhergehen können. Weiterhin würde dadurch beispielsweise bei Patienten mit subakuter Endokarditis lenta, die häufig niedrige PCT-Werte zeigt, die Erregerdiagnostik in unangemessener Weise eingeschränkt. Andererseits ermöglichte PCT (gemessen mit einem ultrasensitiven Assay) in einer Pilotstudie bei einem cut-off von 0.1 µg/L eine Differenzierung zwischen Kontamination und echter Bakteriämie mit Koagulase-negativen Staphylokokken mit einer Sensitivität von 86% bereits am Tag vor Abnahme der Blutkultur und 100% am Tag der Blutkulturabnahme. Dies steht im Gegensatz zu einer deutlich schlechteren Zuverlässigkeit von anderen in der Routine verwendeten Surrogatmarkern wie C-reaktivem Protein und Leukozytose. In einer weiteren Studie wiesen Patienten mit Endokarditis höhere PCT-Werte auf, als wenn sich der Endokarditisverdacht nicht bestätigte (6.6 vs. 0.4 µg/L). Bei einem optimalen cut-off von 2.3 µg/L war die diagnostische Genauigkeit von PCT höher als die von CRP mit einem NPV von 92% und einem PPV von 72%. Weiterhin war das PCT bei Patienten mit Staphylococcus aureus Endokarditis signifikant höher als bei S. aureus Bakteriämie ohne Endokarditis. Unklar bleibt jedoch, ob diese Resultate auch bei Patienten mit wenig-virulenten Erregern, subakuter Endokarditis oder Prothesenendokarditis zutreffen. Bei neutropenen Patienten mit Fieber kann eine Infektion unbehandelt rasch vitalbedrohlich werden aufgrund der eingeschränkten Immunantwort, welche ihrerseits zu einem verminderten Anstieg konventioneller Biomarker wie dem CRP führt. Bei Sepsis wird PCT vor- wiegend von parenchymatösen Organen und nur unwesentlich von neutrophilen Granulozyten freigesetzt, weshalb PCT theoretisch bei der Diagnose von bakteriellen Infektionen auch bei immunsupprimierten Patienten Vorteile bietet. Während einige Studien mit weniger sensitiven PCT-Assays eine vielversprechende diagnostische Rolle von PCT suggerieren, liegt derzeit nur eine Studie an 56 Kindern mit febriler Neutropenie vor, die mit einem hochsensitiven PCT-Assay durchgeführt wurde (Stryiewski G. Pediatr Crit Care Med 2005; 6:129). Darin waren lediglich PCT und IL-8 signifikant mit bakteriellen Infektionen assoziiert, jedoch erzielte insbesondere eine Kombination beider Biomarker eine ausreichend hohe Sensitivität, Spezifität und Vorhersagewerte. Die Bedeutung von PCT bei der Diagnose von Ventilator-assoziierter Pneumonie (VAP) scheint trotz einzelner Procalcitonin-gesteuerte Antibiotikatherapie - Algorithmus Abb. 3: Modifizierter Procalcitonin-Algorithmus zur Steuerung der Antibiotikatherapie bei Atemwegsinfektionen Nr. 5, 2009 3 Procalcitonin zur Therapiesteuerung Tabelle 1: Randomisierte kontrollierte Interventionsstudien zur Procalcitonin-gesteuerten Antibiotikatherapie Christ-Crain M. AJRCCM 2006; 174:84 (ProCAP) Stolz D. Chest 2007; 131:9 (ProCOLD) Briel M. Arch Nobre V. Intern Med AJRCCM 2008; 2008; 168:2000 177:498 (PARTI) Hochreiter S. Anaesthesist 2008; 57:571 Patientenpopulation Infekte der unteren Luftwege Ambulant erworbene Pneumonie Infektexazerbation bei COPD Ambulante Infekte der unteren Luftwege Schwere Sepsis auf Intensivstation Infektionen auf chirurgischer Intensivstation PCT-Assay Kryptor-PCT Kryptor-PCT Kryptor-PCT Kryptor-PCT Kryptor-PCT PCT-Lumitest Anzahl der Patienten 243 302 208 458 79 110 Reduktion der Antibiotikainitiation 83% -> 44% (p<0.0001) 99% -> 85% (p<0.001) 72% -> 40% (p<0.0001) 97% -> 25% 95% CI: -66 bis -78% 0 0 Reduktion der Antibiotikadauer 12.8 -> 10.9d (p=0.03) 12.9 -> 5.8d (p<0.001) 7.1 -> 6.2d 95% CI: -0.4 bis -1.7d 9.5 -> 6d (p=0.15) 7.9 -> 5.9d (p<0.001) kleiner erfolgreicher Studien eher gering. Dies liegt wahrscheinlich erstens an dem hohen „Background-Noise“ aufgrund von ARDS, postoperativen Zuständen, Multiorganversagen und unspezifischem SIRS bei Patienten auf Intensivstationen; zweitens an der relativ geringen inflammatorischen Reaktion durch die für VAP verantwortlichen häufig relativ indolenten opportunistischen Krankheitserreger, die mit geringer PCTErhöhung einhergehen; und schließlich an dem Dilemma eines fehlenden Goldstandards für die VAP-Diagnose. Dagegen ermöglicht PCT sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen eine bessere Differenzierung zwischen bakterieller und aseptischer Meningitis als konventionelle Liquorparameter. Bei einem cut-off von 0.5 µg/L betrug die Sensitivität für eine bakterielle Ätiologie 99% in einer Multizenterstudie bei 198 Kindern mit Meningitis (Dubos F. Arch Ped Adol Med 2008; 162: 1157). Vorsicht scheint jedoch insbesondere bei Shuntinfektionen, nosokomialer Meningitis mit wenig virulenten Erregern und nach vorhergehender Antibiotikatherapie geboten, insbesondere in Abwesenheit von Daten aus kontrollierten (Interventions)Studien. 4 In einer frühen prospektiven Beobachtungsstudie blieb PCT bei Patienten mit akuter ödematöser Pankreatitis oder mit steriler Nekrose niedrig, während ein PCT-Anstieg die Entwicklung einer infizierten Nekrose oder nach chirurgischer Intervention einen komplizierten postoperativen Verlauf ankündigte (Rau B. Gut 1997; 41:832). Bei allem Enthusiasmus über diese vielversprechenden bis revolutionären Daten über die zielgerechtere und nebenwirkungsärmere Antibiotikatherapie bei ambulant erworbenen Atemwegsinfektionen sollten, wie oben mehrfach betont, stets die Limitationen von PCT insbesondere bei Infektionen außerhalb der Atemwege beachtet werden (ChristCrain M. Swiss Med Wkly 2005; 135: 451). Die cut-off-Bereiche sind abhängig von der Diagnose, dem Schweregrad sowie dem verwendeten Assay. Hohe Werte in Abwesenheit einer bakteriellen Infektion finden sich bei einer Reihe von systemischen Entzündungszuständen (ARDS, postoperativ, Verbrennungen) und in der Neugeborenenperiode, während falschniedrige Werte im frühen Stadium einer Infektion sowie bei lokalisierten oder subakuten Infektionen, Tuberkulose oder opportunistischen Infektionen auftreten können. Insbesondere kann PCT weder den mikrobiologischen Erregernachweis oder ein Antibiogramm noch die klinische Beurteilung ersetzen. Nichtsdestotrotz hat sich PCT als guter Surrogatmarker für Entzündungen und bakterielle Infektionen erwiesen. Sein track record in mehreren randomisierten, kontrollierten Interventionsstudien bei Atemwegsinfektionen und Sepsis an bereits mehr als 3200 Patienten dokumentiert eindrücklich, dass eine PCTgesteuerte Antibiotikatherapie erfolgreich den Antibiotika(über)-konsum reduziert, ohne erhöhtes Risiko für vermehrte Komplikationen. Dr. Werner C. Albrich, MSCR Department Innere Medizin Kantonsspital Aarau, Schweiz [email protected] Prof. Dr. Beat Müller Department Innere Medizin Kantonsspital Aarau, Schweiz [email protected] 106030 Christ-Crain M. Lancet 2004; 363:600 (ProResp) Nr. 5, 2009