Situe 3iird|cr INLAND Ailinift Murmeltiere Samstag/Sonnlag, 24./2S. Oktober 1987 Nr. 247 23 - populär, aber wenig erforscht EnergiekünstDas Murmeltier ist ein wahrer fleissige Nager geler. Im Herbst speichert der waltige Fettreserven, und im langen Winterschlaf reduziert er seine Körperfunktionen auf ein unglaubliches Minimum: totale Körperstarre, pro Minute höchstens ein Atemzug und bloss drei bis vier Herzschläge. Doch der Winterschlaf ist nicht das einzig Bemerkenswerte an diesem possierlichen Tier. Menschen mögen Tiere, die «Männchen» machen und dabei aussehen wie kleine Menschlein: zum Beispiel Kaninchen, Hasen oder gehören, Hörnchen. Zu dieser letzteren Familie so seltsam es tönt, auch die Murmeltiere. ObMungg gleich der gedrungene auf den ersten Blick mit dem grazilen Eichhörnchen nicht viel gemeinsam zu haben scheint, so ist doch, näher betrachtet, bei beiden Nagern sowohl in Körperform als auch im Verhalten manche Übereinstimmung zu finden. Schaubudcn-«Hergmuus» Natürlich hat der Name Murmeltier nichts mit «murmeln» zu tun; im Gegenteil, die kleijeder nen Tiere äussern sich recht lautstark, wie Bergwanderer weiss, der sein Auto in den Alpen weit verlassen Steinwurf einen als schon mehr hat... Das mit dem Namen kam vielmehr so: Weil sie in Löchern wohnen und wie Mäuse pfeifen, nannten die alten Römer diese pelzigen Nager «mures montis», zu deutsch Bergmäuse. Daraus entstand das althochdeutsche «murmentin», was schliesslich zu «Murmeltier» führte. Wie immer man es liebevoll bezeichnet, ob Murmeli (Schweiz), Murmele (Allgäu), Mankei (Oberbayern), Bormenta (Vorarlberg) oder Marmotte (französische Alpen) das Murmeltier war immer populär. Wie Tanzbär und Affe gehörte bis ins letzte Jahrhundert auch die «Bergmaus» zur Schaubudenattraktion auf den Jahrmärkten Europas, wo sie zu den Klängen einer Flöte possierlich zu janzen hatte. Wohl schlimmer für die Murmeltiere war jedoch die weitverbreitete Mär von der angeblich sensationellen Heilwirkung des Munggenfettes. Dies kostete allein in der Schweiz in einem Jahr (1944) 16 000 Tieren das Leben. Dennoch zählen die Murmeli glücklicherweise heute nicht zu den gefährdeten Tierarten. - - 247 - Vom Stoppen- zum Gebirgstier Wenn man heute vom Alpenmurmeltier spricht und damit ein ausgesprochenes Gebirgstier meint, so muss man sich bewusst sein, dass dieses grosse Nagetier einst auch in weiten Teilen des europäischen Tieflandes heimisch war. Den Wechsel ins Gebirge nahm es allerdings nicht grundlos vor. Es wurde dazu gezwungen, klimabedingt. Wie bei so manch anderer Tierart haben auch beim Murmeltier die Eiszeiten sein Vorkommen diktiert. Mitteleuropa war während der Eiszeiten eine baumlose Steppe, eingeschlossen zwischen weit fiber ihre Grenzen hinaus vergletscherten Alpen und dem unter Polareis ruhenden Nordeuropa. In dieser kargen Vegetation lebte das Murmeltier, wie Ausgrabungsfunde belegen. Als die Gletscher zwischeneiszeitlich und nach der letzten Eiszeit, also vor etwa 15 000 Jahren, endgültig wichen, da breiteten sich in Europas Senken wieder Wälder aus. Und da das Murmeltier (mit Ausnahme des nordamerikanischen Waldmurmeltiers) solche nicht mag, zog es aus in Richtung asiatische Steppen und hinauf auf die Alpen, wo sich ja, über der Waldgrenze, auch eine Art Steppe befindet. So also wurde bei uns das Steppen- zum Alpenmurmeltier. Überleben dank Fettleibigkeit Da der unbarmherzige Gebirgswinter über der Waldgrenze den Munggen kein Überleben im Freien erlaubt, verbringen sie die kalte Jahreszeit ab Mitte bis Ende Oktober schlafend unter der Erde, ganze sechs Monate oder mehr, ohne jegliche Nahrungsaufnahme. Denn sie sind einerseits zu gross, um den Mäusen gleich zwischen Schneedecke und Boden nach Futter zu suchen, und anderseits zu kurzbeinig, um tiefergelegene, nahrungsreiwie die Gemsen chere Waldungen zu erreichen. Deshalb sorgen sie gegen Ende des Alpsommers vor. Was beim Menschen verpönt, ist beim Murmeltier Pflichtübung: das Anlegen von Fettreserven, mehr als ein Kilogramm pro erwachsenes Tier. Je molliger im Herbst, desto drolliger im Frühling, heisst die Lebensphilosophie der «Bergmäuse». Das Vollstopfen des Bauches mit Gras und Kräutern ist ihnen jetzt wichtiger als jede andere Aktivität. Mehr als die Hälfte der Zeit ausserhalb des Baus dient im Herbst dem Fressen eine Art Mastmethode der Natur. Vor allem Jungtiere, die sowohl wachsen als auch bereits Winterreserven anlegen müssen, entpuppen sich als ernährungsphysiologische Wunder- - - - - - wesen. «Wildheuet» u la Marmotte Noch etwas kündet den langen Winterschlaf an: Wenn das Alpengras im Herbst zu verdorren beginnt, hebt für die Murmeltiere der «Wildheuet» an. Nicht zum Anlegen von Futterreserven (denn sie fressen ja während des Winterschlafes überhaupt nichts), sondern allein zur Polsterung der Kessel im Winterbau. «Zu diesem Zweck», so berichtete eine bereits vom römischen Naturforscher Plinius wiedergegebene und bis in die heutige Zeit kolportierte Legende, «legt sich ein Murmeltier auf den Rücken, wird mit Heu beladen, hält die Ladung fest, lässt sich von einem anderen mit den Zähnen am Schwanze packen und in die Höhle ziehen». Das ist natürlich pures Älpler- und Jägerlatein. In Wirklichkeit und das kann ein aufmerksamer Bergwanderer sogar selber beobachten rupfen und reissen die jetzt mollig gewordenen Nager trockene Grasbüschel mit den Zähnen ab und ordnen sie mit den Vorderpfoten im Maul manierlich zu einem riesigen «Schnurrbart». So wie die Wildheuer ihre «Burdi» auf dem Rükken ins Stafel tragen, so bugsieren die Munggen ihre «Schnurrete» in den Bau. Untersuchungen im Schweizerischen Nationalpark haben gezeigt, dass einzelne Familien jährlich bis zu fünfzehn Kilo Heugras in ihren Schlafkessel eintra- - gen. - Architektur unter Tag Der Lebensraum der Murmeltiere, grosse zusammenhängende und baumlose Grasflächen oberhalb der Waldgrenze, bietet weder Dekkung vor Feinden (Steinadler, Fuchs) noch Sonderausstellung in Winterthur Eine Sonderausstellung zum Thema «Murmeltiere», die vom Bündner Natur-Museum in Chur realisiert wurde, wird im Temporärsaal der Naturwissenschaftlichen Sammlungen Winterthur an der Museumsstrasse 52 vom 3t. Oktober 1987 bis 24. Januar 1988 zu sehen sein täglich ausser Montag von 10 bis t (geöffne Uhr). 12 und von 14 bis 17 - Zwischen Leben und Scheintod Alle Mitglieder einer Murmeltierfamilie, allenfalls bis zu fünfzehn Tiere, verbringen den Winter im selben Schlafgemach, jedes Tier eingerollt, die Nase zwischen den Hinterbeinen, und alle dicht zusammengekuschelt. Ihre Körper fühlen sich steif an, wie scheintot. Ein Wunder der Natur; der Organismus arbeitet auf Sparflamme: pro Minute lediglich drei bis vier Herzschläge und knapp ein Atemzug, Körpertemperatur nur zwei bis drei Grad über jener des Schlafkessels, welche ihrerseits bloss wenig über dem Gefrierpunkt liegt. Der gemeinsame, synchrone Winterschlaf in engem Körperkontakt vermindert durch gegenseitiges Sichwärmen den Energieverlust und ert die Überlebenschance. Die Nierenhöht dami funktion allerdings bewirkt, dass dieser todähnliche Schlaf dennoch unterbrochen wird. Alle drei bis vier Wochen müssen die Murmeltiere die Blase leeren, welches Geschäft sie als säuberliche Wesen nicht im Schlafkessel, sondern in einer entlegenen Röhre des Baues erledigen. - Baue bedeckenden Schnee ins Freie und sind froh, für die bevorstehende entbehrungsreiche Zeitspanne (kalorienverzehrende Paarungszeit bei vorläufig kargem Futterangebot) noch über die restlichen Fettreserven zu verfügen. Mit erstaunlichem Orientierungsvermögen finden sie unter den weiten Schneefeldern haargenau die Eingänge zu den übrigen Bauten, die nicht zum Überwintern dienten. Kaum aus dem Winterschlaf erwacht, beginnt also bereits die Hochzeit, und nach 32 bis Bauchseite Eingeweidefett Haut - Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert und die Körpertemperatur stark abgesenkt, das heisst, es tritt eine Körperstarre ein. Deshalb dauert das Erwachen nicht bloss Augenblicke, sondern Stunden. Typische Winterschläfer bei uns sind neben dem Murmeltier Haselmaus, Igel, Fledermäuse und natürlich, wie schon der Name sagt. Sieben- und Gartenschläfer. Daneben gibt es aber noch andere «Penner», die sich im Winter vermehrt zurückziehen und viel schlafen, jedoch ohne in eine Starre zu verfallen. Im Gegensatz zum WinterjcA/a/machen sie bloss eine Wintern//«-, zum Beispiel Waldmaus, Eichhörnchen und Dachs. Und im Unterschied - Nun hatte man Übersicht und stellte fest: Murmeltiere leben in eigentlichen Familien von drei bis fünfzehn Tieren auf einer Fläche von etwa zwei bis drei Hektaren. Die Wohngebiete verschiedener Familien sind streng gegeneinander abgegrenzt. Die älteren Tiere leben in «treuer Ehe». Die Mutter sorgt sich um die Kinder, dieweil der Vater auf die bösen Nachbarn aufpasst und die Seinen verteidigt. Dabei werden die Territoriumsgrenzen durch Wangenreiben (Duftdrüse) markiert, ja sogar in eigentlichen «Patrouillengängen» kontrolliert. Die Begegnungen Familienmitgliedern verläuft meist friedlich, mit Schwanzwippen, gegenseitigem Beschnuppern und Putzen. Eindringlinge dagegen werden mit Zähneklappern und drohend aufgestelltem Schwanz verscheucht. Jungtiere wiederum lernen den Sozial- kontakt mit Verfolgungsjagden und Kampfspielen, indem beispielsweise zwei Tiere «Mannchen »-machend sich aus dem Gleichgewicht zu bringen versuchen, bis sie ein Stück weit den Hang hinunterpurzcln. Murmeltiermütter gebären nicht regelmässig jedes Jahr. Wenn ihre Jungen mit fünf Wochen den Bau verlassen, sind diese schon recht selbständig, wie Nestflüchter, behalten aber innigen Kontakt zur Mutter. Mama ist auch nicht so gleichgültig oder sogar mürrisch wie der Vater. Das Verhältnis zu diesem ist denn auch zwiespältig, wird im zweiten Lebensjahr zunehmend urfreundlich und steigert sich in einen aggressiven Generationenkonflikt. Daher müssen die nun bald geschlechtsreifen Jungtiere aus dem elterlichen Revier auswandern und nach oft abenteuerlichen Irrfahrten durch Fremdterritorien im Niemandsland mit einem eigenen Partner eine neue Zukunft graben. Schreie, nicht Pfiffe eine Technik der Natur - Hals), so tweis auch sein stabiles Skelett auf Grabtätigkeil hin: starke Beinknochen, (vorne vier und hinten fünf) gut bewegliche Zehen, stumpfe Grabklauen. (Bild Franz Jaggy) Das faszinierende soziale System und die strikte räumliche Organisation der Murmeltierfamilien wurde erst in den letzten Jahren eingehend untersucht, in der Schweiz vor allem durch den Wildbiologen Dr. Beat Naej-Daenzer (Ethologische Station der Universität Bern), und dies im Berner Oberland. Da die einzelnen Munggen kaum zu unterscheiden sind, ja selbst die Geschlechter bei erwachsenen Tieren nur schwerlich, musste zuerst eine grössere Anzahl eingefangen und mit farbigen Ohrmarken versehen werden. Rasantes Wachstum Wenn die ersten Schneefälle einsetzen, werden die sonst munteren Munggen immer träger, kommen nicht mehr alle zusammen aus dem Bau heraus, machen immer kleinere Exkursionen, sitzen stundenlang wie in Trauer vor dem Winterbau und verschwinden schliesslich beim ersten richtigen Schneesturm definitiv darin. Doch bevor sie sich gänzlich zur Ruhe legen, verschliessen sie die schneeverwehten Eingangslöcher von innen her zusätzlich mit einem «Zapfen» aus zusammengescharrter Erde. Im Gegensatz zum normalen Ruheschlaf von Warmblütern werden im Winterschlaf sämtliche So wie beim Murmeltier das Körperäussere Anpassung ans Leben in Bauen verrät (gedrungener Körper, kräftige Bemuskelung, elastischer Brustkorb, beweglicher zu den Winterschläfern sind die Winterruher neben Fettreserven auch auf Nahrungsdepots angewiesen, um zu überleben. Eine «innere Uhr» lässt die Tiere im Frühling zur richtigen Zeit wieder erwachen, dann, wenn der Schnee erste apere Flecken freigibt, also Mitte April bis Anfang Mai. Die sichtlich abgemagerten Tiere graben sich durch den die - boden; nicht tiefer als eineinhalb Meter) und Winterbau, welcher oft als Dauerbau ganzjährig bewohnt wird (enge und lange Mündungsröhre, breiterer und ansteigender Gang zur Hauptkammer; häufig tiefer als zwei Meter). Die zum Teil mächtigen Auswurfhügel lassen die Grösse der Murmeltierbaue erahnen, Lebenswerk meist mehrerer Generationen. - Das Ausgraben von Murmeltieren, heute vorzugsweise benutzt zum Aussetzen von «Bergmäusen» aus guten Beständen in murmeltierfreie Gebiete (wie hier auf dem Bild). Die zutage geförderten Tiere zeigen kaum Reaktionen; denn sie stecken zu tief in der «Narkose» Win(Bild Bartholome Schocher) terschlaf. - Schutz vor den Unbilden der Witterung. Deshalb die Anpassung ans Leben in Erdbauen, über deren Architektur leider erst spärliche Kenntnisse vorhanden sind. Nur wenige exakte Vermessungen sind bisher (unter anderem durch den Leiter des Bündner Natur-Museums, Dr. Jürg Paul Müller) vorgenommen worden. Einige Erkenntnisse daraus: Man unterscheidet zwischen Fluchtröhren (kurze, kaum meterlange Löcher), Sommerbau (mehrere Einfahrten, Gangsystem kurz und dicht unter dem Erd- Isolation Der baumlose und deckungsarme Lebensraum der Murmeltiere bedingt ständige Wachsamkeit und fortwährendes Sichern. Die bekannten Warnpfiffe sind eigentlich Schreie, da sie bei geöffnetem Maul im Kehlkopf erzeugt werden. (Bild Thomas Jucker/Bündner NaturMuseum) Ruckenseite Unterhautfett Knochen Muskulatur Um Lage und Ausmass der vor dem Winterschlaf angelegten Fettdepots beim Murmeltier sichtbar zu machen, hat das Bündner Natur-Museum in Chur erstmals die Computertomographie, eine moderne medizinische Diagnosetechnik, zu Hilfe gezogen. Das Bild zeigt den Körperquerschnitt vor dem Becken mit Eingeweidefett (schwach schraffiert) und Unterhautfett (stark schraffiert). (Zeichnung nach Röntgenaufnahme im Kantonsspital Chur) 34 Tagen werden zwei bis sieben Junge nackt und blind geboren. Gut rattengross verlassen sie in den ersten Julitagen den Bau, und in der Grösse eines kleineren Kaninchens werden sie im Herbst den Winterschlaf antreten. In nur viereinhalb Monaten haben sie dann das fünf- zigfache Geburtsgewicht erreicht. Gutbürgerliche Familien Lange Zeit galt das Interesse der Murmeltierforscher lediglich dem Phänomen Winterschlaf. Neue Zürcher Zeitung vom 24.10.1987 Selbst scheinbar einfache Phänomene entpuppen sich bei näherem Hinsehen als recht differenziert. Wer kennt zum Beispiel nicht die hellen, weittragenden Warnpfiffe der Murmeltiere? Tatsächlich sind es bloss vom Hören her Pfiffe, in Wirklichkeit jedoch Schreie, da sie bei geöffnetem Maul im Kehlkopf erzeugt werden. Der Wildbiologe Dr. Stefan Hofer (ebenfalls Ethologische Station der Uni Bern) hat diese Warnschreie genauer untersucht und dabei Erstaunliches gefunden. - - Ein in Serie ausgestossener Schrei signalisiert Gefahr, die am Boden auf Distanz naht, sei dies der terrestrische Hauptfeind, der Fuchs, oder ein Jäger oder bloss ein Bergwanderer. Wenn die Munggen jedoch mit einem einzigen, langgezogenen Schrei warnen, bedeutet dies Gefahr aus der Luft, sprich Adler, oder auch überraschende Gefahr am Boden, zum Beispiel ein plötzlich angreifender Fuchs. Art und Grösse der Gefahr werden also unterschiedlich angezeigt. Natürlich kennen Murmeltiere auch noch andere Lautäusserungen: aggressives Knurren, drohendes Zähnerattern (wie wir es vom Meerschweinchen her kennen) oder gar lautes Kreischen bei gegenseitigen Keilereien. Heini Hofmann