Nachbilder - Diaphanes

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Nachbilder
Nachbilder
Das Gedächtnis des Auges in
Kunst und Wissenschaft
Herausgegeben von
Werner Busch und Carolin Meister
diaphanes
Dieser Band entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 Ȁsthetische
Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin
und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
1. Auflage
ISBN 978-3-03734-109-4
© diaphanes, Zürich 2011
www.diaphanes.net
Alle Rechte vorbehalten
Layout, Satz: 2edit, Zürich
Druck: Pustet, Regensburg
Umschlagabbildung: Joseph Mallord William Turner, Regulus (Detail), 1828/37,
Öl auf Leinwand, London: Tate Gallery (copyright: Tate Images London)
inhalt
Carolin Meister
Einleitung
Das Gedächtnis des Auges
7
Blendung
Peter Bexte
Sonnenblicke und Augenlider
19
Horst Bredekamp
Sonnenlicht und Augenschmerzen
Von Kepler bis Lorrain
35
Ulrike Boskamp
Nachbilder, nicht komplementär
Augenexperimente, Sehlüste und Modelle
des Farbensehens im 18. Jahrhundert
49
Schwindel
Pamela M. Lee
Bridget Rileys Auge/Körper-Problem
73
Matthieu Poirier
»Attentate auf den Sehnerv«
Nachbild und andere Wahrnehmungsstörungen
in der Kunst der sechziger Jahre
95
Rebekka Ladewig
Augenschwindel
Nachbilder und die Experimentalisierung
des Schwindels um 1800
107
Bild und Blick
John Gage
Fliegende Farben
Goethe und der Augenschein von Gemälden 129
Annik Pietsch
Augensinn und Farbenspiel
Physiologische Farben und das Kolorit der Malerei
Anfang des 19. Jahrhunderts
139
Georges Roque
Das Universum der Empfindungen
Eine Parallele zwischen der physiologischen Optik
und der Malerei
155
Bild und Zeit
Michael F. Zimmermann
Nach-Denk-Bilder
Robert Delaunays Blick auf die Sonne
und die Bewegung der Wahrnehmung
173
Wilhelm Roskamm
Vom Nachbild zum virtuellen Bild
Überlegungen im Anschluss an Bergsons
Wahrnehmungstheorie
215
Jonathan Crary
Your colour memory
Illuminationen des Ungesehenen
241
Postskriptum
Werner Busch
Stille Post
Zu nichtphysiologischen Nachbildern
251
Autorenverzeichnis
269
Tafelteil
273
Verzeichnis der Farbabbildungen
303
Carolin Meister
Einleitung
Das Gedächtnis des Auges
Nachbilder – so zumindest sagt es die Begriffsgeschichte – sind zweierlei. Es sind
Bilder nach der Natur, Werke der Mimesis, und es sind physiologische Erscheinungen, Augengespenster. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm
Grimm führt unter dem Eintrag »Nachbild« so auch zwei Bedeutungen mit entsprechenden Belegstellen: »Nachbild, n. 1) nach einem ur- oder vorbilde gemachtes bild […] 2) nachwirkung einer licht- oder farbenerscheinung im auge, augen-,
gesichtstäuschung«.1
Die zeitliche Signatur des Begriffs, die das Grimm’sche Wörterbuch an zweiter
Stelle aufführt, ist ein relativ junges, ein modernes Phänomen. Denn die semantische Verschiebung vom »nach« der Nachahmung zum »nach« der Nachwirkung
ereignet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Sie ist der etymologische Niederschlag eines neuen Sehens, das sich in gespenstischen Wahrnehmungen verkörpert: von den Scheinbildern Goethes und den Kontrastfarben Eugène Chevreuls,
über die galvanischen Lichterscheinungen Johann Wilhelm Ritters und die
Druckfiguren Jan Evangelista Purkinjes bis hin zu den Blendungsbildern Joseph
Plateaus. Aber auch die optischen Apparate für Forschung und Vergnügen, die –
wie Walter Benjamin mit Blick auf das Phenakistiskop schrieb – das Sehen »einem
Training komplexer Art«2 unterzog, gehören hierher. Während das Wort »Nachbild« zuvor für jedes Werk in den Bildergalerien galt, welche die akademische
Kunstübung der Naturnachahmung hervorbrachte, zirkuliert es im 19. Jahrhundert in den Experimentierstuben der Romantiker und den Labors der Physiologen. Dort bezeichnet es allerdings keine bildende Kunst mehr, sondern spukhafte
Licht- und Farbeffekte im Auge. Aus einem Begriff der Nachahmungsästhetik ist
ein Name für jene Scheinbilder geworden, die als Symptome einer neuen Subjektivität des Sehens zu verstehen sind.
Das »nach« verknüpft nun das Bild mit der Zeitlichkeit desjenigen Körpers, der
es hervorbringt und zugleich erfährt. Kurz, das Nachbild wird zu einem Bild in
der Zeit: zu einer so instabilen wie wechselhaften Wahrnehmung, die in der Physiologie der Augen gegründet ist. Es gerät auf diesem Wege zu einem im buchstäblichen Sinne verkörperten Bild: zu einer visuellen Erscheinung, die bedingt
ist von den spezifischen Eigenschaften des Auges, von seinen Müdigkeitserscheinungen, seinen Gewohnheiten und seinen Störungen – zu einem Bild also, das
symptomhaft mit dem Körper verbunden ist, dem es entspringt. Sein Bezug zur
Außenwelt ist so brüchig geworden, dass es zu einem Gutteil mit geschlossenen
Augen zu betrachten ist. Im gleichen Zuge tritt das Nachbild in einen neuen
1. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Band 13, Spalte 30, Leipzig 1889.
2. Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften,
Bd. I, Frankfurt/M. 1974, S. 605–654, hier: S. 631.
7
Carolin Meister
Bereich des Wissens ein, ist nicht mehr nur Konzept der Ästhetik, sondern Untersuchungsobjekt einer schließlich wissenschaftspolitisch geförderten Physiologie.
Es liegt auf der Hand, dass man in dieser Wendung jenen Paradigmenwechsel
wiedererkennen kann, den Jonathan Crary in seinem Buch Techniken des Betrachters dargestellt hat: nämlich die Ablösung der Camera obscura als Modell des
Sehens im frühen 19. Jahrhundert und die Verortung der Wahrnehmung in der
menschlichen Physiologie.3 Horst Bredekamps Beitrag Sonnenlicht und Augenschmerzen fügt dieser Diagnose eine historische Nuance hinzu. Denn eine Untersuchung der Sonnenforschung im 17. Jahrhundert macht deutlich, wie der
schmerzhafte Blick in die Sonne gerade dadurch vermieden wurde, dass die
Camera obscura zum Einsatz kam. Erst die Umgehung des Auges durch die
Camera obscura erlaubte das Studium des Lichts und ermöglichte es, die bei diesem Forschungsgegenstand unweigerlich auftretenden Nachbildeffekte zu eliminieren – mit anderen Worten: das Bild des Himmelskörpers von den Gespenstern
des Auges zu unterscheiden und somit die Anschauung der Sonne von den
Scheinbildern des Gesichtssinns loszulösen. Die Camera obscura ist hier als das
bewährte Gehäuse zur Trennung von Innen und Außen im Einsatz, das es gestattet, unter Vermeidung eines direkten Blicks Bilder zu projizieren.
Das 19. Jahrhundert hingegen schaut ohne apparative Umwege zu dem Gestirn
empor. Was es mit der Kammer aufgibt, ist nicht allein die Isolierung des Betrachters von der sichtbaren Welt, sondern zugleich die Bündelung des Lichtes zu
einem Träger visueller Information. Dies führt zu einer Erfahrung der Blendung
und zur Schädigung zahlreicher Augenpaare. Es geht daraus aber auch ein neuartiges Verhältnis von Bild und Blick hervor, das sich – so Peter Bexte in seinem
Beitrag Sonnenblicke und Augenlider – exemplarisch in William Turners Regulus
inkarniert.
Nachbilder sind seit dem 19. Jahrhundert also mit zwei Dingen zugleich verknüpft: mit der physiologischen Frage nach dem Sehen, ebenso wie mit der produktionsästhetischen Frage nach dem Bild. Für eine künstlerische Praxis, die die
halluzinatorischen Effekte des Auges nicht länger verdrängt, sondern gerade für
sich entdeckt, entsteht ein Milieu, in dem Mimesis und Sinnesphysiologie sich
kreuzen. Ist die im Nachbild paradigmatisch aufleuchtende Bildlichkeit des
Sehens einmal evident, steht darum nicht nur das Verhältnis von Subjekt und
Objekt zur Disposition. Den Maler stellt dies vor ein grundlegendes Problem:
Wie äußert sich die Eigenaktivität der Wahrnehmung im Bild? Jene ephemeren
Augengespenster, die mit den Blicken umherschweifen, die Dunkelheit bevölkern und sich selbst den geschlossenen Augen präsentieren – sie alle behaupten
die Untrennbarkeit von Bild und Blick. Anders gesagt: Das Nachbild stellt das
Bild, welches es im Namen trägt, in Frage. In ihm verklammert sich darum eine
3. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996.
8
Einleitung
Geschichte des Sehens und des betrachtenden Subjekts mit einer Geschichte des
Bildermachens.
Der vorliegende Band möchte ganz in diesem Sinne die bildgeschichtliche Relevanz der Eigenaktivität des Auges zur Diskussion stellen: Wie werden die inneren
Sensationen des Gesichtssinns zu unterschiedlichen Zeiten in Bildern veräußerlicht? Auf welchen Wegen greift das subjektive Wahrnehmungserlebnis in die
Praktiken der Bildkonstruktion ein? Welche Bildkonzepte tauchen mit der Entdeckung der schöpferischen Möglichkeiten des Sehens auf? Und wie wirkt sich
die individuelle Farbproduktion im Auge innerhalb einer Geschichte des Nachbilds auf die Handhabung von Pigmenten, die Gestaltung von Environments
aus?
Es liegt auf der Hand, dass die im 19. Jahrhundert virulente Verknüpfung von
Bild und Blick Konsequenzen für Bildproduzenten, aber auch für Kunstbetrachter hat. 1810 hält Goethe in seiner Farbenlehre den Dichotomien der idealistischen Philosophie den unentwirrbaren Zusammenhang zwischen Anschauung
und Phänomen, Auge und Wirklichkeit entgegen. Sein Kapitel über die »physiologischen Farben« – jene chromatischen Erscheinungen, die »dem gesunden
Auge angehören«4 – soll den Naturdenker und Experimentator wider Newton zur
Adresse für Maler ebenso wie für Kunstliebhaber werden lassen. Denn die Farbenlehre birgt das Versprechen, zwischen dem Kolorit der Künstler und den physiologischen Eigenheiten des Auges zu vermitteln. Wie Annik Pietsch in ihrem
Beitrag Augensinn und Farbenspiel ausführt, ist es gerade das Kapitel über die
»physiologischen Farben«, das die Brücke zwischen bildnerischer Praxis und der
Physiologie der Wahrnehmung schlägt. Denn hier stellt Goethe seine Farbharmonie auf wissenschaftlichen Grund – und zwar indem er sie aus den Gesetzen
des Sehens herleitet. Die chromatische Logik der Nachbildeffekte kann so zum
Leitfaden für eine künstlerische Handhabung von Farbe werden, die den Kontrasteffekten des Sehens in der Maltechnik Rechnung trägt. Die künstlerische Produktion versucht auf diese Weise – konkret: durch eine ausgefeilte Technik der
Untermalung – die Gesetze des Blicks ins Bild zu integrieren.
Aber auch für den Kunstliebhaber hält Goethes Farbenlehre seinerzeit ein Versprechen bereit: nämlich die Antwort auf ein Problem zu liefern, das den Malern
nicht unbekannt war. Wo Goethes Forschung die Aufmerksamkeit für die Subjektivität der Wahrnehmung geweckt hat, da kann nicht ausbleiben, dass die
Wandelbarkeit der Farbe je nach Lichtsituation vermehrt das Augenmerk der
gebildeten Kunstfreunde auf sich lenkt. Im Dämmerlicht betrachtet, verschieben
sich die Farbwerte von Gemälden beträchtlich – ein Umstand, der dazu führt,
dass die Bilder selbst einen prekären Status erhalten, wie John Gage in seinem
Beitrag Fliegende Farben zeigt. Denn zumindest in ihrer chromatischen Natur
entziehen sie sich jeglicher Fixierung. Dass Goethe, auf diese Effekte hin befragt,
nur eine maltechnische Erklärung liefert, erstaunt gerade deshalb, da er bekannt4. Johann Wolfgang Goethe: »Zur Farbenlehre« (1808–1810), in: ders.: Werke, Band XIII,
Hamburg 1966, S. 325.
9
Carolin Meister
lich den »physiologischen Farben« in seiner Farbenlehre besondere Bedeutung
beimaß. Konfrontiert mit der instabil gewordenen Identität der Bilder, erkennt er
nicht, was später der Chemiker Michel Eugène Chevreul entdeckt: Nämlich dass
die unterschiedliche Wirkung von Farben keine chemischen Ursachen, sondern
physiologische Gründe hat.
Die Entdeckung Chevreuls situiert sich nicht zufällig in einem gänzlich anderen
Umfeld. Frankreich verweigert Goethes Farbenlehre mit gutem Grund die Rezeption. Wie Jacques Le Rider gezeigt hat, liegt das nicht nur daran, dass Goethe
Position gegen Newton bezieht.5 Der ansonsten viel gelesene Weimarer Klassiker
hat mit seiner Farbenlehre für die Franzosen schlicht nichts grundlegend Neues
zu bieten. Denn schließlich hatte die Farbwahrnehmung bereits im französischen
Empirismus und Sensualismus des 18. Jahrhunderts die Subjektivität des Sehens
erschlossen – wovon die Schriften eines Comte de Buffon ebenso zeugen wie der
Eintrag zum Stichwort »Farbe« in der Enzyklopädie.
Es nimmt darum nicht wunder, dass gerade in Frankreich eines der bekanntesten Kapitel im kunstgeschichtlichen Zusammenspiel von Mimesis und Physiologie geschrieben wurde. Den Grundpfeiler für dieses Zusammenspiel legt im Jahr
1839 der besagte Chevreul mit einer Kontrastlehre, welche die noch von Goethe
behauptete Differenz zwischen physiologischen und physikalischen Farben in
Wohlgefallen auflösen sollte. In der Pariser Gobelin-Manufaktur vor das Pro­
blem gestellt, die unterschiedlichen Erscheinungsformen schwarzen Garns im
Verbund mit anderen Farben zu erklären, gelangt er zu dem Schluss, dass das
Problem chemisch überhaupt nicht zu lösen, sondern in der Physiologie der
menschlichen Wahrnehmung begründet ist. Um seiner Entdeckung Rechnung zu
tragen, versucht Chevreul in der Schrift De la loi du contraste simultané des
couleurs,6 die physiologischen Effekte in der Anschauung von Farben systematisch darzulegen. So begründet er im wohl folgenreichsten Gesetz zum Komplementärkontrast die wechselseitige Steigerung der Intensität von Komplementärfarben mit der Wirksamkeit von Nachbildeffekten in der Farbwahrnehmung.
Demgemäß kommt in den Komplementärkontrasten, wie Max Imdahl eindringlich resümiert, »dem Auge die Summe seiner eigenen Tätigkeit als Realität entgegen«.7
Die in der Kontrastlehre Chevreuls manifeste Einmischung subjektiver Physiologie in die Farbwahrnehmung wirft – wie Georges Roque in seinem Beitrag Das
Universum der Empfindungen aufzeigt – die Frage nach dem Gegenstand künstlerischer Nachahmung auf. Folglich gilt es nicht länger zu malen, was man vor
Augen hat, sondern die Aktivität des Auges bei der Farbgebung mit zu berücksichtigen. Es ist der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz, der in
5. Jacques Le Rider: »La non-réception de la ›Théorie des couleurs‹ de Goethe«, in: Revue
germanique internationale, n° 13, Janvier 2000, S. 169–186.
6. Michel-Eugène Chevreul: De la loi du contraste simultané des couleurs, Paris 1839; Vorwort, S. VIII (Die Farbenharmonie in ihrer Anwendung bei der Malerei, bei der Fabrication
von farbigen Waaren jeder Art, Stuttgart 1840).
7. Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 2003, S. 95.
10
Einleitung
seinem auch in Frankreich viel gelesenen Beitrag Optisches über Malerei (1871–
1873) die Aufgabe der Kunst folgendermaßen formuliert: »Es sind nicht die Körperfarben der Objekte, sondern es ist der Gesichtseindruck, den sie gegeben
haben oder geben würden, so nachzuahmen, dass eine möglichst deutliche und
lebendige Anschauungsvorstellung von jenen Objekten entsteht.«8 Die Effekte
des Augenlichtes werden nun in die Darstellung der Welt eingetragen. Der Reiz,
dem schon Kant die Farbe zuschlug, ist zum physiologischen Reiz geworden,
während die Bilder – etwa eines Seurat – sich als Imitationen nicht des Sichtbaren, sondern der retinalen Reizung verstehen.
Es ist ein weiterer Schritt, der gleichwohl in der zentralen Bedeutung gründet,
die den Wahrnehmungsphänomenen bei Chevreul und Helmholtz zukommt, die
Unabhängigkeit der visuellen Empfindung von einem äußeren Pendant zu erkennen. Wenn einmal festgestellt ist, dass chromatische Sensationen keiner externen
Farbwahrnehmung zum Anlass bedürfen und etwa durch Manipulationen der
Augäpfel selbst erzeugt werden können, dann wird das Verhältnis zwischen visueller Wahrnehmung und Außenwelt als willkürliches denkbar. Für Physiologen
wie Gustav Fechner oder Johannes Müller eröffnet diese Lockerung zwischen
Wahrnehmungsbild und Weltbezug das Terrain zu einer experimentellen Erforschung des Sehens, die losgelöst vom Bezug auf gegebene Wahrnehmungsinhalte
die Reizmuster des Auges testet. Die Möglichkeit einer Erfassung der visuellen
Empfindung in Zahlen, die von Jan Evangelista Purkinje systematisch vorangetrieben wird, ist eine Ausgeburt jener bildnerischen Produktivität der Wahrnehmung, welche die äußere Wirklichkeit als fixe Referenz buchstäblich aus den
Augen verloren hat.
Es ist Helmholtz, der die Konsequenzen dieses gekappten Bezugs hinsichtlich
der Wirkung und der Produktion von Bildern bedenkt. Wie Georges Roque zeigt,
vollzieht er den entscheidenden Übergang von einem Bildkonzept, das auf den
Gesichtseindruck gründet, zu jenem, das die Nachahmung von Natur durch die
Übersetzung von Empfindungen ersetzt. Der Entzug der Wirklichkeit als stabiles
Bild, den die unhintergehbare Einmischung der Physiologie in alles Wahrnehmbare forciert, kann auf diesem Weg zu einer Abkehr von der mimetischen Aufgabe der Kunst führen – und mithin zum Argument für ihre Ungegenständlichkeit werden.
Das komplexe Feld, das sich hier zwischen äußerem Gegenstand und innerem
Nachbild, zwischen dem Objekt der Außenwelt und der subjektiven Bildproduktion des Auges auftut, hat nicht allein eine Neuformulierung der künstlerischen
Aufgabe provoziert. Die Aufmerksamkeit auf die Bildlichkeit der visuellen Wahrnehmung selbst führt dazu, dass sich das Sehen nach und nach von der Wirklichkeit emanzipiert und Autonomie erlangt. Im gleichen Zuge mit der physiologischen Verortung der Wahrnehmung wird man auch der Temporalität des Sehens
gewahr: nämlich der Fortdauer des Nachbildes auf der Netzhaut. Mit der Disso8. Hermann von Helmholtz: »Optisches über Malerei« (1871–1873), in: Vorträge und Reden,
Bd. 2, Braunschweig 41896, S. 93–135, hier S. 125.
11
Carolin Meister
ziation von Bild und Welt tritt eine temporale Disjunktion zwischen Stimulus
und Sinnesempfindung auf den Plan, welche die spezifische Zeitlichkeit des
Nachbildes ausmacht – eines Bildes, das die Augen auch nach Verlöschen der
Reizquelle noch eine gute Weile mit sich tragen. Es sind die Physiologen, die
diese »Beharrlichkeit des Seheindrucks« experimentell testen, und allen voran
Joseph Plateau, einer jener Forscher, die aufgrund zahlreicher Selbstexperimente
schließlich den Gegenstand ihrer Recherche, das Augenlicht, verloren.
Die Beschäftigung mit dem Fortwirken der visuellen Erscheinung auf der Retina
ist die Voraussetzung für ganz verschiedenartige Entwicklungen. Die bekannteste von ihnen ist das Kino. Denn die Andauer des Gesichtseindrucks ist die
Bedingung für die Möglichkeit optischer Bewegungsillusion, welche die kinematographische Wahrnehmung vorwegnimmt: Allein das Nachbild des Gesehenen
erlaubt es, einzelne Bilder in schneller Folge zum Eindruck von Bewegung zu synthetisieren. Die Trägheit der Netzhaut liefert damit die physiologische Voraussetzung für die Zusammensetzung eines dynamischen Bildes aus einzelnen
Sequenzen. Auch hier wird die Kluft zwischen dem wahrgenommenen Effekt
(Bewegung) und dem tatsächlichen Ausgangsbild (einer Folge statischer Bilder)
thematisch, welche das illusionäre Potenzial des Sehens unmittelbar erfahrbar
macht. Wider besseren Wissens erscheint im Zoetrop ein galoppierendes Pferd
und nicht die bewegungslose Sequenz seiner Einzelbilder. Dies gilt für optische
Geräte zur Erzeugung bewegter Bilder, aber auch für die Beobachtung neuer
Bewegungsformen wie mechanischer Räder und Ähnlichem.
Als wechselseitige Durchdringung von Gegenwart und Vergangenheit kann das
Nachbild aber auch zum Paradigma des Sehens an sich werden – und zwar insbesondere seiner immanenten Zeitlichkeit. Wie Wilhelm Roskamm in seinem
Beitrag Vom Nachbild zum virtuellen Bild darlegt, geschieht genau dies in der
Wahrnehmungstheorie Henri Bergsons, dessen vehemente Kritik an den Grundannahmen der Psychophysik bekannt ist. Nicht umsonst stellen Bergsons Überlegungen auch bei Gegenwartskünstlern wie Olafur Eliasson eine wichtige Quelle
für künstlerisches Arbeiten mit Nachbildern dar. Als visuelle Erscheinung des
soeben Vergangenen besteht das Nachbild auf der Netzhaut fort und kann somit
beispielhaft für das Konzept einer Wahrnehmung figurieren, die sich aus der
Überlagerung von aktuellen Eindrücken und Erinnerungsbildern zusammensetzt. Im Nachbild kann somit die Funktionsweise der Wahrnehmung, wie Bergson sie versteht, anschaulich werden: und zwar als Interferenz von gegenwärtigem und vergangenem, von aktuellem und virtuellem Bild.
Dass man Robert Delaunays Arbeit an den formes circulaires durchaus in diesem Zusammenhang sehen kann, zeigt Michael F. Zimmermann in seinem Beitrag Nach-Denk-Bilder. In den scheibenförmigen Arbeiten der Jahre 1912–13 verdichten sich der Anblick der Sonne und ihr retinales Nachbild zu einer
vibrierenden Formation. In ihr hallen nicht nur diverse Motive aus dem Werk
Delaunays nach, sondern auch der Farbenkreis, jenes farbtheoretische Diagramm, das – erstmals von Newton verwandt – den Ganzheitsanspruch zahlreicher Farblehren symbolisiert. In der motivischen Korrespondenz von Sonne/
Nachbild/Farbenkreis wird der Versuch des Künstlers deutlich, die Wahrneh-
12
Einleitung
mung selbst zu aktivieren. Denn der gezielte Einsatz des Simultankontrasts, wie
ihn Chevreul in seiner Lehre publiziert hatte, verhindert eine endgültige Fixierung des Gesehenen. Stattdessen werden über die verschiedenen Kontrastwirkungen scheinbare Bewegungen erzeugt, bei denen die Wahrnehmung sich selbst
in ihren Rhythmen und dynamischen Kräften erfährt. Die schon von den Farbenlehren des 19. Jahrhunderts favorisierte Form des Kreisdiagramms liefert dabei
das Grundmuster eines Übergangs vom Kreis zum Kreisen, bei dem man nicht
zuletzt an die experimentelle Konstruktion von Farbkreiseln etwa bei Goethe
denken mag.
Der sich hier ankündigende Statuswandel eines Bildes, das schon in Delaunays
formes circulaires weniger als sichtbares Ding denn als Armatur für ein selbsttätiges Sehen in Erscheinung tritt, ist wegweisend für den Einsatz von Nachbild­
effekten in der künstlerischen Praxis des 20. Jahrhunderts. Nicht umsonst tauchen im Kontext der bildenden Künste nun – vom Farbkreis über die rotierende
Scheibe bis zur farbigen oder schwarz-weißen Kontrasttafel – die verschiedenartigsten Grundmuster auf, mit denen bereits in den vergangenen Jahrhunderten
die generativen Kapazitäten des Auges getestet wurden. Darum erneut ein Blick
zurück.
Die Produktion von Nachbildern durch eigens hergestellte Bildvorlagen ist seit
dem 18. Jahrhundert bekannt. Schon das zu dieser Zeit gerade aufkeimende Interesse für visuelle Phänomene, die nicht unter die Gesetze der Physik zu subsumieren sind, führt dazu, dass die unterschiedlichsten kolorierten oder unbunten
Tafeln für die physiologische Erzeugung von Licht- und Farberscheinungen
erdacht werden. Ulrike Boskamps Beitrag Nachbilder, nicht komplementär liefert
eine Art Typologie dieser frühen Illustrationen zum Zwecke der Nachbilderzeugung, deren Autoren stets die Spannung zwischen Physik und Physiologie auszuloten haben. Dass die experimentelle Erforschung von Nachbildern jedoch nicht
nur zu jener Subjektivierung der Wahrnehmung hinführt, die erst das 19. Jahrhundert vollziehen wird, zeigt Rebekka Ladewig in ihrem Beitrag Augenschwindel. Denn Versuche mit Nachbildern konnten auch im Kontext der Experimentalisierung des Schwindels Bedeutung erlangen, welche »vertiginous philosophers«9
wie William Charles Wells und Erasmus Darwin vorantrieben. Werner Buschs
Postskriptum Stille Post dagegen entdeckt in den Reproduktionstechniken des
18. Jahrhunderts eine Vorgeschichte des physiologischen Nachbildes.
Um 1800 tritt das Nachbild dann, wie Peter Bexte schreibt, »ins Zeitalter seiner
technischen Produzierbarkeit«.10 Mit der aufkommenden Physiologie werden
aus Augentäuschungen, die vormals die Erforschung der Wahrnehmung nur
störten, jene Phänomene, durch die sich das Sehen vermessen bzw. normieren
lässt – und mit ihm das Subjekt. Die im 19. Jahrhundert virulente Verankerung
der Bilder im Auge bringt Darstellungen und Apparate hervor, die sich explizit
als bloße Armaturen für eine »perzeptuelle Gymnastik« (Umberto Eco) zu erken9. Zitiert nach Rebekka Ladewig in diesem Band.
10. Siehe Peter Bexte in diesem Band.
13
Carolin Meister
nen geben. Die experimentellen und unterhaltsamen Arrangements dieser Zeit
führen einen Verlust vor Augen, den jedes Nachbild seinem Erzeuger evident
macht: nämlich die grundlegende Ortlosigkeit der Bilder. Was einmal auf einem
Träger fixiert war, löst sich jetzt von jeder materiellen Grundlage, schwebt – wie
im Stereoskop – als virtuelle Erscheinung im unbezeichneten Zwischenraum zwischen zwei Bildvorlagen oder schweift mit dem unsteten Blick über die Wände.11
Bildermacher wie Künstler, Schildermaler oder Tapetenhersteller tragen dem
Rechnung, indem sie versuchen, die Effekte der Physiologie in ihre Produktion
zu integrieren.
Es ist genau dieser Aspekt einer Bildlichkeit, die sich der Verdinglichung entzieht, der im Kontext der Kunst der 1960er Jahre das Nachbild wieder interessant
macht. Verschiedene Künstler knüpfen durch den gezielten Einsatz von optischen Irritationen und Reizen, welche die physiologischen Effekte der Wahrnehmung einspielen, an zentrale Themen ihrer Zeit an: sei es die Kritik an der
­Dinghaftigkeit bzw. Warenförmigkeit des Kunstwerks, das Aufbrechen der Sub­
jekt-Objekt-Struktur durch Formen der Betrachterbeteiligung oder die Allianz
von Kunst und Wissenschaft. Es sind die Op-Art und die an den Schnittstellen
zwischen perzeptuellen, kinetischen und psychedelischen Ansätzen entstehenden künstlerischen Praktiken, welche die Effekte des Nachbilds für sich entdecken.
Wie Pamela M. Lee in ihrem Beitrag Bridget Rileys Auge/Körper-Problem anhand
der Rezeption des Werks von Riley zeigt, ist die Op-Art dabei von einer immanenten Spannung gekennzeichnet: Ihrer vorgetragenen Technizität, die mit Be­
zugnahmen insbesondere auf die Kybernetik kokettiert, steht die Adresse ihrer
Wirkung gegenüber, welche die Physis des Betrachters ist. Denn in ihren Effekten
erzielen die abstrakten Kompositionen der Op-Art eine Transgression des Sehens
in Richtung auf das Nervensystem. Die durch optische Täuschung hervorgebrachten Phänomene scheinbarer Bewegung – Flimmern, Pulsieren etc. –, die
Rileys Schwarzweißbilder aus den 1960er Jahren kennzeichnen, machen die
Instabilität des Sichtbaren weniger reflexiv zugänglich, als dass sie durch retinale
Reizung physische Wirkungen von möglicherweise irritierendem Ausmaß verursachen. Die Frage, was Sehen ist, wird hier im Körper des Betrachters beantwortet und hintergeht somit jede Möglichkeit der Kritik, sofern diese eine reflexive Distanz voraussetzt. Dass dieser Körper in der Rezeption nicht nur des
Werks von Riley eine weibliche Genderzuschreibung erfährt, legt Lee auch mit
Blick auf die so erfolgreiche Übernahme von patterns der Op-Art in Mode und
Populärkultur dar.
Die Erschütterung der Sinnlichkeit des Betrachters durch optische Reizmuster,
die den Gesichtssinn überfordern und zu starken physischen Reaktionen führen,
wird deutlicher, wenn man sich die installativen Praktiken und Environments
der optisch-kinetischen und psychedelischen Kunst anschaut. Wie Matthieu Poirier in seinem Beitrag »Attentate auf den Sehnerv« zeigt, der eine breite Übersicht
11. Vgl. hierzu erneut Crary: Techniken des Betrachters, a.a.O.
14
Einleitung
über derartige Ansätze in den 60er Jahren liefert, tritt das Nachbild hier nicht im
Dienst, sondern als Antipode kinematographischer Illusion auf den Plan: Nicht
länger Ermöglichung des Bewegungseindrucks, sondern vielmehr Überwältigung
des Auges, sorgt die Multiplikation von Nachbildeffekten, wie sie etwa in flickerFilmen eingesetzt wird, für heftige körperliche Symptome wie Schwindel oder
Orientierungsstörungen. Der sinnliche Zugriff auf das Sichtbare wird hier weniger mit einer Subjektästhetik beantwortet, als mit einer Entmächtigung des Subjektes, das die Grenzen seines visuellen Weltbezugs erfährt.
In den 70er Jahren ist es dann James Turrell, der mit seinen Dark Pieces und
Ganzfeld-Arbeiten dem Betrachter den vollständigen Zusammenbruch jeder
Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung zumutet. Die
Besucher, die im Jahr 1976 durch seine Installation City of Arhirit im StedelijkMuseum in Amsterdam taumeln und bedrängt von den Nachbildern ihrer Augen
die Orientierung verlieren, werden Zeuge dessen, was Hans-Christian von Herrmann »ästhetische Urszene des 20. Jahrhunderts« genannt hat: »nicht der Blick
durch ein Fenster, sondern das Eingetauchtsein in einen undurchdringlichen
Nebel.«12 Durch die Multiplikation von Nachbildern ist das Sehen in dieser Folge
von Ganzfeldern, in die Turrell das Stedelijk-Museum verwandelt hat, zu einem
Prozess geworden, in dem das Subjekt sich nicht entdeckt, sondern verliert. Das
Nachbild ist hier nicht das Argument für eine Subjektivierung des Sehens, das es
noch bei Goethe oder Schopenhauer war; indem es seinen Betrachter und Erzeuger klarer Grenzen und jeder räumlichen Orientierung entledigt, wird es vielmehr zu einem Faktor, der das Subjekt vehement in Frage stellt.
Neuerdings ist es Olafur Eliasson, der in seinen Lichtinstallationen die Augengespenster wieder freilässt, die dem 19. Jahrhundert das autonome Sehen gleichermaßen wie seine physiologische Standardisierung erschlossen haben. Jonathan Crary zieht in seinem Beitrag Your colour memory nicht nur eine Linie, die
von Goethe und den Romantikern über Turner zu Eliasson verläuft. Er sieht in
diesen jüngsten künstlerischen Verwendungen des Nachbildes die Möglichkeit
angelegt, die körperliche Natur des Sehens zu aktivieren. Wenn Eliasson heute in
seinen Lichtinstallationen die schöpferischen Potenziale des Körpers erkundet,
dann stellt er auch jene Standardisierung der Farbe in Frage, die mit der Digitalisierung nur eine weitere Stufe erreicht zu haben scheint. Seine künstlerischen
Versuchsanordnungen laufen dabei parallel zur Erforschung des Farbensehens
in der Neurobiologie. Auch diese präsentiert Farben als je individuelle Produkte
des Gehirns und weist dabei erstaunliche Ähnlichkeiten mit Goethes Farbenlehre
auf. Mit Eliasson tritt das Nachbild im jüngsten Kapitel zum Gedächtnis des
Auges in der Kunst erneut mit einer Emphase auf den Plan, die den Körper als
Grundlage der visuellen Erfahrung adressiert: nicht, um die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung auszuloten, sondern um gerade heute ihre Potenziale freizusetzen.
12. Hans-Christian von Herrmann: »Sensing Spaces. James Turrells helle Kammern«, in:
Helmar Schramm u.a. (Hg.): Bühnen des Wissens: Interferenzen zwischen Wissenschaft und
Kunst, Berlin 2003, S. 339–363, hier: S. 351.
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