Titelthema — Bericht Umformtechnik, Werkstoffe Mikrostruktursimulation in der Umformtechnik am Beispiel von Magnesiumlegierungen H. Riedel, A. Prakash, D. Helm Die Umformung metallischer Werkstoffe führt aufgrund der großen Formänderung zu einer signifikanten Änderung der Mikrostruktur. Diese wirkt sich unter Umständen deutlich auf die Beherrschbarkeit des Umformprozesses aus. Am Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik (IWM) werden daher Werkstoffmodelle zur Beschreibung der Mikrostrukturentwicklung formuliert und zur Simulation von Prozessund Bauteileigenschaften eingesetzt. Ein Beispiel hierfür ist die Modellierung und Simulation der Umformeigenschaften von Magnesiumlegierungen. Die Planung von Umformprozessen bis hin zur Fertigung eines funktionsfähigen Werkzeugs kann mit hohen Kosten und großem zeitlichen Aufwand verbunden sein. Mit dem Einsatz moderner Simulationstechniken auf der Basis mathematischer Modelle, welche die Prozess-, Werkstoff- und Bauteileigenschaften beschreiben, lässt sich dieser Entwicklungsprozess hervorragend optimieren: Die Simulation liefert beispielsweise wichtige Ergebnisse in Bezug auf die Werkzeugbelastung sowie die Belastung des Werkstücks und dessen Form nach dem Umformen. Deshalb nehmen moderne Simulationstechniken im Bereich der Prozesssimulation einen immer größeren Stellenwert ein. Jedoch reichen in vielen Gebieten die kommerziell verfügbaren Techniken nicht aus. Ein typischer Schwachpunkt sind zum Beispiel die benötigten Modelle zur Beschreibung der Werkstoffeigenschaften. Insbesondere ändern sich die Werkstoffeigenschaften während des Umformprozesses, da sie von der sich entwickelnden Mikrostruktur abhängen. Moderne mikrostrukturbasierte Materialmodelle erlauben beispielsweise die Schwachstellen des Umformprozesses im Detail zu analysieren, um daraus wiederum Rückschlüsse auf den gesamten Prozess zu ziehen. Als Beispiel sei hier das Deformationsverhalten eines Polykristalls mit einer bestimmten Kristallstruktur beim Walzen sowie das Schädigungsverhalten im Umformprozess genannt. Umformbarkeit von Magnesium a) c) d) Bild 1. Gleitebenen und Gleitrichtungen in einem hexagonalen Gitter: a) basal, b) prismatisch, c) pyramidal (bei Temperaturen oberhalb 200 °C aktiv), d) Zwillingsbildung Das steigende Interesse an leichten Werkstoffen mit guten Festigkeitseigenschaften im Bereich der Fahrzeugtechnik führte in den letzten Jahren zu einer Renaissance von Magnesiumlegierungen, wodurch bei einzelnen Komponenten Gewichtseinsparungen von bis zu 60 % gegenüber anderen Konstruktionswerkstoffen möglich sind. Als nachteilig kann bei Magnesiumlegierungen insbesondere deren schlechte Kaltverformbarkeit gesehen werden. Ursache hierfür ist die hexagonale Kristallstruktur von Magnesium (Bild 1). Sie führt dazu, dass plastische Deformationen nur auf wenigen Ebenen („Gleitebenen“) aktivierbar sind. Unter bestimmten Belastungszuständen können sich zudem mechanische Zwillinge bilden. Damit steigt zwar die Verformbarkeit an, von einer guten Umformbarkeit kann aber noch nicht gesprochen werden. Erst bei Temperaturen über 200 °C setzt eine verbesserte Umformbarkeit ein: Welcher Mechanismus kann dieses Phänomen erklären? Die Antwort auf diese Frage liegt in einem verbesserten Verständnis der Mikrostrukturentwicklung, um daraus wiederum Rückschlüsse zur Optimierung des gesamten Prozesses zu ziehen. Auf der Basis eines physikalischen Modells zur Darstellung der Kristallplastizität wird das Verhal- Alle Rechte vorbehalten. Copyright Springer-VDI-Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf b) ten von wenigen Kristallen für einen kleinen Volumenbereich beschrieben. Jedes Korn besitzt zu Beginn eine andere Orientierung und verhält sich somit anders als seine Nachbarkörner. Diese Vorgehensweise erlaubt es, die komplizierte Interaktion mehrerer Körner zu beschreiben. Das gesamte Problem wird mit der Methode der finiten Elemente numerisch gelöst und im Detail analysiert. Dabei werden verschiedene Gleitsysteme und der Effekt der Zwillingsbildung in die Analyse einbezogen, um die Frage zu klären, welcher mikromechanische Deformationsmechanismus für die gute Warmumformbarkeit von Magnesiumlegierungen verantwortlich ist. Simulationsergebnisse Bild 2 zeigt das Mikrostrukturmodell einer polykristallinen Magnesiumlegierung und die dazugehörenden Simulationsergebnisse. Prof. Dr. Hermann Riedel, Arun Prakash, Dr. Dirk Helm (Ansprechpartner) Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik (IWM) Leistungsbereich Formgebungs- und Umformprozesse Wöhlerstr. 11, D-79108 Freiburg Tel. +49 (0)761 / 5142-158, Fax +49 (0)761 / 5142-101 E-Mail: [email protected] Internet: www.iwm.fraunhofer.de wt Werkstattstechnik online Jahrgang 97 (2007) H. 10 828 Fraunhofer-Gesellschaft Die unterschiedlichen Farben repräsentieren die verschiedenen Orientierungen der einzelnen Körner. Dabei wurde der Kornverbund in Analogie zu einem Walzprozess um fast die Hälfte seiner ursprünglichen Höhe zusammengedrückt. Simulationen dieser Art wurden für verschiedene Kombinationen von Gleitsystemen durchgeführt. Die ausgewählten numerischen Simulationsergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass die „pyramidale Gleitung“ maßgeblich an der guten Warmumformbarkeit von Magnesiumlegierungen verantwortlich ist: Sofern die pyramidale Gleitung möglich ist, stellt sich ein recht homogen verformtes Gefüge ein. Im Gegensatz dazu führt der Fall ohne pyramidale Gleitung auf ein sehr inhomogen deformiertes Gefüge. Insgesamt stimmen die in der Simulation beobachteten Phänomene sehr gut mit experimentellen Beobachtungen überein. Es steht also am IWM eine fortschrittliche Methode für die detaillierte Simulation von a) b) c) Bild 2. Simulation der Umformbarkeit von Magnesiumlegierungen: a) unbelasteter Kornverbund, b) Kaltumformung ohne pyramidales Gleiten, c) Warmumformung mit pyramidalem Gleiten Magnesiumlegierungen zur Verfügung, die aufgrund ihrer Flexibilität auch zur Simulation anderer metallischer Werkstoffe eingesetzt wird. Insbesondere beim Kaltumformen von Magnesium wird die Umformbarkeit durch die Neigung zur Rissbildung signifikant eingeschränkt. Infolgedessen erfordert die Einbeziehung der Rissbildung weiterführende Forschungsaktivitäten nicht nur im Bereich der Magnesiumlegierungen. Darüber hinaus Alle Rechte vorbehalten. Copyright Springer-VDI-Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf werden am IWM ebenfalls spezielle Texturmodelle entwickelt, um die Orientierungsänderung für wesentlich größere Kornverbünde zu berechnen. Insgesamt werden diese Modelle in Teilbereichen auch zur Vorhersage bestimmter Eigenschaften von polykristallinen metallischen Werkstoffen verwendet: Dieses „virtuelle Labor“ lässt sich beispielsweise zum Ermitteln des Fließbeginns und von Fließortkurven einsetzen. wt Werkstattstechnik online Jahrgang 97 (2007) H. 10 829