Vera Stucki-Häusler Patienten der Gemeinschaft der Zeugen

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Vera Stucki-Häusler
Patienten der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas: Ethische Argumente zur Allokation
von Spenderlebern bei Ablehnung von Blutprodukten
Spenderorgane als lebenswichtige medizinische Therapieoption sind aufgrund ihrer
Unteilbarkeit und beschränkten Verfügbarkeit ein knappes Gut. Anhand eines konkreten
Patientenbeispiels aus dem klinischen Alltag gehe ich auf die ethischen Fragestellungen ein,
welche sich im Rahmen der Lebertransplantation als lebensnotwendige Therapieoption
stellen, wenn der Patient aufgrund einer religiösen Überzeugung Blutprodukte ablehnt.
Fallvignette: Ein 40-jähriger, in der Schweiz wohnhafter Patient, mit primär
sklerosierender Cholangitis (PSC) benötigt für das weitere Überleben mit hoher
Dringlichkeit eine Lebertransplantation. Die primär sklerosierende Cholangitis ist eine
chronisch entzündliche Erkrankung der Gallenwege mit unbekannter Ursache. Der Patient
ist Mitglied der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Er wünscht die
lebensnotwendige Leber-Transplantation, lehnt aber aus religiösen Gründen die
möglicherweise perioperativ benötigte Transfusion von Blutprodukten ab. Die Ablehnung
von Blutprodukten kann im Falle einer Massenblutung die perioperative Überlebenschance
erheblich vermindern.
Ganz
zu
Beginn
des
Allokationsprozesses
stehen
die
Indikationsstellung
zur
Lebertransplantation und die Zuweisung von potenziellen Organempfängern an ein
Transplantationszentrum. In Bezug auf unseren Fall kann bereits diese erste Phase
problematisch sein, weil die Ablehnung von Blutprodukten aufgrund von individuellen
Gerechtigkeitsabwägungen
des
behandelnden
Arztes
als
Kontraindikation
zur
Transplantation beurteilt werden kann. Dies ist insofern problematisch, als dass eine
willkürliche Bevorzugung oder Benachteiligungen bei der Verteilung eines knappen
öffentlichen Gutes dem Anspruch, dass die Organverteilung möglichst gerecht erfolgen
sollte, widerspricht.
Weiter ist die Klärung der Frage wichtig, ob eine religiöse Überzeugung – in unserem Fall
die Ablehnung von Blutprodukten – so tief verankert sein kann, dass eine Neuausrichtung
unzumutbar wäre. Denn davon hängt ab, ob es sich um eine Kondition des Patienten
handelt, die er freiwillig wählt. Unter dem Umstand der Freiwilligkeit dürfte auch verlangt
werden, dass sich der Patient von seiner Überzeugung distanziert. Die Ausführungen von
Orr und Genesen besagen, dass religiöse Wertvorstellungen mit dem Sinn des Lebens von
Patienten untrennbar verbunden sein können und daher die religiöse Integrität des Patienten
nicht verletzt werden darf, wenn dessen Autonomie respektiert werden soll. Die Ablehnung
von
Blutprodukten
darf
demnach
nicht
per
se
eine
Kontraindikation
zur
Lebertransplantation darstellen, weil mit dem Zwang, die religiöse Überzeugung abzulegen,
das Prinzip der Patientenautonomie verletzt würde. Die Beurteilung der Zweckmässigkeit
einer Lebertransplantation, muss demnach aufgrund der Einschätzung des perioperativen
Transplantationsrisikos nach rein pathophysiologischen Aspekten erfolgen. Erfolgt ein
Ausschluss von der Transplantationsliste nicht nach objektivierbaren Kriterien, kann mit
den Ausführungen von Tugendhat und Boshammer dargestellt werden, dass dies nicht nur
unrecht, sondern gar einen Akt der Diskriminierung darstellen würde. Mit diesem
zusätzlichen Argument möchte ich meinen Vorschlag stützen, dass alle Patienten, welche
aufgrund ihrer Grunderkrankung für eine Anmeldung zur Lebertransplantation qualifizieren,
betreffend der Zweckmässigkeit der Transplantation – in unserem Fall die perioperative
Überlebenschance
–
von
einem
interdisziplinären
Fachgremium,
nach
im
Gerechtigkeitsraum Schweiz einheitlichen objektiven Kriterien, beurteilt werden.
Im letzten Teil der Arbeit stelle ich die gewagte These auf, dass ethisch begründet werden
kann, dem Patienten aus unserem Fallbeispiel eine von der Norm abweichende
Priorisierung innerhalb der Warteliste zuzusprechen. Diese ungleiche Verteilung kann mit
Tugendhats Argument der objektivierbaren Bedürftigkeit begründet werden. Bei unserem
Patienten müssten diejenigen Parameter des MELD-Scores, welche das Auftreten und den
Verlauf einer Massenblutung direkt beeinflussen so angepasst oder ergänzt werden, dass
das perioperative Blutungsrisiko sinkt. Eine ungleiche Anwendung des MELD-Scores ist
heikel und könnte eine positive Art von Diskriminierung darstellen. Trotzdem schlage ich
vor, die Bedürftigkeit der Zeugen-Jehovas-Patienten in die aktuelle Diskussion Rund um
die individuelle Anpassung des MELD-Scores für erwachsene Patienten mit bestimmten
Krankheitsbildern aufzunehmen und gleichermassen zu berücksichtigen.
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