Ethische Spannungsfelder in der Behandlung von suizidalen

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Ethische Spannungsfelder in
der Behandlung von suizidalen
Patienten
Prof. Dr. med. Thomas Reisch
Ärztlicher Direktor
Psychiatriezentrum Münsingen
Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern
Überblick
1. Einleitung
2. Wie kommt es zum Suizid?
–
–
Joiner-Modell
6-Phasen-Modell
3. Suizidalität -Fakten
4. Fallbeispiele
2
Spannungsfeld
Soll man eingreifen bei Suizidalen?
•
•
•
•
Selbstbestimmung
Körperliche Integrität
Psychische Integrität
Leiden abstellen
•
•
•
•
•
Recht auf Leben
Recht auf Fürsorge
Teilnahme am Sozialleben
Prognose der Problematik
Leiden reduzieren
Warum werden Menschen
suizidal?
Was passiert genau bei einem
Suizidversuch?
4
Suizidmodell
Last für sich
selbst und
andere
Fähigkeit Suizid
überhaupt
durchzuführen
Einsamkeit
Joiner, 2012
5
Studien zum Joiner Modell
Hill & Pettit, J Clin Psychology, 2014:
• (Review)
• Deutliche Zusammenhang zw. Last für
andere und Suizidalität
Hatcher & Stubbersfield,
Can J Psy, 2013:
• Sich-zugehörig-fühlen: geringer
Zusammenhang zu Suizidversuchen
6
6-Phasen-Modell
(Reisch Psych Prax, 2013)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Präsuizidale Phase
Mental Pain-Phase
Suizidhandlungsphase
Finale Ambivalenzphase
Finale Handlungsphase
Aufwachen
7
Video Heynes
8
Ablauf Suizidversuch
(Reisch, Psych Prax, 2013)
1.
Präsuizidale Phase
Bipolare Störung
2.
Mental Pain-Phase
Ich war wie weggetreten,
eine Last für meine Familie
3.
Suizidhandlungsphase
(Zur Brücke gegangen)
4.
Finale Ambivalenzphase
Ich bin auf der Brücke rauf
und runter gegangen
5.
Finale Handlungsphase
(Sprung)
6.
Aufwachen
… ein schrecklicher Fehler
9
Fall
… in einem Waldstück bei
Burgdorf
10
Ablauf Suizidversuch
(Reisch, Psych Prax, 2013)
1.
Präsuizidale Phase
Bipolare Störung
2.
Mental Pain-Phase
Ich war wie weggetreten,
eine Last für meine Familie
3.
Suizidhandlungsphase
(Zur Brücke gegangen)
4.
Finale Ambivalenzphase
Ich bin auf der Brücke rauf
und runter gegangen
5.
Finale Handlungsphase
(Sprung)
6.
Aufwachen
… ein schrecklicher Fehler
11
Wie häufig wachen Menschen
auf?
Wie häufig machen sie es dann
später doch?
12
515 Menschen wurden vom Suizidsprung zurückgehalten.
Wie viel Prozent haben sich in den folgenden 26 Jahren
suizidiert?
a) 5%
b) 10%
c) 20%
d) 50%
e) 80%
Richtige Antwort:
A) 5% von 515 Personen
ca. 480 Menschen wurde das
Leben gerettet
(Seiden et al., 1978)
14
Was lernen wir daraus?
• Suizidalität ist sehr häufig ein zeitlich
begrenztes Geschehen.
• Die meisten «Geretteten» werden sich
später nicht suizidieren.
15
ein paar Fakten:
16
Suizide
>50%
? der Menschen denken mindestens ein
mal im Leben ernsthaft daran sich das Leben
zu nehmen.
Zeitraum zwischen Entscheidung und Tod:
bei 80%: unter 2 Stunden
?
 Die Suizidhandlung ist zumeist ein akutes
Geschehen.
17
Veränderung des Waffengesetzes in
der israelischen Armee (2006) (Lubin 2010)
Änderung: Soldaten dürfen Waffe am
Wochenende nicht mehr nach Hause nehmen.
deutlich reduzierte Suizidrate am
Wochenende (19-21J.)
 Keine Veränderung der Suizidrate unter
der Woche
18
Suizid in der Psychiatrischen Klinik
• Ca. 0.5-1.5 Suizide pro 1000 Aufnahmen
• Suizidale Pat. haben zu 2/3 freien
Ausgang
• Suizidale Pat. suizidieren sich meistens
ausserhalb der Station
• Offen geführte Akutstation: gleiche bis
leicht verringerte Anzahl von Suiziden
 Therapeutische Beziehung ist zentral
19
Bilanzsuizide
• sind selten
• Bilanz wird aber häufig als Motivator
angegeben.
• Zustand mit dysfunktionalen Kognitionen
führt zur negativen Bilanz.
20
Frau E.
Depressive Kognition
(Zitat aus einer Therapie)
… die schönen Erinnerungen tun weh weil es nicht
mehr so ist und
die schlechten Erinnerungen tun weh, weil sie eben
schlecht sind.
21
Reanimation
• Keine Reanimation
Unterlassene Hilfeleistung!
?
• 2-7 % überleben
22
Suizidalität
• 90-95 % überleben
• Keine Hilfe  Unterlassene Hilfeleistung!?
ZEK (2012)
• „Es muss insbesondere auch
ausgeschlossen sein, dass der
Suizidwunsch Symptom einer psychischen
Erkrankung ist.“
23
Psychiatrische Klinik
• Wir wissen nicht, wie sich die Zukunft
eines Menschen entwickelt, aber:
die meisten Patienten stabilisieren sich
• Psychiatrische Klinik ist ein Ort des
Lebens
24
Zwangsbehandlung
Vertrauensverlust
Beziehungseinbruch
 Pat. erzählt nichts mehr
 Blindflug
25
Psychiatrie allgemein
• Selbstbestimmung
• Körperliche Integrität
• Psychische Integrität
•
•
•
•
•
Recht auf Leben
Recht auf Fürsorge
Teilnahme am Sozialleben
Prognose der Problematik
Leiden ist reduzierbar
Beispielfälle
27
Fall: Frau H.
Eintritt nachTrennung vom Ehemann …
28
2 Jahre Therapie
•
•
•
•
•
•
Mehrere SSRI, SSNRI, Trizyklika
Irrevers. MOA-Inhibitor
Atypische NL (Augmentation)
Lithium (Augmentation)
Leponex
(EKT)
 keine Besserung, Wunsch nach EXIT
29
SAMW (2012)
• Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist
wohlerwogen, ohne äusseren Druck
entstanden und dauerhaft.
30
Leiturteil Bundesgerichts (2006)
(BGE 133 I 58).18
• „Eine unheilbare, dauerhafte, schwere
psychische Beeinträchtigung lässt einen
Suizidwunsch als legitim erscheinen. “
31
ZEK (2012)
• „Es muss insbesondere auch
ausgeschlossen sein, dass der
Suizidwunsch Symptom einer psychischen
Erkrankung ist.“
32
Psychiatrie allgemein
•
•
•
•
Selbstbestimmung
Körperliche Integrität
Psychische Integrität
Leiden abstellen
•
•
•
•
•
Recht auf Leben
Recht auf Fürsorge
Teilnahme am Sozialleben
Prognose der Problematik
Leiden ist reduzierbar
Fall 2. Frau Me
• 24g Paracetamol …
34
Resumée Fr. Me
• Überwiegend ambivalente Zeiten
• Selten gute Zeiten (20%)
• 30% schlechte Zeiten
Prognose?
• Statistisch eher gut
35
Psychiatrie allgemein
•
•
•
•
Selbstbestimmung
Körperliche Integrität
Psychische Integrität
Leiden abstellen
•
•
•
•
•
Recht auf Leben
Recht auf Fürsorge
Teilnahme am Sozialleben
Prognose der Problematik
Leiden ist reduzierbar
Fall 3: Herr K.
• Schiziode PS (DD Depression)
• Wunsch nach Suizid & EXIT
• Teufelskreis
Keine Absprachefähigkeit bzgl. Suizidalität
Ausgangssperre
eskalierende Freiheitseinschränkungen
Vertrauensverlust
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Herr K. (2)
Vereinbarung:
Noch Therapien, so lange keinen Suizid
Kein Ansprechen auf Medikation, keine
Besserung.
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Psychiatrie allgemein
•
•
•
•
Selbstbestimmung
Körperliche Integrität
Psychische Integrität
Leiden abstellen
•
•
•
•
•
Recht auf Leben
Recht auf Fürsorge
Teilnahme am Sozialleben
Prognose der Problematik
Leiden reduzieren
Herr K (3)
verliebt sich
Keine Wusch mehr nach EXIT-Suizid
Austritt in gebesserten Zustand
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SAMW (2012)
• Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist
wohlerwogen, ohne äusseren Druck
entstanden und dauerhaft.
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Resümee (Ist Suizid wohlerwogen?)
•  individuelle Abwägung nötig
• Es gib (vereinzelt) Ausnahmen
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Resümee
• Recht auf Selbstbestimmung & Autonomie
• Suizidgedanken sind (oft, aber nicht
immer) Folgen von psychiatrischen
Störungen
• selten dauerhaft
• Wenig Prädiktoren um Symptompersistenz
vorherzusagen
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(persönliches) Resümee
Suizid und Psychiatrie
• Die allermeisten werden aufwachen
(= nicht mehr suizidal sein wird)
• Ich weiss nicht wer aufwacht und wer nicht
Anwalt für das Leben
• Wenn ich eine Chance sehe, würde ich
eine Reanimation auch nicht unterlassen
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Herzlichen Dank!
Prf. Dr. med. Th. Reisch
Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern
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