Boni verleiten Aerzte zu unnötigen Eingriffen

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Schweiz
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16. August 2015 | sonntagszeitung.ch
Boni verleiten Ärzte zu unnötigen Eingriffen
Für mehr Operationen und zusätzliche Diagnosen zahlen Spitäler zum Teil hohe Lohnprämien
Im Zuger Lohnmodell gibt es 40 Kriterien,
die bonusrelevant sein können. Dazu ge­
hören das Erarbeiten von Fortbildungs­
konzepten oder Technologie-Evaluationen.
Es gibt aber auch Mengenziele: So erhal­
ten die Ärzte einen höheren Bonus, je mehr
stationäre Austritte sie in einem Jahr errei­
chen. Weil die Spitäler für Patientenfälle
pauschal abgegolten werden, sind die Aus­
tritte relevant. Je kürzer ein Patient bleibt,
desto mehr verdienen Spitäler.
Als bonusrelevant gelten in Zug auch
ambulante Erträge, die Ärzte mit ihren
Abteilungen erzielen. Diese Erträge ent­
stehen, wenn die Patienten nach einem
Eingriff die Nacht nicht im Spital verbrin­
gen. Bei diesem Kriterium gelten in Zug
die Vorjahreswerte als Richtmass. Wer
­diese nicht übertrifft, bekommt in der
­Regel auch keinen Bonus. Selbst für die
Auslastung eines medizinischen Geräts
werden die Ärzte belohnt: Je öfter sie ein
bestimmtes Gerät nutzen, desto höher wird
der Bonus. Auch für die Benutzung von
Geräten wird das Spital pauschal vergütet.
Laut Spitaldirektor Winistörfer werden
am Spital Zug pro Chefarzt vier bis sechs
Kriterien festgelegt – und «häufig gibt es
zwei sogenannte Mengenkriterien».
Seit das neue Lohnmodell gilt, sind die
Patientenzahlen des Spitals Zug von rund
9500 im Jahr 2011 auf fast 10500 im Jahr
2014 gestiegen – das ist eine Zunahme um
fast 10 Prozent. Dass die Gefahr für un­
nötige Operationen oder Untersuchungen
besteht, weist Winistörfer nicht von der
Hand. Es gebe bei diesem Lohnmodell si­
cher «zumindest teilweise Anreize für eine
Mengenausweitung», sagt er. Allerdings
bestehe diese Gefahr auch bei den klassi­
schen Modellen, bei denen Ärzte mit der
Behandlung von zusatzversicherten
­Patienten mehr verdienen würden. Am
Spital Zug jedenfalls gelte der Grundsatz
«Medizin vor Ökonomie».­
Dominik Balmer
Bern Die Lohnmodelle an Schweizer
Spitälern werden derzeit im grossen Stil um­
gebaut. Jetzt zeigt sich, dass etliche Spital­
direktoren ihr Personal mit Bonus-Modellen
ködern. Insbesondere Chefärzte sind massiv
unter Druck, sie müssen jedes Jahr mit
ihren Kliniken gewisse Mengenziele er­
reichen. Nur wenn die Ärzte diese Ziele
schaffen, werden sie mit einem Bonus
belohnt. In krassen Fällen macht dieser
­variable Anteil fast die Hälfte des gesam­
ten Lohnes aus.
Fachleute sind besorgt. «Es besteht die
Gefahr, dass die Ärzte medizinisch nicht
gerechtfertigte Eingriffe und Diagnose-­
verfahren vornehmen. Das ist sehr störend
und gefährlich», sagt Hans-Ueli Würsten,
Präsident des Vereins der Leitenden Spital­
ärzte der Schweiz (VLSS). Laut Würsten
sind solche Bonus-Modelle mittlerweile die
­Regel an Schweizer Spitälern. «Es geht darum,
in einer Spitala­bteilung gewisse Mengen zu
erreichen und letztlich damit mehr zu ver­
dienen.» Einen offiziellen Überblick hat
Würstens Verband allerdings nicht: «Es
herrscht keine Transparenz bei den
­Spitälern. Wir beziehen unsere Informa­
tionen aus Berichten von Chefärzten.»
Knie- und Hüftoperationen gelten als
«mengenanfällige Eingriffe»
Noch 2013 kam das Forschungsinstitut
GFS in einer Umfrage zum Schluss, dass
nur jeder fünfte Chefarzt und leitende
Arzt in der Schweiz einen Bonus-Vertrag
hat, der an Mengenziele geknüpft ist. Mitt­
lerweile dürfte die Quote massiv gestie­
gen sein – Zahlen aus Deutschland zei­
gen zumindest, dass heute bereits jeder
zweite Chefarztvertrag mit einem Bonus
abgeschlossen wird.
Auch die schweizerische Ärzteorgani­
sation FMH beobachtet eine Zunahme der
Bonusverträge an Spitälern – und schlägt
Alarm. «Die Ärzte werden dazu verleitet,
schneller zu operieren, nur damit sie bes­
ser verdienen», sagt FMH-Vizepräsident
Pierre-François Cuénoud. Die Standesord­
nung der FMH verbietet es den Ärzten
laut Cuénoud solche Bonusverträge zu un­
terschreiben. Dennoch lassen sich die ­Ärzte
dazu verleiten.
Als Grund für die Zunahme der neuen
Lohnmodelle verweist Conrad Engler
vom Spitalverband H+ auf den Struktur­
wandel: Immer mehr Spitäler würden
­verselbstständigt und erhielten eine neue
Rechtsform, sagt er. Dies habe den «Prozess
zur Anpassung der Lohnsysteme e­ rhöht».
Der SonntagsZeitung liegt eine Men­
genvereinbarung eines grossen Schweizer
Spitals vor. Sie zeigt, dass die Direktion
einer Klinik Vorgaben zu Leistungszielen
macht. Gefordert wird vom einen Jahr auf
das andere ein Wachstum um mehrere
Prozentpunkte im ambulanten und im
stationären Bereich. Die Ärzte sollen das
Wachstum grundsätzlich über mehr oder
über komplexere Fälle erreichen. Letzte­
re werden in der Regel besser vergütet.
Als sogenannt mengenanfällige Ein­
griffe gelten Knie- oder Hüftoperationen.
Aus dem Umfeld von Spitälern heisst
es, dass vor allem bildgebende Verfah­
ren von den Ärzten gesteuert werden.
Der Vorteil: bei einer Magnetresonanzoder einer Computertomografie ­müssen
die Ärzte keinen Eingriff am Körper
­vornehmen. Mit den Diagnoseverfahren
lassen sich die Strukturen des Körpers
darstellen.
Wie die Lohnmodelle mit Mengenzie­
len funktionieren, zeigt das Beispiel des
Kantonsspitals Zug. Direktor Matthias
Winistörfer hat bereits im Jahr 2011 ein
Modell eingeführt, das Chefärzte zwingt,
Bonusverträge zu unterschreiben. So er­
halten die Zuger Chefärzte noch einen
­garantierten Grundlohn von 90 Prozent.
Erreichen sie ihre vereinbarten Ziele, gibt
es den maximalen Bonus von 20 Prozent.
So steht es in einem Vertragszusatz, den
Winistörfer offenlegt. Das Modell gilt ab
dem Jahr 2017 für alle leitenden Ärzte. Das Spital Nidwalden zahlt nur
77 Prozent des Lohnes fix
Alles bereit für den chirurgischen Eingriff – dank dem Ärzte zusätzliche Boni kassieren können
Foto: Getty Images
«Ärzte sind keine Söldner, die bloss Umsatz generieren wollen»
Herr Cuénoud, warum stört es
Entwicklung der Rahmenbedingun­
Sie, wenn Spital-Chefärzte für
gen der Spitalärzteschaft seit zwei
eine gute Leistung einen Bonus
Jahren auch den Bonusanteil. ­Erste
erhalten?
Auswertungen gibt es 2016. Wir
Ein Bonus ist gefährlich. Er verleitet
wissen aber aus vergleichbaren
die Ärzte dazu, nur schneller zu ope­
Studien, dass Lohnmodelle mit Boni
rieren, damit sie besser verdienen. Ein
bei Spitalärzten in Deutschland
Bonus widerspricht darüber hinaus
stark zugenommen haben.
der philosophischen Grund­
Und wie geht die FMH
haltung von uns Ärzten.
konkret gegen die
Wir haben unsere Ethik.
Spitäler vor?
Wir sind keine Söldner, die
Unsere Standesordnung
bloss Umsatz generieren
untersagt den Ärzten klar,
wollen.
Verträge mit umsatzbezo­
In anderen Branchen gibt
genen Boni zu unterschrei­
es ähnliche Vergütungen:
ben. Gegen die Spitäler
Pierre-François sind uns aber die Hände
Warum sollten Boni in
Cuénoud
der Medizin nicht auch
­gebunden. Wenn die Spitä­
funktionieren?
ler Boni anbieten, dann zieht
Wir lehnen Boni in jeder Form ab –
das Profiteure an. Letztlich prägen
besonders wenn persönliche Men­
solche Lohnmodelle das Spital­
genziele oder der Klinikerfolg damit
umfeld negativ. Wir können höchs­
verknüpft sind. Selbst wenn die Ärz­
tens die Ärzte juristisch beraten bei
te am Umsatz eines Spitals betei­
Vertragsunterzeichnungen – und
ligt sind, besteht letztlich die Gefahr,
ihnen raten, Verträge mit zielbe­
dass sie unnötige Operationen
zogenen Bonuskomponenten nicht
durchführen, um die Geschäftszah­
zu unterschreiben.
len ihres Spitals besser zu machen.
Müssen auch die Ärzte mit
Immer mehr Spitäler wenden
Konsequenzen rechnen?
Bonus-Lohnmodelle an: Was
Verstösse gegen die Standesord­
macht die FMH dagegen?
nung können von Mitgliedern oder
Die Tendenz ist klar: Die variablen
Dritten angezeigt werden. Auf die
Komponenten bei den Lohnmodel­
Anzeige hin wird ein standeswidri­
len der Chefärzte sind sicher am
ges Verhalten eines Mitglieds­
Steigen. Aus diesem Grund erfas­
erstinstanzlich von der Standes­
sen wir mit unserer Umfrage zur
kommission der zuständigen Basis­
organisation beurteilt – zum Beispiel
einer Kantonalgesellschaft. Die
FMH-Standeskommission ist die
zweite Instanz. Beim Nachweis
­eines standeswidrigen Verhaltens
können Sanktionen wie Verweise,
Bussen, Suspendierungen oder
Ausschlüsse ausgesprochen wer­
den. Meines Wissens gab es bis­
lang aber noch keinen solchen Fall.
Die Stiftung Dialog Ethik will die
Ökonomisierung der Medizin
stoppen und hat einen neuen
Ärzte-Eid ausgearbeitet.
Die FMH unterstützt die Schaffung
eines neuen Ärzte-Eids nicht. Dass
Boni nicht erlaubt sind, steht wie
bereits erwähnt in der Standesord­
nung der FMH.
Die Befürworter der neuen
Lohnmodelle sagen, ihre Systeme seien zumindest transparent. Das gelte für die klassischen Spitalarzt-Lohnmodelle
mit den Pools und Fonds nicht.
Die sogenannten Poolsysteme er­
achte ich nicht als intransparent. Da
ist nichts Geheimes. Die Spitäler er­
lassen dazu Pool-Reglemente. Der
Vorteil solcher Pools ist, dass sie
eine gewisse Solidarität unter den
Ärzten erlauben. Dominik Balmer
Cuénod ist Vizepräsident der ­
Schweizerischen ­­
Ärztevereinigung FMH
Das Anreizsystem des Spitals Zug ist
­mittlerweile weitverbreitet – das zeigt eine
Umfrage bei 20 Spitälern und Klinik-­
ketten: So kennen die Kantonsspitäler in
St. Gallen, Nidwalden und Luzern sowie
die Spitäler in Thun BE und Wetzikon ZH
vergleichbare Bonus-Lohnmodelle. Auch
die Hirslanden-Gruppe zahlt ihren Ärzten
«in Ausnahmefällen» einen variablen
Lohnanteil. Das Kantonsspital Aarau will
per Anfang des kommenden Jahres ein
Lohnmodell mit «leistungsbezogenen Kom­
ponenten» einführen. Zur Debatte stehen
die neuen Vergütungen am Kantonsspital
Uri und bei der Solothurner Spitäler AG.
Zum Teil sind die Boni der Ärzte direkt
an Mengenziele geknüpft, zum Teil hän­
gen sie mit dem finanziellen Erfolg des
Spitals zusammen. Diesen können die
­Ärzte beeinflussen, indem sie mehr lukra­
tive Eingriffe vornehmen. Der Anteil des
variablen Lohns variiert dabei sehr stark.
Das Spital Nidwalden zahlt im Schnitt nur
gerade 77 Prozent des Lohns als fixen Be­
standteil aus. Die restlichen 23 Prozent
sind Bonusanteil. Andere Spitäler schüt­
ten bloss 5 Prozent der Lohnsumme als
variablen Anteil aus.
Allerdings ist die Bereitschaft zu Trans­
parenz nicht gross. Einige Spitäler geben
nicht bekannt, nach welchem Lohnmodell
sie ihr Personal vergüten, andere verlan­
gen eine Zusicherung zur Anonymität.
Selbst der Spitalverband H+ kann keinen
umfassenden Überblick bieten.
Transparenter ist die Situation in
Deutschland. Die Spitäler sind inzwischen
gezwungen, Bonus-Lohnmodelle und
Mengenziele mit ihren Chefärzten in den
Qualitätsberichten offenzulegen. Wer sich
nicht daran hält, kann gebüsst werden –
mit m
­ aximal zwei Euro pro stationärem
Fall. Gemessen an den Patientenzahlen in
der Schweiz müsste ein Spital bei einem
Vergehen schnell einmal mehrere 10 000
Franken Busse zahlen.
Mitarbeit: Oliver Zihlmann
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