Der Mensch hat von den Libellen viel abgeschaut und er will weiter von ihnen lernen. Dazu muss er ihre Lebensräume schützen und fördern, denn in der Schweiz sind elf Arten vom Aussterben bedroht. Nicht so die Adonislibelle. Text: Andreas Krebs Räuber der Lüfte Wandern mit WWF NATUR B ei zehnfacher Erdbeschleunigung rutscht dem Jet-Piloten das Herz nicht ganz in die Hose. Aber immerhin 15 Zentimeter in die Richtung. So wie die übrigen Organe. Und sein Blut sackt in die Beine, dem Gehirn droht Sauerstoffmangel, die Sehkraft wird schwächer, Atmen ist selbst unter Pressluft kaum und koordiniertes Handeln gar nicht mehr möglich. Anders bei der Libelle: Wenn sie in vollem Speed schlagartig senkrecht nach oben steigt, sich blitzartig fallen lässt, ohne an Tempo zu verlieren oder abrupt abbremst, behält das hyperagile Tierchen trotz enormer Kräfte die absolute Lufthoheit. Unterricht bei der Natur Lebensräume fördern Auf die massiven Umweltveränderungen der letzten hundert Jahre konnten die Libellen aber nicht reagieren. So stehen heute von 72 heimischen Arten 26 auf der Roten Liste, 11 sind vom Aussterben bedroht, drei bereits ausgestorben. «Der einzig mögliche Schutz ist der, ihre Lebensräume zu erhalten und zu fördern», sagt Hansruedi Wildermuth, Biologe und Libellenfachmann. Keine Hilfe ist der beliebte Gartenweiher. «Der hilft nur den häufigen Arten. Die seltenen und bedrohten hingegen sind Lebensraumspezialisten. Sie leben in Moorgewässern, Quellrinnsalen oder Fliessgewässern mit guter Wasserqualität und geeigneten Uferstrukturen. Manche Gewässer müssen vor dem Verlanden geschützt und deshalb gepflegt werden.» Sonnenkinder unter Bergriesen An sonnigen Tagen kann man an vielen stehenden Gewässern Libellen beobachten. Zum Beispiel im Naturschutzgebiet Les Grangettes am östlichen Ende des Genfersees (siehe Kasten), wo mindestens 27 Arten nachgewiesen wurden. In den Riedwiesen und in Waldlichtungen laden kleine und grosse Weiher zum Verweilen ein. Die nahen Bergriesen spiegeln sich im Wasser, in dem sich Frösche tummeln; Vögel trällern, an einen Baum hämmert ein Specht. Über das offene Gewässer flitzen farbenprächtige Blaugrüne Mosaikjungfern, Vierfleck- und Plattbauchlibellen, das menschliche Auge kann ihnen kaum folgen, zickzack, rauf und runter, lautlos, ausser wenn ihre Flügel beim wilden Tanz aneinandergeraten, dann surrt es. Sie attackieren beinahe wahllos sämtliche Tiere, die sie überwältigen können. Selten setzen sie sich zur Ruhe. Eine frühe Fliegerin Anders die Kleinlibellen, die zwischen Schilfrohr und hohen Gräsern fliegen und gerne auf Halmen und Laichkräutern landen. Eine Frühe Adonislibelle (Pyrrhosoma nymphula) lässt sich von neugierigen Beobachtern nicht stören. Gemächlich frisst sie eine Blattlaus. Foto: Olaf Wolfram, Digimakro.de Ihre waghalsigen Flugmanöver überlebt die Libelle, weil sie wie alle Insekten einen offenen Blutkreislauf besitzt: Das Blut füllt den ganzen Körper aus. Die Organe schwimmen in diesem Kräfte dämpfenden Flüssigkeitspolster, das von einem harten Panzer eingeschlossen ist. Der Schweizer Pilot, Physiker und Erfinder Andreas Reinhard hat diese Erkenntnis nutzbar gemacht, indem er den «Libellenanzug» entwickelt hat. Ein Flüssigkeitsmantel, von dem US-Kampfjetflieger sagen: «Damit können wir unsere Maschinen erstmals bis an die Grenze fliegen.» Im Vergleich zur Wendigkeit der Libellen (Odonata) bleiben Kampfjets aber stümperhafte Flieger. Kein Wunder: Libellen hatten über 250 Millionen Jahre Zeit, ihre Flugkünste zu perfektionieren. Gerade klein waren sie am Anfang allerdings nicht. Mit bis zu 70 Zentimeter Flügelspannweite waren Urlibellen die grössten jemals existierenden Insekten. Doch in den letzten 150 Millionen Jahren haben sich die Libellen in Grösse, Bau und Lebensweise nur unwesentlich verändert – ein Beweis für den ungeheuren Erfolg ihrer Lebensstrategie. Natürlich | 7-2006 41 NATUR Wandern mit WWF Les Grangettes – Rastplatz für Vögel Das Naturschutzgebiet Les Grangettes ist der einzige Uferabschnitt des Genfersees mit natürlichem und ländlichem Charakter. Es erstreckt sich auf vier Kilometern von Villeneuve bis zur Rhonemündung und gehört zu den vom WWF Schweiz ausgewählten Smaragdgebieten. Die Grangettes ist ein Gebiet, wo sich Schilfröhrichte, Seggenrieder und Bruchwälder zu einer grandiosen Landschaft zusammenschliessen, eingebettet in hohe Alpengipfel, gesegnet mit phantastischen Sonnenuntergängen über dem See. Unter Kennern ist sie berühmt für die in Westeuropa seltene Gemeinschaft von Gelber Iris, Breitblättrigem Rohrkolben und Fleckenschierling. Hier blühen auch sehr seltene Arten wie etwa der Schmalblättrige Rohrkolben, das Gefleckte und das Fleischrote Knabenkraut, die Langspornige Handwurz und die Zwiebelorchis. Heimat bietet die Grangettes auch Viper, Schling- und Ringelnatter (siehe Natürlich 6-06) sowie Laubfrosch und Gelbbauchunke (siehe Kasten). In Les Grangettes existieren unzählige Wanderwege und man kann kreuz und quer durchs ganze Gebiet wandern (Wege nicht verlassen). Ausflugsziele in der Nähe: Das Schloss Chillon ist wohl eines der schönsten Wasserschlösser überhaupt. Es liegt zwischen Villeneuve und Montreux. www.chillon.ch Vom Schloss Chillon bis Ouchy (33 Kilometer) führen verschiedene Weinlehrpfade hoch über dem See zwischen Rebstöcken und versteckten Dörfern hindurch. Tafeln erklären dem Wanderer die Geheimnisse des Weins und des Weinbaus. Das Murmeltierparadies (Murmeltier siehe Natürlich 8-06) ist direkt neben dem Botanischen Garten La Rambertia und ist mit der Bahn zum Rochers-de-Naye zu erreichen. Touristeninformation: Montreux-Vevey Tourisme, Rue du Théâtre 5, 1820 Montreux, Telefon 0848 86 84 84, Fax 021 962 84 86, [email protected], www.montreuxtourism.ch Von internationaler Bedeutung ist die Grangettes für Vögel, und zwar sowohl als Rast- und Überwinterungsplatz für Zugvögel wie auch als Brutgebiet. Seit 1954 hat man in der Grangettes über 260 Vogelarten beobachtet, davon gut 180 Zugvögel. Einige riedbewohnende Arten sind allerdings auch hier durch die Einengung ihres Lebensraumes verschwunden, namentlich der Grosse Brachvogel, die Bekassine und der Wachtelkönig. 42 Natürlich | 7-2006 Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA067919) Fotos: Andreas Krebs ////// = Schutzgebiet Infobox Für speziell Interessierte: • Jödicke: «Die Binsenjungfern und Winterlibellen Europas», Verlag Neue Brehm-Bücherei 1997, BZ-Bestellnummer 7324995, Fr. 44.– • Jurzitza: «Der Kosmos Libellenführer», Verlag Kosmos 2000, ISBN: 3-440-08402-7, Fr. 37.– Die Frühe Adonislibelle, auch Adonisjungfer genannt, ist eine der häufigsten Arten Europas. Sie hat schwarze Beine und einen roten Körper mit schwarzer Zeichnung; der Bruststreifen der Weibchen ist oft gelb. Trotz ihrer auffälligen Färbung ist die Frühe Adonislibelle nicht oft zu beobachten, da sie sich meist in dichter Vegetation verborgen aufhält. Ihr extrem dünner Körper (Schlanklibelle) ist 35 bis 45 Millimeter lang, die Flügelspannweite beträgt 50 bis 70 Millimeter. Sie fliegt von April bis August und ist somit neben der Plattbauchlibelle eine der ersten Arten, die im Frühling beobachtet werden können. Im späten Frühjahr oder Frühsommer paaren sich Adonislibellen in den frühen Morgenstunden. Zur Eiablage landen die Tiere im Tandem auf schwimmenden oder aus dem Wasser ragenden Pflanzen. Das Weibchen heftet die Eier an Pflanzenteile unterhalb der Wasseroberfläche. Dazu taucht es oft fast vollständig im Wasser ein. Wandern mit WWF NATUR • Wildermuth/Gonseth/Maibach: «Odonata – Libellen der Schweiz» Bezugsquelle: CSCF c/o Musée d'histoire naturelle, Terreaux 14, 2000 Neuchâtel. • Handbuch/Verbreitungsatlas der Schweizer Libellen. Beschreibung der Verbreitung, Lebensräume, Schutz- und Förderungsmassnahmen aller Arten. Alle Arten farbig abgebildet (Aquarelle des verstorbenen Kunstmalers P.-A. Robert), Fr. 60.– Internet • www.libellen.li/ • www.sglibellen.de/ • www.libelleninfo.de geklappt – zwei Erkennungsmerkmale von Kleinlibellen. Bei Grosslibellen hingegen stehen die Flügel in Ruhestellung seitlich vom Körper ab und der Kopf besteht fast nur aus Augen. Bei der Königslibelle bestehen die Facettenaugen aus insgesamt 56 000 Einzelaugen (Ommatidien). «Jedes bildet einen bestimmten Bereich der Umwelt ab», erklärt Wildermuth. «Der Blickwinkel von Libellen ist beinahe kugelförmig, nur nach hinten unten sehen sie nichts. Dort ist ihr Körper im Weg.» Wie bei allen Insekten liegen zwischen den Komplexaugen auf der Kopfoberseite drei kleine Punktaugen, mit denen sie den Horizont sehen. «Die Nasa interessiert sich für dieses Orientierungsorgan. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen einst der sicheren Landung von Raumschiffen dienen», weiss Wildermuth. Im Gegensatz zum Menschen sehen Libellen polarisiertes Licht und alle Farben, auch Ultraviolett. Ausserdem ist ihr zeitliches Auflösungsvermögen viel besser als unseres. Einen Film mit 20 Bildern pro Sekunde sehen wir als kontinuierliche Bewegung. «Für eine Libelle wäre das eine Diashow», sagt Wildermuth, «sie sieht bis zu 200 Bilder pro Sekunde.» Dieses hohe Auflösungsvermögen ist typisch für schnell fliegende Insekten. Die Feinkorrekturen in jeder Fluglage lassen auf eine extrem fein und rasch ablaufende Abstimmung zwischen visuellen Informationen und Flugmuskelbewegungen schliessen. Die Adonislibelle setzt ihre Flugmuskeln in Bewegung, fliegt auf zur erneuten Jagd. Gefährliche Lebensphase Libellen leben als fliegendes Insekt (Imago) nur wenige Wochen. Zwei, selten gar drei Jahre lebt sie als Larve. Mit dem Schlüpfen folgt die gefährlichste Lebensphase der Libelle. Von Ende April bis Anfang Juni klettern die Larven an Halmen Fotos: Hanno Voigt, nature-concept.de Literatur: Für allgemein Interessierte: • Küry: «Faszination Libellen». Bezugsquelle: Naturhistorisches Museum, Augustinergasse 2, 4001 Basel, ISBN: 3-9520840-7-7, Fr. 11.– • Broschüre mit guten allgemeinen Informationen Alle Arten der Schweiz kurz beschrieben und farbig abgebildet 56 003 Augen Die beiden Facettenaugen der Adonislibelle liegen weit auseinander und die Flügel sind über dem Rücken zusammen- Von der Larve zur Exuvie: Zwei bis drei Jahre lebt eine Libelle als Larve (unten), bevor sie auf einen Halm steigt, schlüpft und die Exuvie, wie die Larvenhaut heisst, zurücklässt Das WWF-Alpenprogramm Für die Serie «Wandern mit WWF» arbeiten WWF und «Natürlich» eng zusammen. In der Serie werden Tiere und Pflanzen vorgestellt, die in Naturgebieten und so genannten Smaragd-Gebieten vorkommen. Smaragd-Gebiete sind Lebensräume, die im Rahmen des WWF-Alpenprogramms als besonders schützenswert erachtet werden. Mit dem Smaragd-Netzwerk werden die langfristige Erhaltung von bedrohten Arten und Lebensräumen angestrebt, sowie Naturschutzlücken geschlossen. Weitere Infos: www.wwf.ch/alpen Natürlich | 7-2006 43 Foto: Olaf Wolfram, Digimakro.de Wandern mit WWF NATUR Ein verstecktes Juvel: Die Adonislibelle ist zwar häufig, lebt aber sehr zurückgezogen Akrobatische Liebesstellung Taucht ein Libellen-Weibchen auf, wird es manchmal von mehreren Männchen angeflogen, von einem glücklichen geschnappt und flugs beginnt die Paarung. Dann sitzt das Paar 15 bis 25 Minuten lang in der Vegetation am Ufer. «Die Libellen vereinigen sich zum so genannten Paarungsrad, einer einmaligen Erscheinung im Tierreich: Mit der Greifzange seines Hinterleibendes ergreift das Männchen das Weibchen hinter dem Kopf. Dieses krümmt seinen Hinterleib nach vorne zum zweiten und dritten Hinterleibssegment des Männchens, wo sich sein Kopulationsorgan befindet; in dieses hat das Männchen vor der Paarung sein Sperma aus der Geschlechtsöffnung übertragen», beschreibt Wildermuth das akrobatische Kunststück. Männchen entfernen oder überlagern allfällig bereits vorhandenes Sperma eines Foto: Bildagentur Waldhäusl bis zu 20 Zentimeter über die Wasseroberfläche; an geeigneten Stellen verankern sie sich fest mit ihren Fusskrallen. Einige Minuten später befreit sich das Tier langsam aus der Schlupfhaut. Die Larvenhäute (Exuvien) sind ein guter Beleg für den Libellenbestand eines Gewässers und werden deshalb häufig von Fachkundigen eingesammelt. Während des Schlüpfens, das an warmen Tagen häufig morgens erfolgt und zwei bis drei Stunden dauert, sind Libellen Feinden völlig schutzlos ausgeliefert. Wenn die Libelle ganz draussen ist, presst sie Hämolymphe (Blutflüssigkeit) in die Flügel, die sich dadurch auffalten. Dann startet sie zu ihrem Jungfernflug. Der ist noch ungeschickt und führt meistens schnurgerade schräg nach oben. So sind Junglibellen leichte Beute für Vögel oder andere Libellen. Überlebt die Libelle diese gefährliche Lebensphase, verlässt sie während der so genannten Reifung ihr Entwicklungsgewässer für etwa ein bis zwei Wochen. «Dabei besiedelt ein Teil der Tiere neue Gewässer, während andere zu den alten zurückkehren«, sagt Wildermuth. Nach Abschluss der Reifephase besetzen die Männchen an den Fortpflanzungsgewässern Reviere, um dort auf Weibchen zu warten. Vorgängers. Die Befruchtung der Eier geschieht nämlich nicht unmittelbar bei der Kopulation. Libellenweibchen lagern, wie übrigens auch die Stubenfliege, das Sperma zuerst in Samenbehältern. Zur Besamung kommt es erst bei der Eiablage. So entsteht ein Wettstreit zwischen den Spermien der beteiligten Männchen, was mit dem Begriff «Spermakonkurrenz» umschrieben wird. Die Weibchen tupfen die Eier in für die Entwicklung der Larven geeignete Gewässerbereiche ab. «Ein gefährliches Manöver, bei dem sie manchmal Fröschen zum Opfer fallen», sagt Wildermuth. Im freien Flug hingegen werden Libellen kaum erwischt – ausser vom Baumfalken, der sich auf die Luftkünstler spezialisiert hat. ■ Gelbbauchunke Obwohl Amphibien seit 1967 bundesrechtlich geschützt sind, werden die bedrohten Arten immer seltener. Dies darum, weil immer mehr artspezifische Lebensräume verloren gehen. So ist auch die einst weit verbreitete Gelbbauchunke (Bombina variegata) in der Schweiz stark gefährdet; im Tessin ist sie gar ausgestorben. Gelbbauchunken bevorzugen Pionierlandschaften, das heisst, sie besiedeln vor allem kahle, sich schnell erwärmende, oft trübe Tümpel, wie sie in natürlichen Auen nach jeder Überschwemmung entstehen. Weitere natürliche Lebensräume sind feuchte Wälder, Rutsch- und Riedgebiete. In der Kulturlandschaft besiedelt sie vor allem Kiesgruben und andere Abbaugebiete, Panzerübungsplätze und Pfützen, die sich in Traktorspuren bilden. Die Gelbbauchunke wird kaum fünf Zentimeter gross, hat eine warzige Haut und ist mit ihrer lehmbraunen Rückenfärbung in ihrer typischen Umgebung hervorragend getarnt. Sie ist einfach zu erkennen an ihrem gelborange und schwarzblau gemusterten Bauch. Den streckt sie bei Gefahr ihren Feinden entgegen und signalisiert so, dass sie ungeniessbar ist. Zusätzlich sondert sie aus ihren Hautdrüsen ein giftiges Sekret ab, das sie auch vor Bakterien schützt. Infos: www.karch.ch (Koordinationsstelle für Amphibienund Reptilienschutz in der Schweiz) Natürlich | 7-2006 45