Der Körper als Ausdrucksfeld traumatischer Erfahrungen

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Der Körper als Ausdrucksfeld
traumatischer Erfahrungen
Inselspital Bern 22.9.2011
PD Dr. phil. Rosmarie Barwinski
Schweizer Institut für Psychotraumatologie
(SIPT)
www.psychotraumatologie-sipt.ch
Welche seelischen Folgen, die sich auch
körperlich ausdrücken können, hinterlassen
Ereignisse wie Unfall und Krankheit bei den
Betroffenen?
Aufbau
1. Psychische Folgen von Traumatisierung durch
Unfall und Krankheit
2. Psychosomatische Folgen von Traumatisierung
- Krankheit als Traumafolge
3. Indikation: Welches Vorgehen ist bei welchen
Patienten indiziert?
Ätiologischer Ansatz
- Ätiologie
- Symptomatologie
- Pathogenese
Ätiologie
In ihrer Verallgemeinerung über verschiedene
Krankheitsbilder hinweg wird die Lehre von den
Krankheitsursachen als „Ätiologie“ bezeichnet.
Symptomatologie
Den Ausdruck „Symptom“, der aus dem
Altgriechischen stammt, können wir übersetzen mit
„Zeichen“ oder „Anzeichen“. Gemeint ist ein
Anzeichen, das auf die Krankheit verweist.
Aus den Krankheitszeichen sucht der Praktiker den
pathologischen Prozess zu erschliessen, der als
Ursache der Symptome verstanden wird.
Pathogenese
Pathogenese ist die Lehre von den Vorgängen
intraorganismischer bzw. intrapsychischer
Fehlregulation und den Mechanismen der
Aufrechterhaltung einer Störung bzw. Erkrankung.
Pathogenetische Mechanismen lassen sich als
Dysfunktion oder -regulation
gesundheitserhaltender Kräfte und Faktoren
beschreiben.
A) psychotraumatisch
D)
B)
Untersozialisation
Übersozialisation
C) psychobiologisch
1. Definition: Trauma
Fischer & Riedesser (1998) definieren Trauma als
"ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen
bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen der
Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht
und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbstund Weltverständnis bewirkt."
Trauma ist eine Verlaufskrankheit:
Verlaufsmodell psychischer
Traumatisierung
Die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen
durchläuft unterschiedliche Phasen:
- traumatische Situation
- traumatische Reaktion
- traumatischer Prozess
Traumatische Situation
Der Begriff der traumatischen Situation umfasst
sowohl die äußeren, objektiv erfassbaren
Situationsmerkmale als auch die
persönlichkeitstypische Reaktionsbereitschaft.
Objektiver Zugang
Unfall:
- der Unfallhergang (äussere Umstände)
Krankheit:
- Diagnosemitteilung
Subjektiver Zugang
Erleben in der traumatischen Situation:
- Hilflosigkeit
- Angst, Todesangst
- Panik
- Schock
- Schmerz, Schmerzunempfindlichkeit
- fehlende Handlungskontrolle
- Verwirrung, Wahrnehmungsschwierigkeiten
- heftige affektive und körperliche Reaktionen
- dissoziative Phänomene
dissoziative Phänomene
Beispiel Unfall:
- Betroffene sah sich während des Unfalls
„von oben“ aus der Beobachterperspektive
im Auto sitzen (wusste nicht, wie sie nach dem
Unfall nach Hause gekommen war)
Beispiel Diagnosemitteilung:
- realisierte nicht, was die Mitteilung des Arztes
bedeutet; erlebte sich wie „im Film“
Traumatische Reaktion
- Wechsel zwischen Verleugnung und
Reizüberflutung
Verleugnung zeigt sich in Apathie oder
Teilnahmslosigkeit.
Reizüberflutung zeigt sich z.B. darin, dass
Betroffene von Bildern des Unfalls verfolgt werden
(z.B. ständig den Moment des Aufpralls „sehen“)
oder sie ständig die Situation der
Diagnosemitteilung innerlich wiederholen.
Diese Notfallmassnahmen sind notwendig zur
Integration der traumatischen Erfahrung.
D.h. der Wechsel von Überflutung und apathischen Pausen
macht es langsam möglich das Schreckliche denken zu
können und als Teil der eigenen Geschichte zurückzulassen.
Die traumatische Reaktion ist in diesem Sinne
eine normale Antwort auf eine
aussergewöhnliche Situation.
Unfall
natürlicher Verarbeitungsprozess ist blockiert:
- von Bildern und Gefühlen „überschwemmt“
werden
- „so tun, als wäre nichts passiert“ oder
Vermeidung von „triggern“ hält an
Erkrankung
natürlicher Verarbeitungsprozess ist blockiert:
- Verleugnung der Krankheit (Diagnosemitteilung
führt zu keiner Reaktion oder Veränderung in der
Lebensführung)
- Überflutung von Ängsten
Langzeitfolge: Ich-Spaltung
Ein Teil der Persönlichkeit weiss um das traumatisch
Geschehen, der andere lebt weiter als sei nichts geschehen.
Vorteil: Teil der Persönlichkeit bleibt weiterfunktionsfähig
Nachteil: keine weitere psychische Bearbeitung der als
traumatisierend erlebten Realität, so dass
das Traumatisierende permanente, aber nicht
psychisch repräsentierte Aktualität besitzt
Auch wenn Aktivitäten, Situationen oder Personen
vermieden werden, die an die traumatische
Situation erinnern könnten, schaffen sich die
Erinnerungen, auch wenn sie nicht bewusst sind,
via
Inszenierungen, Albträumen und Gefühlen, die mit
dem Trauma verknüpft sind,
noch Jahrzehnte nach deren Geschehen Zugang zur
Aktualität.
Auslöser
- erhöhter Stress
- "trigger" (Eindrücke visueller,
olfaktorischer oder auditiver Art, die an
traumatische Situationen erinnern)
- aktuelle Traumata
Traumatischer Prozess
Der traumatische Prozess stellt den
lebensgeschichtlichen Bewältigungsversuch der
traumatisierten Persönlichkeit dar, der zu
verschiedenen klinischen Bildern führen kann
(wie z.B. Depressionen, Phobien,
Suchterkrankungen, aber auch psychosomatische
Beschwerden oder PTSD).
psychotraumatisches
Belastungssyndrom (PTBS)
Halten die Folgen des Traumas länger als einen Monat an, so tritt häufig ein
Zustand ein, der durch folgendes Erscheinungsbild gekennzeichnet ist:
- unfreiwilligen Erinnerungsbildern an das traumatische Ereignis (meist in
Form von flash-backs oder sich wiederholenden Albträumen),
- Vermeidung von Situationen, die an die traumatische Situation erinnern
könnten und
- Erregung (Die Erregung und Angst kann sich auch körperlich äussern z.B.
in Magen- oder Kopfschmerzen).
Unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis finden sich diese und andere
Beschwerden, wie schwere Depressionen und Selbstzweifel oder überwältigende
Wut bei den meisten Betroffenen. Hier sprechen wir noch nicht von einem
PTBS. Bleibt die Erholung jedoch dauerhaft aus, so besteht ein erhöhtes Risiko
für negative Langzeitfolgen.
Unfall
bildhafte, sensomotorische Form der
Erinnerung bleibt erhalten
- Flashbacks (Bilder des traumatischen Geschehens)
- Albträume
- mit dem Trauma verknüpfte heftige Gefühlszustände
oder
- Vermeidungsverhalten weitet sich aus
Krankheit
- körperliche Grenzen werden verleugnet
- körperliche Grenzen werden nicht
ausgetestet
- der Körper als „Fremdkörper“ (Spaltung)
Verständniszugang zu Langzeitfolgen:
Dynamik psychotraumatischer
Störungen
- Traumaschema vs.
- Traumakompensatorisches Schema
Traumakompensatorisches Schema
- Wie hat es zu dem erschütternden Ereignis kommen
können?
- Wie lässt sich eine Wiederholung in Zukunft vermeiden?
- Was kann das Trauma, die seelische Verletzung bzw.
Erschütterung, wieder heilen bzw. ungeschehen machen?
Beispiel
Frau M. ist eine 64jährige Frau, die eine
langwierige lebensbedrohliche Krankheit in ihrer
Kindheit überlebte. Vor sechs Monaten erlitt sie
einen Herzanfall. Obwohl sie sich erholte,
berichtete Frau M. seit dieser Zeit von folgenden
Symptomen: Schlaflosigkeit,
Konzentrationsschwierigkeiten, intrusive
Erinnerungen an ihre Kindheit und depressiven
Verstimmungen. Frau M. schreibt ihrem
Herzanfall ihrer eigenen Unwürdigkeit zu.
Frau M. sagt: „Mir passieren immer schlimme
Dinge, weil ich es nicht anders verdiene. Ich bin oft
neidisch und engstirnig, und ich bin niemals
dankbar für das, was ich habe. Menschen wie ich
verdienen es zu leiden. Man sollte meinen, dass
mich meine Krankheit in meiner Kindheit zu einem
besseren Menschen gemacht hätte. Aber ich war so
dumm, das ich das vergessen habe, bis der
Herzanfall mich wieder an meine selbstsüchtige
Natur erinnert hat. Ich verdiene einfach die guten
Dinge des Lebens nicht.“
Beispiel
Herr W. ist ein 62jähriger Mann, der an einer
Netzhautdegeneration leidet. Der Patient wurde
vom Hausarzt zu einer Einschätzung durch einen
Psychotherapeuten überwiesen. Herr W. berichtete
über die folgenden Symptome: Schlaflosigkeit,
Hoffnungslosigkeit und Interesselosigkeit.
Zusätzlich berichtete er die Gesichter von
Kameraden des 2. Weltkrieges zu sehen, die im
Gefecht starben. Und die Geräusche von Schreien
und Geschützfeuer zu hören. Er berichtet, dass er
früher ein unerschütterlicher Leser war.
„Gewöhnlich las ich zwei bis drei Romane in der
Woche. Ich habe nichts, um meinen Geist zu
beschäftigen. Seit ich solche Schwierigkeiten beim
Lesen habe, fange ich an, über meine Kameraden
nachzudenken, die im Krieg starben. Ich sehe ihre
Gesichter, höre ihre Schreie. Ich wünschte, ich hätte
etwas, um meinen Geist zu beschäftigen, aber ich
kann nicht einfach ein Buch nehmen und anfangen
zu lesen, wie ich es früher tat.“
Vorangehende Traumata bestimmen die
Verarbeitung aktueller Traumatisierungen.
Wenn durch aktuelle Traumata das TKS in
Frage gestellt wird, kommt es zur
Dekompensation.
Beispiel
Die Patientin erlitt im Januar 2010 in der Nacht
einen Selbstunfall mit dem Auto. Sie rutschte mit
dem Auto ca. 80 Meter eine Böschung hinunter. Sie
sei während dem Sturz des Autos voll bei
Bewusstsein gewesen. Dabei verspürte sie starke
Rückenschmerzen sowie Todesangst,
unermessliche Hilfs- und die Ausweglosigkeit.
Nach dem Sturz konnte sie nicht aus dem Auto
klettern. Als sie ihr Natel nicht fand, dachte sie, sie
wird erfrieren.
Nachdem es ihr gelungen war aus dem
zerquetschten Auto durch das Fenster zu klettern,
hörte sie ein Auto auf der Strasse vorbei fahren. Sie
rief nach Hilfe, aber wurde nicht gehört. Sie dachte:
“Ich sterbe hier und es wird mich niemand hören
und mir helfen“.
Sie versuchte den Abhang hinauf zu klettern,
rutschte mehrfach hinunter. Auf der Strasse wurde
sie von einem Fahrer aufgefunden und ins Spital
gebracht. Es wurden mehrere Quetschungen und
Schürfungen ohne Frakturen festgestellt.
Seit dem Selbstunfall mit dem Auto hat sie sich
verändert, erträgt keine Konfrontationen, bricht
schnell in Zorn aus, hat starke Schuldgefühle
insbesondere gegenüber ihrem Freund. Sie leidet an
Antriebs-, Freud-, Kraft- und Energielosigkeit.
Im weiteren Verlauf litt sie an erhöhter
Schreckhaftigkeit, innerer Unruhe,
Nachhallerinnerungen (Flash-backs), Alpträume,
Ein- und Durchschlafstörungen,
Schweissausbrüchen, Konzentrations-,
Merkfähigkeit und Gedächtnisstörungen,
Hypervigilanz und erhöhte Reizbarkeit mit häufigen
Wutausbrüchen. Ihr Leben sah sie sinnlos, sie
bedauerte überlebt zu haben, fürchtete sich vor ihrer
Zukunft. Die Patientin ist seit dem Unfall krank
geschrieben und wurde vom Hausarzt in eine
ambulante Therapie überwiesen.
Im Gespräch mit der Therapeutin berichtet sie von
sexuellen Übergriffen, die im Alter von 12 Jahren
von einem Onkel verübt wurden.
Sie schäme sich darüber zu reden und habe bis
heute niemanden etwas davon erzählt. Ihr Vater
hätte einen „Schock bekommen und die
Enttäuschung nicht verkraften können“. Er hätte
seinen Bruder umgebracht und damit die Familie
unglücklich gemacht. Aus diesem Grund wollte sie
ihre Eltern nicht damit belasten. Sie habe gelernt,
allein mit Problemen auszukommen.
Im traumakompensatorischen Schema ist eindeutig,
dass die Patientin gelernt hat, dass ihr keiner hilft
und sie selber Probleme lösen muss. Sie kann keine
Hilfe und Unterstützung zulassen, weil sie damit
auch ihre Hilflosigkeit spüren würde. Unter
Autonomie versteht sie keine Hilfe zu benötigen.
Sie erlebt Hilflosigkeit als Bedrohung eigener
Autonomie.
Der Verlust des Autos hat ihre Autonomie
eingeschränkt. Sie hat keine Arbeitsstelle, die
Unfallversicherung übt Druck aus und bald wird sie
kein Einkommen haben. Sie will ihrem Verlobten
nicht zur Last fallen. Da sie wegen Kleinigkeiten in
Zorn ausbricht und dabei verbal verletzend wird,
hat sie Angst um ihre Beziehung und ihre Zukunft.
Einflussfaktoren auf Langzeitfolgen
traumatischer Erfahrungen
Traumatische Situation
Objektive Situationsfaktoren:
- Dauer und Alter, wann das Trauma sich ereignete
- körperliche Verletzungen u.a.
Subjektives Erleben
Lebensgeschichte
- Vortraumatisierungen, Probleme im Beziehungsleben
Zusätzliche Schutzfaktoren
- Soziale Unterstützung (z.B. Familie)
2. Psychosomatische Folgen von
Traumatisierung - Krankheit als
Traumafolge
Zu Beginn der Traumabearbeitung können der
Körper und unterschiedliche Körpersymptome
folgende Funktionen erfüllen:
- Körpersymptome als Ausdruck der
unterbrochenen Handlung in der traumatischen
Situation
- Körpersymptome als Affektäquivalente
- Körpersymptome können als Ausdrucksverhalten
verstanden werden, die Symbolgehalt haben und
körpersprachlich zu entschlüsseln sind
- Körpersymptome können Ausdruck psychischer
Abwehrmechanismen sein
Körpersymptome können als Ausdruck
der unterbrochenen Handlung in der
traumatischen Situation gedeutet werden,
die keine Bewältigung ermöglichten.
Ist die Erinnerung an traumatischer Situationen
verloren oder fragmentiert, so repräsentieren
traumatische Reaktionen die traumatische
Erfahrung in der impliziten Erinnerung, auf der
Ebene des Körpergedächtnisses.
Auf die vitale Bedrohung antwortet der Organismus
mit maximaler Handlungsbereitstellung und –
anstrengung, die jedoch in sich zurückgeworfen
wird.
Wird nun die Sequenz Kampf-Flucht-„freeze“
(Erstarren, Sich Tot-stellen) vollständig
durchlaufen, so stellt sich die intrasomatische
Teilstrecke der unterbrochenen Handlung als
„eingefrorenes Handlungsfragment“ dar, wobei die
maximale Aktivität – angesichts der bedrohlichen
Ausgangslage – in starker Anspannung mit
dauerhaft überhöhtem Muskeltonus fortwirkt.
Dies kann langfristig zu Spasmen und
Kontrakturen in der betroffenen Muskulatur
führen.
Beispiel
Ein Lastwagenfahrer versuchte einen
Aufprall auf einen PKW zu verhindern,
indem er verzweifelt mit dem Fuss auf das
Bremspedal trat und sich gegen den Boden
stempte. Seit dem Unfall kann er sein Knie
nicht mehr biegen – sein Bein scheint in der
Haltung „eingefroren“, die es während des
Unfallhergangs hatte.
Differentialdiagnostisch handelt es sich hier häufig
um Fälle, die ein doppeltes Vorgehen verlangen.
Wurde die motorische Reaktion über einen
bestimmten Grenzwert hinaus gleichsam biologisch
„eingefrässt“, ist zusätzlich zu einer ansonsten
erfolgreichen Psychotherapie auch ein manuelles
Therapieverfahren indiziert, welches die tiefe
Skelettmuskulatur erreicht und gezielt auf die
Reorganisation neuromuskulärer Regelkreise
hinwirkt.
Körpersymptome können als
Affektäquivalente verstanden werden, die
den Zugang zu Gefühlen ermöglichen, die
in der traumatischen Situation erlebt, aber
abgespalten wurden.
Beispiel:
Eine Patientin meldete sich in der Praxis wegen
Burnout. Sie klagte über Körpersymptome wie
„wacklige Beine“, Druck auf der Brust,
Atemprobleme und Schwindel. Die Beschwerden
führte sie auf Stress am Arbeitsplatz zurück. Sie
fühlte sich überfordert, von ihrer Vorgesetzten im
Stich gelassen und hatte das Gefühl, dass ihre
Klagen nicht gehört würden. Sie war nicht mehr
arbeitsfähig und seit ca. drei Monaten krank
geschrieben.
Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass ihre
körperlichen Beschwerden als Symptome von
Angst verstanden werden müssen, die sie jedoch
nicht spürte. Das Erkennen der körperliche
Symptome als Angstäquivalente ermöglichte ihr in
der Folge sich an Situationen zu erinnern, denen sie
im Alter von 12 Jahre ausgesetzt war. Ihre Mutter
war schwer erkrankt und musste notfallmässig für
einige Monate ins Krankenhaus.
Sie musste während dieser Zeit in der Nacht alleine
auf ihren jüngeren Bruder aufpassen, der damals
eineinhalb Jahre alt war. Ihr Vater sei in dieser Zeit
nicht ansprechbar gewesen. Er ging zwar
regelmässig zur Arbeit, sei aber durch die
Krankheit der Mutter in seiner Alltagsbewältigung
überfordert gewesen. Sie habe in diesen
Situationen, in denen sie sich eigentlich hätte
überfordert fühlten müssen, ihre Angst nicht
gespürt. „Es war doch niemand da, der mir helfen
konnte. Ich musste funktionieren.
Ich musste mich doch um den Kleinen kümmern“,
führte sie aus.
Sie entwickelt in der Folge eine Art NotAutonomie, die ihr jedoch den Zugang zu Gefühlen
wie Angst und Überforderung verwehrte. Als die
Patientin 18 Jahre alt war, starb ihre Mutter. Wieder
war sie in einer schwierigen Lebensphase auf sich
gestellt. Auch in dieser Zeit konnte ihr Vater ihr
nicht die altersadäquate Unterstützung geben.
Am Arbeitsplatz habe sie Gefühle der
Überforderung nicht gespürt, wie „damals, als ich
nachts mit dem kleinen Bruder alleine war“.
Angst hatte bei dieser Patientin ihren
Signalcharakter verloren. Sie konnte Grenzen nicht
wahrnehmen und überforderte sich ständig.
Aufgrund der Überlastung am Arbeitsplatz und der
damit einhergehenden Reaktivierung traumatischer
Erfahrungen, wurden Affekte wieder resomatisiert.
Körpersymptome können als
Ausdrucksverhalten verstanden werden,
die Symbolgehalt haben und
körpersprachlich zu entschlüsseln sind.
Beispiel
Wie der Körper als Mittel zum Ausdruck seelischer
Verletzung gebraucht werden kann, kann am
Beispiel der Behandlung einer Patientin mit einer
über Jahre hinweg nicht heilenden Wunde illustriert
werden.
Im Verlauf der Behandlung konnte sich die
Patientin an ein traumatisches Ereignis erinnern,
das in ihrer Lebensgeschichte vorgefallen war.
Zuvor hatte sie mit niemandem darüber gesprochen.
In der Behandlung sah die Therapeutin eine zeitlang
beim Wechsel der Wundverbände zu, ohne dabei
selbst Hand anzulegen. Dies genügte, um die
Wunde allmählich heilen zu lassen. Als
Hintergrund dieser erstaunlichen Heilung kann man
vermuten, dass die traumatische Erfahrung durch
die Wunde zum Ausdruck gebracht worden war, so
lange die Patientin nicht darüber reden konnte.
Infolgedessen konnte sie nicht heilen. Sie war von
der nicht verfügbaren symbolischen auf die
Körperebene „verschoben“ worden.
Körpersymptome als Ausdruck
psychischer Abwehrmechanismen
Beispiel
Eine Patientin berichtete von Herzschmerzen und
Druck auf der Brust. Sie hatte Angst, dass sie an
einem Herzanfall sterben könnte. Im Verlauf des
Gesprächs berichtete sie, das ihr Vater an einem
Herzanfall gestorben sei. Sie hatte als Kind grosse
Angst vor ihrem Vater gehabt, den sie als jähzornig
und unberechenbar beschrieb.
Als ihr bewusst wurde, dass sie mit ihrem
Vorgesetzten in Konfliktsituationen ähnlich
reagiere wie gegenüber dem Vater, konnte sie selbst
den Zusammenhang zwischen ihren Herzschmerzen
und ihrer Angst vor ihrem Vorgesetzten erkennen.
Um Angst vor Aggression und Ohnmacht
abzuwehren, zeigte sie eine partielle Identifikation
mit dem Vater. Sie bekam Herzschmerzen wie der
Vater.
3. Indikation: Welches Vorgehen ist
bei welchen Patienten indiziert?
Frage nach der Wahl eines
Therapieverfahrens bei einer bestimmten
Störung
Unmittelbar nach einer katastrophalen Erfahrung weisen die
meisten Personen Symptome eines psychotraumatischen
Belastungssyndroms auf bzw. die Symptomatik einer akuten
Belastungsreaktion oder Anpassungsstörung.
Bei den meisten Personen bilden sich die Symptome zurück,
bei einer Minderzahl von zwischen 10 bis zu 30 %, je nach
Ereignis, bleiben sie bestehen oder verschärfen sich noch
mit der Zeit.
Als Selbstheiler werden Personen bezeichnet, die ohne
klinische Folgen über traumatische Erfahrungen
hinwegkommen.
Wechselgruppe: Diese sind in ihrem postexpositorischen
Erholungsprozess sehr stark auf stützende und beschützende
soziale Bedingungen angewiesen. Sind diese vorhanden,
werden sie zu „Selbstheilern“. Treffen sie jedoch auf
ungünstige Bedingungen, wie eine kritische, zweifelnde
soziale Umgebung oder langwierige bürokratische
Prozeduren, so wandern sie zur Risikogruppe ab.
Für die Wechselgruppe ist „psychotraumatologische
Fachberatung“ indiziert. Viele Betroffene benötigen
ausserdem aktive Unterstützung und Betreuung.
Bei der Hochrisikogruppe ist eine möglichst zeitnahe
Variante einer Akuttherapie angezeigt.
Liegt die traumatische Erfahrung länger als ein dreiviertel
Jahr zurück, so hat sich bereits ein traumatischer Prozess
gebildet und oft auch schon neurobiologisch konsolidiert. In
diesen Fällen ist eine Therapie vom Typ „mittelfristiger
traumatischer Prozess“ indiziert mit zwischen 30 und etwa
50 Sitzungen.
Bei langfristig bestehenden, stark chronifizierten Prozessen
kommt nur eine Langzeittherapie in Frage mit zwischen 80
und ca. 300 Sitzungen bei schweren Fällen.
Kriterien für die Indikation
1. zeitlicher Abstand zum traumatischen Ereignis z.B. akut oder
chronisch
2. Art der traumatischen Situation, z.B. natural vs. men-madeDesaster, Schocktraumata, Belastungstraumata,
Entwicklungstraumata u.a.),
3. soziales Umfeld, z.B. soziale Ressourcen
4. Tiefe der Störung (psychisches Struktur des Patienten)
Generell gilt: Je unmittelbarer die Hilfe, desto geringer die
Wahrscheinlichkeit von Störungen und Erkrankungen.
Interventionsmöglichkeiten
- Akuttherapie
- Beratung
- Betreuung
- mittelfristiger Prozess
- langfristiger Prozess
Physiotherapie
Wie erwähnt, kann Physiotherapie bei bestimmten
Patienten indiziert sein.
Wurde die motorische Reaktion über einen
bestimmten Grenzwert hinaus gleichsam biologisch
eingeprägt, ist zusätzlich zu einer ansonsten
erfolgreichen Psychotherapie auch ein manuelles
Therapieverfahren indiziert.
Physiotherapeuten berichten, dass ihre Patienten
während einer Massagebehandlung plötzlich
Zugang zu Erinnerungen an traumatische
Geschehnisse finden.
In Physiotherapien mit traumatisierten Menschen
muss diesem Sachverhalt besondere
Aufmerksamkeit gewidmet werden, um scheinbar
unverständliche Reaktionen der Patienten einordnen
zu können und Retraumatisierung zu verhindern.
Empfehlungen zum Erstkontakt:
- Kontrast zur traumatischen Situation (z.B. nach
Möglichkeit freistellen, ob eine männliche oder weibliche
Person die Bearbeitung bzw. Beratung übernimmt u.a.)
- die Betroffenen sollten zunächst Gelegenheit haben, ihr
Anliegen ausführlich vorzutragen
- Aufbau eines Vertrauensverhältnisses: dazu gehört
-
Anerkennung der Opferwerdung: die Opfer ernst nehmen und ihnen
glauben sollte im Vordergrund stehen
-
Behandlung der Traumafolgen als normale Reaktion (ev. Opfer
aufklären über Folgen von Traumata)
-
Durchschaubarkeit der Verfahrensabläufe (eine verständliche,
unbürokratische Sprache benutzen)
-
Einwirkungsmöglichkeiten und Kontrolle ermöglichen
-
Vermeidung zusätzlicher Belastungen
Zusammenfassung
Psychische Folgen von Krankheit und Unfall sind
vielfältig und unspezifisch. Auch körperliche
Erkrankungen können Traumafolgestörungen sein.
Eine Differenzierung entsprechend der Ätiologie
der Störung wird möglich, wenn sowohl psychische
als auch körperliche Symptome als möglicher
Ausdruck traumatischer Erfahrungen verstanden
werden.
In diesem Sinne plädiere ich für ein
ätiologie-orientiertes Vorgehen und eine
Zusammenarbeit der verschiedenen
Berufsgruppen.
Fachgerechte Schulung
Eine fachgerechte Schulung der verschiedenen
Berufsgruppen
- im Erkennen von psychischer Traumatisierung
- im Umgang mit Akuttraumata
- in der Indikationsstellung (d.h. im Wissen, wann
die Betroffenen an Fachpersonen verwiesen werden
sollten)
trägt wesentlich dazu bei, dass Traumafolgeschäden
ursächlich behandelt oder vermieden werden
können.
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