Forum Psychisches Trauma und Trauerprozess beim Kind 1 n B. Steck Kinder- und Jugendpsychiatrische Universitätsklinik und -Poliklinik Basel Summary Psychisches Trauma beim Kind Tabelle 1 In this inaugural lecture for child and adolescent psychiatry, children’s emotional experience and their creative ways of coping (expressed in drawings and statements) are addressed. Psychobiological aspects of early childhood psychological trauma, causes and stress effects, as well as specific characteristics and cycles of coping with psychological trauma are presented. The importance to grieve the losses experienced through traumatisation is discussed and the specific mourning process of children. Keywords: psychological trauma; mourning process; children Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf psychische Traumatisierungen, die innerhalb des familiären Rahmens (Tab. 1) stattfinden. Pierre Janet, Zeitgenosse von Freud und Charcot, hat bereits 1889 den Zusammenhang zwischen Symptomen und nicht verarbeiteter Erinnerung traumatischer Erlebnisse beschrieben. «... wie gewisse Ereignisse unauslöschbare und erschreckende Erinnerungen hinterlassen – Erinnerungen, zu denen der Leidende kontinuierlich zurückkehrte und durch die er tags und nachts gequält wurde» [3]. Sigmund Freud beschäftigte sich sein Leben lang mit der Frage, ob die äusseren Einwirkungen oder die phantasmatische Ausgestaltung und die individuelle Bedeutung der erlebten Realität für die psychischen Folgen verantwortlich seien. Nicht das Trauma an sich, sagte Freud, sondern seine nachträgliche Verarbeitung könne pathogene Formen annehmen, z.B. dann, wenn frühkindliche traumatische Erfahrungen in der Gegenwart unassimiliert blieben. Traumatische Erfahrung wird als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten definiert, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt [4]. intrafamiliäre psychische Traumata Einleitung Die Bedeutung psychischer Traumata in der Entstehung von Krankheitsbildern ist im menschlichen Bewusstsein seit jeher verankert; davon zeugen z.B. bereits die epischen Gedichte Homers. Das Interesse der Psychiatrie galt der Ursache des Traumas, nämlich ob es organischer oder psychischer Natur sei. Heute stehen die Fragen im Vordergrund, wie seelische Verletzungen körperliche Folgen nach sich ziehen und wie körperliche Erkrankungen psychische Auswirkungen haben.Welche Rolle und Einflüsse üben dabei das familiäre, soziale und kulturelle Umfeld aus? Das Auftreten von posttraumatischen Störungen bei Kindern als Folge schwerwiegender psychischer Belastungen wird erst seit einigen Jahren anerkannt [1]. Kindliches Trauern stellt einen inneren Prozess dar, den ein Kind nach dem Erleben von Verlusten und seelischen Verletzungen durchläuft [2]. Wie Trauma- und Trauerprozess zu den verschiedensten Lebensereignissen und zueinander in Beziehung stehen, ist wenig bekannt. Verlust von geliebten Personen durch Tod, Trennung, multiple Plazierung chronisch somatische oder psychische Krankheit eines Elternteils, Unfälle, Operationen, eigene chronische Krankheit kulturelle Entwurzelung, Miterleben von grausamen Akten den frühesten Beziehungen mit primären Betreuungspersonen auf [6]. Sie beeinflussen die spezifische Gestaltung der dendritischen Verzweigungen und neuronalen Synapsen, die nach dem Prinzip der Häufigkeit des Gebrauchs erfolgt. Bestimmte Bereiche des Zentralnervensystems müssen in entscheidenden Entwicklungsphasen angemessen stimuliert werden, damit sie später optimal funktionieren können. Jegliche Störung in der frühen Anpassung der primären Bezugspersonen an die Bedürfnisse des Säuglings oder jedes Ereignis, das die Kontinuität im kindlichen Erleben und in der Entwicklung des Kindes unterbricht, können als traumatogene Faktoren fungieren [7]. Frühkindliche traumatische Erfahrungen beeinträchtigen die normale Entwicklung des zerebralen Kortex und des limbischen Systems und können langfristige Veränderungen der multiplen Neurotransmittersysteme zur Folge haben [5]. Zentralnervöse Strukturen wie präfrontaler Kortex, Thalamus, Amygdala und Hippokampus sind an der schrittweisen Integration der hereinkommenden sensorischen, visuellen, akustischen Informationen beteiligt (Abb. 1). Diese Integration kann unterbrochen werden durch einen extremen affektiven Erregungszustand. Der Hippokampus hat die Funktion, unbewusste präverbale Erinnerungen (prozedurales Gedächtnis), die vor allem durch das amygdale System vermittelt werden, in bewusste verbale Erinnerungen (deklaratives Gedächt- Selbst wenn Kinder über grosse Anpassungskapazitäten verfügen, können traumatische Erlebnisse das psychische und biologische Gleichgewicht eines Kindes derart verändern, dass es seine Entwicklungsschritte in der Gegenwart nicht mehr oder nicht mehr lustvoll vollziehen kann. Die Plastizität des Gehirns birgt eine erhebliche Anpassungsfähigkeit in sich, macht aber Säuglinge und Kleinkinder besonders anfällig für langfristige Auswirkungen infolge störender Einflüsse [5]. Wahrnehmung und Bewusstwerden von Körperempfindungen und Emotionen sind fundamentale Bausteine in der Entwicklung von Selbsterleben und Selbstbild sowie von kognitiven Prozessen und Kreativität. Diese grundlegenden Erfahrungsmuster bauen sich in 1 Gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung vom 29. März 2001, Medizinische Fakultät, Basel. SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 154 n 1/2003 Korrespondenz: PD Dr. Barbara Steck Kinder- und Jugendpsychiatrische Universitätsklinik und -Poliklinik Schaffhauserrheinweg 55 CH-4058 Basel 37 Psychobiologische Aspekte des psychischen Traumas Misshandlung (physische, sexuelle, emotionale), Vernachlässigung, Deprivation nis) überzuführen [8]. Extreme emotionale Erregung verhindert die adäquate Evaluation und Kategorisierung der Erfahrung, da sie die hippokampale Funktion hemmt. Die Erinnerungen bleiben in der Amygdala als affektive oder sensomotorische Zustände körperlicher Empfindungen und visueller Bilder gespeichert und sind unauslöschbar. Eine adäquate Beurteilung und Integration der emotionalen Erfahrungen findet nicht statt. Deswegen bleiben traumatogene Erinnerungen zeitlos und Ich-fremd. Die nachhaltigste Folge traumatischer Erlebnisse auf die Psyche beruht auf der Unfähigkeit, Erregungszustände zu regulieren, Gefühle von Wut,Angst und Trauer zu steuern und in Worte zu fassen sowie Reize angemessen wahrnehmen und sich auf die Umwelt einstellen zu können. Je jünger ein Kind zum Zeitpunkt der Traumatisierung ist und je länger das Trauma andauert, um so grösser ist seine diesbezügliche Gefährdung [5]. Abbildung 1 Störung der Hippokampus-Funktion (abgeänder t nach van der Kolk, 1996 und Le Doux, 1996). Beur teilung einer traumatischen Situation Die Interaktionen von Entwicklungsprozessen und traumatischen Belastungen sind komplex. Immer muss dem kognitiven und affektiven Entwicklungsstand des Kindes Rechnung getragen werden. Weiter zu berücksichtigen sind sein interpersonales Beziehungsfeld, seine familiäre und soziale Situation. Reife von Abwehr- und Bewältigungsmechanismen, Ressourcen wie z.B. Temperament und Humor, und gute kognitive Fähigkeiten, die die Interpretation von traumatischen Erlebnissen beeinflussen, werden zu den protektiven Faktoren gezählt. Demgegenüber stellt eine vorbestehende physische und emotionale Vulnerabilität einen Risikofaktor dar. Oft sind mehrere Ursachen und Umstände an einem traumatischen Geschehen beteiligt. Verschiedene traumatische Ereignisse oder Umstände können simultan oder sukzessiv zusammenwirken. Akute Ereignisse werden von langandauernden Lebensumständen unterschieden und die psychosozialen Belastungen je nach ihrem Schweregrad eingeteilt (Tab. 2). Finden Traumatisierungen durch die nächsten Betreuungspersonen statt – wie dies bei Misshandlungen der Fall sein kann –, und steht dem Kind keine Ersatzperson zur Verfügung, erleidet es nicht nur den Verlust von Liebe, Fürsorge und Schutz, sondern verliert zudem die wesentliche Möglichkeit, sich mitteilen und anvertrauen zu können. Das Kind wird von Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Verzweiflung und des Entsetzens überflutet. Je kleiner das Kind oder je grösser seine Verletzlichkeit, um so mehr wird es von Vernichtungs- und Todesängsten überwältigt [9]. Symptome, Merkmale und Phasen psychischer Traumatisierung Tabelle 2 Schweregrad (aus DSM III-R) akute Ereignisse mittel Schulausschluss, Gebur t eines Geschwisters schwer Scheidung der Eltern, uner wünschte Schwangerschaft, Haft sehr schwer (extrem) sexueller Missbrauch oder körperliche Misshandlung, Tod eines Elternteils katastrophal Tod beider Eltern länger andauernde Lebensumstände mittel chronisch behindernde Krankheit eines Elternteils, ständiger Streit der Eltern schwer strenge oder zurückweisende Eltern, chronische lebensbedrohende Krankheit eines Elternteils, verschiedene Aufenthalte in Pflegeheimen sehr schwer (extrem) wiederholter sexueller Missbrauch oder körperliche Misshandlung katastrophal chronische lebensbedrohende Krankheit 38 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE Die auftretenden Symptome (Tab. 3) infolge der psychischen Belastung sind mannigfaltig und betreffen neben den emotionalen Verhaltensstörungen auch körperliche Funktionen und psychosomatische Reaktionen – Ausdruck von unerträglichen Gefühlen, für deren Benennung die Worte fehlen.Terr [10] fasste die Merkmale der Kindheitstraumata zusammen (Tab. 4). Fischer und Riedesser [4] beschreiben vier Phasen der traumatischen Reaktion bzw. der nachfolgenden Erlebniszustände (Abb. 2). Sie spielen sich jedoch nicht immer – wie dargestellt – sequentiell ab, sondern können auch nebeneinander bestehen.Traumaverarbeitung oder -prozess wird durch Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten beeinflusst sowie durch Alter, Entwicklungsphasen, Abwehrmechanismen und kritische Lebensereignisse. Phase I entspricht der traumatischen Erlebnissituation: Die emotionalen Störungen charakterisieren sich durch eine Übererregbarkeit, die sich in motorischer Hyperaktivität, explosiver Aggressivität oder panischen Angstzuständen manifestieren kann. 154 n 1/2003 In der Folge (Phase II) wird das traumatische Geschehen verleugnet, aus dem wachen Bewusstsein verbannt, die Erinnerung an das Ereignis verdrängt und die ursprünglichen Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung abgespalten. Kinder sind emo- tional verstimmt, ziehen sich zurück und zeigen sich teilnahms- und freudlos. Gleichzeitig bleibt das Kind oft sehr wachsam, ein Versuch, bedrohliche Situationen antizipieren zu können. Kinder versuchen, emotionale Distanz zu bewahren und emotional Tabelle 3 häufige Symptome nach einem psychischen Trauma Verhaltensstörungen, Regression grosse Bedür ftigkeit, anklammerndes Verhalten depressive Verstimmung, Reizbarkeit Verlust neu angeeigneter Entwicklungsfähigkeiten Ess-, Schlafstörungen, Enuresis Angststörungen: Trennungsängste, Phobien Alpträume mit bedrohlichen Inhalten: Monster, Gespenster somatische Störungen: Bauch- und Kopfschmerzen Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung phantasier te Schuld- und Verantwor tungsgefühle Gefühl einer eingeschränkten Zukunft, z.B. das Leben ist zu kurz, um er wachsen zu werden Tabelle 4 Merkmale der Kindheitstraumata (Terr, 1995) wiederkehrende, sich aufdrängende Erinnerungen (am häufigsten visuelle, aber auch akustische, taktile und olfaktorische) repetitive Verhaltensweisen: das traumatische Erleben wird im Spiel wiederholt und Teilaspekte der traumatischen Er fahrung werden im Verhalten reinszeniert traumaspezifische Ängste: die Ängste sind an die ursprüngliche traumatische Situation gebunden veränderte Einstellung zu Menschen, zum Leben und zur Zukunft: Vertrauensverlust und negative Erwartungen gefärbte Situationen, die mit dem Trauma in Beziehung stehen könnten, zu vermeiden. Infolge Lockerung der Abwehr z.B. kommt es zum Übergang in die Intrusionsphase (Phase III), in der sich mit dem traumatischen Erlebnis verbundene Vorstellungen und Gedanken aufdrängen. Da die Erinnerungsspuren nicht ausgelöscht werden, tauchen sie als Alpträume, spontane Bilder oder Geräusche auf. So sieht z.B. ein 10jähriges Mädchen seine Eltern nachts im Traum als Monster (Abb. 3). Das kindliche Spiel ist geprägt von sich wiederholenden Aspekten des Traumas. Kindern fehlt die Fähigkeit, im Als-ob-Spiel interaktive soziale Rollen und Situationen auszuprobieren und entsprechende Geschichten zu erzählen. Narrative von traumatisierten Kindern sind oft chaotisch und beinhalten bedrohliche Themen. Im Spiel und Geschichtenerzählen versuchen Kinder, das traumatische Erleben zu bewältigen und zu bearbeiten (Phase IV). Das Durcharbeiten, z.B. in einem psychotherapeutischen Prozess, ermöglicht die Integration der traumatischen Erfahrung. In späteren Belastungssituationen, z.B. beim Eintritt in die Adoleszenz oder bei einer schweren Erkrankung, reagieren die Kinder mit der emotionalen Intensität, die sie im Moment des Traumas empfunden haben, als ob sich dieses wiederholen würde. Sie können nicht verstehen, was mit ihnen geschieht, da sich die biographische Referenz im Unbewussten befindet. Lange bestehende traumatische Situationen in Verbindung mit zusätzlichen Verletzungen oder Verlusten führen zu anhaltender pathologischer Trauer oder chronischer Depression, die mit Gefühlen von innerer Leere, Sinn- und Leblosigkeit einhergehen können. Dies illustrieren Zeichnung (Abb. 4) und Kommentar eines 11jährigen Knaben: «Der Lebensbaum zu Beginn meines Lebens und jetzt.» Abbildung 2 Zyklen der Traumaverarbeitung (abgeänder t nach Fischer und Riedesser, 1999). Transgenerationelle Über tragung traumatischer Erlebnisse der Eltern auf Kinder Bei Kindern ist immer im Auge zu behalten, dass ihre Symptomatik Ausdruck einer intergenerationellen Übermittlung von nicht verarbeiteten traumatischen Ereignissen der Eltern sein kann. Die Tatsache, dass bestimmte Affekte von den Eltern nicht ausgedrückt werden können, führt dazu, dass die emotionalen Bewegungen der Eltern vom Kind nicht integriert werden können. Das von den Eltern nicht Ausgesprochene wird zum nicht Vorstellbaren für die Kinder. Die mit dem traumatischen Erlebnis verbundenen Ängste und Gefühle des Elternteils werden durch nicht verbale Kommunikation (Stimme, Gestik, Blick) auf das Kind übertragen. Stellvertretend für den Erwachsenen bringt sie das Kind durch Symptome, z.B. Ängste, aber auch durch Symbolisierung in Spiel und Zeichnungen zum Ausdruck, manchmal am Jahrestag des elterlichen Traumas.Wie eine Art kulturelles Erbe können die Folgen schwerer psychischer Traumata von einer Generation zur 39 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 154 n 1/2003 anderen weitergegeben werden, wie folgendes Beispiel zeigt. Ein 6jähriger Knabe leidet an einer Schulphobie und träumt nachts von einem weissen Gespenst. Am Todestag seines Grossvaters mütterlicherseits, der 4 Jahre zurückliegt, zeichnet er ein in einem Sarg liegendes Skelett und fragt seine Mutter nach der Todesursache (von der Mutter geheim gehalten) seines Grossvaters. Der an einer manisch-depressiven Psychose leidende Grossvater hatte Suizid begangen. Abbildung 3 Zeichnung eines 10jährigen Mädchens. Trauerprozess Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen. Goethe Religionen, Literatur, Philosophie und Kunst sind geprägt von der Auseinandersetzung und den Bewältigungsbemühungen betroffener Menschen mit Erfahrungen psychischer Traumatisierung. Als Beispiel sind die Trauerrituale zu nennen, die bei allen Völkern und in allen Zeiten verbreitet sind. Kinder versuchen, traumatische Erlebnisse zu verstehen und zu verarbeiten, indem sie eine Phantasiewelt aufbauen, die ihnen das Geschehene erklärt. Seine Phantasmen kann ein Kind auch in Form von Geschichten erzählen. Die Bedeutungszuschreibung des erlebten Ereignis wird vom Kind im Laufe seiner Entwicklung immer wieder neu überarbeitet. Beispiel: Ein 6jähriges Mädchen hat mit 4 Jahren den plötzlichen Kindstod ihres Bruders miterlebt. Seit der Geburt eines 2. Geschwisters schlafe es nur noch unter dessen Krippe. Es will im ersten Gespräch ein Buch schreiben, und zwar die Geschichte eines Engels: «Das ist mein kleiner Bruder Joel; ich mag nicht von meinem kleinen Bruder sprechen, das macht mich traurig; wenn ich Flügel hätte, dann wäre ich ihn holen gegangen.» Weder das Kind noch seine Eltern hatten über den Verlust des Bruders getrauert. Trauerarbeit erweist sich als notwendig, nicht nur damit das Kind seinen Entwicklungsprozess fortführen kann, sondern auch, um zu vermeiden, dass es das traumatische Erlebnis wieder inszeniert und dabei eine zusätzliche Traumatisierung erfährt. Das Kind bedarf zum Trauern einer kontinuierlichen Beziehung zu einem emotional bedeutsamen Erwachsenen, damit es seine Abbildung 4 Zeichnung eines 11jährigen Knabens. 40 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE mit den traumatischen Ereignissen verbundenen Erinnerungen, Phantasmen und Gefühle mitteilen, mit diesem Erwachsenen teilen kann. Sind Eltern durch eigene nicht verarbeitete Verluste belastet, fällt es ihnen schwer, ihrem Kind bei seiner Trauerarbeit zu helfen. Das Kind kann einen Verlust nur seinem psychologischen Entwicklungsstand gemäss verstehen. Die Trauerarbeit beim Kind stellt einen Prozess dar, der immer wieder neu aufgenommen wird, ausgelöst durch innere Entwicklungsphasen oder durch äussere Ereignisse. Trauern, wie man es beim Erwachsenen kennt, findet erst nach der Adoleszenz statt. Verlust eines Elternteils Ein Kind, dessen Vater oder Mutter stirbt, steht unter einer schweren seelischen Belastung, die seine weitere psychische Entwicklung gefährden kann. Der Verlust eines Elternteils erzeugt bei einem Kind eine intensive, andauernde Sehnsucht und einen damit verbundenen Schmerz. Sehr oft verleugnet das Kind in seiner Innenwelt den Tod des Elternteils und hält in seinen Phantasmen die Bindung an ihn aufrecht. Das Kind vermeidet so, die Realität und die emotionale Bedeutung des Verlustes anzunehmen, obschon es um den Tod des Elternteils weiss [11]. Eine solche Phantasiebesetzung kann vorübergehend hilfreich sein und hat oft allmächtigen Charakter wie die folgende Aussage eines 6jährigen Mädchens zeigt: Ein Engelchen sorge sich um seinen Vater im Himmel; das Engelchen sei sein Kindlein, ein Kindlein, das es zusammen mit seinem Vater gezeugt habe. Das Kind kann den elterlichen Verlust aber auch durch eine erhöhte kreative Aktivität überbrücken. Oder es trauert mit Distanz, indem es seine depressiven Gefühle auf weniger signifikante Objekte, wie z.B. auf ein Plüschtier oder ein Haustier, verschiebt. Aggressives Verhalten und destruktive Aktivitäten sind meist Ausdruck unbewusster Wutgefühle gegenüber dem verstorbenen Elternteil, von dem sich das Kind in seinem Erleben verlassen fühlt. Schuldgefühle entstehen durch Phantasien, für den Tod des Elternteils verantwortlich zu sein, wie diese Aussage zeigt: «Nicht wahr, als ich geboren wurde, habe ich Mama getötet.» Gewisse Kinder entwickeln Ängste, krank zu werden und zu sterben, oder Ängste, der tote Elternteil werde zurückkommen, um sich zu rächen.Todesgedanken oder sogar Suizidversuche beruhen auf phantasierten Wünschen, sich mit dem verlorenen Elternteil wiederzuvereinigen, können aber gleichzeitig ein Strafbedürfnis ausdrücken. Ein 10jähriger Knabe, der seinen Vater im Alter von 4 Jahren verloren hatte, wollte aus dem Fenster springen. Im individuellen Gespräch sagte er: «Jetzt erst weiss ich, dass die Toten nicht zurückkommen, das wäre ein Wunder. Ich muss mich selbst töten, um mit meinem Vater wieder vereinigt zu sein.» 154 n 1/2003 Schlussfolgerung Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass unterschiedlichste traumatische Erfahrungen im frühen Kindesalter langfristige neurobiologische Veränderungen zur Folge haben können. Die Bewältigung und Verarbeitung von traumatischen Erinnerungen sind jedoch individuell sehr verschiedenartig und von multiplen Faktoren abhängig. Die grosse Variabilität von psychopathologischen Erscheinungen nötigt zu spezifischen, individuell angepassten therapeutischen Massnahmen, so z.B. individuelle Psychotherapie, Pharmakotherapie, Elternberatung, Familientherapie, Schulinterventionen [12]. Kriseninterventionen unmittelbar nach einem traumatischen Geschehen dienen der Prävention einer posttraumatischen Störung. Zukünftige Forschung sollte zu neuem und besserem Verständnis beitragen, wie z.B. der Beziehung zwischen dem kindlichen Trauma und der alters- und geschlechtsspezifischen Entwicklung; den gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen; den posttraumatischen Störungen und der pathologischen Trauerreaktion oder chronischen Depression bei Kindern und Jugendlichen. Forschungsuntersuchungen bei traumatisierten Kindern werfen ethische Fragen auf. Da die kindliche Vulnerabilität schwierig einzuschätzen ist, ist das Risiko einer Reaktivierung der traumatischen Erfahrung nicht mit Gewissheit auszuschliessen. In der klinischen Tätigkeit steht das Kind in seinem Leiden mit seinem Schmerz im Vordergrund. Wie kann ihm und seinen Betreuungspersonen geholfen werden? Im sicheren und verlässlichen Rahmen eines psychotherapeutischen Prozesses kann sich die kreative Phantasie des Kindes entfalten. Mit Hilfe des Erwachsenen lernt das Kind, die mit dem Trauma verbundenen Ängste 41 und Gefühle ins bewusste Erleben zuzulassen und in symbolischer Sprache zu benennen. Der Verarbeitungsprozess erlaubt, die mit der traumatischen Erfahrung verbundenen Erinnerungen verstehend zu integrieren. Die Bezugspersonen des Kindes benötigen meist individuell angepasste therapeutische Begleitung oder Unterstützung. Dichter wussten schon immer fundamentalen menschlichen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen, oder wie Freud sagte, die Dichtung weiss, was der Wissenschaftler sucht. Give sorrow words: the grief that does not speak. Whispers the o’er-fraught heart and bids it break. W. Shakespeare, Macbeth Literatur 1 Udwin O. Annotation: children’s reactions to traumatic events. J Child Psychol Psychiatry 1993;34: 115–27. 7 Winnicott DW. Reifungsprozess und fördernde Umwelt. München: Kindler; 1974. 8 Le Doux J. The Emotional Brain. New York: Simon und Schuster; 1996. 9 Steck B. Anmerkung zum intrafamilialen Trauma beim Kind. Schweiz Arch Neurol Psychiatr 1997;148:229–38. 10 Terr LC. Childhood traumas: an outline and an over view. In: Everly GS, Lating JM. Psychotraumatology: Key Papers and Core Concepts in Post-Traumatic Stress. New York: Plenum Press; 1995. p. 301–19. 11 Manzano J. La séparation et la per te d’objet chez l’enfant. Un point de vue sur le processus analytique. Rev Franç Psychanal 1989;1:241–72. 12 Bürgin D. Children – war and persecution. Proceedings of the Congress. Hamburg: Sept. Stiftung für Kinder; 1993. S. 26–9. Weitere Literatur Freud S. Abriss der Psychoanalyse. In: Schriften aus dem Nachlass. In: Gesammelte Werke. Bd. 17. Frankfurt: Fischer; 1892–1939. S. 5–62. 2 Bürgin D. Trauer bei Kindern und Er wachsenen. Zeitschrift für Psychoanalytische Theorie und Praxis 1989;4:55–78. 3 Janet P. L’automatisme psychologique: Essai de la psychologie expérimentale sur les formes inférieures de l’activité humaine. Paris: Félix Alcan; 1889. 4 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. München, Basel: E. Reinhardt Verlag; 1999. 5 van der Kolk B. Traumatic Stress. New York, London: Guilford Press; 1996. Freud S. Die endliche und die unendliche Analyse. In: Gesammelte Werke. Bd. 16. Frankfur t: Fischer; 1932–1939. S. 64. 6 Damasio AR. Descar tes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: G. P. Putnam’s Sons; 1994. Freud S. Hemmung, Symptom und Angst. In: Gesammelte Werke. Bd. 14. Frankfur t: Fischer; 1925–1931. S. 118–28 und 149–205. SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE Freud S. Beiträge zu den Studien über Hysterie. In: Gesammelte Werke. Bd. 17. Frankfur t: Fischer; 1892–1939. S. 109–21. Freud S. Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Gesammelte Werke. Bd. 16. Frankfurt: Fischer; 1932–1939. S. 177. 154 n 1/2003