Psychisches Trauma und Trauerprozess beim Kind

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Psychisches Trauma und Trauerprozess beim Kind 1
n
B. Steck
Kinder- und Jugendpsychiatrische Universitätsklinik und -Poliklinik Basel
Summary
Psychisches Trauma beim Kind
Tabelle 1
In this inaugural lecture for child and
adolescent psychiatry, children’s emotional
experience and their creative ways of coping
(expressed in drawings and statements) are
addressed. Psychobiological aspects of early
childhood psychological trauma, causes and
stress effects, as well as specific characteristics and cycles of coping with psychological trauma are presented. The importance
to grieve the losses experienced through
traumatisation is discussed and the specific
mourning process of children.
Keywords: psychological trauma; mourning process; children
Die folgenden Ausführungen beschränken
sich auf psychische Traumatisierungen, die
innerhalb des familiären Rahmens (Tab. 1)
stattfinden.
Pierre Janet, Zeitgenosse von Freud und
Charcot, hat bereits 1889 den Zusammenhang zwischen Symptomen und nicht verarbeiteter Erinnerung traumatischer Erlebnisse beschrieben. «... wie gewisse Ereignisse
unauslöschbare und erschreckende Erinnerungen hinterlassen – Erinnerungen, zu
denen der Leidende kontinuierlich zurückkehrte und durch die er tags und nachts
gequält wurde» [3].
Sigmund Freud beschäftigte sich sein
Leben lang mit der Frage, ob die äusseren
Einwirkungen oder die phantasmatische
Ausgestaltung und die individuelle Bedeutung der erlebten Realität für die psychischen Folgen verantwortlich seien. Nicht das
Trauma an sich, sagte Freud, sondern seine
nachträgliche Verarbeitung könne pathogene Formen annehmen, z.B. dann, wenn
frühkindliche traumatische Erfahrungen in
der Gegenwart unassimiliert blieben.
Traumatische Erfahrung wird als vitales
Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten definiert, das
mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine
dauerhafte Erschütterung von Selbst- und
Weltverständnis bewirkt [4].
intrafamiliäre psychische Traumata
Einleitung
Die Bedeutung psychischer Traumata in der
Entstehung von Krankheitsbildern ist im
menschlichen Bewusstsein seit jeher verankert; davon zeugen z.B. bereits die epischen
Gedichte Homers. Das Interesse der Psychiatrie galt der Ursache des Traumas, nämlich ob es organischer oder psychischer
Natur sei. Heute stehen die Fragen im Vordergrund, wie seelische Verletzungen körperliche Folgen nach sich ziehen und wie körperliche
Erkrankungen
psychische
Auswirkungen haben.Welche Rolle und Einflüsse üben dabei das familiäre, soziale und
kulturelle Umfeld aus?
Das Auftreten von posttraumatischen
Störungen bei Kindern als Folge schwerwiegender psychischer Belastungen wird
erst seit einigen Jahren anerkannt [1]. Kindliches Trauern stellt einen inneren Prozess
dar, den ein Kind nach dem Erleben von
Verlusten und seelischen Verletzungen
durchläuft [2]. Wie Trauma- und Trauerprozess zu den verschiedensten Lebensereignissen und zueinander in Beziehung stehen,
ist wenig bekannt.
Verlust von geliebten Personen durch Tod,
Trennung, multiple Plazierung
chronisch somatische oder psychische Krankheit eines Elternteils, Unfälle, Operationen,
eigene chronische Krankheit
kulturelle Entwurzelung, Miterleben von
grausamen Akten
den frühesten Beziehungen mit primären
Betreuungspersonen auf [6]. Sie beeinflussen
die spezifische Gestaltung der dendritischen
Verzweigungen und neuronalen Synapsen,
die nach dem Prinzip der Häufigkeit des
Gebrauchs erfolgt. Bestimmte Bereiche des
Zentralnervensystems müssen in entscheidenden Entwicklungsphasen angemessen
stimuliert werden, damit sie später optimal
funktionieren können.
Jegliche Störung in der frühen Anpassung
der primären Bezugspersonen an die Bedürfnisse des Säuglings oder jedes Ereignis,
das die Kontinuität im kindlichen Erleben
und in der Entwicklung des Kindes unterbricht, können als traumatogene Faktoren
fungieren [7].
Frühkindliche traumatische Erfahrungen
beeinträchtigen die normale Entwicklung
des zerebralen Kortex und des limbischen
Systems und können langfristige Veränderungen der multiplen Neurotransmittersysteme zur Folge haben [5].
Zentralnervöse Strukturen wie präfrontaler Kortex, Thalamus, Amygdala und
Hippokampus sind an der schrittweisen
Integration der hereinkommenden sensorischen, visuellen, akustischen Informationen
beteiligt (Abb. 1). Diese Integration kann
unterbrochen werden durch einen extremen
affektiven Erregungszustand. Der Hippokampus hat die Funktion, unbewusste
präverbale Erinnerungen (prozedurales Gedächtnis), die vor allem durch das amygdale
System vermittelt werden, in bewusste verbale Erinnerungen (deklaratives Gedächt-
Selbst wenn Kinder über grosse Anpassungskapazitäten verfügen, können traumatische Erlebnisse das psychische und
biologische Gleichgewicht eines Kindes
derart verändern, dass es seine Entwicklungsschritte in der Gegenwart nicht mehr
oder nicht mehr lustvoll vollziehen kann.
Die Plastizität des Gehirns birgt eine erhebliche Anpassungsfähigkeit in sich, macht
aber Säuglinge und Kleinkinder besonders
anfällig für langfristige Auswirkungen infolge störender Einflüsse [5]. Wahrnehmung
und Bewusstwerden von Körperempfindungen und Emotionen sind fundamentale
Bausteine in der Entwicklung von Selbsterleben und Selbstbild sowie von kognitiven Prozessen und Kreativität. Diese grundlegenden Erfahrungsmuster bauen sich in
1 Gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung
vom 29. März 2001, Medizinische Fakultät,
Basel.
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
154 n 1/2003
Korrespondenz:
PD Dr. Barbara Steck
Kinder- und Jugendpsychiatrische
Universitätsklinik und -Poliklinik
Schaffhauserrheinweg 55
CH-4058 Basel
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Psychobiologische Aspekte
des psychischen Traumas
Misshandlung (physische, sexuelle, emotionale), Vernachlässigung, Deprivation
nis) überzuführen [8]. Extreme emotionale
Erregung verhindert die adäquate Evaluation und Kategorisierung der Erfahrung,
da sie die hippokampale Funktion hemmt.
Die Erinnerungen bleiben in der Amygdala
als affektive oder sensomotorische Zustände
körperlicher Empfindungen und visueller
Bilder gespeichert und sind unauslöschbar.
Eine adäquate Beurteilung und Integration
der emotionalen Erfahrungen findet nicht
statt. Deswegen bleiben traumatogene Erinnerungen zeitlos und Ich-fremd.
Die nachhaltigste Folge traumatischer
Erlebnisse auf die Psyche beruht auf der
Unfähigkeit, Erregungszustände zu regulieren, Gefühle von Wut,Angst und Trauer zu
steuern und in Worte zu fassen sowie Reize
angemessen
wahrnehmen
und
sich
auf die Umwelt einstellen zu können. Je
jünger ein Kind zum Zeitpunkt der Traumatisierung ist und je länger das Trauma andauert, um so grösser ist seine diesbezügliche
Gefährdung [5].
Abbildung 1
Störung der Hippokampus-Funktion (abgeänder t nach van der Kolk, 1996 und Le Doux, 1996).
Beur teilung einer traumatischen Situation
Die Interaktionen von Entwicklungsprozessen und traumatischen Belastungen sind
komplex. Immer muss dem kognitiven und
affektiven Entwicklungsstand des Kindes
Rechnung getragen werden. Weiter zu berücksichtigen sind sein interpersonales Beziehungsfeld, seine familiäre und soziale
Situation. Reife von Abwehr- und Bewältigungsmechanismen, Ressourcen wie z.B.
Temperament und Humor, und gute kognitive Fähigkeiten, die die Interpretation
von traumatischen Erlebnissen beeinflussen,
werden zu den protektiven Faktoren gezählt.
Demgegenüber stellt eine vorbestehende
physische und emotionale Vulnerabilität
einen Risikofaktor dar. Oft sind mehrere
Ursachen und Umstände an einem traumatischen Geschehen beteiligt.
Verschiedene traumatische Ereignisse
oder Umstände können simultan oder sukzessiv zusammenwirken. Akute Ereignisse
werden von langandauernden Lebensumständen unterschieden und die psychosozialen Belastungen je nach ihrem Schweregrad
eingeteilt (Tab. 2).
Finden Traumatisierungen durch die
nächsten Betreuungspersonen statt – wie
dies bei Misshandlungen der Fall sein
kann –, und steht dem Kind keine Ersatzperson zur Verfügung, erleidet es nicht
nur den Verlust von Liebe, Fürsorge und
Schutz, sondern verliert zudem die wesentliche Möglichkeit, sich mitteilen und anvertrauen zu können.
Das Kind wird von Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Verzweiflung und des Entsetzens überflutet. Je kleiner das Kind oder
je grösser seine Verletzlichkeit, um so mehr
wird es von Vernichtungs- und Todesängsten
überwältigt [9].
Symptome, Merkmale und Phasen
psychischer Traumatisierung
Tabelle 2
Schweregrad (aus DSM III-R)
akute Ereignisse
mittel
Schulausschluss, Gebur t eines Geschwisters
schwer
Scheidung der Eltern, uner wünschte Schwangerschaft, Haft
sehr schwer (extrem)
sexueller Missbrauch oder körperliche Misshandlung,
Tod eines Elternteils
katastrophal
Tod beider Eltern
länger andauernde Lebensumstände
mittel
chronisch behindernde Krankheit eines Elternteils,
ständiger Streit der Eltern
schwer
strenge oder zurückweisende Eltern, chronische lebensbedrohende Krankheit eines Elternteils, verschiedene
Aufenthalte in Pflegeheimen
sehr schwer (extrem)
wiederholter sexueller Missbrauch oder körperliche
Misshandlung
katastrophal
chronische lebensbedrohende Krankheit
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SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
Die auftretenden Symptome (Tab. 3) infolge
der psychischen Belastung sind mannigfaltig
und betreffen neben den emotionalen Verhaltensstörungen auch körperliche Funktionen und psychosomatische Reaktionen –
Ausdruck von unerträglichen Gefühlen, für
deren Benennung die Worte fehlen.Terr [10]
fasste die Merkmale der Kindheitstraumata
zusammen (Tab. 4).
Fischer und Riedesser [4] beschreiben
vier Phasen der traumatischen Reaktion
bzw. der nachfolgenden Erlebniszustände
(Abb. 2). Sie spielen sich jedoch nicht immer
– wie dargestellt – sequentiell ab, sondern
können auch nebeneinander bestehen.Traumaverarbeitung oder -prozess wird durch
Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten
beeinflusst sowie durch Alter, Entwicklungsphasen, Abwehrmechanismen und kritische
Lebensereignisse.
Phase I entspricht der traumatischen Erlebnissituation: Die emotionalen Störungen
charakterisieren sich durch eine Übererregbarkeit, die sich in motorischer Hyperaktivität, explosiver Aggressivität oder panischen Angstzuständen manifestieren kann.
154 n 1/2003
In der Folge (Phase II) wird das traumatische
Geschehen verleugnet, aus dem wachen
Bewusstsein verbannt, die Erinnerung an
das Ereignis verdrängt und die ursprünglichen Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und
Verzweiflung abgespalten. Kinder sind emo-
tional verstimmt, ziehen sich zurück und
zeigen sich teilnahms- und freudlos. Gleichzeitig bleibt das Kind oft sehr wachsam,
ein Versuch, bedrohliche Situationen antizipieren zu können. Kinder versuchen, emotionale Distanz zu bewahren und emotional
Tabelle 3
häufige Symptome nach einem psychischen Trauma
Verhaltensstörungen, Regression
grosse Bedür ftigkeit, anklammerndes Verhalten
depressive Verstimmung, Reizbarkeit
Verlust neu angeeigneter Entwicklungsfähigkeiten
Ess-, Schlafstörungen, Enuresis
Angststörungen: Trennungsängste, Phobien
Alpträume mit bedrohlichen Inhalten: Monster, Gespenster
somatische Störungen: Bauch- und Kopfschmerzen
Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung
phantasier te Schuld- und Verantwor tungsgefühle
Gefühl einer eingeschränkten Zukunft, z.B. das Leben ist zu kurz, um er wachsen zu werden
Tabelle 4
Merkmale der Kindheitstraumata (Terr, 1995)
wiederkehrende, sich aufdrängende Erinnerungen (am häufigsten visuelle, aber auch akustische,
taktile und olfaktorische)
repetitive Verhaltensweisen: das traumatische Erleben wird im Spiel wiederholt und Teilaspekte
der traumatischen Er fahrung werden im Verhalten reinszeniert
traumaspezifische Ängste: die Ängste sind an die ursprüngliche traumatische Situation gebunden
veränderte Einstellung zu Menschen, zum Leben und zur Zukunft: Vertrauensverlust und negative
Erwartungen
gefärbte Situationen, die mit dem Trauma in
Beziehung stehen könnten, zu vermeiden.
Infolge Lockerung der Abwehr z.B. kommt
es zum Übergang in die Intrusionsphase
(Phase III), in der sich mit dem traumatischen Erlebnis verbundene Vorstellungen
und Gedanken aufdrängen. Da die Erinnerungsspuren nicht ausgelöscht werden,
tauchen sie als Alpträume, spontane Bilder
oder Geräusche auf. So sieht z.B. ein 10jähriges Mädchen seine Eltern nachts im Traum
als Monster (Abb. 3). Das kindliche Spiel
ist geprägt von sich wiederholenden Aspekten des Traumas. Kindern fehlt die Fähigkeit, im Als-ob-Spiel interaktive soziale
Rollen und Situationen auszuprobieren
und entsprechende Geschichten zu erzählen.
Narrative von traumatisierten Kindern
sind oft chaotisch und beinhalten bedrohliche Themen. Im Spiel und Geschichtenerzählen versuchen Kinder, das traumatische
Erleben zu bewältigen und zu bearbeiten (Phase IV). Das Durcharbeiten, z.B. in
einem psychotherapeutischen Prozess, ermöglicht die Integration der traumatischen
Erfahrung.
In späteren Belastungssituationen, z.B.
beim Eintritt in die Adoleszenz oder bei
einer schweren Erkrankung, reagieren die
Kinder mit der emotionalen Intensität, die
sie im Moment des Traumas empfunden
haben, als ob sich dieses wiederholen würde.
Sie können nicht verstehen, was mit ihnen
geschieht, da sich die biographische Referenz im Unbewussten befindet.
Lange bestehende traumatische Situationen in Verbindung mit zusätzlichen Verletzungen oder Verlusten führen zu anhaltender pathologischer Trauer oder chronischer
Depression, die mit Gefühlen von innerer
Leere, Sinn- und Leblosigkeit einhergehen können. Dies illustrieren Zeichnung
(Abb. 4) und Kommentar eines 11jährigen
Knaben: «Der Lebensbaum zu Beginn
meines Lebens und jetzt.»
Abbildung 2
Zyklen der Traumaverarbeitung (abgeänder t nach Fischer und Riedesser, 1999).
Transgenerationelle Über tragung traumatischer Erlebnisse der Eltern auf Kinder
Bei Kindern ist immer im Auge zu behalten, dass ihre Symptomatik Ausdruck einer
intergenerationellen Übermittlung von nicht
verarbeiteten traumatischen Ereignissen
der Eltern sein kann. Die Tatsache, dass
bestimmte Affekte von den Eltern nicht
ausgedrückt werden können, führt dazu, dass
die emotionalen Bewegungen der Eltern
vom Kind nicht integriert werden können.
Das von den Eltern nicht Ausgesprochene
wird zum nicht Vorstellbaren für die Kinder. Die mit dem traumatischen Erlebnis verbundenen Ängste und Gefühle des
Elternteils werden durch nicht verbale Kommunikation (Stimme, Gestik, Blick) auf
das Kind übertragen. Stellvertretend für
den Erwachsenen bringt sie das Kind durch
Symptome, z.B. Ängste, aber auch durch
Symbolisierung in Spiel und Zeichnungen
zum Ausdruck, manchmal am Jahrestag des
elterlichen Traumas.Wie eine Art kulturelles
Erbe können die Folgen schwerer psychischer Traumata von einer Generation zur
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SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
154 n 1/2003
anderen weitergegeben werden, wie folgendes Beispiel zeigt.
Ein 6jähriger Knabe leidet an einer Schulphobie und träumt nachts von einem weissen
Gespenst. Am Todestag seines Grossvaters
mütterlicherseits, der 4 Jahre zurückliegt,
zeichnet er ein in einem Sarg liegendes
Skelett und fragt seine Mutter nach der
Todesursache (von der Mutter geheim gehalten) seines Grossvaters. Der an einer manisch-depressiven Psychose leidende Grossvater hatte Suizid begangen.
Abbildung 3
Zeichnung eines 10jährigen Mädchens.
Trauerprozess
Die Kunst ist eine Vermittlerin
des Unaussprechlichen.
Goethe
Religionen, Literatur, Philosophie und Kunst
sind geprägt von der Auseinandersetzung
und den Bewältigungsbemühungen betroffener Menschen mit Erfahrungen psychischer Traumatisierung. Als Beispiel sind
die Trauerrituale zu nennen, die bei allen
Völkern und in allen Zeiten verbreitet sind.
Kinder versuchen, traumatische Erlebnisse zu verstehen und zu verarbeiten, indem
sie eine Phantasiewelt aufbauen, die ihnen
das Geschehene erklärt. Seine Phantasmen
kann ein Kind auch in Form von Geschichten erzählen. Die Bedeutungszuschreibung
des erlebten Ereignis wird vom Kind im
Laufe seiner Entwicklung immer wieder neu
überarbeitet.
Beispiel: Ein 6jähriges Mädchen hat mit
4 Jahren den plötzlichen Kindstod ihres
Bruders miterlebt. Seit der Geburt eines
2. Geschwisters schlafe es nur noch unter
dessen Krippe. Es will im ersten Gespräch
ein Buch schreiben, und zwar die Geschichte
eines Engels: «Das ist mein kleiner Bruder
Joel; ich mag nicht von meinem kleinen
Bruder sprechen, das macht mich traurig;
wenn ich Flügel hätte, dann wäre ich ihn
holen gegangen.» Weder das Kind noch
seine Eltern hatten über den Verlust des Bruders getrauert.
Trauerarbeit erweist sich als notwendig,
nicht nur damit das Kind seinen Entwicklungsprozess fortführen kann, sondern auch,
um zu vermeiden, dass es das traumatische
Erlebnis wieder inszeniert und dabei eine
zusätzliche Traumatisierung erfährt. Das
Kind bedarf zum Trauern einer kontinuierlichen Beziehung zu einem emotional bedeutsamen Erwachsenen, damit es seine
Abbildung 4
Zeichnung eines 11jährigen Knabens.
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SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
mit den traumatischen Ereignissen verbundenen Erinnerungen, Phantasmen und Gefühle mitteilen, mit diesem Erwachsenen
teilen kann. Sind Eltern durch eigene nicht
verarbeitete Verluste belastet, fällt es ihnen
schwer, ihrem Kind bei seiner Trauerarbeit
zu helfen.
Das Kind kann einen Verlust nur seinem
psychologischen Entwicklungsstand gemäss
verstehen. Die Trauerarbeit beim Kind stellt
einen Prozess dar, der immer wieder neu
aufgenommen wird, ausgelöst durch innere
Entwicklungsphasen oder durch äussere Ereignisse. Trauern, wie man es beim Erwachsenen kennt, findet erst nach der Adoleszenz
statt.
Verlust eines Elternteils
Ein Kind, dessen Vater oder Mutter stirbt,
steht unter einer schweren seelischen Belastung, die seine weitere psychische Entwicklung gefährden kann. Der Verlust eines
Elternteils erzeugt bei einem Kind eine intensive, andauernde Sehnsucht und einen damit verbundenen Schmerz. Sehr oft verleugnet das Kind in seiner Innenwelt den Tod des
Elternteils und hält in seinen Phantasmen
die Bindung an ihn aufrecht. Das Kind vermeidet so, die Realität und die emotionale Bedeutung des Verlustes anzunehmen,
obschon es um den Tod des Elternteils weiss
[11].
Eine solche Phantasiebesetzung kann
vorübergehend hilfreich sein und hat oft
allmächtigen Charakter wie die folgende
Aussage eines 6jährigen Mädchens zeigt: Ein
Engelchen sorge sich um seinen Vater im
Himmel; das Engelchen sei sein Kindlein,
ein Kindlein, das es zusammen mit seinem
Vater gezeugt habe.
Das Kind kann den elterlichen Verlust
aber auch durch eine erhöhte kreative Aktivität überbrücken. Oder es trauert mit
Distanz, indem es seine depressiven Gefühle
auf weniger signifikante Objekte, wie z.B.
auf ein Plüschtier oder ein Haustier, verschiebt.
Aggressives Verhalten und destruktive
Aktivitäten sind meist Ausdruck unbewusster Wutgefühle gegenüber dem verstorbenen
Elternteil, von dem sich das Kind in seinem
Erleben verlassen fühlt. Schuldgefühle entstehen durch Phantasien, für den Tod des
Elternteils verantwortlich zu sein, wie diese
Aussage zeigt: «Nicht wahr, als ich geboren
wurde, habe ich Mama getötet.»
Gewisse Kinder entwickeln Ängste,
krank zu werden und zu sterben, oder Ängste, der tote Elternteil werde zurückkommen, um sich zu rächen.Todesgedanken oder
sogar Suizidversuche beruhen auf phantasierten Wünschen, sich mit dem verlorenen
Elternteil wiederzuvereinigen, können aber
gleichzeitig ein Strafbedürfnis ausdrücken.
Ein 10jähriger Knabe, der seinen Vater
im Alter von 4 Jahren verloren hatte, wollte
aus dem Fenster springen. Im individuellen
Gespräch sagte er: «Jetzt erst weiss ich, dass
die Toten nicht zurückkommen, das wäre ein
Wunder. Ich muss mich selbst töten, um mit
meinem Vater wieder vereinigt zu sein.»
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Schlussfolgerung
Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass
unterschiedlichste traumatische Erfahrungen im frühen Kindesalter langfristige
neurobiologische Veränderungen zur Folge
haben können. Die Bewältigung und Verarbeitung von traumatischen Erinnerungen
sind jedoch individuell sehr verschiedenartig
und von multiplen Faktoren abhängig.
Die grosse Variabilität von psychopathologischen Erscheinungen nötigt zu spezifischen, individuell angepassten therapeutischen Massnahmen, so z.B. individuelle
Psychotherapie, Pharmakotherapie, Elternberatung, Familientherapie, Schulinterventionen [12]. Kriseninterventionen unmittelbar nach einem traumatischen Geschehen
dienen der Prävention einer posttraumatischen Störung.
Zukünftige Forschung sollte zu neuem
und besserem Verständnis beitragen, wie z.B.
der Beziehung zwischen dem kindlichen
Trauma und der alters- und geschlechtsspezifischen Entwicklung; den gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen; den posttraumatischen Störungen und der pathologischen Trauerreaktion oder chronischen
Depression bei Kindern und Jugendlichen.
Forschungsuntersuchungen bei traumatisierten Kindern werfen ethische Fragen auf.
Da die kindliche Vulnerabilität schwierig
einzuschätzen ist, ist das Risiko einer Reaktivierung der traumatischen Erfahrung nicht
mit Gewissheit auszuschliessen.
In der klinischen Tätigkeit steht das Kind
in seinem Leiden mit seinem Schmerz im
Vordergrund. Wie kann ihm und seinen
Betreuungspersonen geholfen werden? Im
sicheren und verlässlichen Rahmen eines
psychotherapeutischen Prozesses kann sich
die kreative Phantasie des Kindes entfalten.
Mit Hilfe des Erwachsenen lernt das Kind,
die mit dem Trauma verbundenen Ängste
41
und Gefühle ins bewusste Erleben zuzulassen und in symbolischer Sprache zu benennen. Der Verarbeitungsprozess erlaubt, die
mit der traumatischen Erfahrung verbundenen Erinnerungen verstehend zu integrieren.
Die Bezugspersonen des Kindes benötigen
meist individuell angepasste therapeutische
Begleitung oder Unterstützung.
Dichter wussten schon immer fundamentalen menschlichen Bedürfnissen Ausdruck
zu verleihen, oder wie Freud sagte, die Dichtung weiss, was der Wissenschaftler sucht.
Give sorrow words:
the grief that does not speak.
Whispers the o’er-fraught heart
and bids it break.
W. Shakespeare, Macbeth
Literatur
1
Udwin O. Annotation: children’s reactions
to traumatic events.
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7
Winnicott DW. Reifungsprozess und fördernde Umwelt. München: Kindler; 1974.
8
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10 Terr LC. Childhood traumas: an outline
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Psychotraumatology: Key Papers and
Core Concepts in Post-Traumatic Stress.
New York: Plenum Press; 1995. p. 301–19.
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12 Bürgin D. Children – war and persecution.
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Weitere Literatur
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2
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3
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4
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5
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Freud S. Die endliche und die unendliche
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Freud S. Beiträge zu den Studien über
Hysterie. In: Gesammelte Werke. Bd. 17.
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Freud S. Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Gesammelte Werke.
Bd. 16. Frankfurt: Fischer; 1932–1939. S. 177.
154 n 1/2003
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