Placebos in der Apotheke? - Heinrich-Heine

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6. Jahrgang, 6. Ausgabe 2012, 181-194
- - - Rubrik Apothekenpraxis - - -
Placebos in der Apotheke?
Definition des Placebos
Rechtliche Aspekte
Mechanismen von Placeboeffekten
Ethische Aspekte
Historie des Placebos
Pseudoplacebos in der Offizin
Placebos in der Apotheke?
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Placebos in der Apotheke?
Lisa Reissig* und Lara Tobies,
Heinrich–Heine-Universität,
Düsseldorf
*Korrespondenzadresse:
Lisa Reissig
Fachbereich Pharmazie
Universität Düsseldorf
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
[email protected]
Lektorat:
Stephanie Pick, Apothekerin
Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie
Universitätsklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Prof. Dr. med. Thomas R. Weihrauch
Internist – Gastroenterologe
Am Scheidt 16, 40629 Düsseldorf
Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum
Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier:
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html
Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber: Photoprof, Lizenz: Fotolia
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(6):181-194
Placebos in der Apotheke?
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Abstract
Since Henry K. Beecher published his
publication “The powerful placebo” in
1955, the placebo effect in medicine is
regarded as a scientific fact. Beecher
concluded that the success of therapy in
approximately one third of patients can
be explained by a placebo effect. In later
investigations the placebo effect was
estimated to be even greater. On the
one hand, the placebo is used frequently
in clinical practice. According to a survey
in German-speaking countries - half to
two thirds of the clinical staff include the
placebo effect in their treatment methods. On the other hand, the placebo has
an important role in clinical research.
Main intentions of prescribing a placebo
are to activate self healing processes of
the patient and/or to reduce the number
of drugs. The most common indications
include depression, anxiety, insomnia or
pain. There are also drugs, including
many “over the counter drugs”, whose
effects don’t exceed that of a placebo
(pseudo-placebo), as proven by placebocontrolled trials. But also negative
aspects, such as side effects, ethical and
legal issues, as well as complete questioning of the phenomenon must be
taken into account.
Abstrakt
Seit Henry K. Beecher 1955 seine Publikation „The powerful Placebo“ veröffentlichte, gilt der Placeboeffekt in der
Medizin als wissenschaftliche Tatsache.
Beecher kam zu dem Ergebnis, dass der
Therapieerfolg bei ungefähr einem Drittel
der Patienten mit einem Placeboeffekt
erklärt werden kann. In späteren Arbeiten wurde der Placeboeffekt sogar auf
das Doppelte eingeschätzt. Auf der einen
Seite wird ein Placebo im klinischen
Alltag häufig eingesetzt. So beziehen laut einer Umfrage im deutschsprachigen
Raum - die Hälfte bis zwei Drittel des
klinischen Personals Placebos in ihre
Behandlungsmethoden ein. Auf der
anderen Seite kommt dem Placebo eine
wichtige Rolle in der klinischen Forschung zu. Die Hauptintentionen bei der
Verordnung eines Placebos bestehen
darin,
die
Selbstheilungskräfte
des
Patienten zu aktivieren und/oder die
Anzahl an Medikamenten zu reduzieren.
Die
häufigsten
Einsatzgebiete
sind
Depressionen,
Angst,
Schlaflosigkeit
oder Schmerz. Es gibt aber auch Arzneimittel, darunter viele Selbstmedikationsarzneimittel, deren Wirkungen nicht über
die eines Placebos hinausgehen. Belegt
wird dies durch placebokontrollierte
Studien. Aber auch Nebenwirkungen,
ethische und rechtliche Fragestellungen,
sowie komplettes Infragestellen des
Phänomens
müssen
berücksichtigt
werden.
Definition des Placebos
Placebo Eine allgemeingültige Definition
des Placebos existiert nicht, da es verschiedene
Ansätze
unterschiedlicher
Wissenschaftler dazu gibt. Im engeren
Sinne handelt es sich bei einem Placebo
um eine Substanz, die keine pharmakologische Wirkung aufweist. Laut dem
Lexikon Medizin von Roche ist ein Placebo folgendermaßen definiert: „Wirkstofffreies, äußerlich nicht vom Original
unterscheidbares „Leer-“ oder „Scheinmedikament“, für die Placebo-Therapie
[…]“ (Weblink 1). Allerdings wird der
Begriff Placebo hier eng gesehen, nur
eine Gabe einer Tablette aus Zucker
beispielweise wird als Placebo betrachtet
und kann einen Placeboeffekt hervorrufen. Unter einem Placebo kann man
jedoch auch andere Scheininterventionen
verstehen
wie
beispielsweise
eine
Scheinoperation oder eine Scheinakupunktur. Noch weiter greifend kann ein
Placebo als „jegliche therapeutische
Prozedur“ bezeichnet werden, welche
einen Effekt auf eine Erkrankung hat,
dessen Wirkweise jedoch nicht pharmakologisch nachgewiesen werden konnte
(1;2).
Der genannte Effekt, der durch ein
Placebo hervorgerufen wird, kann durch
verschiedene andere Effekte im Zusammenhang mit der Intervention verzerrt
werden. Dazu gehören psychosoziale
Effekte wie z.B. das Behandlungsumfeld
oder die Arzt-Patienten-Interaktion. Der
Rolle des Arztes kommt hierbei eine
große Bedeutung zu. Aspekte wie Vertrauen und Empathie sind wesentlich für
den Erfolg einer Therapie. Diese Effekte
sind für unterschiedliche Patienten sehr
individuell und bewirken unterschiedliche
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Effekte auf den Krankheitsverlauf. Der
Gesamteffekt, der durch den Placeboeffekt und die anderen vermengten Effekte
verursacht wird, wird als Placeboreaktion
bezeichnet. Da vor allem in klinischen
Studien zwischen diesen beiden Begrifflichkeiten nicht unterschieden wird, ist es
schwierig den Nettoeffekt der Placebogabe zu bestimmen. Denn hinzu kommen
noch andere Effekte die eine Veränderung der Reaktion hervorrufen, wie der
Krankheitsverlauf, statistische Effekte,
Zeiteffekte und methodische Fehler.
Einen schnellen Überblick hierzu kann
Tab. 1 schaffen.
Pseudoplacebo Des Weiteren müssen
zwei Arten von Placebos unterschieden
werden: echte Placebos und Pseudoplacebos. Bei echten Placebos handelt es
sich um so genannte Scheinmedikamente, die keine pharmakologisch wirksame
Substanz enthalten (siehe oben). Pseudoplacebos, oder auch aktive Placebos,
enthalten eine oder mehrere pharmakologisch wirksame Substanzen, welche
jedoch für die Erkrankung keine nachgewiesene Wirksamkeit besitzen. In klinischen Studien wird diese Art von Placebo
vor allem eingesetzt, um bekannte
Nebenwirkungen eines Medikaments zu
simulieren und so die Verblindung zu
gewährleisten. Auch im täglichen Praxisleben können diese aktiven Placebos
zum Einsatz kommen, wenn der behandelnde Arzt ein Arzneimittel verordnet,
dessen Wirksamkeit nicht ausreichend
untersucht ist, oder er um die geringe
Evidenz weiß, jedoch seit Jahren gute
Erfahrungen mit dem speziellen Medikament oder der Therapie gemacht hat. In
beiden Fällen handelt der Arzt im Glauben wirksam zu therapieren und verabreicht nicht beabsichtigt ein echtes
Placebo. Zu beachten ist jedoch, dass
auch aktive Placebos Nebenwirkungen
verursachen können. Aus ethischen und
rechtlichen Gesichtspunkten ist dies
schwer einzuordnen. Zu den so genannten Pseudoplacebos wird unter anderem
von einigen Autoren auch die Homöopathie gezählt (Näheres siehe unten).
Nocebo Das Gegenstück zum Placebo ist
das Nocebo. Unter einem Noceboeffekt
versteht man den negativen Einfluss
einer Intervention auf eine Erkrankung
bzw. deren Symptome. Dies kann durch
schon bestehende Ängste oder Befürchtungen einer (medikamentösen) Therapie gegenüber ausgelöst werden, z.B.
durch Lesen der Packungsbeilage oder
ein Gespräch mit dem Arzt oder dem
Apotheker über Risiken der Therapie
(3;4). Noceboeffekte können ebenfalls
auf meist nicht beabsichtigten negativen
Suggestionen beruhen, die im klinischen
Alltag oder auch in der Apotheke auftreten können. Hierzu zählen beispielsweise
die besondere Betonung von Nebenwirkungen wie Impotenz bei ß-Blockern
oder Finasterid, wenig einfühlsame
Beschreibungen von Diagnosen oder
Eingriffen oder auch die kurze Erwähnung der Möglichkeit einer schwerwiegenden Behinderung (Weblink 2).
Schließlich können Noceboeffekte auch
durch den permanenten Austausch von
wirkstoffgleichen
Fertigarzneimitteln
nach dem Rahmenvertrag nach § 129
SGB V (Rabattverträge) verursacht
werden, beispielsweise dadurch, dass
der Patient das ausgetauschte Präparat
als weniger wirksam oder weniger
verträglich einschätzt. Dies gilt insbesondere für psychiatrische Indikationen
wie Angststörungen oder Depressionen
sowie für die Schmerztherapie. Solche
Noceboeffekte sollten nicht unterschätzt
werden, denn sie können den Wert einer
evidenzbasierten
Pharmakotherapie
erheblich einschränken (Weblink 2).
Bezeichnung
Wirksamkeit der medizinischen Intervention
Placebo
pharmakologisch unwirksame Substanz
Pseudoplacebo
pharmakologisch aktive Substanz, die aber keine spezifischen
Effekte (fehlende Evidenz) für die betreffende Indikation hat
Placeboeffekt
Effekt von u.a. Erwartung, Erfahrung, Arzt-Patienten-Beziehung
Placeboreaktion
Placeboeffekt und andere Effekte (z.B. natürlicher Krankheitsverlauf, statistische Effekte, Zeiteffekte und methodische Fehler)
Tab. 1: Erläuterung wichtiger Begrifflichkeiten zum Thema Placebo (nach (3)).
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Mechanismen von Placeboeffekten
Längst befassen sich Studien nicht mehr
mit der Existenz des Placeboeffekts,
sondern mit der Frage, wie der Placeboeffekt
experimentell
nachgewiesen
werden kann. Es existieren bereits zwei
Modelle zur theoretischen Erklärung des
Phänomens und diese konnten teilweise
auch neurobiologisch erklärt werden. Auf
neurobiologischer Ebene hat man bereits
mit Hilfe von Tierexperimenten die
Hirnstrukturen ausgemacht, die bei
einem Placeboeffekt beansprucht werden. Geht man vom Modell der klassischen Konditionierung aus, sind Hirnstamm, Corpora amygdaloidea, Hypothalamus und insularer Kortex beteiligt,
während beim mentalistischen Modell die
Strukturen der Belohnungsmechanismen, wie Tegmentum, Nucleus accumbens,
Corpora
amygdaloidea
und
präfrontaler Kortex angesprochen werden. Desweiteren hat sich herausgestellt,
dass Placeboeffekte unabhängig vom
Krankheitsbild auftreten (5). Sie werden
auf der einen Seite vom Krankheitsbild
des Patienten, auf der anderen Seite
aber auch von der Beziehung zwischen
Patient und Arzt sowie von der Behandlungssituation allgemein, d. h. von
sogenannten situativen Rahmenbedingungen beeinflusst. Hinzu kommen ganz
individuelle Faktoren wie Motivation und
kognitives
Denken
(6).
Momentan
existieren zwei psychologische Erklärungsmodelle.
Klassische Konditionierung oder der
assoziative Ansatz Bei diesem Modell
wird der Placeboeffekt durch erlerntes
Verhalten erklärt. So reagiert der Patient
mit einer konditionierten Reaktion auf
bestimmte, wiederholte diagnostische
oder therapeutische Maßnahmen, die bei
ihm bereits eine Symptomlinderung
ausgelöst haben. Gleiches gilt aber auch
für negative Erfahrungen (Nocebo). Nach
dem Modell der klassischen Konditionierung kann auch erklärt werden, warum
ein Effekt ohne Verabreichung von Pillen
ausgelöst werden kann, denn schon das
Betreten der Arztpraxis kann zu einer
Verbesserung der Symptomatik führen.
Bekannte Eindrücke, wie bestimmte
Geräusche oder der Arzt als Person
selbst stellen konditionierte Stimuli dar
(= CS, siehe Abb. 1) und lösen so die
konditionierte Reaktion (beispielsweise
einer Schmerzlinderung = CR, siehe
Abb. 1) aus. Dies geschieht genau so
wie bei einem unkonditionierten Stimulus
(UCS),
beispielsweise
einer
mit
Schmerzmittel gefüllten Spritze, der eine
unkonditionierte Reaktion (UCR) hervorruft, in dem Fall auch eine Schmerzlinderung. So ist es bei einer Tablette nicht
die pharmakologische Substanz an sich,
sondern vielmehr dessen Farbe oder
Größe, die die Vorstellung einer positiven
Wirkung auslöst. Mit diesem Modell
können jedoch keine Placeboeffekte
erklärt werden, die ohne Vorerfahrungen
ausgelöst werden. Hier kann das Erwartungsmodell weiterhelfen.
Abb. 1: Placebo sowie Medikament können zur Symptomlinderung führen (nach (6),
UCS=unkonditionierter Stimulus, UCR=unkonditionierte Reaktion, CS=konditionierter
Stimulus, CR=konditionierte Reaktion).
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Das Erwartungsmodell oder der
mentalistische Ansatz Erwartungen
sind während eines Behandlungsprozesses sehr wichtig, denn ohne bestimmte
Erwartungen begibt sich kein Patient in
eine medizinische Behandlung. Diese
Erwartungen werden von selbst erlebten
Vorerfahrungen oder denen von Freunden/ Angehörigen beeinflusst. Ebenfalls
eine Rolle spielt das eigene spezifische
Wissen über eine Krankheit und ihre
Behandlungsmethoden. Crow et al.
analysierten 93 Therapiestudien und
kamen zu dem Ergebnis, dass Patient(inn)en bessere Erfolge zeigten, wenn
zum Beispiel vor der Behandlung eine
realistische Erwartungshaltung oder aber
der Glaube und das Vertrauen in eine
Behandlungsmethode
besteht
oder
gefördert wird. Die Berücksichtigung der
Erwartungen sollte also ein integraler
Bestandteil des Behandlungsprozesses
sein (6).
Historie des Placebos in der Medizin
In der klinischen Forschung gab es 1829
die ersten placebokontrollierten Studien,
durchgeführt
von
dem
deutschrussischen Arzt Dr. J. Herrmann, der die
unterschiedlichen Therapieerfolge zwischen Homöopathie und Allopathie
untersuchte und in einer Folgestudie
Homöopathie und Allopathie mit einer
reinen Placebogruppe verglich. Der
größte Therapieerfolg war bei der Gruppe zu erkennen, die im Prinzip gar keine
Therapie bekam, sondern nur menschliche Zuwendung (7). 1835 begann mit
einem ersten Doppelblindversuch gegen
eine Placebogruppe das Zeitalter der
modernen klinischen Arzneimittelstudie.
Grund war ebenfalls die Überprüfung
bzw. Widerlegung der Homöopathie.
Zum Standard wurden placebokontrollierte, doppelblinde Studien in der klinischen Forschung allmählich bereits 1932
durch den Kliniker Paul Martini. Er legte
in seiner Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung fest, dass Placebo
und Verum vom Probanden und auch
vom behandelnden Arzt äußerlich nicht
unterscheidbar sein sollten (8). Auch im
selben Jahr schon kam der Faktor der
Randomisierung dank dem Statistiker R.
A. Fischer hinzu. Austin Bradford Hill
führte 1948 als erster Kliniker den ersten
randomisierten
Doppelblindversuch
durch. Sein Ziel war es die Wirksamkeit
von Streptomycin nachzuweisen (7).
Noch heute ist eine der meistzitierten
Arbeiten zum Thema Placebo die Publikation von Henry K. Beecher „The powerful
Placebo“ [Beecher 1955] in der er zu
dem Entschluss kam: „It is evident that
placebos have a high degree of therapeutic effectiveness in treating subjective reponses, decided improvement,
interpreted under the unknows techniqueas a real therapeutic effect…”(9). In
seiner Arbeit wertete er 15 verschiedene
Placebostudien zur Therapie von Kopfschmerzen, Übelkeit sowie Schmerzen
nach einer Operation aus, mit dem
Ergebnis, dass durchschnittlich 35 % der
Patienten auf Placebos reagierten (7).
„In dieser Zwischenzeit, bis das 2.
Medicament gereicht wird, kann man
den Kranken zur Stillung seines Verlangens nach Arznei […] etwas Unschuldiges, zum Beispiel täglich ethliche Theelöffel voll Himbeersaft, oder ethliche
Pulver Milchzucker einnehmen lassen“
(Samuel Hahnemann, aus (10)).
Heute sind randomisierte, placebokontrollierte Studien die wesentliche Grundlage für den Wirksamkeitsnachweis eines
Medikaments und damit für die evidenzbasierte Medizin; sie bilden hier die
höchste Evidenzstufe. Die Wirksamkeit
eines Medikaments gilt als nachgewiesen, wenn es in einer Studie im Vergleich
zu Placebo einen überlegenen Effekt
auslöst. Eine andere Ebene des Placeboeffekts stellt die Gabe eines Placebos im
Praxisalltag dar. Hier werden oft sogenannte
Pseudo-Placebos
verordnet.
Beispielsweise ließe sich eine individuelle
Rezeptur auf einem Privatrezept verordnen, die in der Apotheke unter Rücksprache mit dem Arzt hergestellt wird.
Der schottische Arzt und Pharmakologe
William Cullen hat zum ersten Mal
dokumentiert einem Kranken ein Arzneimittel verabreicht zu haben von
dessen Wirkung er nicht überzeugt war,
um dem Willen des Kranken nach einer
Arznei nachzukommen. In einem 1814
erschienenen Aufsatz des Begründers
der Homöopathie - Samuel Hahnemann
– ist notiert worden, dass man in der
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Zeit zwischen zwei Medikamentengaben,
auf Verlangen des Erkrankten, reine
Placebos in Form von Milchzuckerpulver
oder Teelöffeln mit Himbeersaft geben
solle (10).
Er machte somit den Placeboeffekt für
seine eigene Therapie nutzbar und
arbeitete mit einfacher Verblindung, in
dem er in der Langzeittherapie von
chronisch Kranken in gewissen Abständen homöopathische Mittel gab und an
den eigentlich „arzneifreien“ Tagen
Pülverchen ohne wirksame Bestandteile,
um eine neutrale Basis zu schaffen, von
der aus der Patient objektiver über
Nebenwirkungen und Therapieerfolge
berichten kann. Auch Hahnemann war zu
seiner Zeit schon bewusst, dass er seine
Patienten nur schwer täuschen kann und
es von größter Wichtigkeit ist, dass
Placebo und Verum äußerlich, geschmacklich sowie olfaktorisch nicht zu
unterscheiden sind. In mehreren Versuchsreihen hat man verschiedenste
Auswirkungen von Größe, Farbe, Form
und Applikationsform und –art von
Placebos auf deren Effektivität herausgefunden. Kapseln werden für wirkungsvoller gehalten als Tabletten (Responsrate
von 81 % gegen 29 % für Tabletten),
sehr kleine und sehr große Tabletten für
die Effektivsten, Injektionen jedoch für
wirkungsvoller als orale Applikationen
und auch die Lieblingsfarbe spielt eine
wichtige Rolle. In einer Metaanalyse
wurde herausgefunden, dass männliche
Patienten orange farbene, Frauen hingegen blaue Kapseln bevorzugen, Angstsymptome werden besser mit grünen
Tabletten behandelt, depressive Störungen mit gelben Tabletten. Allgemein
erscheinen für die Mehrheit aller Patienten blaue oder grüne orale Applikationsformen eher sedierend zu sein, während
gelb- bis rotfarbende Tabletten oder
Kapseln stimulierend wirken (11;12).
Rechtliche Aspekte
Die rechtliche Problematik der Placeboanwendung ist sehr umfangreich und
tiefgehend. Deshalb soll hier nur ein
Überblick verschafft werden. Grundsätzlich müssen zwei Anwendungen unterschieden werden: Placebos im therapeutischen Alltag und Placebos zu klinischen
Forschungszwecken.
Therapeutischer Alltag Der Umgang
mit Placebos ist gesetzlich festgelegt und
kann somit strafrechtlich relevant werden und zwar unter den Gesichtspunkten
der Körperverletzung und der fahrlässigen Tötung, wenn sich zweifelsfrei durch
eine Placebotherapie ein gesundheitlicher
Schaden des Patienten nachweisen lässt,
wenn einem Patienten beispielsweise
gegen dessen Willen eine Verumtherapie
vorenthalten wird und dadurch ein
gesundheitlicher Schaden entsteht – zu
dem auch eine nicht erbrachte Schmerzlinderung zählt - oder keine Verbesserung des Gesundheitszustands bei einem
chronisch Kranken zu vermerken ist.
Falls dem behandelnden Arzt eine Placebotherapie sinnvoll erscheint, ist er
verpflichtet mit dem Patienten alles aus
seiner Sicht Notwendige zu besprechen,
d. h. er klärt den Patienten nach seinem
Ermessen auf. Löst dieser Patient nun
sein Rezept mit dem verschriebenen
Placebo in der Apotheke ein, ist der
Apotheker verpflichtet dieses zu kontrollieren und zumindest Rücksprache mit
dem Arzt zu halten. Die Abgabe darf
auch hier nur erfolgen solange dem
Patienten hierdurch kein Schaden entsteht (13; Weblink 3).
Klinische Forschung In §§ 40 – 42 des
Arzneimittelgesetzes
(AMG)
ist
die
klinische Prüfung von Arzneimitteln
festgelegt.
Die
Missachtung
dieses
Gesetzes ist unter Strafe gestellt oder
wird mit Bußgeld geahndet (13). Es
gelten folgende kurz zusammengefasste
Regeln:
•
•
Placebos werden hier als Vergleichspräparat in Kontrollgruppen eingesetzt.
„Hat der Proband bzw. Patient
wirksam in die Möglichkeit der
Teilnahme in der Kontrollgruppe
mit Placeboeinsatz eingewilligt, so
entfällt sowohl eine Strafbarkeit
nach […] AMG als auch eine nach
[…] StGB.“
• Einschränkend wird festgelegt, dass eine reine Placebogabe jedoch nur zulässig ist,
wenn eine Standardtherapie
nicht existiert oder es um reine Befindlichkeitsstörungen
geht.
• Weiterhin tritt die oben genannte Strafbarkeit wieder in
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Kraft, wenn der eingewilligte
Proband nicht ausreichend
über die Zufallszuweisung zu
verschiedenen Gruppen aufgeklärt wurde. Ausgeschlossen von dieser Aufklärung ist
jedoch das Wissen des Probanden über die Zugehörigkeit der verschiedenen Gruppen (Verum- oder Placebogruppe) (14).
Eine Sonderstellung stellen in beiden
Punkten die Nicht-Einwilligungsfähigen
dar. Dazu gehören Minderjährige, Menschen jeder Altersgruppe mit geistigen
Behinderungen und Menschen jeder
Altersstufe, deren Einwilligungsfähigkeit
durch Erkrankungen nachhaltig beeinträchtig ist. Die Placebogabe bei nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen und
Erwachsenen ist bisher nur lückenhaft
niedergeschrieben worden und nur unter
bestimmten Bedingungen in Klinik und
Praxis anwendbar (15).
Ethische Aspekte
Bei dem Thema Placebo gerät man in
den Konflikt, ob es sich bei dessen
Verwendung um eine Irreführung des
Patienten handelt, oder ob dies zum
Wohle des Patienten geschehe und
deshalb ethisch vertretbar sei. Denn laut
dem hippokratischen Eid unterliegen
Ärzte der Verpflichtung immer zum
Wohle des Patienten zu handeln und
Ähnliches gilt grundsätzlich auch für
Apotheker, denn ihre Aufgabe ist es, die
Bevölkerung ordnungsgemäß mit Arzneimitteln zu versorgen und auch darüber zu informieren (Weblink 4). Bei
der Placeboverwendung in klinischen
Studien bemängeln Kritiker, dass dem
Patienten eine wirkungsvollere Therapie
vorenthalten wird.
Laut der Deklaration von Helsinki aus
dem Jahre 2008 gibt es Ausnahmen, die
bei einwilligungsfähigen Patienten eine
Placeboanwendung ethisch rechtfertigen.
Beispiele dafür sind, dass es keine
wirksamere
Behandlung
gibt,
oder
Patienten in der Placebogruppe kein
Schaden zugefügt wird (6). Unabhängig
davon müssen Patienten aber einwilligen, dass sie bei einer Zuteilung zur
Placebogruppe eventuell keinen Nutzen
aus der Studienteilnahme ziehen. Positiv
zu ergänzen ist, dass das verabreichte
Placebo
körpereigene
Mechanismen
anstoßen und dadurch einen biologischen
Effekt haben kann (14).
Bei der Placeboverwendung in der
therapeutischen
Praxis
besteht
die
Problematik darin, dass mit der Aufklärung des Patienten die Wirksamkeit des
Placebos vermutlich verringert wird, aber
ohne diese Aufklärung dem behandelnden Arzt eine Täuschung oder Irreführung des Patienten vorgeworfen werden
kann. Da aber durch experimentelle
Placeboforschung gezeigt werden konnte, dass der Patient durchaus einen
Nutzen aus der Placebogabe ziehen
kann, ist die Anwendung eines Placebos
-laut dem wissenschaftlichen Beirat der
Bundesärztekammer- unter gewissen
Voraussetzungen ethisch vertretbar. Zu
diesen Voraussetzungen zählt zum
Beispiel das Fehlen einer wirksamen
geprüften (Pharmako-) Therapie, lediglich relativ geringe Beschwerden des
Patienten oder aber nach wissenschaftlichem Stand eine Erfolgschance (6).
Aufgrund der erhaltenen Erkenntnisse
der Placeboforschung gehören Placeboeffekte zur Standardtherapie und führen
somit zu einer optimalen Behandlung des
Patienten, indem eine maximale Arzneimittelwirkung erzielt wird, unerwünschte
Nebenwirkungen von Medikamenten und
Kosten im Gesundheitswesen reduziert
werden (14).
Pseudoplacebos in der Offizin
Auch in der Selbstmedikation können
Placeboeffekte eine große Rolle spielen.
Da Patienten heutzutage wegen „Bagatellbeschwerden“ immer häufiger direkt
in die Apotheke gehen und sich dort
beraten lassen, sich meist selbst zuvor
über das Internet über Erkrankungen
oder Symptome informieren und selbst
ihre Therapie bestimmen oder mitbestimmen, ist es wichtig über häufig
angewandte Medikamente in der Selbstmedikation und deren Evidenz aufzuklären (Weblink 4). Hier sollen einige
Beispiele zu Arzneimitteln aufgelistet
werden, die in der Selbstmedikation zur
Verfügung stehen und deren Effektivität
zweifelhaft oder sogar widerlegt ist.
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Die Homöopathie Die Wirksamkeit der
Homöopathie ist ein seit Jahrzehnten
kontrovers diskutiertes Thema über das
es bis heute kein allgemeingültiges Urteil
gibt, da Studien zur spezifischen Wirksamkeitsprüfung kaum existieren bzw.
methodisch kaum zu verwirklichen sind.
Dies kann darauf zurückzuführen sein,
dass für die Homöopathie kein geeignetes Studienmodell vorliegt, denn die
eingesetzten Arzneien werden für den
einzelnen Patienten individuell und seine
spezifische Erkrankung ausgewählt. Die
Effektivität von alternativen Behandlungsmethoden wie beispielsweise der
Homöopathie beruht höchstwahrscheinlich auch auf Placeboeffekten, wobei hier
das Gesamtkonzept – bestehend aus
einer intensiven Betreuung, der Lehre
Samuel Hahnemanns und dem historischen Hintergrund – zu einem Therapieerfolg beiträgt.
Glucosamin
Als
Bestandteil
des
menschlichen Knorpels nahm man für
Glucosamin lange an, es habe eine
antiarthrotische Wirkung. Diese Annahme beruhte jedoch auf nicht placebokontrollierten Studien, die in Design, Durchführung und Dokumentation nicht den
heutigen Anforderungen der klinischen
Forschung entsprachen. Nach neuem
Kenntnisstand und aktuellen Anforderungen an Arthrose-Therapie-Studien
und ausschließlich unter Berücksichti-
gung von randomisierten doppel-blinden
Placebo-kontrollierten Studien zu oralen
Darreichungsformen kommt man in einer
Metaanalyse von Juni 2005 zu dem
Ergebnis, dass es keine hinreichend
sicheren Untersuchungen zu einer ausreichenden Wirksamkeit für Glucosamin
zur symptomatischen Verbesserung gibt
(16). Auch in einer im Februar 2006 im
„New England Journal of Medicine“
erschienenen multizentrischen, doppelblinden,
Placebound
Celecoxibkontrollierten Studie zur Wirksamkeit
und Sicherheit einer Glucosamin- und
Chondroitin-Therapie kam man zu der
Schlussfolgerung, dass weder Glucosamin oder Chondroitin allein noch die
Kombination zu einer Schmerzlinderung
bei Arthrose führen. Abb. 2 veranschaulicht die Ergebnisse der Studie. Die
Auswertung erfolgte mit Hilfe des WOMAC Scores (WOMAC = Western Ontario
and McMaster Universities Osteoarthritis
Index), welcher einen auf den Patienten
bezogenen Selbsteinschätzungsfragebogen darstellt. Wie man sieht ist nur in
einer Subgruppe von Patienten mit
moderaten bis starken Schmerzen die
Kombinationstherapie aus Glucosamin
und Chondroitinsulfat signifikant besser
wirksam als Placebo (siehe Markierung)
– dieses Ergebnis sollte laut den Autoren
jedoch von einer weiterführenden Studie
näher untersucht werden (17).
Abb. 2: Weder Glucosamin noch Chondroitin alleine führen zu einer Verbesserung der
Beschwerden. Lediglich die Kombination dieser beiden Substanzen führt bei Patienten mit
mittelschweren bis schweren Schmerzen zu einer Verbesserung. Ein Konfidenzintervall
(KI) von 98,3 % bedeutet, dass der wahre Wert des Ergebnisses zu 98,3% in dem
angegebenen Intervall liegt. Die Odds Ratio (OR = Chancenverhältnis), welche in der
Abbildung auf der X-Achse aufgetragen ist, beschreibt die Wahrscheinlichkeit unter einer
Glucosamin-/Chondroitin-Therapie im Vergleich zu Placebo eine Symptomlinderung zu
bemerken. Eine OR von eins bedeutet, es gibt keinen Unterschied zwischen den beiden
Therapien, größer eins bedeutet, dass die Glucosamin-/Chondroitin-Therapie erfolgsversprechender ist und eine OR kleiner eins sagt aus, dass das Placebo zu einer stärkeren
Symptomlinderung führt (nach (17)).
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Erklärt werden könnte dieses Resultat
dadurch, dass Patienten mit beispielsweise stärkeren Schmerzen empfänglicher gegenüber einer Therapie sind als
jene, die lediglich unter schwachen
Schmerzen leiden, welche sie in ihren
alltäglichen Tätigkeiten nicht übermäßig
einschränken. Es lassen sich teilweise bei
Schwerkranken eher Arzneimitteleffekte
zeigen, so dass diese im Gegensatz zu
leichter erkrankten Patienten einen
größeren Vorteil durch eine Therapie
erfahren (18).
Zusätzlich weisen die Autoren verschiedener Studien darauf hin, dass die
Kosten für eine Glucosamintherapie nicht
von den Krankenkassen übernommen
werden sollten. Dennoch könne die
Einnahme von Glucosamin weiter erfolgen, wenn ein Patient einen Nutzen,
beispielsweise
Schmerzlinderung
und/oder bessere Beweglichkeit, daraus
zieht, da die Therapie nicht als gesundheitsschädigend eingestuft wird (17,19).
Immerhin erreichten in den genannten
Prüfungen etwa 60 % der Patienten den
primären Endpunkt, also eine Verbesserung des WOMAC Scores um mindestens
20 %.
Sägezahnpalmenfrucht Ein Beispiel für
ein anderes Arzneimittel, dessen Wirkung nicht über die eines Placebos
hinausgeht, stellt die Sägezahnpalmenfrucht dar. Eingesetzt wird es seit vielen
Jahren zur Linderung der Symptome
einer
benignen
Postatahyperplasie
(BPH), beispielsweise Nykturie, häufige
und schmerzhafte Miktion und erektile
Dysfunktion. Eine BPH tritt vor allem bei
älteren Männern auf. Mehr als 80% der
über Siebzigjährigen leiden an diesen
Symptomen. Eine erfolgreiche Therapiealternative zur Symptomlinderung ist für
sehr viele Männer wünschenswert, denn
Standardtherapeutika (alpha-Blocker wie
Tamsulosin
und
5-alpha-ReduktaseHemmer wie Finasterid) sind mit unangenehmen Nebenwirkungen verbunden,
im Fall von Finasterid unter anderem
Impotenz und Gynäkomastie (20). Eine
2006 in den USA durchgeführte doppelblinde, placebokontrollierte, randomisierte klinische Studie kam zu dem Ergebnis,
dass Sägezahnpalmenfrucht zu keiner
Verbesserung der Symptome führte, bei
der der American Urological Association
Symptom Index (AUASI; eine Skala, die
den Schweregrad der BPH-assoziierten
Symptome einstuft) und die maximale
Harnflussrate untersucht wurden. Es
nahmen 225 Probanden mit mäßiger bis
schwerer Symptomatik teil und man
konnte keinen signifikanten Effekt im
Vergleich zu Placebo feststellen (21). An
einer weiteren doppelblinden, multizentrischen, placebokontrollierten, randomisierten klinischen Studie, die 2011 in den
USA durchgeführt wurde, nahmen 369
Männer mit einem Mindestalter von 45
Jahren teil. Untersucht wurde auch hier
der AUASI-Score über einen Zeitraum
von 72 Wochen. Diese Studie kam
ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die
Sägezahnpalmenfrucht
gegenüber
Placebo zu keiner eindeutigen Besserung
führte (siehe Abb. 3), aber auch fast
keine
zusätzlichen
unerwünschten
Ereignisse auftraten. Lediglich die Anzahl
der Patienten, die unter körperlichen
Beschwerden und Traumata litten, wich
in der Verumgruppe signifikant (ca.
10 %) von der Placebogruppe ab (22).
Abb. 3: Im Vergleich zu Placebo führt
eine Therapie mit Sägezahnpalmenfrucht
zu keiner deutlichen Verbesserung der
Symptome einer BPH (nach (22)).
Da keine negativen Wirkungen bekannt
sind bzw. eine gute Verträglichkeit bisher
bestätigt wurde und es zu einer mit den
Placeboeffekten
nahezu
identischen
Verbesserung der Symptome kommt, ist
es angemessen im Rahmen der Selbstmedikation ein Sägezahnpalmenfruchtpräparat abzugeben, um dem Wunsch
des Patienten nach einem Medikament
zur Symptomlinderung nachzukommen.
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Placebos in der Apotheke?
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Jedoch sollte gleichzeitig ein Arztbesuch
empfohlen werden, um eine BPH zu
diagnostizieren und den Schweregrad
der BPH festzustellen, denn die genannten Beschwerden können auch auf eine
Prostatakrebserkrankung
hinweisen.
Außerdem sollte man Patienten darauf
hinweisen, dass Sägezahnpalmenfruchtpräparate keinesfalls die Progression der
Erkrankung verlangsamen oder stoppen,
sondern rein symptomatisch wirken und
die Einnahme den Arztbesuch keinesfalls
ersetzen kann (20).
Pelargoniumwurzelextrakt Ein Beispiel für ein Arzneimittel dessen Wirkung
nicht eindeutig nachgewiesen werden
kann, aber auf Grund von unerwünschten Wirkungen zu einem gesundheitlichen Risiko führt, stellt der Pelargoniumwurzelextrakt (Umckaloabo®) dar. Er
wird eingesetzt zur Behandlung von
akuter oder chronischer Bronchitis,
anderen Infektionen der oberen Atemwegen und der gewöhnlichen Erkältung,
ersatzweise – wie der Hersteller es
beschreibt - als sogenanntes „pflanzliches Antibiotikum“. Laut einer multizentrischen, randomisierten, doppelblinden,
Placebo-kontrollierten Studie, die vom
Hersteller Dr. W. Schwabe GmbH & Co.
KG
(ISO-Arzneimittel,
Ettlingen,
Deutschland) durchgeführt und finanziert
wurde, ist der Pelargoniumwurzelextrakt
ein effektives und gut verträgliches
pflanzliches Arzneimittel, dass bei akuter
Bronchitis bei Erwachsenen hilft (23).
Einer der beiden einzigen Autoren der in
Russland durchgeführten Studie ist
Mitarbeiter von Schwabe und es ist
unklar, ob sich dies auf das Ergebnis der
Studie ausgewirkt hat.
Im Gegensatz dazu kommt eine Cochrane-Arbeit aus dem Jahr 2009 zu dem
Schluss, dass Zweifel an der Wirksamkeit
von Pelargoniumwurzelextrakt bei der
Behandlung einer gewöhnlichen Erkältung bei Erwachsenen bestehen. Grundlage waren acht klinische Studien, die in
ihrer Methodik zwar akzeptabel, jedoch
in ihrer Anzahl zu gering und auch in
ihren Ergebnissen bezogen auf die
Symptome sehr heterogen waren (24).
Auch im „arzneitelegramm“ wird bereits
im März 2003 darauf hingewiesen, dass
ein konkreter Nutzen von Pelargoniumwurzelextrakt bisher nicht eindeutig
nachgewiesen werden konnte: „Pelargo-
nium-Extrakt wirkt schwach antibakteriell. Er gilt allerdings für diesen Effekt in
Umckaloabo® als mindestens 1000-fach
unterdosiert.“ Außerdem wird auf Nebenwirkungen verwiesen: durch enthaltene Cumarine, die ein Blutungsrisiko mit
sich bringen und aufgrund des hohen
Alkoholgehalts („12 Vol-%, so viel wie
Wein“) sollte es Kindern nicht - wie in
der Werbung angepriesen - bedenkenlos
gegeben werden (25).
In einem aktuellen Artikel von März 2012
des Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte
(BfArM)
über
den
Zusammenhang zwischen hepatotoxischen Reaktionen und der Anwendung
mit Perlagonium-haltigen Arzneimitteln
werden einige Patientenbeispiele aufgelistet: so erkrankte ein 55 Jahre alter
Mann an Hepatitis mit Granulombildung
nach nur zweitägiger Anwendungsdauer.
Ein anderes Beispiel stellt eine 46 Jahre
alte Frau dar, bei der nach sechstägiger
Anwendung eine Hepatitis mit Cholestase
und Nekrose auftrat. Aufgrund dieser
Verdachtsfälle leitete das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte
(BfArM) im Oktober 2011 ein Stufenplanverfahren der Stufe I ein, welches
den Informationsaustausch pharmazeutischer Unternehmer ermöglichen soll und
in diesem Zusammenhang werden alle
Ärzte und Apotheker dazu angehalten,
weitere Verdachtsfälle zu melden, um die
Datenlage zu hepatotoxischen Nebenwirkungen von Pelargoniumwurzelextrakt zu
verbessern (Weblink 5). Inzwischen
wurde das Verfahren auf Stufe II erweitert und eine Änderung der Fachinformation angeordnet (Weblink 6)
Beratung in der Apotheke
Stellt man die gewählten Beispiele
gegenüber, wird deutlich, dass es Pseudoplacebos zur Selbstmedikation in der
Apotheke gibt, die ohne Bedenken
eingenommen werden können. Hierzu
zählen unter anderem das oben genannte Glucosamin oder auch die Sägezahnpalmenfrucht. Der von den Fertigarzneimitteln
ausgehende
therapeutische
Effekt geht nicht über den eines Placebos
hinaus, es sind aber auch keine schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen
bekannt. Im Gegensatz dazu sollte vor
der Einnahme von Pelargoniumwurze-
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Placebos in der Apotheke?
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lextrakt gewarnt werden. Dieses Pseudoplacebo verursachte in mehreren
Fällen Leberschäden und seine „antibiotische Wirkung“ konnte nicht eindeutig
nachgewiesen werden.
Insgesamt sollten beim Umgang mit
Pseudoplacebos
einige
Grundregeln
beachtet werden. Zum ersten ist immer
zu bedenken, dass sie ausschließlich zur
symptomatischen und keinesfalls zur
prognostischen Therapie (Verzögerung
des Fortschreitens einer Erkrankung)
eingesetzt werden sollten. Während eine
Symptomlinderung durch den Patienten
leicht beurteilt werden kann (individuelle
Wirkung), sind Effekte bei Indikationen
wie Vorbeugung eines Herzinfarkts (z.B.
antioxidative oder antiatherosklerotische
Therapie) weder vom Patienten noch von
Arzt oder Apotheker individuell vorhersagbar und müssen daher unbedingt in
klinischen Studien geprüft sein. Außerdem ist in der Regel eine lebenslange
Einnahme erforderlich, was besondere
Risiken mit sich bringen kann. Zum
zweiten
muss
das
Nutzen-RisikoVerhältnis abgeschätzt werden, das heißt
dass Pseudoplacebos nur angewendet
werden sollten, wenn kein schwerwiegendes
Risiko
(z.B.
Leberschäden)
besteht, da der Nutzen nicht evidenzbasiert ist.
Auch wenn diese beiden Punkte beachtet
wurden, sollte man sich bewusst machen, dass der psychische Faktor bei der
Placeboanwendung eine wichtige Rolle
spielt. Allein die Tatsache, dass man
nach dem Motto „Ich tue mir was Gutes!“ handelt indem man sich in der
Apotheke etwas für seine Gesundheit
kauft, führt oft zu dem erwarteten und
für den Patienten günstigen Effekt.
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Placebos in der Apotheke?
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Lisa Reissig
geboren am 15. Januar 1986 in Dortmund,
06/2005 Abitur am Gymnasium Garenfeld,
seit 2007 Studium der Pharmazie an der HHU Düsseldorf
Lara Tobies
Geboren am 24.11.1987 in Düsseldorf
06/2007 Abitur am Gymnasium Hochdahl
11/2007 – 03/2008 Vorsemester der Medizin am RBZ Köln
Seit 04/2008 Studium der Pharmazie an der HHU Düsseldorf
Weblinks
1. Onlineversion Roche Lexikon Medizin, 5. Aufl.:
http://www.gesundheit.de/lexika/medizin-lexikon/placebo
2.
Nocebophänomene in der Medizin: Bedeutung im klinischen Alltag. (Nocebo phenomena in medicine: their relevance in everyday clinical practice) Dtsch Arztebl Int 2012; 109(26): 459-65; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0459:
http://www.aerzteblatt.de/archiv/127205
3. E-book zum Thema OTC-Produkte: Mega Macht Marke – Der Wert der Marke bei
OTC-Produkten:
http://books.google.de/books/about/Mega_Macht_Marke_Der_Wert_der_Marke_bei.html?id=mqN9QnYGDrkC&redir_esc=y
4. Berufsordnung der Apothekerkammer Nordrhein:
http://www.aknr.de/kontakt/berufsordnung.php
5. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit des BfArM und des PEI:
http://www.pei.de/cln_227/nn_154420/SharedDocs/Downloads/fachkreise/sik-bulletin-dl/2012/12012,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/1-2012.pdf
6. BfArM Internetseiten, Pelargoniumhaltige Arzneimittel: Risiko von Leberschädigungen:
http://www.bfarm.de/DE/Pharmakovigilanz/stufenplanverf/Liste/stp-pelargonium.html
Literaturverzeichnis
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4. Die Bedeutung der Rolle des Arztes und des therapeutischen Settings für den Placeboeffekt, in Jütte R, Hoppe JD, Scriba P (eds): Placebo in der Medizin. Köln,
Deutscher Ärzte Verlag, 2011, pp 157-171
5. Mechanismen des Placeboeffekts, in Jütte R, Hoppe JD, Scriba P (eds): Placebo in
der Medizin. Köln, Deutscher Ärzte Verlag, 2011, pp 49-59
6. Greimel KV: Alles nur Einbildung? Über die Wirkung von Placebos, in BiesingerE,Iro H (eds): HNO Praxis heute. Berlin, Springer Verlag, 2005, pp 163-172
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25. Was ist dran an Umckaloabo. Arznei-Telegramm a-t 2003;34:28-9
Impressum:
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/impressum.html
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