Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011 16.08.12 (empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011, 16.08.2012, in: http://erkenntnisethik.blogspot.de/) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Begriffe und Hypothesen Methode Selbst kommt hinzu Körper und Gehirn Bewußtsein und Rekursivität Erziehung des Unterbewußten Biologischer Wert und Kultur Die Grenze des Körperleibs Körper und Gehirn dürfen Damasio zufolge nicht als voneinander getrennte Systeme behandelt werden. Vielmehr ist das Gehirn nicht nur Teil des Körpers, sondern auch selbst Körper: „Die Trennung zwischen Körper und Gehirn wird oft ein wenig übertrieben dargestellt: Die Neuronen, die das Gehirn bilden, sind Körperzellen, und diese Erkenntnis hat Auswirkungen auf das Leib-Seele-Problem.“ (Damasio 2011, S.300) – Das ist übrigens eine der wenigen Stellen, wo Damasio von der Seele spricht. Weitere Ausführungen zu diesem Thema bleiben in der Folge aber aus. Wichtig ist hier vor allem der Hinweis, daß die Nervenzellen nicht irgendwelche digitalen Chips innerhalb eines Informationsverabeitungsapparates bilden: „Neuronen sind keine Mikrochips, die Signale aus dem Körper aufnehmen. Die sensorischen Neuronen, deren Aufgabe die Interozeption ist, sind spezialisierte Körperzellen, die Signale von anderen Körperzellen empfangen.“ (Damasio 2011, S.271) – Die Vorstellung vom Gehirn als einem „Digitalcomputer“ hält Damasio deshalb für „alles andere als hilfreich“. (Vgl. Damasio 2011, S.56) Die „Signale von anderen Körperzellen“ werden von den Nervenzellen deshalb nicht einfach nur empfangen, während sie ansonsten auch gut auf sie verzichten und ohne sie klarkommen könnten, wie es viele Neurowissenschaftler in ihrer Darstellung des Gehirns als geschlossenem System nahelegen. Vielmehr ist Damasio zufolge die ganze ‚Aufmerksamkeit‘ der Gehirnaktivitäten in erster Linie auf den Körper gerichtet: „Kurz gesagt, sind Neuronen auf den Körper ausge- richtet, und diese Gerichtetheit, dieser unaufhörliche Hinweis auf den Körper, ist das definierende Merkmal von Neuronen, Neuronenschaltkreisen und Gehirnen.“ (Damasio 2011, S.50) Die Verbindung zwischen Körper und Gehirn ist Damasio zufolge so eng, daß es auf physiologischer Ebene unmöglich ist, eine scharfe Grenze zwischen beiden zu ziehen (vgl. Damasio 2011, S.33); denn sogar die Blut-Hirn-Schranke gilt nicht für das ganze Gehirn: „Oft wird übersehen, dass Informationen aus dem Körperinneren von zahlreichen chemischen Substanzen unmittelbar an das Gehirn übertragen werden. Diese Substanzen kreisen im Blut und wirken auf Gehirnteile, denen die Blut-Hirn-Schranke fehlt, nämlich auf die Area postrema im Hirnstamm und auf verschiedene Regionen, die zusammenfassend als zirkumventrikuläre Organe bezeichnet werden.“ (Damasio 2011, S.273) Was aber Gehirn und Körper insbesondere gemeinsam haben, ist das gemeinsame Lebensprinzip, das vor allem ein Prinzip des Überlebens ist: „die Verwaltung und Sicherung des Lebens“. (Vgl. Damasio 2011, S.36) Das Gehirn und später das hinzukommende Bewußtsein (Selbst) setzen nur fort, womit schon Einzeller und Amöben begonnen haben: „Kurz gesagt, erwächst der bewusste Geist aus der Geschichte der Lebenssteuerung. Die Lebenssteuerung ist ein dynamischer Prozess, der auch als Homöostase bezeichnet wird. Er beginnt bei den einzelligen Lebewesen, beispielsweise den Bakterienzellen oder einfachen Amöben, die kein Gehirn besitzen, aber zu angepasstem Verhalten in der Lage sind.“ (Damasio 2011, S.37) Diese „grundlegende Homöostase“ geht beim entwickelten menschlichen Bewußtsein nahtlos in Formen der soziokulturellen Homöostase über: „Der bewusste Geist des Menschen, der mit einem so komplexen Selbst ausgerüstet ist und darüber hinaus noch über so großartige Fähigkeiten wie Gedächtnis, Vernunft und Sprache verfügt, bringt die Instrumente der Kultur hervor und eröffnet auf den Ebenen von Gesellschaft und Kultur den Weg zu neuen Mitteln der Homöostase. In einem außergewöhnlichen Sprung erfährt die Homöostase eine Erweiterung in die soziokulturelle Sphäre.“ (Damasio 2011, S.38) – Daß Damasio hier von einem „außergewöhnlichen Sprung“ von der grundlegenden zur soziokulturellen Homöostase spricht, sollte einen nicht darüber hinwegtäuschen, daß er tatsächlich von einem ‚bruchlosen‘ „Funktionskontinuum“ ausgeht. (Vgl. Damasio 2011, S. 178) Damasio stellt die Homöostase auch in den Dienst der Erziehung (vgl. Dama- sio 2011, S.283f.), worauf wir hier noch in einem der folgenden Posts zu sprechen kommen werden. Wie man am Beispiel von Rousseaus „Emile“ sieht, kann das zu einem durchaus gehaltvollen Erziehungskonzept führen. Die relative Stärke der Kindheit im Vergleich zum Jugend- und Erwachsenenalter besteht bei Rousseau in einem homöostatischen Ausgleich grundlegender Bedürfnisse, der zu einer glücklichen Kindheit führt und den man später nie wieder erreichen wird. Damasios Entwicklungskontinuum von der grundlegenden zur soziokulturellen Homöostase paßt auch zu Plessners Darstellung der „Stufen des Organischen“ (1975/1925). (Vgl. meinen Post vom 22.10.2010) Dort beschreibt Plessner den Stoffwechselprozeß als eine Übergangsschwelle von Dingphänomenen zu lebenden Phänomenen. Dabei ermöglicht der Stoffwechselprozeß eine ‚Abhebung‘ des Organischen aus dem Bereich des Anorganischen; eine Abhebung, die er auch als Positionalität bezeichnet: „Kraft seiner Positionalität allein, nach der das lebendige Ding in ihm hinein – über ihm hinaus (gesetzt) ist, zerfällt es in ihm selber in zwei gegensinnige Prozesse und gliedert sich durch sie als selbständige Einheit in die Welt der Körperdinge ein.“ (Plessner 1975/1925, S.199) Zunächst einmal meint Plessners Begriff der Positionalität nichts anderes, als was Damasio meint, wenn er die Aufgabe der grundlegenden Homöostase, Plessners Stoffwechselprozeß, darin sieht, den Organismus von seiner äußeren Umgebung abzugrenzen, also seine innere Komplexität sich nicht einfach osmotisch in die äußere Umweltkomplexität auflösen zu lassen: „Leben erfordert, dass der Körper um jeden Preis und für buchstäblich Dutzende von Bestandteilen in seinem dynamischen Inneren jeweils eine Reihe von Schwankungsbreiten aufrechterhält. ... Diese magische Spanne wird als homöostatischer Bereich bezeichnet ...“ (Damasio 2011, S.54) Dennoch deutet sich hier schon eine grundlegende Differenz an, auf die ich später noch eingehen werde: Wenn Plessner von der Positionalität des lebendigen Organismus spricht, die darin besteht, sich zwischen zwei „gegensinnigen Prozessen“ zu ‚halten‘, deren ‚Gegensinnigkeit‘ wiederum darin besteht, sich Energie von außen ‚einzuverleiben‘ und eigene Energie nach außen abzugeben, so deutet sich darin schon eine diskontinuierliche Bestimmung des Stoffwechselprozesses, die spätere Exzentrizität an. Diese Diskontinuität haben wir zwar auch bei Damasio, denn auch sein homöostatischer Bereich ‚hebt‘ sich ja vom Umgebungsniveau ‚ab‘. Aber auf die Bestimmung der Bewußtseinsqualität wirkt sich diese Abhebung (Positionalität) bei ihm – anders als bei Plessner – nicht weiter aus.