GESUNDHEIT Naturheilkunde Natürliches Eine Blasenschwäche ist weit verbreitet, gilt jedoch immer noch als Tabu-Thema. Dabei lässt sie sich erfolgreich behandeln – oft mit ganz natürlichen Mitteln. Text: Stella Cornelius-Koch W Fotos: irisblende.de o ist die nächste Toilette?» Diese Frage beschäftigt in der Schweiz tagtäglich mindestens 400 000 Menschen mit Blasenschwäche. Nach Angaben der Schweizerischen Gesellschaft für Blasenschwäche zählt die Harninkontinenz damit zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden. Der ungewollte Harnverlust kann in jedem Alter auftreten, wobei Frauen stärker betroffen sind als Männer. Die Erkrankungshäufigkeit nimmt im höheren Alter zu. Durch die steigende 42 Natürlich | 3-2005 Lebenserwartung werden daher vermutlich in Zukunft immer mehr Menschen unter Blasenschwäche leiden. Verschiedene Ursachen für Inkontinenz Der unfreiwillige Harnverlust beginnt zumeist schleichend: Zuerst gehen beim Lachen, Niesen oder körperlicher Anstrengung ein paar Tropfen Urin ab, ohne dass man es will oder merkt, später dann auch bei normalen Tätigkeiten. Ein wei- teres Symptom: Man verspürt plötzlich Harndrang, schafft es aber nicht mehr rechtzeitig zur Toilette. Oder man hat das Gefühl, dass man «muss», aber es kommt nicht sofort Urin. Auch ein schwacher Harnstrahl und das Gefühl, die Blase nicht vollständig entleert zu haben, können Anzeichen einer Harninkontinenz sein. Die Ursachen hierfür sind verschieden: Neben einer geschwächten oder erschlafften Beckenbodenmuskulatur (zum Beispiel durch Geburten oder sitzende Tätigkeit), kommen Blasen- oder Harnwegsinfektionen, Prostatabeschwerden (siehe Natürlich 2-2005), Erkrankungen des Nervensystems oder MedikamentenNebenwirkungen infrage. Blasenschwäche: Tabu-Thema Nr. 2 Dass der unfreiwillige Harnabgang die Lebensqualität stark einschränkt, konnten Wissenschaftler von den Universi- gegen Inkontinenz täten Giessen und Leipzig belegen. Danach klagen viele Patienten nicht nur über körperliche, sondern auch über seelische Beschwerden. Dennoch: Den meisten ist es peinlich, darüber zu sprechen – kein Wunder, spielen doch Hygiene und Sauberkeit in unserer modernen Gesellschaft eine grosse Rolle. Auch die Bezeichnung «Blasenschwäche» im Sinne von «Unvermögen» trägt nicht gerade zu einem offenen Umgang mit dem Problem bei. Eine Umfrage im November 1997 ergab, dass in der Schweiz die Blasenschwäche Tabu-Thema Nr. 2 ist. Wichtig ist, bei Anzeichen für eine Inkontinenz nicht zu lange zu warten. Denn gerade zu Beginn, zum Beispiel wenn nur hin und wieder etwas Harn verloren geht, sind Therapie-Massnahmen vielversprechend. Haben Sie daher keine Scheu und vertrauen Sie sich Ihrem Hausarzt, einem Gynäkologen oder Urologen an. Oder: Suchen Sie die Inkonti- nenz-Sprechstunde im nächsten Spital auf. Auch die Schweizerische Gesellschaft für Blasenschwäche erteilt Informationen (siehe Infozeile am Schluss des Textes). Wichtig ist jedoch, den ganzen Menschen zu betrachten und den Patienten bei der Behandlung aktiv mit einzubeziehen, so Dr. Pages. Zur Behandlung einer Harninkontinenz stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: Erfolgreich behandeln Beckenbodentraining: Vor allem bei der Belastungsinkontinenz, aber auch bei anderen Inkontinenzformen ist ein Beckenbodentraining wichtig. «Der Beckenboden trägt und stützt die inneren Organe», erklärt die Physiotherapeutin Regina Dresler-Staub aus Bad Salzuflen. «Ausserdem hat er die Aufgabe, bei Entleerung von Urin und Stuhl nachzugeben und die Ausgangspforten der Harnröhre und des Darmes zu öffnen, um sie danach wieder fest zu verschliessen.» Ist die Muskulatur nicht ausreichend trainiert und erschlafft, kann sie diese Aufgabe nicht mehr richtig erfüllen – es kommt zur Inkontinenz. Aus diesem Grund sollte regelmässig ein funktionel- Da es sich bei Inkontinenz immer noch um ein Tabu-Thema handelt, sind Betroffene oft schlecht aufgeklärt. «Bei vielen Patienten, die erstmals mit Blasenschwäche konfrontiert werden, entsteht der Eindruck, dass sie das Problem hinnehmen und lernen müssen, mit Einlagen, Inkontinenzslips oder Windelhosen zu leben», so Dr. Ines-Helen Pages, Direktorin des Instituts für Physikalische und Rehabilitative Medizin am Klinikum Ludwigshafen am Rhein. Dabei ist Blasenschwäche kein unabwendbares Schicksal: In den meisten Fällen kann eine Harninkontinenz erfolgreich behandelt werden. Natürlich | 3-2005 43 GESUNDHEIT Naturheilkunde Ein straffer Beckenboden hält Harnröhre und Schliessmuskelsystem in anatoc b a les Training der Beckenboden- sowie der Bauch- und Rumpfmuskulatur unter fachlicher Anleitung durchgeführt werden. Bei Frauen ist dies generell ratsam, da sich mit zunehmendem Alter die Gebärmutter senkt und die Blase mit beeinflusst, und bei Männern dann, sobald sich erste Prostatabeschwerden bemerkbar machen. (Siehe auch: Übungen für ein starkes Becken auf Seite 45.) Toilettentraining: Das Toilettentraining kommt vor allem bei einer Dranginkontinenz infrage. Ziel ist es, den optimalen Zeitpunkt für die Blasenentleerung zu ermitteln – und zwar, bevor der Harndrang spürbar wird. Dazu wird zunächst ein Miktionsprotokoll (Miktion = Entleerung des Harns aus der Blase) angefertigt und auf dieser Grundlage ein Behandlungsplan erstellt. Hierbei wird die Blase zu vorgegebenen Zeiten (zum Beispiel alle 2 Stunden) entleert – egal, ob man «muss» oder nicht. Dann werden die Zeitintervalle vergrössert, bis ein individueller Rhythmus gefunden ist. Physikalische Therapie: Eine Elektrotherapie ist vor allem dann sinnvoll, wenn die Beckenbodenmuskulatur stark erschlafft ist und aktiviert werden muss. Elektrische Impulse stimulie- eine Druckerhöhung kein Problem darstellt (1). Sie kann sich seitlich sogar als zusätzlicher Verschlussdruck (A) auf die Harnröhre auswirken. Anders verhält Die Abbildung oben zeigt die anatomisch richtige Lage der es sich bei erschlafftem Beckenboden (2). Organe im kleinen Becken bei Das Schliessmuskelsystem intaktem Beckenboden: wird nicht mehr ausreichend a = Harnblase mit Harnröhre gestützt und ist nur noch b = Gebärmutter mit Scheide bedingt verschlussfähig (B). c = Mastdarm mit After ren hierbei die Beckenbodenmuskulatur, sodass sich diese zusammenzieht (kontrahiert). Mit der Zeit wird so die Muskulatur trainiert und besser von den Nerven versorgt. Biofeedback bietet sich unterstützend zur Bewegungstherapie an. Bei diesem Wahrnehmungstraining zeigt ein vaginal oder rektal eingeführter Sensor direkt am Computerbildschirm die Muskelaktivität an. Der Patient erhält also ein direktes «Feedback». Er lernt so, die Muskelaktivität mental zu beeinflussen und trainiert gleichzeitig die Beckenbodenmuskulatur. Die Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation (DGPMR) empfiehlt zudem Bindegewebsmassagen, Fussreflexzonentherapie, Aku- Gegen Inkontinenz helfen Akupunktur und Fussreflexzonentherapie. 44 Natürlich | 3-2005 misch richtiger Lage, sodass punktur sowie Wärmebehandlungen, zum Beispiel in Form von Moorpackungen oder Thermal- und Sitzbädern mit Schafgarbe, da sie zugleich die Durchblutung fördern. Medikamente: Medikamente sind vor allem für ältere Menschen mit Dranginkontinenz hilfreich. Speziell für Frauen mit mittelschwerer bis schwerer Belastungsinkontinenz ist europaweit vor kurzem der Wirkstoff Duloxetin (eigentlich ein Antidepressivum) zugelassen worden. Bei älteren Patientinnen mit nachgewiesenem Östrogenmangel kann auch eine lokale Östrogentherapie Linderung bringen. Fortsetzung auf Seite 47 Petersilie ist das Mittel der Homöopathen. Naturheilkunde GESUNDHEIT 1. Übungsbeginn Entlasten Sie zunächst zirka 5 Minuten Ihren Beckenboden durch eine einfache Umkehrung der Druckverhältnisse im Becken. Beugen Sie im Knien den Oberkörper nach vorn, stützen Sie sich mit den Unterarmen Eine weitere Möglichkeit: Legen Sie die Unterschenkel ab, lassen Sie den Kopf auf einen Hocker oder einen Stuhl. Erhöhen Sie die Lage auf den Händen ruhen. Ihres Beckens, indem Sie ein Kissen unterschieben. 2. Beckenbodentraining Ein Gefühl für Ihren Beckenboden Wenn Sie sich für bekommen Sie, wenn Sie versuchen, diese Übungen im beim Wasserlassen den Urinstrahl zu Reitersitz auf einen unterbrechen. Der dabei eingesetzte festen Widerstand, Muskel ist Ihr Beckenboden, der zum Beispiel eine durch folgende Übungen trainiert Handtuchrolle, werden kann. Achten Sie bitte auf setzen, können Sie die richtige Atmung: Einatmen – die betreffenden der Beckenboden ist entspannt. Muskeln noch Ausatmen – dabei den Beckenboden besser spüren anspannen. Wiederholen Sie jede und gezielter Übung, so oft Sie wollen. anspannen. Wenn Sie im Hohlkreuz sitzen, können Sie die Muskulatur um Harnröhre und Scheide besser zusammenziehen. Konzentrieren Sie sich auf den Beckenboden und spannen Sie beim Ausatmen die Muskeln an. Eine ganz einfache Übung: Kreuzen Sie im Stehen, Sitzen oder Liegen die Beine und pressen Sie beim Ausatmen die Fussaussenkanten Setzen Sie sich auf den Boden und gegeneinander. winkeln Sie die Beine an. Die Unterschenkel sind gegrätscht, mit den Händen drücken Sie die Knie zusammen. Versuchen Sie nun, die Oberschenkel gegen den Widerstand der Hände zu öffnen. Atmen Sie dabei aus. Tipp für Notfälle Illustrationen: IVF Hartmann AG (zum Beispiel, wenn Sie unterwegs sind) Bei plötzlichem Druck auf der Blase beugen Sie einfach Ihren Oberkörper nach unten – so, als ob Sie Ihre Schuhe zubinden. Dadurch wird der Druck im Bauchraum in die entgegengesetzte Richtung gelenkt und die Blase entlastet. Natürlich | 3-2005 45 Foto: IVF Hartmann AG Es gibt abführende und aufsaugende Hilfsmittel. Letztere gibt es anatomisch geformt für Frauen und Männer. Unter der Kleidung fallen sie nicht auf. Operation: Erst wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, sollte ein chirurgischer Eingriff erfolgen. Dieser ist insbesondere dann sinnvoll, wenn anatomische Veränderungen (Blasen- oder Gebärmuttersenkung) vorliegen. Mittlerweile gibt es Operationsmethoden, die sehr schonend sind. Am bekanntesten ist die TVT-Methode, die bei Belastungsinkontinenz angewandt wird. Dabei führt der Chirurg unter örtlicher Betäubung ein spezielles Band (TVT = Tension-free Vaginal Tape) spannungsfrei um die Harnröhre und fixiert es hinter dem Schambein. Inkontinenzhilfsmittel: Trotz der verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten gelingt es manchmal nicht, den Patienten genügend trocken zu halten, sodass man auf Inkontinenzhilfen zurückgreifen muss. Hierbei unterscheidet man abführende (Urinale, Dauerkatheter) und aufsaugende Hilfsmittel (Einlagen, Inkontinenzslips oder Windelhosen). Viele Frauen mit Blasenschwäche verwenden herkömmliche Damenbinden. Dabei gibt es inzwischen eine Vielzahl von anatomisch geformten Einlagen für Frauen und Männer, die hochsaugfähig sind, Gerüche binden und unter normaler Kleidung nicht auffallen. Viele Produkte mit Geruchsabsorbern haben zudem einen niedrigen pH-Wert, der hilft, die Haut gesund zu erhalten. Entsprechende Produkte kann man in Drogerien oder Apotheken erhalten. Naturheilmittel: Bei Inkontinenz haben sich verschiedene homöopathische Mittel wie zum Beispiel Petroselinum (Petersilie), Causticum Hahnemanni (Ätzstoff Hahnemanns) oder Belladonna (Tollkirsche) bewährt. Von den Heilkräutern eignen sich Teezubereitungen aus Zinnkraut (Ackerschachtelhalm) und Riesengoldrutenkraut. Einen Versuch wert ist auch ein Extrakt aus der Kaktusfeige Opuntia ficus indica. So hat man in Mexiko beobachtet, dass Frauen, die regelmässig die frischen Kaktus-Blüten oder -Früchte assen, nachts seltener zur Toilette mussten. In Studien konnten die positiven Effekte auf Blase und Prostata bestätigt werden. Neben Tees sind Präparate mit Opuntia-Extrakt als Kapseln oder Tabletten erhältlich. Gesunde Lebensweise beugt Inkontinenz vor Gesund ernähren: Das wichtigste Ziel hierbei ist das Erreichen eines normalen Körpergewichts. Zudem sorgt eine ausgewogene Mischkost mit viel Obst, Gemüse und Vollkornprodukten auch für eine geregelte Verdauung. Das verhindert, dass durch starkes Pressen bei der Stuhlentleerung der Beckenboden belastet wird, was wiederum Inkontinenz fördert. Naturheilkunde GESUNDHEIT betragen (am besten Kräutertees und Mineralwasser). Koffein und Alkohol nur in geringen Massen geniessen, da sie die Blase reizen. Regelmässig Sport treiben: Das beugt nicht nur Übergewicht vor, sondern verbessert auch die Muskelkraft und die allgemeine Kondition. Empfehlenswert ist ein Ausdauer-Training 2- bis 3-mal wöchentlich 45 Minuten (Schwimmen, Wandern, Walking oder Fahrrad fahren). Richtiges Verhalten im Alltag: Achten Sie am Schreibtisch auf eine ergonomische Sitzhaltung. Auch richtiges Heben aus der Hocke heraus schützt den Beckenboden vor Überlastung. Und: Schützen Sie Nieren und Blase vor Kälte, Wind oder Nässe. ■ Infos: Ausreichend trinken: Viele Betroffene halten die Flüssigkeitsmenge so gering wie möglich. Dadurch können jedoch die Nieren ihre Entgiftungsfunktion nicht richtig erfüllen. Folge: Blase, Harnleiter und Harnröhre werden unzureichend durchspült – ideale Bedingungen für Infektionen, die wiederum eine Inkontinenz begünstigen. Die Trinkmenge sollte täglich 1,5 bis 2 Liter Schweizerische Gesellschaft für Blasenschwäche, Gewerbestrasse 12, 8132 Egg b. Zürich, Tel: 044 994 74 30 E-Mail: [email protected], Internet: www.inkontinex.ch www.gyn-gaudenz.ch/gyn_beckenboden.html http://www.hotsport.ch/sportindex.ch/fit&well/ FW_beckenbodentraining.htm www.beckenboden.com/ www.blasenschwaeche.ch www.selbsthilfeverband-inkontinenz.org Verschiedene Formen von Harninkontinenz Bei der Harninkontinenz unterscheidet man Möglicher Grund für die Überaktivität des folgende Formen: Blasenmuskels sind Nervenschädigungen • Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz): im Gehirn, Rückenmark oder der Blasen- Die Belastungsinkontinenz ist die häufigste muskulatur. Auch eine Infektion oder eine Form weiblicher Harninkontinenz. Hierbei verengte Harnröhre führen dazu, dass sich führen Reize wie Husten, Niesen oder Lachen dazu, dass die Verschlussmechanis- die Blase nicht mehr völlig entleert. • Überlaufinkontinenz: Auch bei der men der Harnblase nicht mehr richtig funk- Überlaufinkontinenz kann die Blase nicht tionieren. Ursache ist zumeist eine schwa- mehr völlig entleert werden. Infolge che Beckenbodenmuskulatur oder eine mechanischer Behinderungen staut sich Schädigung am äusseren Schliessmuskel Urin in der Blase; sobald Urin über die der Blase. Da die Bezeichnung Stress- Nieren nachkommt, läuft diese über. inkontinenz leicht zu Missverständnissen Die Behinderung des Harnabflusses ist führt, wird seit kurzem der Begriff bei Männern meist auf eine vergrösserte Belastungsinkontinenz verwendet. Prostata zurückzuführen. • Dranginkontinenz: Hierbei spüren Betrof- Weitere Ursachen sind Harnröhrenverengun- fene zwar den Harndrang, erreichen aber gen, Blasensteine oder angeborene Verände- oft die Toilette nicht mehr rechtzeitig. rungen der Harnwege. Natürlich | 3-2005 47