1 Salzburg: War lange Zeit nichts als eine fixe Idee. Immer wieder

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Salzburg:
War lange Zeit nichts als eine fixe Idee. Immer wieder erhielt ich Einladungen nach
Salzburg, vom Literaturhaus, einer Bibliothek, doch nie hat es zeitlich geklappt. Die
Autorenkollegin Kathrin Röggla stammt aus Salzburg, erzählte von ihrer
Heimatstadt, Bilder verdichteten sich im Kopf. Langsam wurde Salzburg zu einer
fixen Idee, einem mystischen Ort. Wie könnte es dort sein?
Salzburg - Schon der Name der Stadt ist irritierend, hat etwas von einem Paradoxon:
Mit Salz verbinde ich etwas Feines, etwas, das sich auflöst, und - irgendwie – etwas
Trauriges. Salz ist für mich fast so etwas wie die sich materialisiert habende seelische
Befindlichkeit eines Melancholikers. Und dann „Burg“: Das ist so gar nicht ein
Seelenort, das hat wenig Intimes - ist und bleibt ein militärisch konnotierter Ort.
Außerdem habe ich als Kind so viele Burgen besichtigen müssen, das meine Ohren
bei „Burg“ auf taub gestellt sind. Ich reagiere auf „Burg“ wie der Salzburger auf die
Silbe „Mo“. Nicht aber auf „Hohensalzburg“, das darf meine Ohren passieren. Das
ist ein großartiges Wort, ich habe keine Gelegenheit ausgelassen, es in den Mund zu
nehmen, diese hohe Burg – immer wieder rekurrierte ich darauf. Es gibt eine Lust
daran, bestimmte Worte auszusprechen und ihnen gleichzeitig nachzuschmecken,
die nur von bestimmten Törtchen übertroffen werden kann.
Und so kommt zum Salz das Süße:
Törtchen & Kugeln:
Für Bildende Künstler, die zur Internationalen Sommerakademie kommen, aber auch
für andere, muss Salzburg ein sehr inspirierender Ort sein: Neben den eigenartigen
Festspielbesuchern, die man im Sommer überall in der Stadt beobachten kann und
die eine Spezies für sich zu sein scheinen, kann man unendlich viele verschiedene
Törtchen – und Pralinenkreationen in Augenschein nehmen. Auch für Architekten
müssen sie eine großartige Inspiration darstellen. Was gibt es da nicht alles in
Salzburg zu sehen: Sie sind mehrstöckig, haben verschieden gestaltete Fassaden,
Brüstungen und Terrassen, ja, einige Törtchen sind terrassiert, andere sind mit
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schwindelerregenden Dachgeschossen und Obstgärten auf dem höchsten Stockwerk
ausgestattet, mit Swimmingpools aus Himbeer- oder Schokoladensauce, manche
tragen kronenartige Gebilde auf den Dächern, andere sehen wie dreidimensionale
kalligraphische Zeichen aus, wiederum andere wie Hüte aus dem 19. Jahrhundert
und nochmals andere schlicht und modern wie Objekte von Donald Judd.
Auf dem großen Platz vor dem Dom ist dann doch tatsächlich in Salzburg eine zur
Skulptur gewordene Praline zu sehen: Stefan Balkenhols großartige Mozartkugel, auf
dem ein kleines Männeken obenauf sitzt. Der Mensch sitzt zwar auf der Kugel,
dennoch sind die Größenverhältnisse so, dass er eher wie eine Fliege auf einer Kuh
wirkt, die Mozartkugel als Erdkugel, als existentielles Alles-oder-Nichts.
Dieses Mozartkugelgold ist für mich gleichsam die Farbe Salzburgs. Es ist das Gold
der christlichen Ikonenmalerei, der matte goldene Hintergrund, der hier hinter allem
aufscheint. Auch in der Massenware.
Mozart:
Mein Interesse an Salzburg hat, was nicht sehr originell, aber wahr ist, unter
anderem mit meinem Mozartinteresse zu tun. Und das wiederum hat mit der
Geschichte meiner Entdeckung von „Don Giovanni“ zu tun:
Als ich vor einigen Jahren die Auflösung der Wohnung meiner Großeltern
gemeinsam mit dem Rest der Familie in Angriff nahm, stießen mein Bruder und ich
auf einen Riesenbatzen alter Langspielplatten. „Don Giovanni“ fiel mir auf, weil die
vier Platten in einem sehr schönen schwarzen Kasten steckten - und weil dieser
Kasten tatsächlich noch eingeschweißt war. Und verdammt verstaubt. Ich fragte
mich, wie lange diese nie gehörte Oper wohl bei meinen Großeltern gestanden hatte?
Die Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau war aus dem Jahr 1967. Natürlich
konnten meine Großeltern sie später gekauft haben - der Kasten stand allerdings
weit hinten, wo die Reihen immer eingestaubter wurden. Ich wusste, meine
Großeltern mochten Bach. Bach und Mozart - das ist ein bisschen - nun ja - wie die
Beatles oder die Stones, selten mag man beides. Es passte jedenfalls zu meinen
Großeltern, dass sie sich für eine Oper wie „Don Giovanni“, die den Rausch und das
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Anarchische feiert, nicht wirklich erwärmen konnten. Vielleicht war sie mal ein
Geschenk gewesen.
Ich nahm den eingeschweißten Kasten und einige andere LPs mit nach Berlin.
Monate vergingen, irgendwann erinnerte ich mich an den verstaubten Plattenstapel.
Sehr genau weiß ich noch, wie mich Erregung befiel, als ich die knisternde
Plastikfolie aufriss und diese „jungfräulichen“, noch nie gehörten Platten auflegte.
Ich kannte - wer nicht? - ein paar Mozart-Opern, „Die Entführung aus dem Serail“,
„Così fan tutte“ und natürlich „Die Zauberflöte“. Aber diese Musik war anders,
drohend, dunkel, langsam in Gang kommend, in sich selbst verstrickt. Nicht gerade
das, was man sich unter „Mozarts Leichtigkeit“ vorstellt. Ich war perplex und betört,
saß vor den Boxen wie das Kaninchen vor der Schlange. „Don Giovanni“: eine
dämonisch-düstere Oper, die der damals strengen Kategorisierung von „Tragödie“
oder „Komödie“ in ihrer unauflösbaren Ambivalenz zuwiderlief. Voller Ironie, voller
Witz und Boshaftigkeit - aber auch nicht ohne den Eros und den Rausch wirklich zu
feiern - wird in ihr der Untergang eines alternden Frauenhelden dargestellt. Schon
die gut siebenminütige Ouvertüre, die Mozart beim Kegeln (!) wenige Tage vor der
Uraufführung in Prag nebenbei herunter geschrieben hat, nimmt das „böse Ende“
vorweg.
In den nächsten Wochen hörte ich die Oper in einem Fort und erwartete, dass ich sie
mir eines Tages „überhören“ würde. Darauf warte ich heute - neun Jahre später immer noch. In Folge meiner Begeisterung für „Don Giovanni“ hörte ich auch viele
Opern anderer Komponisten, auch aus dem Bereich der Neuen Musik, aber der
Entdeckung von „Don Giovanni“ - dieser für mich aus einem unendlich langen
Dornröschenschlaf wachgeküssten Musik - kam nichts gleich. Lange Zeit reichte es
mir, mich wirklich „nur“ mit Mozarts Kosmos zu beschäftigen. Ich fühlte mich dort
mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und in den verschiedensten Lebenslagen
gut aufgehoben, völlig saturiert - keine Seelenlage, kein Schattengesicht, die oder das
man in der unglaublichen Diversität von Mozarts Werk nicht finden kann.
Auch aus Sicht der Schriftstellerin fasziniert mich diese Oper: Don Giovannis
erotische „Schandtaten“ sind wirklich mitreißend „erzählt“ - dabei ist Mozart so
schlau, Don Giovanni nicht nur sich selbst darstellen zu lassen, sondern ihn vor
allem durch die Augen seiner Mitmenschen zu charakterisieren. Eine der
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erotischsten Arien in „Don Giovanni“ wird gerade nicht von Don Giovanni selbst
gesungen, sondern von seinem Diener Leporello, der in einer unnachahmlichen
Mischung aus Bewunderung für seinen Herrn und Entrüstung über ihn seine
„Schandtaten“ (oder Heldentaten, je nachdem) aufzählt. Die Präzision, mit der Don
Giovannis Diener Leporello exakte Zahlenangaben über den „Frauenverschleiß“ von
seinem Herrn macht (dies natürlich im Libretto von Lorenzo Da Ponte) steht in
einem großartigen Gegensatz zum vokalistischen Bombast und der Erregung, mit
der der empörte Diener sein „Register“ vorträgt. Hier spielen unterschwellige
Momente von männlicher Konkurrenz und einem sängerischen Wettbewerb mit; es
wird deutlich, dass Don Giovanni eingangs eine gleichermaßen Frauen und Männer
verzaubernde
und
erotisierende,
die
gesellschaftlichen
Regeln
ungestüm
durchbrechende, pansexuelle, äußerst autonome Gestalt ist.
Jedes Heldentum wird bei Mozart ironisiert, der Lächerlichkeit preisgegeben, jeder
Aufstieg lässt schon von Beginn an die Fallhöhe sichtbar werden, die Frauen - denen
von den Librettisten meist „brave“ Rollen zugedichtet wurden, z.B. als hilflos
Verführte von Don Giovanni - verleiht Mozart Imposanz, sie bekommen dramatische
und dämonische Züge, sind würdevoll und mächtig - . Janis Joplin, Tina Turner,
Nina Hagen, Annie Lennox - in meinen Augen nicht wilder als Mozarts’ beste
Frauenrollen. In einem „Nebensatz“ kritisiert Mozart dabei die bürgerlichen Sitten
und Tugenden, deren Vertreter - in Da Pontes Libretto eigentlich als starke Figuren
vorgesehen - bei ihm eher blasse Langweiler abgeben. Auch sie sind - trotz
gegenteiliger Beteuerungen und Handlungen - von der Person Don Giovannis
fasziniert. So inszeniert Mozart sie zumindest.
Das alles könnte den Eindruck erwecken, als sei meine Beschäftigung mit Mozarts
Opernwerk vor allem eine solitäre, gar in erster Linie eine akademische. Aber dem ist
nicht so. Zum Beispiel gehörte ich einem Freundeskreis an, der eine Weile lang eine
sehr nette illegale Bar in Berlin betrieb, in der im kleinen Kreis immer phantastisch
gefeiert wurde - bis das Haus saniert wurde - eine übliche „Berliner“ Geschichte.
Einige aus diesem losen Kreis waren Sänger und sangen am Liebsten Mozart-Arien besonders gerne Arien aus „Don Giovanni“, was natürlich bei mir auf offene Ohren
stieß. So kam es, dass wir oft - in einem ganz und gar „unklassischen Rahmen“ - wild
bis in den Morgen zu Mozart tanzten und feierten.
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Dementsprechend abgerockt sind die Platten, die bei meinen Großeltern einen so
unendlich langen Winterschlaf gehalten hatten: 213 Jahre nach ihrer Entstehung
(1787, Uraufführung von „Don Giovanni“ in Prag) hatte ich diese Musik für mich
entdeckt - und vermutlich um die 30 Jahre hatte sie bei meinen Großeltern, ohne je
angehört zu werden, überdauert. Meine Großeltern hatten die Oper vielleicht um
meine Geburt herum gekauft oder geschenkt bekommen.
Ich hingegen habe die vier Don Giovanni-LPs innerhalb von wenigen Jahren
vollkommen verschlissen.
Plötzlich bin ich da, in Salzburg. Ich dachte, im Mozartland. Aber hier verdrehen alle
Einheimischen die Augen, wenn ein Wort nur mit der Silbe „Mo“ anfängt.
Mozarts Wohnhaus
In Mozarts Wohnhaus ist es so trubelig, dass sich irgendeine Art von Nachdenken
nicht einstellen mag. Nur retrospektiver Sozialneid kommt mir zu Ohren: SO ein
großes schönes Arbeitszimmer wie Wolfgang Amadeus hätte ich auch gern. Naja,
immerhin hat das Zimmer hier ja auch zu etwas geführt. Wer weiß, was der dicke
Familienvater neben mir im Jeansanzug mit Schirmmütze da zustande gebracht
hätte. Einen Moment überlegte ich, in welcher Weise Räume die Kunstproduktion
beeinflussen, was Mozart wohl manchmal gedacht hat, hier, in diesem schönen
großen, hellen, sehr städtischen Musikzimmer. Ob er die Stimmen von draußen
gehört hat. Kutschen, Glocken, all das. Oder ob er nichts davon gehört hat, wenn er
im Arbeitsrausch war. Immer heißt es: die Evolution hätte den Menschen keineswegs
optimal ausgestattet, zum Beispiel seine Ohren könne der Mensch nicht schließen,
anders als die Augen. Aber das stimmt nicht, die Ohren horchen auf die Gedanken.
Und dann hört man keine Stimmen mehr, sondern Musik.
Für Deutsche hat Österreich die Reputation, ein merkwürdiges Land zu sein, ein
Land mit seltsamen Bewohnern und Sitten. So verwunderte es mich nicht, mal in
Wien auf eine Art Sekte gestoßen zu sein, die sich „Die Mauer“ nennt und sich, sie
besteht seit Mozarts Tod, mit verschiedenen Theorien zu seinem Tod beschäftigt.
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„Die Mauer“ ist eigentlich die Abkürzung für „Die Mauer des Schweigens“. Dass
Mozart Opfer eines Mords wurde, ist für die Mitglieder glasklar.
Aber wenn man, wie ich, aus Berlin kommt, denkt man nicht zuerst an „Die Mauer
des Schweigens“, sondern an die Mauer. Manchmal habe ich, hier in Salzburg, das
Gefühl, aus einem fernen Land zu stammen.
Open Air
Wenn man durch Salzburg läuft hört man – im Vergleich zu Berlin – sehr viel Musik.
Auch in Berlin gibt es natürlich viel zu hören: Aus heruntergekurbelten
Autoschreiben dröhnt Drum `n Bass oder Metal, aus der Wohnung des Nachbarn
monoton der immer gleiche Elektro-Pop, vom Italiener neben an scheppernder ItaloPop, aus der Peepshow eine Straße weiter jeden Tag die gleiche Säusel-PlinkerBimbim-Kaufhaus-Mucke, aus der Würstchenbude um die Ecke – sehr laut – Heino.
Und zwar das schlimme Lied „Das Polenmädchen“. So in etwa in Berlin.
Wie anders die akustische Kulisse in Salzburg: Die Studenten im Mozarteum üben,
Straßenmusiker (erstaunlich gute) treten auf, überall, hinter Türen und Treppen,
Giebeln
und
Dächern,
dringt
Musik.
Meist
klassische
–
es
hat
etwas
Rückwärtsgewandes, sicher, und doch scheint die Stadt von einem Vorhang aus
Musik von der Außenwelt abgeschirmt – das hat etwas befremdlich liebliches, und
ist doch auch betörend.
Die Kunst-Burg:
Zu Burgen habe ich ein spezielles Verhältnis. Manche würden sagen ein
traumatisches, andere ein enges. Ich habe das übliche Schicksal von Kindern mit
bildungsbürgerlichen Eltern erlitten – ich musste als Kind hunderte von Burgen,
Kirchen, Domen, Kathedralen, Grüften, Friedhöfen und so weiter besuchen. Eltern
überschätzen dabei oft das Interesse von Kindern an alten musealen Gebäuden oder
Plätzen – Vergangenheit hat für diejenigen, die selber kaum eine besitzen, eben noch
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keinen großen Wert „an sich“. Auch überschätzen Eltern gern die Lust von Kindern,
ins Detail zu gehen. Als Kind waren Burgen für mich Burgen und Punkt. Ein paar
Unterschiede machte ich schon: Es gab Ruinenburgen und „heile“ Burgen, es gab
„doofe“, das waren welche mit besonders vielen Treppen, deren Besuch wir im
Hochsommer absolvierten, und „ganz schöne“, das waren die, deren Besuchszeit
überschaubar war und ihn denen ich weder fror noch schwitzte.
Alle Burgen hatten etwas gemeinsam: es waren unbedingt Erwachsenenorte, Orte, an
denen man gnadenlos belehrt wurde, manchmal auch in Sprachen, die man gerade
erst in der Schule erlernen sollte – jedenfalls niemals Orte, die etwas wohnliches
ausstrahlten, an denen man „spielen“ konnte.
Das sollte ich jetzt doch noch mal nachholen können:
Denn die Sommerakademie findet – was eine sehr, sehr gute Wahl ist - nicht in
üblichen universitären, bemüht neutralen Langweilerräumen statt, sondern an so
malerischen besonderen Orten wie der Hohensalzburg und der Alten Saline.
Plötzlich werden solche erhabenen Orte auf menschliches Maß reduziert, werden
wirklich begeh- und bewohn- bzw. „bespiel“-bar, werden Orte, an denen
Experimente – Gegenwart – stattfinden kann.
Vor langer Zeit hatte eine der Bands, in der mein Bruder spielt, in Berlin in einer
Kirche gespielt – da schon dachte ich, dass man es mit der Traditionswahrung nicht
übertreiben, sondern diese schönen Orte, wenn die Zahl der Kirchenbesucher
dramatisch nachlässt, eben anderen Zwecken übergeben sollte. Gefeiert wird eben zu
verschiedenen Zeiten und von unterschiedlichen Generationen auf jeweils andere
Weise. So gefiel es mir sehr gut, dass man die Hohensalzburg nicht nur nutzt, um
Schwertersammlungen, Kerker, Folterwerkzeug und Alte Stiche zu zeigen, sondern
als einen Ort, der jetzt, in der Gegenwart, lebendig wird – eben nicht auf museale,
sondern auf kreative Art.
Die Alte Saline
ist einer der schönsten Orte, die ich in den letzten Jahren besucht habe. So sehr die
Burg im touristischen Zentrum liegt, so fern von all dem fühlt man sich in Hallein,
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die kleine Stadt, in der das Alte Saline liegt. Hier kann man meinen, wieder ins 19.
Jahrhundert abgestiegen zu sein.
Als ich zum ersten Mal die Alte Saline betrete, ist es mittags, und ich bin überrascht,
wie kühl es hier ist. Gleichzeitig bin ich vom intensiven Salzgeruch überwältigt. Wie
die Hochensalzburg ist auch dies ein besonderer Ort, der einerseits einen sehr
starken Eigencharakter besitzt, selbst Kunstwerk ist, gleichzeitig aber eine
erstaunliche Ruhe in seinem Inneren offenbart, die dem Arbeitenden doch nicht den
Blick auf das eigene verstellt, sondern vielmehr öffnet. Es gibt ja auch Orte, deren
Präsenz einen erdrückt.
Als ich die Alte Saline betrete, denke ich: Hier einmal arbeiten zu können! Ich gönne
es den Malern, hier wochenlang arbeiten zu können und bin doch ein bisschen
neidisch... hier einmal schreiben... und wenn es nur ein paar Stunden sind. Die
Gedanken werden lang, strecken sich aus wie Abend-Schatten, reichen weit über das
Alltägliche hinaus mit dem Blick auf die Berge von Salz, auf die Kostbarkeit des
Salzes, seine Stummheit, seine merkwürdige Reinheit, es strahlt etwas Unberührtes,
Unberührbares, fast klösterliches aus, dabei ist es als Handelsprodukt auch ganz
weltlich, doch in der Alten Saline herrscht für mich die gleiche Erhabenheit wie in
Tropfsteinhöhlen, dieses Gefühl, plötzlich mit der Ewigkeit auf einer zeitlichräumlichen Horizontale zu sein, ein Stück mehr als nur immer ich selbst zu sein,
vielleicht kann man hier, an diesem Ort, stärker Diener der (eigenen) Kunst sein als
an anderen Orten, die das Ego weniger transzendieren.
Ein paar Salzgedichte:
Salt I (Mermaids singing in the evening, leaving the coastline)
"I’m parting but he is still
with me
in my tears within
my tears he’s the salty taste
in my memory of sweatwater-times
he’s the reason to cry
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and the sense of crying and the essence
of it as well: crystallizing on my cheeks he is
the salt - he IS my tears
and when I cry
underwater I lose him but not in a painful
but in a relieving way
for he ocean
is all.“
Salt II (Love Poem)
Here we collect
here we keep
here we rinse
here we scatter
here we mix our salt
our sadness
together
Salt III (big blur / urban mermaid)
She writes her diary
puts photos in
of him
she cries
distorts pictures
blurs letters
her life
her face all smeared
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crying she
rewrites her life
with nothing but
salt
Salt IV (Immigrants / European Saltwater-Border)
"We swim on and on
out into nowhere
we swim from ocean
to ocean
calling our names
loudly under
the black sky
hide our future
behind our front teeth
we swim under the black
sky and die
of thirst"
Salt V (Little boy, narcisstical phase)
„I'm outside-inside my skin costume
in a kind of yellow submarine
I play with water
I urinate masturbate watch my
blood circulation
examine my liquids
I am fascinated by my
sweetwater paradise
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SALT and DANGER are unknown to me.“
Last Salt (Salt VI)
When the Beatles sung:
She’s leaving home bye bye
a father at an Edward-Hopper restaurant thought
about his daughter who left home without
a word (and him without being able to shed tears):
I wish I could swallop her like whiskey
For the moment no more Salt.
Künstlerhaus Salzburg
Das Künstlerhaus ist im Moment okkupiert von Dan Perjovschis wunderbaren,
sarkastischen,
melancholischen,
philosophischen,
provokanten
comic-artigen
Zeichnungen – Statements zur Lage der Welt, zum Verhältnis von Kapitalismus und
Kommunismus, von Individuum und Kollektiv in einer Gesellschaft, von Urbanität
und Provinzialität, von gescheiterten und manchmal auch in Erfüllung gegangenen
Träumen, von Kunst und Geld/Markt, vom Verhältnis der USA zu Europa und
umgekehrt – ich staune, wie Perjovschi immer wieder verschiedenste Orte, banale
und sakrale, in das Netz seiner eigenen Bildsprache verwebt, verstrickt, sich
aneignet. Toll.
Hohensalzburgtrubel (Schreibworkshop)
An einem Samstag gebe ich einen Schreibworkshop. Es ist einer wenigen sonnigen
Tage, den ich in Salzburg erleben soll. Dementsprechend groß ist der Andrang auf
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der Burg. Touristen. Ich flüchte schnell vor meinesgleichen durch das schwere Tor
ins Treppenhaus, in die Burg, eile die Stufen hoch.
Die Kursteilnehmer finden sich langsam ein. So viele Menschen, wie sich draußen
drängeln, schieben und schubsen, so wenige sind es hier im dunklen, kühlen
Innenraum – der wie ein Antiraum zum Außenraum zu wirken scheint, alle
Gesetzmäßigkeiten, die draußen gelten, scheinen hier innen verkehrt. Es herrscht
eine gerade zu andächtige Stille, ich befinde mich an einem Ort der Ruhe. So wie der
Einzelner draußen Teil der Masse wird, wird er hier, als Einzelner, hervorgehoben,
steht für sich. Jeder stellt sich vor, die Kursteilnehmer sind im Alter von Anfang
Zwanzig bis Anfang Siebzig, jeder ganz anders. Wir beginnen. Ich stelle
Schreibaufgaben wie zum Beispiel die Übung: Beschreiben Sie die Wohnung einer
alten Dame, der man ansieht – der Wohnung, nicht der Dame, das ist das
Entscheidende - , dass die Dame sich noch einmal auf ihre alten Tage verliebt hat.
Es geht mir darum, zu üben, wie Beschreibungen nicht um ihrer selbst willen in
einem Text untergebracht werden, sondern ihrerseits die Handlung vorantreiben.
Und wie man die Psychologie einer Figur nicht plump „ausspricht“, sondern
indirekt dem Leser nahe bringt. Und schon wird losgekritzelt. Bis auf ein Student,
der seinen Lap Top mitgebracht hat, schreiben alle per Hand. Plötzlich ist nichts
mehr zu hören, außer diesem beharrlichen Knirschen, wenn sich Stifte in Papier
festbeißen, wenn Stifte Papier bezwingen, wenn Gedanken Wirklichkeit werden,
wenn Papier anfängt zu leben. Die Burgmauern sind so dick, dass man hier das
Tohuwabohu draußen nur durch die kleinen Fenster sieht, aber kaum hört – ein
Stummfilm scheint vor mir abzulaufen. Ich bewege mich kaum, will mit keinem
Knirschen meines Stuhls meine Studenten aus ihren Gedanken reißen. Mein Blick
gleitet nur immer wieder zu den Himmelsquadraten vor mir. Einen Moment lang
vergesse ich, wer ich bin, wie ich heiße, wie alt ich bin, in welcher Zeit ich lebe. Es ist
einer dieser besonderen Momente, die manche vielleicht als religiös empfinden, ich
nenne
sie
anthropologische
individualisierten
Überbau
Momente,
vergisst
und
in
denen
wie
mit
man
einem
seinen
gesamten
Aufzug
einige
Seelenstockwerke tiefer fährt: da bin ich in der Burg, es gibt keine Computer und
keine Bahn zur Burg, es gibt nur die Mauern der Burg, den Himmel, Sonne und die
Jahreszeiten. Und Burgbewohner. Und, ja, was es schon gibt es so etwas wie eine
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Sommerakademie, eine Akademie für Maler. Und Gelehrte (Schriftsteller sagte man
damals noch nicht). Ich höre sie hinter mir kritzeln. Und kritzeln. Die Burg hat mich
verschluckt.
Meine Studenten und ich arbeiten 6 ½ Stunden in völliger Ruhe – sie schreiben alle –
aus dem Stand, aus der Burg heraus – wirklich gute Texte, die sie sich nach jeder
Aufgabenrunde gegenseitig vorlesen. Ich schlage eine Mittagspause vor, doch meine
Studenten meinen, nö, nur höchstens eine Viertelstunde. Eine Studentin hat am
nächsten Morgen Schmerzen in der rechten Hand vom vielen Schreiben. Ich fühle
mich etwas schuldig. Doch sie, die Burg, ist schuld.
Finissage
Die Finissage der Kurse im ersten Teil der Sommerakademie gibt mir Gelegenheit, zu
sehen, was in diesen Wochen erarbeitet wurde. Die Finissage ist ein wunderbares
Fest, das ich nicht vergessen werde. Ich laufe durch die Gänge und Flure der Burg,
die mir eigentümlich vertraut geworden ist, noch nie bin ich durch eine Burg wie
durch ein Berliner Wohnlabyrinth gewieselt.
Besonders begeistert bin ich von den Drucken. Die Arbeiten der Studierenden der
Sommerakademie sind so gut, so wunderbar, dass ich andächtig vor ihnen verharre,
eigentlich gar nicht mehr aufnahmefähig bin. Doch dann denke ich nachher das
Gleiche über die Arbeiten der Comic-Klasse von Dan und Lia Perjovschi – und
danach über die – sehr guten – abstrakten Bilder der Klasse von Rebecca Morris.
Das Niveau der Arbeiten ist insgesamt sehr hoch, man kommt nicht umhin zu
vermuten, dass sowohl die Alte Saline als auch die Hohensalzburg Orte sind, an
denen eine besondere Konzentration möglich ist. Vielleicht, weil beide Orte mit Salz
zu tun haben, also mit Verdichtung, mit Kristallisationsprozessen, mit Reduktion auf
das Wesentliche. Selten so viel gute Kunst auf so begrenztem Raum gesehen.
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Café Bazar
Gott sei Dank habe ich keine Scheu, touristische Orte aufzusuchen, im Gegenteil,
Touristenorte sind ja nicht per se doof, was würde einem entgehen, wenn man sie
aus reiner Misanthropie meiden würde! Also bin ich schnurstracks in das
wunderschöne, nostalgische Café Bazar gegangen, um mich mit meinen Salzburger
Kollegen und Bekannten (die, wenn sie nicht ins Café Wernbacher gehen auch keine
Scheu vorm Cafe Bazar haben) zu treffen und um viel Geld für allerdings gute heiße
Schokolade und guten Kuchen auszugeben. Solche Ausgaben rechtfertige ich vor mir
selber stets damit, dass ich als Schriftstellerin ja schließlich auch Recherchen auf dem
Gebiet der Schokolade unternehmen müsse – für den großen Schokoladenroman in
ferner Zukunft. Und so weiter.
Im Café Bazar gibt es Mo – jetzt verzieht der Salzburger schon sein Gesicht ZARTschnitte zu essen, also Kuchen mit einer Pistaziencremeschicht. Wenn man so
etwas isst, kann man nicht mehr gut denken – je besser die Süßspeisenqualität in
einem Café, um so träger, teilnahmsloser, saturierter sein Publikum. Für das Café
Bazar trifft diese Gleichung unbedingt zu.
Bahn zur Hohensalzburg (nightmare)
Zur Hohensalzburg muss man mit einer Bahn hochfahren. Vor dieser Bahn habe ich
höchsten Respekt. Sie fährt den Berg beinahe senkrecht hoch, und ich möchte mir
nicht vorstellen, was passiert, wenn einmal die Schwerkraft die Elektrizität besiegt.
Manchmal habe ich Sorge, über merkwürdige geistige Energien zu verfügen:
Unlängst stand ich in Berlin in einer elektrischen Drehtür – und zwar in der
Akademie der Künste am Pariser Platz, wenige Meter neben dem Brandenburger
Tor, sicher ein Ort, der seine Ein- und Ausgänge gut wartet - und dachte: Jetzt bleibt
sie stehen und ich kann hier nicht raus. Noch nie in meinem Leben ist mir so etwas
passiert, doch in genau diesem Moment blieb sie stehen.
In Salzburg habe ich jedes Mal, wenn ich zur Festung hochfuhr, gedacht: Wenn die
Bahn bloß nicht stehen bleibt... oder herunterstürzt ... Mein Misstrauen in die
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Verlässlichkeit des Bahn-Unternehmens wurde noch dadurch genährt, dass ich jedes
Mal einen anderen Preis für die gleiche Strecke zahlen musste. Meine Ausgaben
schwankten zwischen 14 Euro und keinem Euro. Für die gleiche Leistung. Mein
Vertrauen in den Bahnbetreiber hielt sich also in Grenzen. Und tatsächlich: Am
letzten Tag auf der Burg, bei der öffentlichen Finissage, bleibt die Bahn stecken!
Allerdings bin ich – Gott sei Dank – nicht in einem der Waggons selbst, sondern
stehe noch oben an der Plattform der Hohensalzburg. Aber ich blicke die ganze Zeit
auf die schief auf dem Abhang stehende hell erleuchtete Bahn mit den aufgeregt
winkenden, gestikulierenden, verzweifelt wirkenden Menschen. Da ich sehr
emphatisch bin, fühlte es sich für mich fast so an, als sei ich selber eingeschlossen. Es
ist 22.00 Uhr und stockfinster draußen. Sehr angenehm finde ich die Vorstellung
nicht, den Berg vielleicht zu Fuß heruntergehen zu müssen. Immer wieder renne ich
zum Bahnwärterhäuschen, klopfe an die Scheibe, frage, was da los ist (man hält mich
wahrscheinlich schon für die Heilige Penetrantia). Die Antworten sind nicht
beruhigend „Das wissen wir auch nicht.“
„Geduld,
Madame.“
Eine
geschlagene
Viertelstunde
passiert
nichts.
Im
Bahnwärterhäuschen wird in einem Fort hektisch telefoniert. Irgendwann, plötzlich,
setzt sich die Bahn zuckelnd wieder in Bewegung. Jetzt tritt der Bahnwärter aus
seinem Häuschen und sagt zu uns Wartenden, wir sind langsam eine richtig große
Gruppe: „Eigentlich müsste jetzt nichts mehr schief gehen, das war nur ein
Computerproblem, wissen Sie. Die beiden Züge sind computergesteuert“.
Ein Mann fragt, ob man wenigstens weiß, um was für ein Computerproblem es sich
handelte. Nicht, dass es wieder auftritt! Doch der Bahnwärter zuckt die Schultern
„jetzt fährt sie wieder.“
Man kann genauso gut an Gott wie an Computer glauben.
Krönungsmesse:
Im Dom habe ich die „Krönungsmesse“ von Mozart gehört. Hier wurde die Messe
vor über 230 Jahren zum ersten Mal aufgeführt. Ein erhabener Gedanke. Doch
berührt es einen wirklich zu denken: HIER war es? Oder ist es nicht nur eine fixe
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Idee, im Grunde unwichtig, weil nicht mehr nachvollziehbar? Die Räume, nur die
Räume sind geblieben, Gerippe der Zeit, menschenleer, mit wechselndem Personal.
Was sind die Räume dann, Kleiderständer? Jeder in Berlin war ergriffen als ich
erzählte, ich habe die „Krönungsmesse“ am Ort ihrer Uraufführung gehört, doch ich
fragte mich mehr und mehr, warum und was mich genau daran berührt hatte, ob ich
nicht nur der Idee anheim gefallen war. Ich habe keine Vorstellung, welche
Menschen wie gekleidet, welche Gespräche führend, damals hier gesessen haben.
Aber die Musik, sie ist die Gleiche, die Unveränderliche. Vielleicht eben weil sie ortlos ist. Können nur Orte altern, nicht aber Ideen?
Constanze-Kugeln:
Es gibt in Salzburg nicht nur Mozartkugeln, sondern auch Constanze-Kugeln.
Sie sind noch süßer. Das Papier ist azurblau. Zwei, drei von ihnen und man
verzichtet sofort auf ein ganzes Mittagessen, man streckt die Waffen. Ich möchte
feuerrote Don-Giovanni-Kugeln. Schoko mit einer Prise Pfeffer. Mit Pfeffer und
Rosengeschmack, eine echte Kavalierspraline. Und groß, vielleicht ein Luft-Ei, mit
Hohlkammern, sollte sie auch sein, Don Giovanni war schließlich ein Prahlhans
sondergleichen.
Regenloch:
Dass Salzburg ein derartiges Regenloch ist, wusste ich nicht bei der Ankunft. Ich
hätte es mir jedoch denken können: eine Stadt, so nahe vor den Bergen gelegen...
Der Regen wird zum Teil der Stadt wie die Festungsbahn oder die ewigen
Mozartkugeln. Der Regen ist ein skulpturaler Teppich von oben, verkehrt herum
aufgehängt an der Himmelsplane – der Regen und Salzburg, so gehen ineinander
über, sie zerfließen, sie vermengen sich mit dem Grund der Salzach und der vielen
Seen, ein großes schokoladiges Einerlei. Bis auf die Burg. Sie bleibt für sich.
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Die Burgmauern:
Oben auf der Burg spürt man, wie dick die Mauern sind, die die Festung umgeben.
Ich denke, nur wegen der dicken Mauern (auch wegen der guten Studenten und
Lehrkräfte) war es möglich, trotz touristischen Highlights, so konzentriert auf der
Burg zu arbeiten. Die Außenwände sind teilweise meterdick. Wenn die Burg einen
verschluckt hat, lebt es sich gut in ihr. Auch wenn man in sicherem Abstand zu ihr
steht, zum Beispiel mit Blick von der Salzach aus, ist der Anblick erfreulich. Aber
direkt vor oder nach hier, ist sie ein zu mächtiges Gegenüber, man wünscht sich
mehr und nicht weniger Freiheit.
Doch Martin Amanshauser, der Schriftsteller und Journalist, ein geschätzter Kollege,
ist „im Schatten der Burg“ aufgewachsen - . Wie sich das angefühlt haben muss.
Ist es so wie bei Riesen, dass in ihrer größten Nähe eine Art blinder Fleck, eine
Nische herrscht, eine Art Freiheit im Schatten der Krone? Oder ist der Himmel
einfach immer nur dunkler von diesem Schatten? Oder sieht man die Burg gar nicht
mehr? Wie muss es sich leben, als Kind, am Hang der Burg? Ich werde die Frage
nicht los, ich, gross geworden in der brandenburgischen Steppe – im Schatten auch,
einer anderen Mauer.
Wolken:
In
der
Alten
Saline
findet
ein
Malkurs
statt.
Die
Studenten
malen
Himmelsausschnitte, Wolkenbänke vom gleichen Motiv. Zwanzig mal an den
Wänden der Alten Saline. Und so entfaltet sich vor mir eine Himmelslandschaft,
keine gleicht der anderen, jeder setzt andere Nuancen, der eine dramatisiert den
Himmel, der andere lässt ihn nüchtern erscheinen, der nächste haucht ihm Sommer
ein, der übernächste Kälte – ein großartiges Himmelsmosaik, zusammengesetzt aus
den vielen einzelnen Himmelsquadraten.
Ein Stockwerk tiefer ruht das Salz.
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Zauberflötenspielplatz
Einen solchen kann es nur in Salzburg geben. Er ist wirklich wunderbar – es gibt eine
Art begehbare Metallfläche, die an verschiedenen Stellen unterschiedlich hohe oder
tiefe Töne produziert, man kann eine kleine Melodie „erstampfen“ – jeden Tag, ob
bei Regen oder Hagel, springen mindestens so viele Erwachsene wie Kinder auf
diesem Klangbogen herum, ich turne schamlos mit.
Kulturschock
einen solche erlitt ich kurz nach meiner Ankunft in der Metropole Salzburg. Ich
machte einen ersten Erkundigungsspaziergang in der mir bislang unbekannten Stadt
– eh ich mich versah, stand ich im Schlosspark vor einer Trachtenmusikgruppe. Ich
dachte, so etwas gäbe es nur in den entlegensten Dörfern Österreichs und
Deutschlands, aber doch nicht in einer Stadt wie Salzburg! Tatsächlich schienen
keineswegs nur Touristen zuzuhören, sondern, im Gegenteil, ich hörte, wie sich
Einheimische in ihrer merkwürdigen Sprache darüber unterhielten, dass sie jeden
Sonntag hierherkämen, nur um diese Musikanten und andere Trachtengruppen zu
hören. Noch überraschter war ich, als ich mir die Musiker näher anschaute. In
meiner Vorstellung waren Trachtenkapellen etwas für dicke, grauhaarige Männer
mit struppigen Koteletten. Doch hier saßen und standen vornehmlich junge Leute!
Und sie spielten solch eine rückwärtsgewandte Heimatfolklorenmusik – voller
Begeisterung.
Neben mir stand ein Pärchen und wippte mit, die Frau trug eine Handtasche in Form
eines, ja, trübten mich schon meine Augen? - eines kleinen Bierfässchens. Es ist wahr,
ich habe es mit dem Handy fotografiert – eine kleines Holzbierfässchen als DesignHandtasche, mit Plastikblumengirlande on top.
Da tupfte ich mir die Stirn ab und ging erstmal zurück zu unserem Quartier, um eine
Pause von den Erkundungen einzulegen.
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Oskar Kokoschka
habe ich im Kunstgeschichts-Studium eine Weile lang verehrt, nicht nur wegen
seiner Gemälde wie „Das rote Ei“ oder „Anschluss – Alice in Wonderland“ oder
wegen seiner blau-grauen apokalyptischen Niemandslandschaften. Ich denke an
Details aus seinem mutigen Leben, seiner Flucht über viele Länder vor den Nazis,
seine Brandmarkung als entarteter Künstler, seine Hochzeit mit Olda Palkoská in
einem Luftschutzkeller im Londoner Exil. Ich denke an jenes geheimnisvolle
multiethnische Mittelosteuropa, dem er angehörte, das er repräsentierte – und das
untergegangen ist. 1953 gründete Kokoschka zusammen mit Friedrich Wels die
Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg als „Schule des
Sehens“
auf
der
Festung
Hohensalzburg.
Übrigens,
die
österreichische
Staatsbürgerschaft hat er erst 1975 wieder angenommen, fünf Jahre vor seinem Tod.
Die Terrasse vom Hotel Stein
hätten wir ohne Martin und Eva nie gefunden. Wir sitzen in diesem nostalgischen
Ambiente und blicken auf die Burg, die Berge, die Salzach. Wir könnten uns wie
Könige fühlen, träge wie wir Kuchen speisend aus altem Leder auf die alte Welt
schauen, nur ein Flugzeug stört das Bild – und der Tiger und der Husky neben uns.
Der anderthalbjährige Husky und der einjährige Tiger verhindern jedes Abgleiten in
andere Zeiten. Sie heißen eigentlich Jim und Emil, aber ihre Welt ist so viel
magischer, so viel phantastischer als meine Zeitreisen, das sie dagegen den
Charakter von Touri-Kutschfahrten in totsanierten Altstadtvierteln annehmen. Nie
wieder werde ich so reisen können wie ein Einjähriger, nie wieder werde ich ein
Tiger oder ein Husky sein können. Aber auf der Terrasse vom Hotel Stein fallen ein
paar Himmelssplitter immerhin genau in die Kaffeetassen.
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Café Wernbacher
von unserem Quartier um die Ecke gelegen in der Franz-Josef-Straße wirbt mit „Das
sind noch Zeiten ... Ankommen, Wohlfühlen, Zeit genießen, Loslassen. Freunde
treffen, Gespräche führen. Bücher, Zeitungen, Magazin lesen. Kaffeeduft liegt in der
Luft. Wernbacher“ und genauso ist die Stimmung dort. Man fühlt sich ein wenig in
die Siebziger zurückversetzt, keine hektischen Business-Gespräche auf dem Handy,
dafür gepflegter Müßiggang bei gutem Essen ohne zeitgeistigen Firlefanz und viel
raschelnden Zeitungen. Herrlich. Hier unterhalte ich mich mit Susanne Tiefenbacher
über Ausstellungen, Indienreisen und über österreichische Innenpolitik. Das
Publikum um uns herum ist eine angenehme Mischung aus Jung und Alt, kein
Szenevolk. Das Café sieht mit seinen dunklen Holzmöbeln auch noch aus wie ein
Café und nicht wie eine Wellnessoase oder ein Designfachgeschäft. Es ist so warm,
dass man noch auf der Straße sitzen kann. Für mich die Jahreszeit, in der ich von
Heißer Schokolade auf Eisschokolade umsteige. Wenn Susanne mal in Berlin ist,
steht eine Gegeneinladung in eines der – meist etwas hektischeren – Berliner
Kaffeehäuser an.
Rebecca Morris
ist eine großartige abstrakte Malerin, deren Werke ich durch eine Freundin in Berlin
kennen gelernt habe. Ich bin sehr neugierig auf die Künstlerin hinter den
großformatigen Gemälden, mit bunten stein- oder kristallartigen Gebilden vor
silbernen Wandschichten, diese Bilder, denen man doch, wie früher denen von
Clyfford Still, die Wüstenerfahrung ansieht. Und den Funken Las Vegas in all der
Kargheit. Dann lerne ich sie kennen. Rebecca Morris ist sehr klein und zierlich, ganz
ernst, auf eine Weise fast ein wenig humorlos, die ich nicht als unangenehm, sondern
als verschlossen empfinden würde – ernst, korrekt, humorlos nach außen. Je länger
wir miteinander sprechen, desto entgegenkommender wird sie. Sie ist ganz erstaunt,
dass man in Berlin ihre Werke so gut kennt, was ich über sie weiß. Am Ende lachen
wir.
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Destiny Deacon und Virginia Fraser:
widersprechen jeder These, dass Paare, deren Beziehung von langer Dauer ist, sich
visuell – oder habituell - einander angleichen. Doch in ihrer Zusammenarbeit
verschmelzen sie miteinander, ein seltenes Beispiel einer fruchtbaren, auf Dauer
angelegten Künstlerbeziehung.
Festspiele
„Das ist ja toll, dass ihr während der Festspiele in Salzburg seid!“, hörten wir schon
oft in Berlin. In Salzburg werden aus den „Festspielen“ die „Feschschschtspiele“,
daran hat sich das Ohr bald gewöhnt. Überall hängen die Plakate, die ganze Stadt
wartet auf die Festspiele. Mir gefällt so etwas, wenn für kurze Zeit einmal ein
kulturelles Großereignis eine ganze Stadt zu beherrschen scheint, so viel weltliche
Macht erlangt. Auch wenn diese Macht ohne den ökonomischen Gewinn für die
Stadt sicher nicht denken wäre. In Salzburg muss ich dann feststellen, dass meine
Vorstellungen von der Preishöhe der Tickets unrealistisch bzw. fahrlässig an Berliner
Niveau angelehnt war. Die günstigste Karte, die ich noch erwerben kann, kostet 150
Euro. Ich überlege – und passe. Und so wird mir unversehens ein besonderer Platz,
ein kostenloser! – zuteil, nämlich auf den Stufen zum Festspielhaus in den schönen
Stunden der Abenddämmerung. Da betreten sie die große Freilichtbühne – die Stadt
Salzburg – einer nach dem anderen, und ich studiere die Besucher, ein
ergreifenderes, aufwühlenderes, nachdenklich stimmenderes Bühnenereignis hätte
ich indoors niemals erleben können.
Lieblingsbesucher:
Die Dame mit dem grünen Samthut, so groß fast wie ein Regenschirm, dazu ein
Hündchen mit passendem Hütchen, ebenfalls aus grünem Samt
Der Herr im Dreiteiler – mit Monokol.
Das Frauenpärchen in rosa Tüll.
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Der Mann in dem weißen eleganten Sommeranzug, unter dem er ein Che Guevara-TShirt trägt.
Das Paar, das sich streitend das Festspielhaus betritt – und eine halbe Stunde später,
streitend, die Aufführung verlässt.
Die Menschen, die unter einem eleganten Jackett ein eher billig aussehendes Hemd
tragen. Die Menschen, die unter einem billig aussehendem Jackett ein teures Hemd
tragen. Die vielen Menschen, die unter dem teurem Jackett ein teures Hemd tragen.
Der eine Mensch, der unter einem Kapuzensweatshirt ein zerrissenes T-Shirt trägt.
Die
vielen
Stöckelschuhe
erzeugen
eine
Sinfonie
besonderer
Art,
ein
erwartungsfrohes Geklapper dringt durch die Gassen und Straßen und verdichtet
sich zu einem hektischen, trommelnden Staccato dicht vor dem Festspielhaus.
Vladimir Vertlib
ist ein österreichischer Schriftstellerkollege mit russisch-jüdischer Herkunft. Er lebt in
Salzburg und in Wien und hat Romane wie „Abschiebung“, „Zwischenstationen“
über seine lange Emigrationsgeschichte, „Das besondere Gedächtnis der Rosa
Masur“, „Am Morgen des Zwölften Tages“ oder die Erzählungen „Mein erster
Mörder – Lebensgeschichten“ geschrieben. Wenn man ihm zuhört, könnte man
denken, er sei viel älter als er ist – er ist 1966 geboren. Er gehört zu jenen Männern,
die immer gleich alt aussehen. Ich frage mich, wie man so gemütlich sein kann, sich
so viel Zeit beim Sprechen, beim Kaffee trinken lassen kann, und gleichzeitig so
unheimlich produktiv sein kann. Vladimir sitzt mir im vollen Café Bazar gegenüber,
lauter Eindrücke strömen auf ihn ein, oder – vielleicht eben auch nicht. Das ist eine
besondere Gabe: In der Welt und doch völlig bei sich sein, sich scheinbar nur dann
anrühren, tangieren, stören zu lassen, wenn es einem gerade passt.
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Mondsee
Nicht vom Land aus den See gesehen, sondern vom See aus – auf dem Schiff – das
Land. Kegelige Berge, wie Vulkane, doch es ist nur der Schafsberg im Wolfskostüm,
sattes Grün wie man es in Berlin kaum sieht, ich fühle mich wie in den Tropen. An
den Ufern hektarweise Seerosen, wo sind wir nur, an was für einen verwunschenen
Ort?
Irrsee
Auf dem Weg zum Irrsee haben wir uns verirrt. Vermutlich sind wir dreimal um den
Irrsee gefahren, ohne es zu merken, im Glauben, es handele sich dabei um einen
anderen See. Wenn man aus der brandenburgischen Steppe kommt, wie wir,
verwirren einen so viele Seen mit verwirrend romantischen Namen. Hier, in Berlin,
heißen die Seen „Müggelsee“, „Lietzensee“ oder „Krumme Lanke“.
Am Ende unserer Suche nach dem Irrsee dämmert es schon, doch dann sehen wir
den zartblauen See unter einem hartblauen Himmel, unser Blick verirrt sich an der
feinen, flimmernden Linie zwischen Wasser und Luft – und genau so etwas habe ich
gesucht, für diese Sekunden, bevor die Blaues in einander versinken, bevor wir unser
Auto kaum mehr in der Dunkelheit finden, hat sich der lange Ausflug zum Irrsee
gelohnt.
Akustischer Goldstaub:
Vielleicht komme ich auf solche kitschigen Bilder, weil ich, wie ich erst vor wenigen
Jahren erfahren habe, Synästhetikerin bin. Der Begriff bezeichnet Menschen, bei
denen verschiedene Sinneswahrnehmung miteinander gekoppelt sind oder auch
Abstrakta mit Sinneswahrnehmungen. Anders als Psychotiker, die auch oft
Wahrnehmungsverschmelzungen erleben, sind Synästhetiker eigentlich ganz
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normal, sie stören sich nur manchmal an Dingen wie rotem Essen an einem Dienstag
oder einem grünen Kleid an einem Montag (würde ich nie anziehen).
Als Kind wunderte ich mich schon immer, warum für andere Kinder die 8 nicht rot
sei oder die drei gelb, warum das A nicht grün und ein Mädchen und das N nicht
braun und ein Junge sei. Bei mir haben alle Buchstaben und Zahlen, Wochentage
und Monate Farben und Geschlechter – und Musik sehe ich auch sehr oft in Farben.
Wenn ich Fieber habe, wird es richtig verrückt, dann geht es richtig ab – ich habe nie
Drogen genommen, nie Interesse an Drogen gehabt (abgesehen mal von meiner
Vorliebe für Schokolade), hab ich nie vermisst. Das Wort Schokolade ist überhaupt
nicht braun bei mir, weshalb mir die Mozartschnitte aus dem Café Bazar eigentlich
am Besten gefällt. Vor allem mit Musik im Hintergrund.
© Tanja Dückers, Juli-November, Salzburg-Berlin 2010
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