Markus Marterbauer, WIFO, 16.6.2003 Wachstumspolitik – notwendig und möglich 1. Schleichende Wirtschaftskrise in Österreich und der EU Die österreichische Wirtschaft wächst im Jahr 2003 zum dritten Mal in Folge um nur etwa 1%. Die Wohlfahrtsverluste dieser schleichenden Wirtschaftskrise entsprechen jenen der großen Rezessionen der Nachkriegszeit (1975, 1981/82, 1993). Die Zahl der Arbeitssuchenden (Arbeitslose + Schulungsteilnehmer) wird im Jahresdurchschnitt 2003 um 63.000 (+28%) höher liegen als im Jahr 2000. Die wichtigste Ursache der anhaltenden Wachstumsschwäche ist der eklatante Mangel an Binnennachfrage. In den letzten beiden Jahren hat nur noch die Ausweitung des Exports zu einem - geringfügig - positiven Wirtschaftswachstum geführt. Derzeit gibt es keine Anzeichen für einen Konjunkturaufschwung. 2004 droht das vierte aufeinanderfolgende Jahr wirtschaftlicher Stagnation. Auch in der EU schwächt sich das Wachstum seit mehr als zwei Jahren ab. Die Stagnation in der Binnennachfrage wird infolge der Stärke des Euro durch eine Abschwächung des Exportwachstums verstärkt. 2. Wachstumsinitiativen der Wirtschaftspolitik fehlen Die Wirtschaftspolitik der EU und Österreichs gehen von der Hoffnung aus, dass der Konjunkturaufschwung von selbst kommt. Diese Hoffnung ist unbegründet. Ohne wirtschaftspolitische Impulse wird es zu keiner konjunkturellen Erholung kommen. Am wichtigsten ist es, ein Signal an Investoren und Konsumenten zu senden: Die Wirtschaftspolitik ist bereit, Verantwortung für mehr Wachstum zu übernehmen. Nur so können die Erwartungen der Unternehmen und privaten Haushalten stabilisiert werden. Förderung von Investitionen der Unternehmen und Verhinderung von "Angstsparen" durch die privaten Haushalte bilden die zentralen Aufgaben für die Politik. Die Handlungsspielräume für eine aktive Wachstumspolitik sind im eng verflochtenen Binnenmarkt klarerweise auf EU-Ebene größer als auf nationalstaatlicher Ebene, sie bestehen aber auf beiden Politikebenen. Öffentliche Investitionsausgaben wirken in der gegenwärtigen Situation rascher und direkter auf die Konjunktur als Steuersenkungen oder Zinssenkungen. 3. Schlüsselgröße öffentliche Investitionen In der Rezession 1993 hat EU-Kommissionspräsident Delors mit der Präsentation umfangreicher Pläne für Investitionen in Transeuropäischen Netze der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur Signale für die Wachstumspolitik gegeben, damit das Vertrauen der privaten Akteure gestärkt und die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftspolitik verbessert. Eine derartige Initiative wäre auch heute geboten. Die Herausforderungen für die europäische Infrastruktur sind im Zuge der Erweiterung der EU enorm. Ein Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur verbessert die langfristigen Wachstumschancen der Beitrittsländer und damit auch jene ihrer westeuropäischen Handelspartner. Er hat aber auch kurzfristige Konjunktur- – 2 – effekte. Eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen um 10 Mrd. € führt auf EU -Ebene zu einem Anstieg des BIP um etwa 25 Mrd. € (der Investitionsmultiplikator beträgt etwa 2 1/2). Auf nationalstaatlicher Ebene sind die Wachstumseffekte öffentlicher Investitionen geringer, der Multiplikator bleibt aber deutlich über 1. Eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen in Österreich um 1 Mrd. € würde zu einer Ausweitung des BIP um etwa 1 1/2 Mrd. €, einem Anstieg der Zahl der Beschäftigten um 10.000, einem Rückgang der Arbeitslosigkeit um 5.000 Personen und einer Budgetbelastung um 600 Mill. € führen. Wenn es aber gelingt, auch die anderen EU-Länder zu einer Erhöhung ihrer Investitionen zu bewegen, dann wird der volle Investitionsmultiplikator wirksam, das österreichische BIP steigt um 2 1/2 Mrd. €. Entscheidend für das Ausmaß der langfristigen Wachstums- und Beschäftigungseffekte ist, wohin diese öffentlichen Investitionen fließen. Die Richtung sollte auf Basis der Lissabon-Ziele der Europäischen Union klar sein: - Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur in Richtung Erweiterungsländer, weil dort das wichtigste Nachfragepotential für die österreichische Wirtschaft liegt. Der Wachstumseffekt dieses Impulses ist besonders hoch, weil zusätzliche private Investitionen ausgelöst werden (Akzeleratorwirkung). - Verbesserung des Qualifizierungssystems, insbesondere der Trainingsmaßnahmen für Arbeitslose und der beruflichen Weiterbildung, weil die Qualität des Bildungssystems die wichtigste Determinante der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft bildet. - Offensive für Innovation und Forschung, die langfristig das Produktivitäts- und Einkommenswachstum beeinflussen. 4. Verteilungssituation verbessern Im Vergleich mit einer Ausweitung öffentlicher Investitionen sind die Wachstumseffekte einer Steuersenkung in der gegenwärtigen Phase verbreiteter Unsicherheiten deutlich kleiner. Die Gefahr, dass die durch steuerliche Entlastungen erhöhten verfügbaren Einkommen in stärkerem Ausmass zur Anhebung der Sparquote genutzt werden, ist gerade in einer Phase der Verunsicherung der Konsumenten (Pensionsreform) groß. Eine Abgabensenkung wirkt aber umso positiver auf das BIP, je stärker die unteren Einkommensschichten von ihr profitieren. Denn die Sparquote am verfügbaren Einkommen liegt beim unteren Einkommensdrittel bei null, beim oberen Einkommensdrittel bei 15%. Aufgrund der höheren Konsum- und der geringeren Importneigung im unteren Einkommensdrittel führt jede positive Umverteilung von Einkommen zu einem expansiven gesamtwirtschaftlichen Effekt. Im Gegensatz dazu weitet sich derzeit die Schere in der Einkommens- und Vermögensverteilung weiter aus. Die Markteinkommen werden ungleicher. Der öffentliche Sektor hat verschiedene Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken. Am wirksamsten ist (Bildungssystem, die Bereitstellung Gesundheitssystem, hochqualitativer Kinderbetreuung öffentlicher etc.), die den Dienstleistungen Beziehern und Bezieherinnen kleiner Einkommen in besonderem Maß zugutekommen und es ihnen ermöglicht, Erwerbsarbeit mit höherem Einkommen aufzunehmen. – 3 – 5. Verbesserung der Einnahmen- und Ausgabenstrukturen des Budgets Die Verbesserung der Verteilungswirkungen des Budgets muss bei der Veränderung der Budgetstrukturen ansetzen. In diesem Bereich verbergen sich gleichzeitig erhebliche Potentiale für die Wachstums- und Beschäftigungspolitik. Einige Beispiele für positive Strukturreformen und Mittelumschichtungen: (1) Förderung der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft statt Unternehmenssteuersenkung: Die Verbreitung und Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, das Innovationssystem sind langfristig zentrale Determinanten für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. In diesen Bereichen bestehen erhebliche Ineffizienzen (wenig fokussiertes Fördersystem, drei Ministerien mit F&E-Zuständigkeit etc.), die zu beheben sind, mittelfristig werden aber auch mehr öffentliche Mittel notwendig sein, um die Ziele (z.B. F&E-Quote 3% des BIP im Jahr 2010) zu erreichen. Ausgaben in diesen Bereichen sind wichtiger als eine Entlastung bei den ohnehin relativ niedrigen Unternehmenssteuern. (2) Die direkten Steuern (Lohn- und Einkommensteuern, Unternehmenssteuern) sowie die Vermögenssteuern sind in Österreich im internationalen Vergleich niedrig, die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur Sozialversicherung hoch. Das hat negative Verteilungswirkungen und kann auch negative Beschäftigungseffekte mit sich bringen. Eine Abgabenreform mit einer Verbesserung der Steuerstruktur ist dringend geboten. (3) Öffentliche Dienstleistungen statt Transfers: 9/10 der Mittel für staatliche Familienförderung gehen in Geldtransfers, die breit über alle Bevölkerungsschichten streuen, nur 1/10 geht in Förderung von Kinderbetreuungseinrichtungen. Gerade diese erlauben aber Frauen die Aufnahme von Erwerbsarbeit, ermöglichen damit v.a. den unteren Einkommensschichten die Einkommenserzielung und stellen das wirkungsvollste Instrument gegen die Armutsgefährdung von Familien und Kindern dar. (4) Aktive Arbeitsmarktpolitik statt Frühpensionierungen: Die budgetären Kosten für die Altersteilzeit sind fast so hoch wie die Gesamtaufwendungen für aktive Arbeitsmarktpolitik. Österreich gibt im Vergleich zu den skandinavischen Ländern pro Arbeitslosem nur die Hälfte der Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen aus. Langfristig geht es darum, Beschäftigte länger erwerbstätig zu halten. Das geht nur über eine Verbesserung des Weiterbildungssystems. Übersicht: Schleichende Wirtschaftskrise Österreich Euro-Raum 2001 2002 2003 2001 2002 2003 Wirtschaftswachstum 0,7 1,0 1,2 1,5 0,9 1,0 Inlandsnachfrage -0,1 -0,4 1,2 1,0 0,3 1,2 Bruttoanlageinvestitionen -2,2 -4,8 1,6 -0,3 -2,3 0,3 Arbeitslosenrate 3,6 4,3 4,5 8,0 8,3 8,8 Quelle: Europäische Kommission, Frühjahrsprognose 2003