3.1_Lernen braucht Bewegung

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BEWEGUNG UND LERNEN IN DER GANZTAGSSCHULE
3.1 Lernen braucht Bewegung –
Hinweise aus den Neurowissenschaften
Dr. Michael Gasse
Hans Haenisch weist in seinem Beitrag „Lern- und Förderumgebungen im offenen Ganztag“ darauf hin, dass
es in der Gestaltung von Lern- und Förderumgebungen im Ganztag auch darum geht, „(…) die Vielfalt von
Strategien und Ansatzpunkten für individuelle Förderung zu vergrößern, (…) z. B. durch das Einbringen
neuer Lernsettings, durch Veränderungen organisatorischer und räumlicher Strukturen, aber auch durch
die Schaffung neuer Ressourcen im Rahmen der Zusammenarbeit von Personen aus unterschiedlichen
Professionen (vgl. Seewald 2005). Schließlich geht es
aber auch darum, durch Lernkompetenzförderung die
Selbststeuerung und Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler für individuelle Förderprozesse
nutzbar zu machen. (vgl. Vollstädt 2005)“ (Haenisch
2010, S. 67).
Nach der Erfahrung vieler Schulen scheint dabei ein
entscheidender Faktor für die Wirksamkeit der Fördermaßnahmen zu sein, dass die unterschiedlichen Strategien und Ansatzpunkte der im Rahmen des Ganztags
vielfältig entwickelten Förderansätze in ein integrierendes schulisches Förderkonzept eingebunden sind.
Ein solches Konzept hilft z. B. angesichts der Vielfalt der
Angebote und Akteure die Kontinuität, Passgenauigkeit und Kohärenz der einzelnen Fördermaßnahmen im
Ganztag zu unterstützen und zu sichern.
So kann ein derartiges schulisches Konzept auch dazu
beitragen, gemeinsame Leitvorstellungen zu entwickeln
und abzustimmen. Diese helfen, einzelne Ansatzpunkte
der Förderangebote sinnvoll zu differenzieren und aufeinander abzustimmen.
Ein großes Themenfeld, das vielfältige Förderangebote
im Ganztag umschreibt, ist Bewegung, Spiel und Sport
in der Schule. Unter verschiedenen pädagogischen Perspektiven finden sich Angebote, die das Lernen im Fach
Sport weiterführen und vertiefen, die aber auch eigenständig das Spektrum schulischer Förderung bereichern.
So tragen Bewegung, Spiel und Sport zur kognitiven,
emotionalen und sozialen Entwicklung bei und sie bieten im Schulalltag eigenständige Erfahrungsfelder, die
Könnenserleben erschließen und zur Entwicklung und
Stärkung der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler beitragen. Sie beinhalten eine Vielzahl von Anlässen
für soziales Lernen, tragen zur Gesundheitsförderung bei
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und schaffen oder optimieren Voraussetzungen für kognitives Lernen.
Der Lehrplan Sport bietet mit den pädagogischen Perspektiven gute Begründungszusammenhänge, die vielfältigen Sinngebungen von Bewegung, Spiel und Sport,
die in den unterschiedlichen Angeboten in der schulischen Praxis realisiert werden, miteinander zu vernetzen
und in ein schlüssiges Gesamtkonzept zu bringen, z. B.
Bewegung, Spiel und Sport als unverzichtbarer Baustein
eines ganzheitlichen Bildungsangebotes von Schule,
das die soziale, emotionale und personale Entwicklung
der Schülerinnen und Schüler anregt und unterstützt.
Neben diesem Aspekt haben schulische Erfahrungen
unter anderem zu der Frage geführt, ob Bewegung,
Spiel und Sport nicht auch eine grundlegende Bedeutung für das fachliche kognitive Lernen hat – als Voraussetzung, als Gelingensbedingung, als Katalysator bzw.
notwendige Ergänzung oder als Ausgleich zu kognitiven Anstrengungen und Element der Rhythmisierung
fachlichen Lernens. Auch deshalb ist Bewegung, Spiel
und Sport als schulische Querschnittaufgabe zu sehen,
die über die Grenzen des Faches Sport hinausgeht. Dies
führt dazu, vielfältige bewegungsorientierte Lern- und
Förderangebote neu zu bedenken und in ihrer Bedeutung für das schulische Lernen insgesamt zu befragen
und darauf auszurichten.
Aus der therapeutischen Arbeit der Psychomotorik
wissen wir, dass Bewegung wesentlich dazu beiträgt,
Lernblockaden zu überwinden. Kinder, die beim Sprachenlernen oder Schriftspracherwerb Probleme zeigten,
haben diese mit Hilfe bewegungsorientierter Verfahren
überwunden (vgl. Hannaford 2001, Wendler 2001). In
der kognitiven Psychologie zeigten Erinnerungsexperimente, dass Studierende, die Phrasen und Begriffe gestisch unterstützt erlernten, diese besser erinnern konnten als Studierende, die rein kognitiv gelernt hatten (vgl.
Engelkamp 1997).
Geht man diesen Hinweisen nach und versucht die Bedeutung motorischer Aktivität für kognitives Lernen genauer zu fassen, stößt man auf eine Vielzahl von Studien
und Befunden, die diesen Zusammenhang beleuchten.
So haben sich in den zurückliegenden 15 Jahren z. B.
unterschiedliche Zweige der Sportwissenschaft auf
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BEWEGEN IM GANZTAG
BEWEGUNG, SPIEL UND SPORT IN DER GANZTAGSSCHULE
den Weg gemacht, die Wirkung von Bewegung auf das
Lernen und auf Lernatmosphäre und Lernbereitschaft
(über Befragungen und Parameter wie Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit) sowie auf das Schulleben insgesamt zu untersuchen. Wertet man diese
Studien im Rahmen einer Metastudie aus, kommt man
zu dem Ergebnis, dass vieles für die lernförderliche Wirkung von Bewegung spricht und keine Studie darauf
verweist, dass körperliche Aktivität kognitives Lernen
stört (vgl. Graf u. a. 2003).
Andere wissenschaftliche Ansätze (z. B. der kognitiven
Psychologie oder der Psychomotorik) führten zu einer
Unterscheidung spezifischer und unspezifischer Einflüsse von Bewegung auf Lernprozesse (vgl. Seewald
2003). Spezifische Effekte zeigen den direkten Einfluss.
Bewegung trägt unmittelbar zu besserem Lernen bei,
weil Lerninhalt und Bewegungsform zusammenhängen. Unspezifische Effekte weisen Bewegung als lernförderlich aus, ohne dass Lerninhalt und Bewegung in
direktem Zusammenhang stehen.
Mit dieser Unterscheidung lassen sich auch Befunde
neurowissenschaftlicher Forschung verbinden. Auch
wenn Vorsicht geboten ist, vorschnell passende Erklärungen neurowissenschaftlicher Forschung als eindeutige Belege der These „Lernen braucht Bewegung“ zu
benutzen – bei allem Erkenntnisgewinn mahnen die
Neurowissenschaftler zur Zurückhaltung, schließlich
sind mit jeder neuen Erkenntnis viele neue Fragen verbunden und eigentlich stehen wir erst am Anfang einer
Entwicklung (vgl. Monyer u. a. 2004) – es gibt interessante und hilfreiche Befunde:
In der Hirnentwicklung hat die Motorik eine
zentrale Bedeutung.
Frühkindliche Bewegungserfahrungen tragen grundlegend dazu bei, dass Botenstoffsysteme, die Entwicklung
und Neuroplastizität bedingen, ausbalanciert eingerichtet werden. Mangelnde oder störende Bewegungserfahrungen können zu späteren Lernschwierigkeiten
führen (vgl. Teuchert-Noodt 2003). Unabhängig davon
lässt sich auch der Satz „Kinder begreifen die Welt“
neurowissenschaftlich darstellen. Das motorische Areal
hat in der Entwicklung eine Schlüsselfunktion und ist
bleibend in alle Regelkreise zur Handlungssteuerung
eingebunden.
Spitzer und Kubesch (2005) verweisen darüber hinaus
auf eine Studie von Eliot, der feststellt: „Die Anzahl der
Nervenzellen und die gezielten Verbindungen, die sie
mit anderen Neuronen eingehen, ermöglichen eine
größere Bandbreite von Verhaltensreaktionen. Bewegung zählt deshalb zu den wichtigsten Stimulationen
des fötalen Gehirns.“ (Eliot 2002, zitiert nach Spitzer
und Kubesch 2005, S. 16).
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Motorische Aktivität fördert Lernprozesse.
Neben dem spezifischen Aspekt der „paired associative
stimulation“ gibt es viele unspezifische Effekte. Wildor
Hollmann beschreibt in seinen jüngeren Forschungsarbeiten zur Bewegungsneurowissenschaft viele Effekte, die auch über Forschungserkenntnisse mit alternden Menschen gewonnen wurden. Demnach stärkt
Bewegung synaptische Verbindungen, führt zu einer
besseren Durchblutung des Gehirns, was zu besserem
Lernen und Erinnern beiträgt, und unterstützt Prozesse
der Neubildung und Erhaltung neuronaler Netze (vgl.
Hollmann u. a. 2003).
Der Frage des positiven Einflusses von Bewegung auf
Lernen ist auch das Transferzentrum für Neurowissenschaften in Ulm systematisch nachgegangen. Als Basis
der dort gewählten Ansätze, den Zusammenhang von
Lernen und Bewegung stärker zu beleuchten, wurden
die exekutiven Funktionen des Gehirns stärker in den
Blick genommen.
„Exekutive Funktionen sind Bestandteil der allgemeinen Intelligenz. Sie werden auch als kognitive Kontrollprozesse bezeichnet, die dann benötigt werden, wenn
automatisierte Abläufe zur Aufgabenausführung nicht
ausreichen. Von diesem Kontrollsystem, dessen Sitz im
Wesentlichen dem Stirnhirn (präfrontaler Cortex) zuzuschreiben ist, wird angenommen, dass es das emotionale, kognitive und soziale Verhalten leitet, koordiniert
und vor allem in neuen Situationen flexibles Verhalten
ermöglicht (Kubesch 2007). Exekutive Funktionen sind
vor allem in neuen, komplexen und sich verändernden
Situationen bzw. bei neuen Aufgaben notwendig, die
Konzentration, eine Handlungsplanung sowie eine Problemlösung erfordern. Die Situationen zeichnen sich
dadurch aus, dass eine bewusste Auswahl an Handlungsalternativen erfolgt (Diamond 2006).“ (Kubesch
2008, S. 51).
In einer Studie an Realschülerinnen und Realschülern
der 7. Klasse konnten die Ulmer Forscher durch den
Einsatz des Elektrokardiogramms (EEG) nachweisen,
dass körperlich fitte Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu weniger fitten erhöhte Aufmerksamkeitsprozesse aufweisen. Gleichzeitig benötigen die fitten
Schülerinnen und Schüler weniger kognitiven Aufwand als die körperlich weniger trainierten Schülerinnen und Schüler. Des Weiteren konnten sie zeigen,
dass sich die Arbeitsgedächtnisleistung von Schülerninnen und Schülern der 7. Klasse unterschiedlicher
Schulformen durch den Sportunterricht verbessert.
Da die untersuchten Hauptschülerinnen und -schüler
über signifikant schlechtere exekutive Funktionen
verfügen als Realschülerinnen und -schüler sowie
Gymnasiasten derselben Altersstufe, sollte bereits vor
dem Wechsel von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen die Chance genutzt werden, exeku-
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tive Funktionen körperlich und kognitiv zu trainieren
(vgl. Kubesch 2008).
Bewegung kann die im Lernen entstehende
Veränderung neuronaler Strukturen stärken.
In Lernprozessen werden in den Strukturen des Gehirns
Informationen nachgebildet (vgl. Teuchert-Noodt 2003).
Elektrische Impulse werden übertragen, Neuronen und
synaptische Verbindungen werden beansprucht. Um
bei wiederholter Beanspruchung besser eingerichtet zu
sein, werden diese Verbindungen zunächst sensibilisiert
und dann dauerhaft gestärkt.
Bewegung spielt dabei einmal eine Rolle, wenn in
der Kommunikation neuronaler Strukturen Signale
kognitiver und motorischer Areale gleichzeitig auf
ein Neuron „paired associative stimulation“ treffen. In
diesem Fall werden die Verbindungen nachhaltiger
und schneller gestärkt (vgl. Kandel u. a. 1995; Gerloff
2003). Zum anderen sind bei diesen Umbauprozessen
in einer Kaskade biochemischer Prozesse Botenstoffe
aktiv, die diese Umbauprozesse anstoßen und steuern.
Diese Botenstoffe (z. B. Dopamin, Serotonin) werden
auch immer bei Bewegung aktiviert, so dass man annehmen kann, dass Bewegung als unspezifischer Effekt zu einem besseren Adaptionsniveau im zentralen
Nervensystem führt (vgl. Hollmann u. a. 2003). So verweist Hollmann 2000 schon darauf, dass Vorschulkinder möglichst täglich Beanspruchungen von ca. 60 %
der individuellen körperlichen Höchstleistung ermöglicht werden sollte, um synaptische Verbindungen
herzustellen bzw. aufrecht zu erhalten (vgl. Hollmann
2000).
Mit Blick auf schulische Lernarrangements stellen Spitzer/Kubesch (2005) weiterführend fest: „…über den
Sportunterricht an Schulen kann weiter auf die Struktur,
Funktion und Vernetzung von Nervenzellen eingewirkt
und dadurch das emotionale, kognitive und soziale Verhalten von Kindern und Jugendlichen positiv beeinflusst werden.“ (Spitzer/Kubesch 2005, S. 16).
U. a. diese Hinweise auf die Bedeutung von Bewegung
für die Veränderung neuronaler Strukturen wurden im
Sport weiterführend aufgegriffen. So sind die Prozesse
in der Veränderung neuronaler Strukturen auch eine
Grundlage für einen Ansatz, Lernangebote neu zu gestalten, der aus dem Sport kommend auch in anderen
Fachrichtungen bedacht wird: das differenzielle Lernen
(vgl. Schöllhorn 2005).
Das differenzielle Lernen verstärkt durch extrem variierende Aufgabenstellungen die natürlich vorhandenen Bewegungsvarianten im Übungsprozess (z. B. auch
beim Erlernen von Musikinstrumenten oder im Schriftspracherwerb) – mit der Folge signifikant stabilerer und
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in ihren Resultaten optimierter Bewegungsergebnisse
(Treffsicherheit, Weite, Schnelligkeit, Genauigkeit, etc.).
Auch die Leistungssteigerung durch Erinnerungseffekte nach Übepausen wird beim differenziellen Lernen im
Vergleich zu klassisch trainierten Gruppen deutlich erhöht (vgl. Albrecht 2009).
Diese Befunde belegen nicht nur den Satz „Lernen
braucht Bewegung“ – sowohl als rhythmisierendes als
auch als möglicherweise direkt unterstützendes Element – sondern bieten auch Anhaltspunkte, motorischer Aktivität im Lernen bzw. in Bewegungsangeboten im Ganztag einen anderen Stellenwert zu geben
und sie systematisch und konzeptionell begründet in
fachlichem Lernen und im Ganztag zu berücksichtigen
und einzubeziehen. Anregung und Unterstützung, dies
praktisch umzusetzen, bietet z. B. das Landesprogramm
„Bewegungsfreudige Schule“.
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