Zwischen B - Internationale Bachakademie Stuttgart

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10 KULTUR
Geschlagene
Schlachten
Die Bachakademie hat
Musik von „Herzensfeinden“
aufgeführt. Von Markus Dippold
Konzert
m späten 19. Jahrhundert war es ein
beliebtes Spiel unter Musikkritikern,
den einen Komponisten zu glorifizieren, während man dessen vermeintlichen
Gegner in Grund und Boden schrieb. Die
Internationale Bachakademie hat sich mit
ihrem jüngsten Abokonzert unter dem reißerischen Titel „Herzensfeinde“ auf diese
alte Brahms-Bruckner-Kontroverse eingelassen. Überholt ist diese Debatte um den
konservativen Norddeutschen und den
progressiven Österreicher längst; beim
Publikum verfängt sie jedenfalls nicht, wie
die vielen leeren Plätze am Samstagabend
im Beethovensaal zeigten.
Das dürfte aber auch damit zu tun haben, dass das Team um den Akademieleiter
und musikalischen Chef Hans-Christoph
Rademann die in dieser Saison begonnene
klangliche Neuausrichtung bei diesen romantischen Werken wieder aufgeben
muss. Von der Gaechinger Cantorey bleibt
für Bruckners lärmendes „Te Deum“ und
Brahms’ mäandernde „Nänie“ nur der
Chor übrig, der allerdings auf Großformat
aufgebläht wird. Den instrumentalen Part
übernimmt die Deutsche Radio Philharmonie, die ihre Aufgabe routiniert erfüllt,
allerdings vielfach mit Rademanns Schlagtechnik zu kämpfen hat. Seine Vorzüge als
Chorleiter auf dem Gebiet der Alten Musik
kennt man – offensichtlich ist aber, dass
sich Rademann als Orchesterdirigent
schwertut und auch stilistisch ein wenig
fremdelt. Die „Akademische Festouvertüre“ von Brahms – mit ihren populär-markanten Melodien und den knackigen
Rhythmen eigentlich eine Steilvorlage –
will nicht recht begeistern, auch die „AltRhapsodie“ op. 53 hinterlässt kaum bleibenden Eindruck, trotz der klangschön
agierenden Solistin Anke Vondung.
Leichter geht Rademann die Formung
von Anton Bruckners „Te Deum“ von der
Hand. Die wuchtigen Klangblöcke des
Chors sind beeindruckend, ebenso die
Leichtigkeit, mit der die Soprane die andauernden Spitzenlagen bewältigen. Und
mit dem Tenorsolisten Corby Welch hat
Rademann ein As im Ärmel: Klangfülle,
Durchschlagskraft und Ausgeglichenheit
bis in höchste Lagen überstrahlen manche
Schwächen im Orchester und die blass wirkenden anderen Solisten.
I
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Kurz berichtet
Pop-Oratorium
16 000 Besucher bei „Luther“
Stehende Ovationen für das Pop-Oratorium
„Luther“: Fast 16 000 Besucher kamen zu den
beiden Aufführungen des Reformationsmusicals am Samstag in Düsseldorf. Die 1860 Chorsänger aus 67 Chören und 960 Einzelsänger
aus Nordrhein-Westfalen hatten sich monatelang auf die Konzerte im ISS Dome vorbereitet.
Im Mittelpunkt des Oratoriums von Dieter Falk
und Michael Kunze stehen Leben und Wirken
des Reformators Martin Luther. epd
Proteste
César-Preis ohne Polanski
Nach dem Verzicht des Filmregisseurs Roman
Polanski (83) werden die französischen CésarFilmpreise ohne Zeremonienmeister stattfinden. Der Rat der Akademie habe beschlossen,
dass dieses Jahr niemand die Verleihung leiten
werde, sagte der Präsident der Akademie,
Alain Terzian, der französischen Nachrichtenagentur AFP am Samstag. Polanski hatte nach
Protesten französischer Frauenrechtlerinnen
Ende Januar entschieden, der Preisvergabe am
24. Februar fernzubleiben. Die Wahl des Regisseurs sei eine Brüskierung der Opfer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung, lautete
die Kritik. Die amerikanische Justiz verfolgt
Polanski seit Jahrzehnten wegen Sex mit einer
13-Jährigen. Er war damals aus dem Land geflohen und lebt seitdem in Europa. dpa
STUTTGARTER ZEITUNG
Nr. 30 | Montag, 6. Februar 2017
Zwischen Begehren und Aufbegehren
Das Stuttgarter Ballett hat drei Neuzugänge um Maurice Béjarts Publikumshit „Bolero“ angerichtet. „Verführung!“ zeigt im Opernhaus
Tänzer in Bestform sowie feine choreografische Kunst – und ist vor allem eins: Verführung zum Zuschauen. Von Andrea Kachelrieß
Tanz
in Ausrufezeichen steht hinter dem
neuen Abend des Stuttgarter Balletts, der am Freitag im Opernhaus
Premiere hatte. „Verführung!“ heißt er, und
man muss der Welt schon sehr abhandengekommen sein, um da nicht erotisches
Knistern mitzudenken. Der Welt abhandengekommen oder eine Frau sein: Katarzyna Kozielska darf nicht nur den Reigen
eröffnen, der mit Sidi Larbi Cherkaouis
„Faun“, Marco Goeckes „Le spectre de la
rose“ und Maurice Béjarts „Bolero“ drei bewährte Meisterwerke und drei Mechanismen der Verführung zeigt. Der Stuttgarter
Choreografin gelingt es zudem mit ihrem
neuen Stück, hinter das Thema Verführung
ein Fragezeichen zu setzen und ihm eine
eigene, sehr aktuelle Perspektive zu eröffnen. Was macht Menschen so leicht verführbar, will Katarzyna Kozielska wissen,
so empfänglich für religiöse und politische
Extremismen, aber auch für die leuchtenden Displays, mit denen digitale Medien in
ihren Bann ziehen?
„Dark Glow“, dunkles Glühen, nennt
Katarzyna Kozielska ihr Stück treffend. Die
mittlerweile dritte Auftragsarbeit der polnischen Halbsolistin für die eigene Kompanie ist die einzige Uraufführung an diesem
Abend. Bis die ChoreoEs beginnt
grafin aber zum kritischen Kern vordringt,
vage und
der eine träge, dunkle
diffus wie
Masse unter tief hänein Traum.
genden Scheinwerfern
und Elisa Badenes daneben als hellwaches, nervös auf Spitze
tanzendes Individuum in Konflikt bringt,
vergeht zu viel Zeit. Zeit, in der drei Solisten und eine mit dreizehn Damen und drei
Herren auffallend groß besetzte Gruppe
das auszuleuchten versucht, was empfänglich dafür macht, dazugehören zu wollen.
Weil „Dark Glow“ sich erst von seinem
Ende her erschließt, bleibt der Anfang zu
vage, diffus wie in einem Traum. Wie immer sind Kozielskas klassisch fundierte Bewegungen elegant und scharfkantig. Mutig
setzt sie, die selbst viel in der Gruppe getanzt hat, auf große Szenen. Mit herausfordernden Balancen erkundet sie Fragilität,
wenn sie Alicia Amatriain und Elisa Badenes in extreme Spitzenpositionen zwingt,
sie kopfüber ihren Partnern Constantine
Allen und Fabio Adorisio anvertraut und
ihnen eine freche Gruppe von Damen
gegenüberstellt. Doch der Einfallsreichtum an Bewegungen reduziert sich, bis alle
zur gleichgeschalteten Masse werden –
nicht nur choreografisch, auch inhaltlich
ist „Dark Glow“ zu schwarz-weiß gemalt.
Das würde schmerzlicher ins Gewicht fallen, würden Kostüme und Musik nicht
Spannung erzeugen: Thomas Lempertz
bringt Farbe pastellzart ins Spiel, seine nur
scheinbar artigen Blusen führen ein verblüffendes Doppelleben. Und der Brite
Gabriel Prokofiev ergründet in seiner Auftragskomposition aktuelle Verführbarkeiten, indem er Streicher und Bläser in einem
immer dramatischeren An- und Abschwellen gegeneinandersetzt und dem Staatsorchester ein zeitgemäßes Pulsieren und
Wummern entlockt, bis elektronische
Klänge ganz den Ton angeben.
Mit einem frischen Blick auf Nijinskys
skandalträchtigen Klassiker der Verfüh-
E
Alicia Amatriain und Fabio Adorisio in Katarzyna Kozielskas „Dark Glow“
rung darf Sidi Larbi Cherkaoui sich dem
Stuttgarter Publikum nun von seiner starken Seite vorstellen. Hatte der belgische
Weltreisende in Sachen Tanz mit einem
neuen „Feuervogel“ vor zwei Jahren in
Stuttgart nicht überzeugen können, sind
seinem erstmals hier gezeigten „Faun“ alle
Foto: Carlos Quezada
Sympathien sicher: So unmittelbar und
kreatürlich lässt er hier vor einer projizierten Waldszene zwei Wesen aufeinandertreffen, dass Nähe ganz natürlich und Verführung überflüssig wird. Pablo von Sternenfels kostet mit wohligem Räkeln die
animalische Seite des Fauns aus, der yoga-
leicht aus dem Schlaf steigt. Hyo-Jung
Kang bringt zu Weltmusikklagen, das Debussys Impressionen unterbricht, eine
weibliche, zurückhaltende Perspektive ins
Spiel. In weichen Bewegungen lassen sie
ihre Silhouetten verschmelzen, bis sie eins
scheinen. Das gelingt den beiden Tänzern
in so schöner Reinheit, dass die Zeit unendlich weit weg scheint, als Vladimir Malakhov und Margaret Illmann an eben dieser
Stelle zu eben dieser Musik Jerome Robbins „Afternoon Of A Faun“ zum Schaulauf
der Eitelkeiten machten.
Zur Zeitreise macht auch Marco Goecke
„Verführung!“: Wie Cherkaouis „Faun“ ist
seine Version von „Le spectre de la rose“
eine Verbeugung vor den Ballets Russes,
beide 2009 uraufgeführt zum 100. Geburtstag von Diaghilews berühmter Kompanie, Die Musik
beide bringen das an bringt die
vielen Orten gefeierte Körper zum
Jubiläum mit reichlich
Verspätung doch noch Pulsieren.
nach Stuttgart. Ähnlich wie die Ballets Russes mit etlichen
Skandalen das Publikum dazu verführten,
Tanz in einem neuen, modernen Licht zu
sehen, ist auch der Stuttgarter Hauschoreograf Marco Goecke ein Ballettrebell.
Was für einer, zeigt „Le spectre de la rose“
aufs Schönste: Nicht eine Rose braucht’s,
um den Rosengeist heraufzubeschwören –
hier regnet’s Blütenblätter, in denen Adam
Russell-Jones herrlich wüten darf. Nie verrät Goecke die Eleganz des Ballettkörpers,
auch wenn er ihn in stroboskopisch-flackernden Bewegungen zucken lässt, auch
wenn er ihn an der dramatischsten Stelle
von Webers „Aufforderung zum Tanz“ zum
Innehalten verdammt. Sechs Tänzer in roten Samtanzügen, Agnes Su als ganz gegenwärtige Frau, die sich den Traummann
nicht romantisch herbeisehnt, sondern
sich ihm in den Weg stellt: Das Verhältnis
der Geschlechter denkt Goecke im Ballett
neu; tänzerisch ist sein Einsatz, der sich
sonst auf Arme und Oberkörper konzentriert, überraschend hoch.
Zum Schluss, zu Ravels „Bolero“, dann
Verführung pur: Béjarts Sehnsuchtsdialog
zwischen Melodie und Rhythmus, zwischen dem einen auf der Tanzfläche und
den anderen, die an ihrem Rand lauern,
bleibt mehr als ein halbes Jahrhundert
nach seiner Entstehung ein Ereignis. Friedemann Vogel kostet an diesem Abend
sichtlich aus, wie Musik einen Körper zum
Pulsieren bringt, wie ihm geometrisch verwinkelte Arme eine Geste zwischen Begehren und Aufbegehren geben, wie Tanz ihn
zum Magneten macht, der Blicke anzieht.
Wie Ravels Musik steigerte sich auch
der Beifall an diesem Abend – und war am
Ende fast ein kleiner Sturm. Er galt nicht
nur den Interpreten auf der Bühne, sondern auch dem Intendanten dahinter, der
für „Verführung!“ Ballette klug ermöglichte, einkaufte und disponierte. So will dieser
Abend vor allem Verführung zum Zuschauen sein, der bei seiner Premiere viel
(Polit-)Prominenz angelockt hat – und der
auch bei den folgenden Vorstellungen zu
einem ausverkauften Haus führen wird.
Termine 7., 8., 10., 11., 14., 23., 27. und 28. Februar sowie 4. und 7. März.
Mit der Metaphysik zur Pfandleihe
An der WLB Esslingen hat Klaus Hemmerle das Stück
„Seelenwanderung“ wiederentdeckt. Von Kathrin Horster
Theater
ie Seele ist ein kompliziertes Ding.
Für Bum, einen gutmütigen Jedermann, ist sie an allem schuld, was
nicht rund läuft in seinem Leben. „Die Seele saugt jeden Dreck, jeden Gestank auf wie
ein Schwamm. Meine Seele ist kompromisslos“, sagt Bum zu seinem Freund Axel
und nimmt einen kräftigen Schluck Bier.
„Verkauf se doch!“, rät Axel ganz pragmatisch und versteht nicht, wo da ein Problem sein soll. „Ich würde die Seele ja verkaufen, aber die ist metaphysisch“, räsoniert Bum. Er weiß, wovon er spricht.
Schließlich hat er Abitur. Axel ist das zu
hoch. „Bum, denk mal die Seele hier in den
Karton!“ Er drückt dem Freund eine
Schachtel auf die Nase. Und schwupps,
schon ist das lästige Anhängsel im Kasten.
Mit der Seele unterm Arm gehen die beiden
in die nächste Pfandleihe.
Die eigene Seele, im Grunde also sich
selbst, zu verhökern, um befreit von moralischen Bedenken richtig Kohle machen zu
können: ein kurioses, im Kern zeitloses Gedankenspiel, das der in Karlsruhe geborene
Bühnenautor Karl Wittlinger in seiner um
1962 entstandenen Parabel „Seelenwanderung“ vor dem Hintergrund des bundesdeutschen Wirtschaftswunders entworfen
D
hat. Als WDR-Fernsehspiel heimste das im
besten Sinne volkstümliche Stück damals
renommierte Preise ein. Inzwischen ist die
Erinnerung an den Autor verblasst, der
1978 auch Hans Falladas Roman „Ein Mann
will nach oben“ als Mehrteiler fürs Fernsehen adaptierte. Klaus Hemmerle hat „Seelenwanderung“ nun für die Württembergische Landesbühne in Esslingen entmottet.
Man muss es Hemmerle hoch anrechnen, dass er das gute alte Stück nicht
krampfhaft auf heutige Verhältnisse zurechtbiegt, dass er aus Bum, der nach dem
Tausch seiner Seele gegen Bares zum obszön reichen Schrotthändler mutiert, später
stirbt, aber seelenlos nicht in den Himmel
fahren kann, keinen aalglatten GoldmanSachs-Banker macht. Die Regie bleibt bei
Wittlingers Anlage, und das ist erst mal gut.
Frank Chamiers Bühnenbild führt das
Desolate der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Augen. Ein rostiges Portal, dazu
dreh- und fahrbare Stellwände, darauf die
Fototapete einer völlig zerbombten Stadt,
vielleicht Dresden oder Hamburg, illustrieren die Stunde null. Auf der Rückseite der
Wände künden schon Werbeplakate für
Waschmittel, Fernsehtruhen und Fertighäuser vom rasanten Aufschwung. Im Re-
Antonio Lallo und Ralph Hönicke
Foto: Pfeiffer
gal des Pfandleihers verstauben neben diversen Uhren auch ein Hitler-Porträt und
eine Urne – Nippes als komisch makabres
Memento mori.
Solch bösen Anspielungen zum Trotz
geht es auf der Bühne gemütlich zu. Wenn
Bum (schnörkellos, mit glaubhaft cholerischem Zug: Antonio Lallo) und Axel (überzeugend naiv: Ralph Hönicke) in der Kneipe Bier trinken und dazu Schlager wie Dalidas „Am Tag als der Regen kam“ aus der obligatorischen Jukebox ertönen, spielen die
politischen Verhältnisse jener Jahre in der
Inszenierung keine Rolle. Während der Autor Wittlinger mithilfe des Märchens vielleicht versucht hat, dem Nachkriegspublikum ein in der Nazi-Zeit rasch abgelegtes
Moralverständnis neu zu vermitteln,
schwelgt Hemmerle in musealer Nostalgie.
Bum und Axel sind liebenswerte Prototypen, während es der Frauenfigur Blondi,
Bums erster Gattin in Pelzmantel und
Goldlameefummel, an Charakter mangelt.
„Frauen kann Wittlinger immer noch
nicht“, ärgerte sich ein Kritiker anlässlich
einer Aufführung des Stücks in Frankfurt
am Main 1964. Die unübersehbar schwach
gestaltete Figur kann auch die Schauspielerin Anne-Julia Koller in ihrem posenhaft
steifen, viel zu grellen Spiel nicht zum Leben erwecken. Blondi ist bloß ein Statussymbol, das Bum „in ein bis zwei Jahren“
ohnehin abstoßen will wie einen Benz mit
zu vielen Kilometern auf dem Tacho. Heute
wirkt dieses Menschenbild rührend antiquiert. Dass man das gradlinig poetische
Stück aufgrund des unüberbrückbaren
zeitlichen Abstands nicht richtig ernst nehmen kann, liegt aber vor allem in Hemmerles liebevoll unkritischer Auslegung begründet. „Seelenwanderung“ entpuppt sich
hier als eben nicht überzeitlicher Stoff,
sondern als Theater von Gestern.
Vorstellungen 7., 22. Februar, 18., 21., 24. März,
26. April., 5., 12., 20. Mai, 1. Juni.
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