Der geriatrische Patient in der Notfallmedizin

Werbung
Der geriatrische Patient in der Notfallmedizinwas ist anders bei Senioren?
Dr. Anna Herminghaus, DESA
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Universitätsklinikum Düsseldorf
[email protected]
"Wie traurig das ist! Ich soll alt und grässlich und abscheulich
werden. Dies Bild aber wird immer jung bleiben. [...] Wäre es doch
nur umgekehrt! […] Dafür – dafür würde ich alles hingeben! […]
Meine Seele würde ich dafür geben!" (Seite 38)
Oscar Wilde „Das Bildnis des Dorian Gray“
Organfunktion im Alter
Rivera R & Antognini JF. Anesthesiology 2009;110:1176-1181
Organfunktion im Alter
(modifiziert nach [Kratz et al. (2005) Pharmakologische Besonderheiten und Probleme
des älteren Patienten. Anaesthesist 54:467–475 ])
Parameter
Altersbedingte Parameteränderungen bei über 75 Jährigen
(in %) im Vergleich zu 30-Jährigen (= 100 %)
Gesamtkörperwasser
82 (-18 %)
Muskelmasse
70 (-30 %)
Mineralgehalt der Knochen

Männer
85 (-15%)

Frauen
70 (-30%)
max. Dauerbelastung
70 (-30 %)
max. kurzfristige Spitzenleistung
40 (-60 %)
Grundstoffwechsel
84 (-16 %)
Gehirngewicht
56 (-44 %)
Regulationsgeschwindigkeit
des
17 (-83%)
Blut-pH
Herzschlagvolumen in Ruhe
50 (-50 %)
Nierenplasmafluss
50 (-50%)
Vitalkapazität
56 (-44 %)
Organfunktion im Alter
Johann Wolfgang (1749-1832)
von Goethe, deutscher Dichter.
„Gerne der Zeiten gedenk' ich, da alle
Glieder gelenkig - bis auf eins. Doch die
Zeiten sind vorüber, steif geworden alle
Glieder - bis auf eins.“
Johann Wolfgang von Goethe
Geriatrische Patienten
Herminghaus A, Löser S, Wilhelm W, Anaesthesist 2012;61:163–176
Geriatrische Patienten befinden sich ein einem labilen
oder bestenfalls metastabilen Gleichgewicht
Physiologie im Alter
Ziel: größstmögliche Homöostase
 Atemmechanik
 Hämodynamik
 Wärmehaushalt
 Pharmakologie
 Typische Vorerkrankungen
Arterielle Oxygenierung in Abhängigkeit
vom Alter
Unter Raumluft gilt:
pO2 = 102 - 1/3 Alter
pCO2 = altersunabhängig
aus: Silverstein JH et al. Geriatric Anesthesiology, Springer, 2008
Veränderungen der Atemmechanik im Alter
Müller C & Zwißler B, Der geriatrische Patient, Die Anästhesiologie, 3. Auflage, Springer 2012






Atemantrieb durch Hyperkapnie ↓
Atemantrieb durch Hypoxie ↓
Laryngeale Schutzreflexe ↓
Husteneffizienz ↓
Ventilatorische Antwort
bei progressiver isokapnischer Hypoxie bei
jungen und älteren Männern (64-73 Jahre)
Mukoziliare Clearance ↓
Apnoische Schlafphasen ↑ ↑
Junge Männer
Ältere Männer
aus: Silverstein JH et al. Geriatric Anesthesiology, Springer, 2008
Veränderungen der Atemmechanik im Alter
Müller C & Zwißler B, Der geriatrische Patient, Die Anästhesiologie, 3. Auflage Springer 2012






Atemantrieb durch Hyperkapnie ↓
Atemantrieb durch Hypoxie ↓
Laryngeale Schutzreflexe ↓
Husteneffizienz ↓
Mukoziliare Clearance ↓
Erhöhte
Hypoxieund
Aspirationsgefahr!
Apnoische Schlafphasen ↑
Cave: sedierende und atemdepressive Medikamente
Veränderungen der Atemmechanik im Alter
Jean Cocteau (1889-1963)
Französischer Schriftsteller,
Regisseur und Maler
„Je mehr Kerzen deine
Geburtstagstorte hat, desto weniger
Atem hast du, um sie auszublasen.“
Jean Cocteau
Physiologie im Alter
Ziel: größstmögliche Homöostase
 Atemmechanik
 Hämodynamik
 Wärmehaushalt
 Pharmakologie
 Allgemeinanästhesie
 Regionalanästhesie
Veränderungen der Hämodynamik im Alter
Müller C & Zwißler B, Der geriatrische Patient, Die Anästhesiologie, 3. Auflage, Springer 2012




Auswurffraktion ↔ bis ↓
Maximale Herzfrequenz ↓
Barorezeptorenantwort ↓
Einfluss von Isoproterenol auf die Herzfrequenz
bei jungen und älteren Männern
Antwort auf Katecholamine ↓
Junge Männer
Ältere Männer
Lakatta EG. Cardiovascular aging in health. Clin Geriatr Med 2000;16:419-444
Veränderungen der Hämodynamik im Alter
Müller C & Zwißler B, Der geriatrische Patient, Die Anästhesiologie, 3. Auflage, Springer 2012






Auswurffraktion ↔ bis ↓
Maximale Herzfrequenz ↓
Barorezeptorenantwort ↓
Antwort auf Katecholamine ↓
Inzidenz für KHK ↑
Erhöhte
Anfälligkeit für
Blutdruckabfälle
und myokardiale
Ischämie
Kardiovaskuläre Multi-Medikation ↑
Cave: gute analgetische Abschirmung, aber
auch ausreichender Perfusionsdruck
Hämodynamik bei geriatrischen Patienten
Merke: Nahezu alle Anästhetika führen zu einem Blutdruckabfall
durch Vasodilatation und negative Inotropie 
Akrinor oder Noradrenalin

Akrinor® 1 Ampulle = 2 ml + 8 ml NaCl 0,9%
= 10 ml  davon 1-2 ml

Arterenol® 1 mg auf 50 ml Perfusor
 Laufrate 5-10 (-20) ml/h
Hämodynamik bei geriatrischen Patienten
Anthony Quinn (1915-2001) eigentlich
Antonio Rodolfo Quinn Oaxaca,
mexikanisch-US-amerikanischerFilmschauspieler
„Auch mit sechzig kann man noch
vierzig sein - aber nur noch eine halbe
Stunde am Tag.“
Anthony Quinn
Physiologie im Alter
Ziel: größstmögliche Homöostase
 Atemmechanik
 Hämodynamik
 Wärmehaushalt
 Pharmakologie
 Allgemeinanästhesie
 Regionalanästhesie
Thermoregulation im Alter
Kurz A et al, Anesthesiology 1993
Schwellenwert, bei
dem die
körpereigene
Thermoregulation
einsetzt (in °C)
35,1°C
33,9°C
40 ± 7 Jahre
70 ± 6 Jahre
Zeitbedarf zur Wiedererwärmung auf 36°C in
Abhängigkeit vom Alter
Frank SM et al, Anesthesiology 1992
Thermoregulation im Alter
Müller C & Zwißler B, Der geriatrische Patient, Die Anästhesiologie, Springer 2008

Schwellenwert für Thermoregulation ↓ ↓


schnellerer Temp-Abfall ↑ ↑
Zeit bis Wiedererwärmung ↑ ↑
Cave: Wärmemaßnahmen und
Temperaturmessung
Bei alten
Patienten
schnelleres
und länger
anhaltendes
Auskühlen
Thermoregulation im Alter
Maurice Chevalier (1888-1972)
französischer Schauspieler und
Chansonsänger
„Ein Mann mit weißen Haaren ist wie
ein Haus, auf dessen Dach Schnee
liegt. Das beweist aber noch lange
nicht, dass im Herd kein Feuer brennt.“
Maurice Chevalier
Physiologie im Alter
Ziel: größstmögliche Homöostase
 Atemmechanik
 Hämodynamik
 Wärmehaushalt
 Pharmakologie
 Allgemeinanästhesie
 Regionalanästhesie
Organfunktion im Alter
Rivera R & Antognini JF. Anesthesiology 2009;110:1176-1181
Die Empfindlichkeit gegenüber Anästhetika und Analgetika
ist im Alter meist erhöht, aber gegen β-Rezeptor-Agonisten
und Antagonisten eher erniedrigt
Benzodiazepin-Metabolismus
Im Alter:

Biosynthese der Leberenzyme für Phase I verlangsamt 
Phase-I-Reaktion kann signifikant verlängert sein

Phase-II-Reaktion mehr oder minder unbeeinträchtigt im
höheren Lebensalter

Im höheren Lebensalter zunehmende Empfindlichkeit für
die hypnotischen Effekte der Benzodiazepine
Faustregel: 10 mg Valium wirken …
 … beim 18-Jährigen 18 Stunden,
 … beim 80-Jährigen bis zu 80 Stunden !
Propofol
Schüttler J, Ihmsen H. Population Pharmacokinetics of Propofol. Anesthesiology 2000; 92:727–38
Dargestellt ist die Propofol-Infusionsrate,
die zur Erhaltung einer Propofol-Plasmakonzentration von 1 µg/ml erforderlich ist.
Propofol: kontext-sensitive HWZ
Schüttler J, Ihmsen H. Population Pharmacokinetics of Propofol. Anesthesiology 2000; 92:727–38
Rocuronium 0,6 mg/kg-Bolus
Matteo RS et al. Pharmacokinetics and Pharmacodynamics of Rocuronium (Org 9426)
in Elderly Surgical Patients. Anesth Analg 1993;771193-7
Ältere (~75 Jahre)
Jüngere (~40 Jahre)
Intubationsmedikamente
Delport K et al. Geriatrische Notfälle, Notarzt 2012; 28:171-180
Airwaymanagement
Delport K et al. Geriatrische Notfälle, Notarzt 2012; 28:171-180
Cave: gut Präoxygenieren!!!!
Maskenbeatmung oft erschwert,
ggf. eingeschränkte Reklination
Typische Erkrankungen im Alter
Bettelli G (2011) Preoperative evaluation in geriatric surgery: comorbidity, functional
status and pharmacological history. Minerva Anestesiol 77:1–10
 Arterielle Hypertonie (45-50%)
 KHK (35%)
 Diabetes mellitus (12-15%)
 COPD (9%)
 Herzinsuffizienz (?)
 Neurovaskuläre Erkrankungen (?)
 Demenz (?)
Typische Erkrankungen im Alter
George Bernard Shaw (1856-1950)
irisch-britischer Dramatiker,
Politiker, Satiriker, Musikkritiker und
Pazifist,
„Das Alter hat zwei große Vorteile: Die
Zähne tun nicht mehr weh und man hört
nicht mehr all das dumme Zeug, das
ringsum gesagt wird.“
George Bernard Shaw
Demenz vs. Delir
Singler K, Heppner HJ (2012) Besonderheiten des älteren Notfallpatienten Notfall
Rettungsmed 15:255-264
Ein Delir ist ein Syndrom, welches auf eine andere
zugrunde liegende Problematik hinweist. Häufig ist bei
älteren Patienten ein Delir das erste und einzige
Anzeichen
einer
ernsthaften,
lebensbedrohlichen
Erkrankung.
Delir
Singler K, Heppner HJ (2012) Besonderheiten des älteren Notfallpatienten Notfall
Rettungsmed 15:255-264
 delirante Zustände treten in 10-16% der
Patienten in einer Notaufnahme auf
 sie bleiben aber in 75% nicht erkannt!
Delir
Singler K, Heppner HJ (2012) Besonderheiten des älteren Notfallpatienten Notfall
Rettungsmed 15:255-264
CAM (cunfussion assessment method)
Delir
Singler K, Heppner HJ (2012) Besonderheiten des älteren Notfallpatienten Notfall
Rettungsmed 15:255-264
Mögliche Auslöser eines Delirs:
 Infekte
 zerebrale, respiratorische, kardiale und
metabolische Gründe
 Schmerzen
 medikamentöse Neben- und
Wechselwirkungen
Delir
Jeanne Moreau (geb. 1928),
französische Schauspielerin,
Filmregisseurin und Sängerin
„Weisheit stellt sich nicht immer mit
dem Alter ein. Manchmal kommt auch
das Alter ganz allein.“
Jeanne Moreau
Vormedikation im Alter
Bettelli G (2011) Preoperative evaluation in geriatric surgery: comorbidity, functional
status and pharmacological history. Minerva Anestesiol 77:1–10
 Thrombozytenaggregattionshemmer
 Antikoagulanzien
 Antihypertensiva
 β-Blocker
 Psychopharmaka
 sonstigessonstige
Symptomarmut und -wandel im Alter
Singler K, Heppner HJ (2012) Besonderheiten des älteren Notfallpatienten Notfall
Rettungsmed 15:255-264
 Fieber als Kardinalsymptom einer Infektion
fehlt bei älteren Patienten in 20-30% der Fälle
 ältere Leute besitzen eine tiefere
Basaltemperatur
Eine hohe Körpertemperatur bei alten
Patienten ist daher eher mit einer
schwerwiegenden viralen oder bakteriellen
Infektion assoziiert als bei jungen Patienten
Besonderheiten bei geriatrischen
Patienten –internistische Notfälle
Homöostase–Homöostase–Homöostase

erschwerte Anamnese (Demenz/Delir)
 zahlreiche Vorerkrankungen
 multiple Vormedikation
 veränderte Empfindlichkeit für Medikamente
(Analgetika↑ , Katecholamine↓), verlängerte
Anschlagzeit
 Thermomanagement (schnelles Auskühlen, langes
Aufwärmen)
 Schmerztherapie (reduzierte Dosis, cave:
Atemdepression
Besonderheiten bei geriatrischen
Patienten –internistische Notfälle
Robert Emil Lembke (1936-1989)
deutscher Journalist und
Fernsehmoderator
„Alt werden ist natürlich kein reines
Vergnügen. Aber denken wir an die einzige
Alternative.“
Robert Lembke
Besonderheiten bei geriatrischen
Patienten -Traumatologie
Homöostase–Homöostase–Homöostase




Vormedikation (ASS, Plavix, Marcumar, neue
orale Antikoagulanzien)  schon ein
kleines Trauma kann zu einer bedeutenden
Blutung führen
Osteoporose (Frakturen!)
Thermomanagement (schnelles Auskühlen,
langes Aufwärmen)
Schmerztherapie (reduzierte Dosis, cave:
Atemdepression
Traumatologie im Alter
Delport K et al. Geriatrische Notfälle, Notarzt 2012; 28:171-180
Stürze stellen die häufigste geriatrische Unfallursache dar.
Bis zu 30% hospitalisierter älterer Patienten zeigen eine
schwere Verletzung infolge eines „Bagatellsturzes“.
Thoraxtrauma im Alter
Delport K et al. Geriatrische Notfälle, Notarzt 2012; 28:171-180

häufigste Ursache: Sturz,
dann Verkehrsunfälle
rhinisan.wordpress.com

Osteoporose, reduzierte Skelettcompliance->
Frakturen

für jeden zusätzlichen Rippenbruch entsteht ein
zusätzliches Sterblichkeitsrisiko von 19%

das Risiko, eine Pneumonie zu entwickelt,
nimmt dabei um 27% zu

Schmerztherapie (reduzierte Dosis, cave:
Atemdepression
Schädel-Hirn-Trauma im Alter
Delport K et al. Geriatrische Notfälle, Notarzt 2012; 28:171-180

eine normale klinische Untersuchung und ein
normaler GCS schließen nicht in allen Fällen
eine signifikante Verletzung aus (zerebrale
Atrophie  vergrößerter intrazerebraler Raum)

Bewusstseinsstörungen nicht primär einer
Demenz zuschreiben

Therapie mit oralen Antikoagulanzien
Zunahme intrazerebraler Blutung
Besonderheiten bei geriatrischen
Patienten – traumatologische Notfälle
Peter Bamm, eigentlich Curt Emmrich
(1897-1975), deutscher Arzt,
Journalist und Schriftsteller.
„Im Grunde haben die Menschen nur
zwei Wünsche: Alt zu werden und
dabei jung zu bleiben.“
Peter Bamm
Fazit
Für geriatrische Patienten gilt:






erschwerte Anamnese (Demenz/Delir)
viele Vorerkrankungen
multiple Vormedikation
diskrete/atypische Symptome
schwerwiegende Folgen leichter Verletzungen
veränderte Empfindlichkeit gegenüber
Medikamentenwirkung
Behandlung in engen Grenzwerten
Probleme antizipieren & präventiv handeln
Zum Nachlesen:
Herminghaus A, Löser S, Wilhelm W (2012) Geriatrische Anästhesie
Der Anaesthesist, Teil 1 = Februarheft, Teil 2 = Aprilheft
Der Anaesthesist 2012
Teil 1 = Februarheft
Der Anaesthesist 2012
Teil 2 = Aprilheft
Zum Nachlesen:
Singler H et al. Besonderheiten bei älteren Notfallpatienten, Notfall
Rettungsmed 2012; 15: 255-264
Delport K et al. Geriatrische Notfälle, Der Notarzt, 2012; 28: 171-180
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
„Die jungen Menschen von heute sollten
gelegentlich daran denken, dass sie die alten
Herrschaften von morgen sein werden.“
Evelyn Waugh
Herunterladen