SCHR NATURWISS VER SCHLESW-HOLST 74 3–10 Kiel XI-2014 FORSCHUNGSBEITRAG Zur Kasuistik eines sekundären Schultergelenkes des Mannes Kü-Br 47/82 Olav Röhrer-Ertl München Das zwischen 1981 und 1983 ergrabene bajuwarische Reihengräberfeld der Merowingerzeit von Künzing-Bruck, Lkr. Deggendorf, Niederbayern, wurde durch den Verfasser 1984/85 anthropologisch bearbeitet. Diese Aufarbeitung ist sehr breit angelegt worden, weil ausführliche Publikationen dieses ungewöhnlichen Gräberfeldes in Aussicht gestellt worden waren. Leider haben sich dann die Pläne der Archäologen zerschlagen. Sowohl die anthropologische Bearbeitung, als auch die archäologische legten unabhängig voneinander nahe, daß die belegende Population etwa um 600 von Südosten aus Pannonien eingewandert ist, sich also der awarischen Herrschaft entzogen hatte (Hannibal 1995, 1996, Röhrer-Ertl 1996). Zu dieser Zeit bildete sich unter ungeklärten Umständen gerade das bajuwarische Herzogtum heraus, da die zuvor dort beherrschende Macht, das Thüringer Großreich, von den Franken vernichtet worden war – mit Hilfe östlicher und nördlicher Nachbarn desselben. Andere Untersuchungsergebnisse legen eine genetisch engere Beziehung zur der St. Emmeramshügel in Regensburg belegende Population nahe (Röhrer-Ertl 1995). Auch wenn die Künzing-Bruck belegende Population zur unteren Führungsschicht des politischen Volkes der Bajuwaren gehört haben dürfte, war sie also mit sozial höherstehenden Verbänden verwandtschaftlich verbunden. Gräberfeld Künzing-Bruck, Paläoanthropologie, Merowingerzeit, Migration, Kampfverletzung Der spät-adulte (30-40 a) Mann Kü-Br. 47/82 war pyknomorph (breitwüchsig), metroplastisch (mittelstark bemuskelt), mager (aber nicht abgemagert) und in der Art eines modernen Breitensportlers beweglich und körperlich allseitig ausgebildet. Dabei erscheint zeittypisch, daß er eine stärker ausgebildete Bein- als Armmuskulatur zeigte. Die Kopf- bzw. Schädelform SCHRIFTEN DES läßt sich typologisch als faelid/dinarid bescheiben, also mit mittellangem Hirn- und hoch-schmal-kurzem Gesichtsschädel bei tiefer Profilierung. Die morphologischen Einzelzüge waren dann eher robuster Natur. Dabei sind die Augen mittelhoch, die Nase ist an der Wurzel tief eingesattelt und konvex gebogen mit weich gerundetem Rücken usw. (Abb. 3 - 7) NATURWISSENSCHAFTLICHEN VEREINS SUBMITTED 06-03-2012 ACCEPTED 06-11-2014 ONLINE 14-12-2014 FÜR SCHLESWIG-HOLSTEIN © 2014 The Author 4 RÖHRER-ERTL Abbildung 1a: Scapula dextra und Caput humeris dexter mit sekundärem Schultergelenk von dorsal in Aufsicht. Abbildung 1b: Scapula dextra und Caput humeris dexter mit sekundärem Schultergelenk in Röntgenansicht. Dieser Typus wurde pannonid genannt (Röhrer-Ertl 1991), da er dort auch heute noch auffällig verbreitet ist. Typologisch entspräche das also dem Reihengräbertyp (Ecker 1865) oder dem sarmatischen Typ (v.Hölder 1881). Längere Zeit wurden solche Individuen auch als cromagnid/cromagniform (Perret 1938) bezeichnet. Während Ecker lediglich einen gefundenen Zustand beschrieb, vermutete v.Hölder eine Verbindung nach Pannonien („Sarmaten“) und Perret vermutete aufgrund der Einzelformen-Kombination einen solchen mit den Cromagniden Südwest-Frankreichs, Nordafrikas usw. Er überstrapazierte damit aber die typologische Methode ebenso wie die der Phänomenologie. Hier wird zunächst Ecker gefolgt, wobei Hölder in diesem Einzelfall Recht gegeben wurde. Das Material von Künzing-Bruck enthält u.a. auch hochinteressante Palaeopathologica, welche in Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Dr. Kurt-Walter Frey – seinerzeit Zentrale Röntgenabteilung des Innenstadtklinikums der LMU – begutachtet und diagnostiziert wurden. Zwar meint Verf., daß alle Palaeopathologica nur im Zusammenhang mit einem Gesamtmaterial von einigem Wert sein können, hält aber in diesem speziellen Fall eine Vorpublikation dennoch für sinnvoll. ZUR KASUISTIK EINES SEKUNDÄREN SCHULTERGELENKES Abbildung 2a: Schädelriß in Norma frontalis mit nach frontal ziehenden Rissen von Hieb 1 bis 3. 5 Abbildung 2b: Schädelriß in Norma lateralis sinistra. BEFUNDE UND DISKUSSION. Als recht wesentlich stellt sich folgender Befund dar: Es zeigt die rechte Schulter mit anterior habitueller Luxation des Caput humeris (Oberarmkopf) nach ventral verdreht, wobei er auf der Scapula (Schulterblatt) ein neues Schultergelenk bildete – und zwar durch arthrotische Hartgewebeum- und – Neubildung. Beides wird in makroskopischer Aufsicht und im Röntgenbild deutlich (Abb. 1a + b). An Bewegungseinschränkungen ergaben sich nur wenige. Anders als mit primärem Schultergelenk wurden nun Bewegungen nach vertical (oben) und ventral (vorn) nur eingeschränkt möglich. Dennoch ist der Arm laut Muskelinsertionen wie normal benutzt worden. Es waren sogar Schwertkämpfe möglich. Schwertkämpfe vor dem 10. Jh. (Erfindung des Stahls durch Ulfberht und Hilteprecht, offenbar im Siegerland) waren nur als Schwunggefechte möglich. Die merowingerzeitlichen Klingen hatten einen Kern aus echter Damaszierung (bis zu 12fach gefalteter Schmiedestahl), an den dann die aus einfachem Schmiedestahl bestehenden Schneiden per Schmiedeschweißung angeheftet wurden. Solche Klingen waren empfindlich und durften möglichst nicht auf harte Oberflächen auftreffen. Der Schwertkämpfer bewegte die Spatha folglich in raschen Kreisbewegungen, um den Gegner auf Distanz zu halten und selbst eine Deckungslücke bei diesem zu erkennen usw. Von daher benötigen solche Klingen dann auch keine Parierstangen oder Degenkörbe als Handschutz. Es versteht sich wohl von selbst, daß die Schwungkreise beim Schwungfechten nicht allein mit Hilfe der Arme erzeugt wurden, sondern der gesamte Körper dabei einzusetzen war. Beide Kämpfer umkreisten sich dabei, um, wenn möglich, in eine Deckungslücke hinein 6 RÖHRER-ERTL Abbildung 3a: Abb. 4b: Schädelriß in Norma occipitalis mit Eintrag von Hieb 1 bis 3 mit davon ausghehenden Rissen. Abbildung 3b: : Schädelriß in Norma lateralis dextra mit Eintrag von Hieb 1 bis 3 und davon ausgehenden Rissen. ein Touché anzubringen, welches den Gegner kurzfristig angreifbar machte. Erst danach konnten finale Hiebe angebracht werden. Da in kriegerischen Zusammenstößen stets mehrere Personen verwickelt waren und sind, waren und sind dabei bei Schwungfechten (Kavallerie bis in den 2. Weltkrieg hinein) möglichst nicht durch passive Bewaffnung geschützte Körperstellen anzuvisieren (z.B. Hals). In rituellen Zweikämpfen („Gottesurteile“) werden von 2 Personengruppen einander gleichwertige Kämpfer gegeneinander gestellt, um in der Regel Rechtshändel zu entscheiden. Beide sind gleich bewaffnet und ohne jede Schutzbewaffnung. Der Kampf endete mit dem Tode mindestens eines der Beiden. die Bewegungen dieses Armes erkennbar eingeschränkt hatte. Offensichtlich konnte Kü-Br 47/82 dieses Manko aber durch stärkeren Körpereinsatz ausgleichen. Andernfalls hätte er ja nicht Verlierer eines rituellen Zweikampfes werden können. Am Rande sei erwähnt, daß die arthrotische sekundäre Schultergelenksbildung ganz sicher nicht ohne Schmerzen geblieben war, hier also auch gezeigt werden kann, daß unsere Vorfahren – ähnlich bekannten Naturvölkern – Schmerzen psychisch zu beherrschen verstanden. Schließlich sind Schmerztherapien aus der Ethnomedizin nicht bekannt. Genau das ist im Falle Kü-Br 47/82 der Fall gewesen, wie 3 scharfe Hiebverletzungen belegen. Das scheint hier insofern interessant zu sein, als ja Kü-Br 47/82 ein sekundäres rechtes Schultergelenk ausgebildet hatte, welches Hier seien die 3 scharfen Hiebverletzungen einzeln vorgestellt (Abb. 2–5): Hieb 1: Hieb 1 verursachte eine Kerbe im medio-occipitalen Bereich des linken Os parietale (Scheitelbeins), wurde als durchgezogener Hieb mit rechts angestellter Klinge (also aus Rechtsbogen heraus) angebracht und verletzte nach Lage der Dinge keine Hirnhäute ZUR KASUISTIK EINES SEKUNDÄREN SCHULTERGELENKES 7 Abbildung 4a: Auftreffpunkte von Hieb 1 und 3 mit davon ausgehenden Rissen in Aufsicht. Abbildung 4b: Schädelriß in Norma verticalis mit Eintrag von Hieb 1 bis 3 (Auftreffpunkte: A) und davon ausgehenden Rissen. (Abb. 4a). Von ihm gehen nach baso-dorsal wie baso-ventral Risse aus, welche quasi eine Knochenschuppe ablösten. Angemerkt sei, daß bei durchgezogenen Hieben die Klinge vom Heft zum Ort schneidend durch die Wunde läuft und somit ein Festbeißen der Klinge zu vermeiden ist. Dagegen schneidet ein gerader Hieb mit dem auftreffenden Teil der Klinge gerade in die Wunde ein, wobei hier ein Festbeißen der Klinge nicht immer vermeidbar wird. Allerdings kann damit ein finaler Hieb stets dann angebracht werden, wenn keine Gefahr von Dritten droht, also nicht in kriegerischen Gefechten, wo es ausschließlich auf die Wehrlosmachung eines Gegners ankommt. Der kann dann anschließend erfolgreich wundärztlich behandelt werden, was in Reihengräberfeldern immer wieder nachweisbar wird. Hieb 2: Das Os parietale dextrum wurde medio-sagittal – etwa parallel zur Sutura sagittalis (Pfeilnaht) auf einer Länge von 52 mm angeschnitten – wiederum mit einem durchgezogenen Hieb. Auch von hier aus gehen Risse aus, welche aber z.T. in denen des Hiebes 1 enden, folglich später auftraten (Abb. 2–5). Dieser Hieb erfolgte mit links angestellter Klinge, kam also aus einem Linksbogen. Hieb 3: Das rechte Os parietale wurde ein weiteres Mal – hier wieder medio-occipital – von einem geraden Hieb mit links angestellter Klinge (also aus einem Linksbogen heraus) getroffen. Er fuhr in Hieb 1 hinein und zertrümmerte die zuvor abgelösten Knochenschuppen (Abb. 2–5). Dabei überschritt er die Sutura lambdoidea (Lambdanaht), 8 RÖHRER-ERTL Aufgrund der scharfen Traumata lassen sich die letzten Sekunden von Kü-Br 47/82 rekonstruieren. Kü-Br 47/82 war – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr voll konzentriert, als sein Gegner in einer auf dem rechten Fuß als Standbein ausgeführten Linksdrehung nach rückwärts die Möglichkeit zur Anbringung eines Touché wahrnahm – und zwar im Rücken von Kü-Br 47/82. Danach griff Kü-Br 47/82´s Gegner das Heft um, wechselte auf den linken Fuß als Standbein und brachte den nächsten Treffer aus einer Rechtsdrehung an. Dem folgte aus gleicher Richtung, aber beidhändig, ein 3. – und zwar als gerader Hieb ausgeführt - wobei durch rechtzeitiges Gegenreißen des Heftes Abbildung 5: Schädeldach mit Hieb 1 bis 3 ein Festbeißen der Klinge verhindert in verticaler Aufsicht. wurde. Kü-Br war also Verlierer des Gottesurteils und wurde dementsprewas die Umwandlung einer großen ki- chend im Tode ehrenvoll behandelt. netischen Energie voraussetzt. Kinetische Energie wird nach der Formel Im hiesigen Zusammenhang scheint e = 1/2m X v2 bereitgestellt. Und das wesentlich, daß Kü-Br 47/82 sein durch bedeutet, daß der Ort möglichst hoch das sekundäre Schultergelenk entstanzu beschleunigen ist, soll eine ent- denes Handicap offensichtlich so gut sprechende Kraft umgewandelt wer- auszugleichen wußte, daß er auch in den. Um dies bis zum Schluß zu be- Gottesurteilskämpfe geschickt worwirken, wird auch bei einem geraden den ist. (Z.B. besonders gute KörperHieb nach dem Einschnitt das Heft in beherrschung und physisch-mentale Gegenrichtung gerissen, um den Ort Ausdauer, wie sie für solche Rechtsnochmals zu beschleunigen und da- händel notwendig erscheint, da ein mit auch ein Festbeißen möglichst zu solcher Kampf über Stunden gehen verhindern, wie hier offensichtlich er- konnte. Bei Gleichwertigkeit entschied folgt. Hieb 3 sprengte den Schädel und – neben Zufällen – somit primär die Taverursachte dann auch die die Basis gesform der Kämpfer.) Denn aus heucranii durchziehenden Risse, stellte tiger Sicht scheint genau das schwer also bei weitem die meiste hier umzu- vorzustellen – allein wegen der damit setzende Energie bereit – wie bei ei- verbundenen Schmerzen. nem geraden Hieb zu vermuten stand. ZUR KASUISTIK EINES SEKUNDÄREN SCHULTERGELENKES 9 ZUSAMMENFASSUNG Der spät-adulte Mann Kü-Br 47/82 zeigte auf dem rechten Schulterblatt ein sekundäres Schultergelenk nach einem schweren Schulter-Arm-Trauma. Dabei bildete sich auf der Scapula ein sekundäres Gelenk über arthrotische Knochenum- und –Neubildungen. Die Armbeweglichkeit war nur mäßig nach oben und vorn eingeschränkt, der Arm ist bis zum Tode normal belastet worden. Daß Kü-Br 47/82 diese Beschränkungen ganz offensichtlich auszugleichen – und ebenso mit den davon ausgehenden Schmerzen umzugehen verstand – wird durch 3 scharfe Schädeltraumata belegt, deren Charakteristika dafür sprechen, daß sie ohne passive Bewaffnung empfangen wurden, also nahelegen, sie zeigten den Verlierer eines Gottesurteils an, wie er in Reihengräbern häufiger gefunden wird. LITERATUR Ecker, A.: Crania germaniae meridionalis occidentalis. Beschreibung und Abbildung von Schädeln früher und heutiger Bewohner des südwestlichen Deutschlands und insbesondere des Großherzogtums Baden. Ein Beitrag zur physischen Beschaffenheit und Geschichte der deutschen Stämme. – Freiburg/Br. 1865. Hannibal, A.S.: Das bajuwarische Gräberfeld von Künzing-Bruck, Lkr. Deggendorf. – Diss.phil. Bonn – Neuwied: Selbstverlag 1995. ..: Das bajuwarische Gräberfeld von Künzing-Bruck, Lkr. Deggendorf. – Archäologisches Nachrichtenblatt 1 (1996) 346 – 347. Hölder, H. von: Die Skelette des römischen Begräbnisplatzes in Regensburg, mit Benutzung der Untersuchungen des Herrn Pfarrers J. Dahlem. – Archiv f. Anthropologie 13 (1881) Suppl., 1 – 51. Röhrer-Ertl, O.: Das alemannische Reihengräberfeld Donaueschingen-Tafelkreuz (6 bis 8. Jahrhundert n.Chr.). Anthropologische Fallstudie zu Bevölkerungsbiologie und Bevölkerungsgeschichte. – Schriften d. Ver. F. Gesch. u. Naturgesch. D. Baar 37 (1995) 127 – 214. ..: Zu Individuum III und IV – Timotheus und Wulflec. In: O.Röhrer-Ertl (Ed.): Personen und ihre Umwelt in 1000 Jahren Regensburger Geschichte. Forschungsergebnisse aus Anthropologie und Nachbarwissenschaften. – Regensburg 1995, 14 – 48. ..: Vorbericht über die Ergebnisse der anthropologischen Untersuchung des bajuwarischen Reihengräberfeldes von Künzing-Bruck. – Archäologisches Nachrichtenbl. 1(1996) 348 – 349. 10 RÖHRER-ERTL ON THE CASUISTICS OF A SECONDARY SHOULDER JOINT OF THE MAN KÜ-BR 47/82 Olav Röhrer-Ertl The late adult Man Kü-Br 47/82 showed on the right a secondary shoulder joint was found on the scapula, resulting from a heavy shoulder-arm-syndrome. The joint formed on the scapula via arthrotic bone re-formation and new bone formation. The mobility of the arm was only somewhat limited upwards and forwards, while the arm was used normally up until death. That Kü-Br 47/82 was obviously able to compensate for these limitations – and was also able to deal with the connected pain – is attested by 3 sharp skull traumata, whose characteristics attest that they were received without passive armament; they suggest that this was the loser of a trial by ordeal, which commonly occur in grave rows. Dr. O. Röhrer-Ertl ([email protected]) Gebelestraße 24 81679 München