Jürgen Ziegler Der Begriff der Konnexion bei Tesnière

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Jürgen Ziegler
Der Begriff der Konnexion bei Tesnière
Series A: General & Theoretical Papers
ISSN 1435-6473
Essen: LAUD 1999 (2., unveränderte Auflage 2006)
Paper No. 499
Universität Duisburg-Essen
Jürgen Ziegler
Fukushima University (Japan)
Der Begriff der Konnexion bei Tesnière
Copyright by the author
1999 (2., unveränderte Auflage 2006)
Series A
General and Theoretical
Paper No. 499
Reproduced by LAUD
Linguistic Agency
University of Duisburg-Essen
FB Geisteswissenschaften
Universitätsstr. 12
D- 45117 Essen
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Jürgen Ziegler
Der Begriff der Konnexion bei Tesnière1
1. "Der Satz", so lehrt Tesnière, "ist ein organisiertes Ganzes, dessen konstitutive Elemente die
Wörter sind." (1,2) Zwischen den Wörtern eines Satzes "erfaßt der Geist Konnexionen, deren
Gesamtheit das Gerüst des Satzes bildet". (1,3) Dieses Gerüst ist die Struktur oder, wie Tesnière
auch sagt, die "strukturale Ordnung" (4) des Satzes; die Untersuchung dieser Struktur ist die
Aufgabe der Syntax. (2,6)
In diesen wenigen einführenden Bestimmungen ist nicht nur der Plan zu den Eléments in
nuce enthalten, in ihnen scheint auch das Erkenntnisinteresse durch, das die Untersuchung
Tesnières leitet und das dieser Untersuchung die Methode vorschreibt. Dieses Interesse artikuliert
sich nicht oder doch nicht in erster Linie in der Frage "Was ist ein Satz?"; es artikuliert sich
grundlegender in der Frage "Wie konstituiert sich sprachlicher Sinn in der Rede?". Die Antwort,
die Tesnière auf diese Frage gibt, lautet: Sprachlicher Sinn konstituiert sich im Satz; er
konstituiert sich im Satz durch die Wörter bzw. über den Wörtern; die raison d'être des Satzes ist
die Konstitution sprachlichen Sinns aus Wörtern. Folglich ist die Frage, wie der Satz strukturiert
ist, identisch mit der Frage, wie die Wörter im Satz als der sinnkonstitutiven Einheit, die er ist,
organisiert sind oder organisiert sein müssen; und die Untersuchung des Satzes in der Syntax ist
identisch mit der Untersuchung der Art und Weise der Sinnkonstitution.
2. Wie ist die "strukturale Ordnung" näherhin beschaffen? Diese Frage wird fürs erste
beantwortet, indem wir die Eigenschaften der Konnexion angeben. Vier Bestimmungen sind
dabei von Bedeutung. Erstens: Die Konnexion ist zweistellige Relation; die Glieder der Relation
sind Wörter. Zweitens: Die Konnexion "etabliert" zwischen ihren Gliedern ein Dependenz- oder
Abhängigkeitsverhältnis (2,1): b hängt ab von a. In jeder Konnexion gibt es daher ein Glied, das
übergeordnet ist, das Regens ("régissant"), und ein zweites Glied, das untergeordnet ist, das
Dependens ("subordonné"). Dargestellt wird dieses Verhältnis durch den Konnexionsstrich, der
vertikal oder schräg (3,8) verläuft und von oben nach unten das Regens mit seinem Dependens
verbindet:
a
b
1
Wir beziehen uns im folgenden auf Tesnières Eléments de syntaxe structurale, kurz Eléments genannt.
Wir zitieren in deutscher Übersetzung, wobei wir uns so weit wie möglich der Über-setzung der
Eléments durch U. Engel bedienen; Abweichungen davon verantworten wir selbst. Die
Referenzangaben bezeichnen Kapitel und Absatz, denen die Zitate entnommen sind, so daß sie sowohl
im Original als auch in U. Engels Übersetzung leicht aufzufinden sind.
1
Es gilt drittens, daß jedes Dependens seinerseits als Regens fungieren kann, nicht aber
umgekehrt; daraus folgt, daß es in jedem Satz ein oberstes Regens gibt:
Es gilt schließlich viertens, daß ein Regens mehrere Dependentien haben kann, jedes
Dependens aber nur von einem einzigen Regens regiert wird; d.h. ein und dasselbe Regens
kann als Regens verschiedenen Konnexionen angehören:
Die Konnexionen bilden so eine Hierarchie mit einem einzigen Regens an der Spitze. Diese
Hierarchie ist die "strukturale Ordnung"; sie erscheint in der Darstellung als Stemma.
Beispielsweise sieht das Stemma des Satzes diese alte Hexe schielt abscheulich wie folgt
aus:
3. Die syntaktische Beschreibung kann sich nicht damit zufrieden geben, die stem-matische
Form einzelner konkreter Sätze darzustellen. Sie handelt ja nicht von diesem oder jenem
Satz (einer Sprache), sondern vom Satz überhaupt (einer Sprache); sie muß den Begriff des
Satzes (einer Sprache) explizieren. Dazu sind Generalisierungen erforderlich. Tesnière
greift zu diesem Zweck auf die traditionelle Grammatik zurück. Dieser ist er ohnehin mehr
verpflichtet, als er sich selbst eingestehen möchte; schon die Unbefangenheit, mit der er den
Begriff des Worts als syntaktischen Basisbegriff verwendet, weist ihn als Traditionalisten
aus. Ganz im Einklang mit der Tradition geht er davon aus, daß die erforderlichen
Generalisierungen im wesentlichen in der Klassifikation der Wörter in Wortarten geleistet
werden. In einem ersten Schritt unterscheidet er dabei "volle Wörter" und "leere Wörter", je
nachdem ob die Wörter eine "semantische Funktion" oder, wie wir vielleicht besser sagen,
eine gegenständliche Bedeutung haben oder nicht (28,1-3) - es ist die bekannte
Unterscheidung von Autosemantika und Synsemantika, von Begriffswörtern und
Formwörtern. Die vollen Wörter - und die interessieren hier - teilt Tesnière auf in die
traditionellen vier Grundwortarten, also in Substantiv, Verb, Adjektiv und Adverb; dabei
2
setzt er ontologisch und logisch motivierte semantisch-"kategoriale" Klassifikationskriterien
an: Substanz und Geschehen, konkret und abstrakt. Die Wörter, die die im Prinzip konkrete
Substanz bezeichnen, sind die Substantive; die Wörter, die das im Prinzip konkrete
Geschehen bezeichnen, sind die Verben; die Wörter, die die abstrakten Eigenschaften der
Substanz bezeichnen, sind die Adjektive; die Wörter, die die abstrakten Eigenschaften eines
Geschehens bezeichnen, sind die Adverbien. (32)
Diese Generalisierungen erlauben es, vom "realen Stemma" zum "virtuellen Stemma
überzugehen. (33,12) Das virtuelle Stemma des oben im realen Stemma dargestellten Satzes
diese alte Hexe schielt abscheulich erhält man, wenn man statt der Wörter des Satzes
Symbole einsetzt, die die Wortarten repräsentieren. In Anlehnung an die Wortendungen im
Esperanto wählt Tesnière für das Substantiv O, für das Verb I, für das Adjektiv A (auch das
Artikelwort diese wird als Adjektiv klassifiziert) und für das Adverb E:
Ein und dasselbe virtuelle Stemma kann verschiedenen realen Sätzen zugrunde liegen. So
können wir dem Satz eure junge Kusine singt herrlich dasselbe virtuelle Stemma
zuschreiben wie dem Satz diese alte Hexe schielt abscheulich. Beide Sätze sind, so
Tesnière, "nach demselben strukturalen Schema konstruiert" (33,14); sie sind strukturell
identisch. Jedes virtuelle Stemma definiert so eine offene Klasse strukturidentischer Sätze
und ist insofern Satzbauplan oder Satzmodell.
4. Ich möchte nun die Behauptung aufstellen, daß Tesnière durch die semantisch- bzw.
ontologisch-kategoriale Definition der Wortarten eine Betrachtungsweise ins Spiel bringt, die
seinen ursprünglichen theoretischen Ansatz kontaminiert. Um dies zu sehen, müssen wir uns dem
Begriff der Konnexion zuwenden, den wir eingangs zwar kurz erwähnt haben, der aber bei der
Konstruktion der Stemmata spurlos im Begriff der Dependenzrelation aufgegangen zu sein
scheint. Die Ausführungen Tesnières zum Begriff der Konnexion sind ziemlich spärlich; sie sind
außerdem nicht so klar, wie dies wünschenswert wäre, sind eher Andeutungen. Dennoch müssen
wir Tesnière ernst nehmen, wenn er sagt, daß der Begriff der Konnexion die Grundlage der
gesamten strukturalen Syntax bilde2 - ein Anspruch, der sich auch darin dokumentiert, daß der
erste Teil der Eléments, der immerhin 133 Kapitel umfaßt, den Titel Die Konnexion trägt.
Was also hat man unter dem Begriff der Konnexion zu verstehen? Tesnière versucht, dies
am Beispiel des Satzes Alfred spricht klarzumachen. "Wenn ich sage Alfred spricht, dann
meine ich nicht einerseits 'es gibt einen Menschen namens Alfred' und andererseits 'jemand
spricht', sondern ich meine, und zwar gleichzeitig, 'Alfred vollzieht die Tätigkeit des Sprechens'
und 'der Sprecher ist Alfred'. Daraus folgt, daß ein Satz vom Typ Alfred
2
"La notion de connexion est ainsi à la base de toute la syntaxe structurale. On ne saurait donc trop
insister sur son importance." (1,11)
3
spricht nicht aus zwei Elementen besteht, nämlich aus Alfred und spricht, sondern aus drei
Elementen, erstens aus Alfred, zweitens aus spricht und drittens aus der Konnexion, die sie
verbindet und ohne die es keinen Satz gäbe". (1, 4/5) Die morphologische Analyse, die nur
die beiden ersten Elemente finden kann, sei oberflächlich und gehe am Wesentlichen,
nämlich der syntaktischen Verbindung, vorbei. (1,5) Dies bedeutet, daß die Konnexion,
obzwar das "Wesentliche", auf der Lautseite keine Entsprechung hat: "Die Konnexionen
werden durch nichts angezeigt" (1,4), haben, wie es an anderer Stelle heißt, "keinen
Markanten" (16,12); 3 gleichwohl werden sie vom Geist erfaßt (1,3).
Tesnière behauptet damit nicht, daß die Konnexion auf der Lautseite gar nicht dargestellt
werden könne. Sie kann sehr wohl dargestellt werden, vornehmlich durch Wortstellung und
durch grammatische Kongruenz. In der Wortstellung kann sie zum Ausdruck kommen, wenn
zwei Wörter, die durch Konnexion verbunden sind, unmittelbar nebeneinander stehen (6,5); in
der grammatischen Kongruenz kann sie zum Ausdruck kommen, wenn zwei Wörter, die durch
Konnexion verbunden sind, "durch einander entsprechende Zeichen markiert sind" (6,9). Die
Rede, daß die Konnexion keinen Markanten habe, soll vielmehr besagen, daß ihr auf der
Lautseite kein eigenes Wort oder Morphem entspricht, daß die Konnexion also in der
morphologischen Analyse, die den Satz als lineare Zeichenfolge zum Gegenstand hat und die
einfachen Zeicheneinheiten dieser Folge identifiziert, nicht ermittelt werden kann.
Tesnières Analyse des Satzes ist ihrem Selbstverständnis nach denn auch nicht
morphologische Analyse, sondern Strukturanalyse. Gegenstand der Sturkturanalyse ist der Satz
als Sinneinheit, und zwar als synthetische Sinneinheit; sie analysiert den Satz unter dem
Gesichtspunkt seiner synthetischen Einheit. Dabei setzt sie die morphologische Analyse
notwendigerweise voraus, indem sie die Grundeinheiten der morphologischen Analyse, die
Wörter, als Elemente des Satzes anerkennt; sie geht aber über die morphologische Analyse hinaus
und benennt das Strukturglied, das die einfachen Zeicheneinheiten verbindet und damit die
Sinneinheit des Satzes stiftet - eben die Konnexion.
Die Redeweise, daß der Satz synthetische Einheit ist und daß die Konnexion diese Einheit
stiftet, verweist darauf, daß die Strukturanalyse ihrer Bestimmung nach funktionale Analyse ist.
Sie erfolgt in funktionalen Begriffen. Welches auch immer diese Begriffe im einzelnen sein
mögen, sie lassen sich letztlich immer auf die Begriffe des Funktors und des Arguments
zurückführen. Die Konnexion ist ihrer Konzeption nach Funktor; sie stiftet die syntaktische
Einheit und damit die syntaktischen Verhältnisse. Man kann das Verhältnis von Funktor und
Argument in operative Zeichen zu fassen, z.B. F(a,b): F steht für den Funktor, a und b stehen für
die Argumente. Tesnières Schreibweise weicht davon ab, leistet aber dasselbe; der Funktor nennen wir ihn Konnektor - erscheint als Konnexionsstrich, der die Argumente verbindet. Diese
Darstellungsweise hat sogar den Vorteil, daß sie anschaulich vor Augen führt, daß Konnektor und
Argumente zwar gleichermaßen Strukturglieder der Einheit sind, aber doch nicht Strukturglieder
von derselben Art.
Der Konnektor bestimmt, wie die Argumente funktionieren, d.h. welche Funktion ihnen
innerhalb der synthetischen Einheit, deren Teil sie sind, zukommt. Die Argumente sind durch
den Konnektor hinsichtlich ihrer Funktion im Ganzen bestimmt. Man sieht
3
Manchmal schränkt Tesnière allerdings ein: "C´est ainsi que, le plus souvent, la connexion n´a pas de
marquant." (17,2).
4
sofort, daß in Tesnières Analyse des Satzes Alfred spricht diese funktionale Bestimmtheit
der Argumente Alfred und spricht nicht sichtbar wird. Sie kann auch gar nicht sichtbar
werden, da diese Analyse eben nur zur Hälfte funktionale Analyse ist, zur anderen Hälfte
aber in der morphologischen Analyse stecken bleibt. So gewiß nämlich die funktionale
Analyse die morphologische Analyse voraussetzt, so gewiß ist die morphologische Analyse
nicht einfach ein Bestandteil der funktionalen Analyse. Tesnière ist sich dessen bewußt. Er
behebt den Mangel, indem er der Herausarbeitung des Funktors im Begriff der Konnexion
die Herausarbeitung der funktionalen Bestimmtheit der Argumente folgen läßt. Er lehrt:
"Die strukturalen Konnexionen etablieren zwischen den Wörtern Dependenzbeziehungen.
Jede Konnexion verbindet ("unit") prinzipiell ein übergeordnetes Glied" - ein Regens - "mit
einem untergeordneten Glied" - einem Dependens. (2,1/2) Erst mit der Einführung der
Dependenzbeziehung vollendet sich die fundamentale funktionale Analyse, sind die
fundamentalen strukturalen Begriffe erarbeitet.
Damit können wir auch die oben aufgeworfene Frage nach dem Unterschied zwischen
Konnexion einerseits und der Dependenzrelation andererseits beantworten. Die Konnexion ist die
fundamentale syntaktische Relation schlechthin, ist der einheitsstiftende syntaktische Funktor.
Als solche ist sie konstitutiv, ist sie konstitutive Relation.4 Das bedeutet: Die in ihr verbundenen
Glieder erhalten ihre Bestimmtheit, die funktionale Bestimmtheit ist, ausschließlich durch diese
Relation; die funktionale Bestimmtheit selbst besteht darin, daß das eine Relationsglied Regens,
das andere Relationsglied Dependens ist. Die Konnexion begründet die Bestimmtheit der
verbundenen Glieder und damit auch die Bestimmtheit der Dependenzbeziehung, in der die
Glieder zueinander stehen.
Kehren wir nun zum virtuellen Stemma zurück. Wir sagten, das virtuelle Schema sei
Satzmodell, da es eine offene Klasse strukturidentischer Sätze definiere. Dennoch ist es als
Satzmodell für die syntaktische Beschreibung von geringem Wert, da es gerade das nicht leistet,
was man von einer Satzmodellierung erwarten muß, nämlich die unbegrenzte Anzahl möglicher
Sätze einer Sprache "auf eine begrenzte Zahl von Modellen zurückzuführen"5. Die Menge der
virtuellen Stemmata ist nämlich wie die Menge der Sätze einer Sprache unbegrenzt; beide sind
von derselben Mächtigkeit. - Im Rahmen einer Argumentation, die den Begriff der Konnexion
systematisch entfaltet, gewinnt das virtuelle Stemma einen ganz anderen Stellenwert: ihm kommt
heuristische Funktion zu. Das virtuelle Stemma hilft dabei, die Strukturverhältnisse nicht dieses
oder jenes Satzes, auch nicht dieser oder jener Klasse von Sätzen, sondern die
Strukturverhältnisse des Satzes überhaupt aufzudecken. Am virtuellen Stemma werden die reinen
syntaktischen Strukturverhältnisse sichtbar. Darin liegt, daß es zwischen I, O und E keine anderen
Konnexionsmöglichkeiten geben kann als die, die im virtuellen Stemma dieses oder jenes Satzes
sichtbar werden, daß also immer gilt: I ist oberstes Regens und regiert O und E, O regiert A. Diese Generalisierung erlaubt es, vom virtuellen Stemma dieses oder jenes Satzes zum Schema
der syntaktischen Strukturverhältnisse überhaupt überzugehen. Ergänzend ist nur noch
anzugeben, daß A als Regens immer E regiert, und daß E als Regens immer E regiert. Das
Schema der syntaktischen Strukturverhältnisse präsentiert sich dann wie folgt:
4
5
Zum Begriff der konstitutiven Relation vgl. Wagner, H. (1980), 124 f., und Patzig, G. (1973), 1226 ff.
Patzig spricht von "interner Relation".
Helbig, G. (1992), 126.
5
Dieses Schema 6 ist offen und doch vollständig. Es ist offen, weil es eine iterative
Konnexion gibt, nämlich E-E (E regiert E). Und es ist vollständig, da andere Konnexionen
als die im Schema dargestellten grundsätzlich ausgeschlossen sind.
Das Schema der syntaktischen Strukturverhältnisse ist kein Satzmodell im Sinne des
virtuellen Stemmas; es ist reines syntaktisches Schema. Da es vollständig ist, ist es der
Inbegriff der syntaktischen Verhältnisse überhaupt. Die Anzahl der virtuellen Stemmata ist
unbegrenzt; das reine syntaktische Schema gibt es nur im Singular. Gestiftet durch die
Konnexion ist die Wortartbestimmtheit der vollen Wörter rein funktionale Bestimmtheit; sie
ist integraler Bestandteil der strukturalen Ordnung des Satzes. Deshalb stehen die Symbole
der Wortarten (A, E, I, O) in diesem Schema für syntaktische Konstanten. Liest man sie als
Variablen, dann nimmt man dem Schema seine konstruktive Bedeutung und bringt es in den
Rang eines beliebigen virtuellen Stemmas zurück.
Im Hinblick auf das reine syntaktische Schema gewinnt die negative Aussage, die
Konnexion habe keinen Markanten, einen eminent positiven Sinn. Sie besagt jetzt nämlich,
daß sich die Struktur des Satzes ursprünglich qua Wortartbestimmtheit der vollen Wörter
etabliert. Darin liegt, daß die semantische (gegenständliche) Funktion der Wörter und die
syntaktische Funktion der Wörter aufs engste zusammengehören; daß das eine nicht ohne
das andere ist; daß Semantizität und Syntaktizität der Sprachzeichen einander wechselseitig
bedingen. Die Unterscheidung der vollen und leeren Wörter als Begriffswörter und
Formwörter führt dann in die Irre, wenn in ihr mitgedacht ist, daß den Begriffswörtern keine
formale (strukturale) Funktion zukomme; es ist in der Sprache vielmehr umgekehrt so, daß
die Begriffswörter auch die ursprünglichen Formwörter sind, während sich die "reinen
Formwörter" als Derivate erweisen. 7
Ist das reine syntaktische Schema der Inbegriff der syntaktischen Verhältnisse, dann
müssen sich auch solche syntaktischen Strukturen, die dem Schema auf den ersten Blick
nicht genügen, auf Verhältnisse des Schemas zurückführen lassen. Diese Rückführung heißt
bei Tesnière "Translation"; er widmet ihr umfangmäßig fast die Hälfte der Eléments. Die
Translation ist - kurz gesagt - eine syntaktische Operation, in der die Wortartbestimmtheit
6
7
Ein ähnliches Schema legt auch E. Werner vor. Vgl. Werner, E. (1993), 21. Aber abgesehen davon, daß
ihr dabei ein Fehler unterläuft - sie läßt A von E abhängen - , ist das Schema von Werner durch die
Einbeziehung der "Aktanten" kontaminiert.
Tesnière vertritt ausdrücklich diese Position. Vgl. 28,13.
6
eines vollen Worts in eine andere Wortartbestimmtheit überführt wird, 8 dergestalt, daß das
Ergebnis der Translation als Dependens wie ein volles Wort dieser anderen
Wortartbestimmtheit fungieren kann, als Regens aber die ursprüngliche
Wortartbestimmtheit beibehält und so die Wortartbestimmtheit seiner möglichen
Dependentien definiert (152,11). Der Ausdruck die Leiden des jungen Werthers kann die
folgende Dependenzstruktur
nur deshalb annehmen, weil das Substantiv Werther durch den Genitiv in ein Ad-jektiv
transferiert wird, dennoch aber, da ursprünglich Substantiv, ein Adjektiv regieren kann. Die
Translation ermöglicht so die systematische Erweiterung der Stemmata über das Schema
hinaus, ohne die Verhältnisse des Schemas zu transzendieren; sie macht so den eigentlich
"kreativen" Aspekt der grammatischen Konstruktion aus. Da mit dem Begriff der
Konnexion die Grundlegung der syntaktischen Verhältnisse, nicht deren produktive
Erweiterung angesprochen ist, werde ich auf den Begriff der Translation, so unverzichtbar
er im Rahmen von Tesnières Theorieentwurf ist, hier nicht näher eingehen.
5. Mit diesen Überlegungen dürfte deutlich geworden sein, daß die semantisch- bzw.
ontologisch-kategoriale Bestimmtheit der Wortarten dem Begriff der Konnexion, so wie er
bei Tesnière selbst angelegt ist, zuwiderläuft. Sind nämlich die Wortarten, das was sie sind,
dank der gegenständlich kategorialen Bedeutung der Wörter, dann ist auch ihre syntaktische
Funktion eine Folge dieser gegenständlichen Bestimmtheit, und dann ist letztlich auch der
Satz nicht anders als über die semantisch- bzw. ontologisch-kategorialen Bestimmungen zu
definieren.
Tatsächlich ist das bei Tesnière der Fall. Je mehr er sein ursprüngliches funktionales
Konzept der Konnexion aus den Augen verliert, desto konsequenter rekurriert er auf
ontologische Kategorien. Wird mit der Bestimmung der Wortarten bereits stillschweigend
unterstellt, daß den grammatischen Kategorien Seinskategorien korrespondieren, so nötigt
die Bestimmung des Satzes vollends dazu, diesen als Abbild der Wirklichkeit bzw. als deren
Modell aufzufassen. Der Satz 9, so lehrt Tesnière nämlich, ist der Ausdruck eines "kleinen
Dramas". (48,1) 10 "Wie im Drama gibt es in ihm notwendig ein Geschehen und meist auch
8
"Dans son essence, la translation consiste donc à transférer un mot plein d´une catégorie grammaticale
dans une autre catégorie grammaticale, c´est-à-dire à transformer und espèce de mot en une autre espèce
de mot." (152,1)
9 Gemeint ist der Satz, dessen oberstes Regens ein Verb ist. Tesnière nennt auch solche phrastische
Strukturen, deren oberste Regentien Substantive, Adjektive oder Adverbien sind, "Sätze".
10 "Le noeud verbal" - d.i. der Satz, dessen oberstes Regens ein finites Verb ist - "(...) exprime tout un petit
drame." (48,1) - U. Engel versucht in seiner Übersetzung dieser Passage die ontologischen
Implikationen herunterzuspielen: "Der verbale Nexus (...) läßt sich mit einem kleinen Drama
7
noch Akteure und Umstände." (48,1) Ausdruck des Geschehens ist das Verb (48,3); Ausdruck
der Akteure sind immer Substantive (48,6), sie fungieren als Aktanten, die Akteure sind so per
definitionem die am Geschehen beteiligten Substanzen; Ausdruck der Umstände sind immer
Adverbien (48,8), sie fungieren als Zirkumstanten, die Umstände sind per definitionem immer die
abstrakten Eigenschaften des Geschehens. - Dies ist alles in höchstem Maß widersprüchlich.
Warum werden plötzlich sub specie spectaculi aus den Substanzen Akteure?; wieso sind die
"Umstände", in denen das Drama spielt, "die abstrakten Eigenschaften des Geschehens"? Wo
bleiben im Drama die Adjektive als Ausdruck der "abstrakten Eigenschaften der Substanzen"? Vollends konfus wird die Sache, wenn man den von der Systematik her gebotenen Versuch
unternimmt, die ontologische Fundierung und das Konzept der Translation unter einen Hut zu
bringen. In der Translation wird ein Wort von einer Wortartbestimmtheit in eine andere
Wortartbestimmtheit überführt; aus einem Substantiv wird beispielsweise ein Adjektiv. Wie soll
das möglich sein, wenn die Wortartbestimmtheit ontologisch-kategorial festgelegt ist? Bezeichnet
das in ein Adjektiv transferierte Substantiv statt einer Substanz nun plötzlich eine abstrakte
Eigenschaft der Substanz?; oder bezeichnet es beides? Oder wird gar die ontologische Kategorie
selbst transferiert, und aus einer Substanz wird eine abstrakte Eigenschaft? Ungereimte Fragen,
auf die es nur ungereimte Antworten geben kann.
Nun sind es gerade diese ontologisch fundierten Lehrstücke, die in der Rezeption der
Tesnièreschen Syntax aufgenommen und weiterentwickelt wurden. Bezeichnend ist, daß darin der
Begriff der Translation keine Rolle mehr spielt. Das Ergebnis ist hinlänglich bekannt: es ist die
Dependenzgrammatik, insbesondere deren "Kernstück"11 : die Valenztheorie in ihren vielen
Spielarten. Allerdings ist dort von der ontologischen Fundierung nicht mehr die Rede: die Aktanten
bezeichnen nicht mehr Substanzen, die als Akteure fungieren und nur als Akteure fungieren
können; die Zirkumstanten bezeichnen nicht mehr die abstrakten Eigenschaften des Geschehens;
und das Verb selbst wird nicht mehr definiert als Wortart, die ein Geschehen bezeichnet, sondern,
wenn überhaupt noch, eher cool als "Lexem/Wort mit Paradigma Verbal I"12 . Dies suggeriert, daß
diese Lehrstücke anders zu begründen wären. Sie sind es vermutlich nicht. Auf den Begriff der
Konnexion jedenfalls sind sie nicht zu gründen.
6. Wie wir sahen, lehrt Tesnière: Die Konnexionen etablieren Dependenzbeziehungen, d.h. in jeder
Konnexion gibt es ein übergeordnetes Glied und ein untergeordnetes Glied, ein Regens und ein
Dependens. Wenn wir ein Stemma zeichnen, dann veranschaulichen wir uns die Relation der Dependenz;
damit ist aber diese Relation nicht auf den Begriff gebracht. Was aber hat man unter der Relation der
Dependenz genau zu verstehen? Tesnière sagtdazu nichts. Die Ausführungen in der einschlägigen
Literatur sind ebenfalls nicht sehr präzis.13 Es scheint die Meinung vorzuherrschen, die
vergleichen." Dies verfälscht den Text Tesnières. Tesnière sagt, daß der Satz ein Drama "ausdrückt",
ganz so wie das Substantiv die Substanz und das Verb das Geschehen "ausdrücken" (vgl. 32,3/4).
11 Tarvainen, K. (1981), 1.
12 Engel, U. (1977), 306.
13 Beispielhaft ist Heringer (1996). Zunächst gibt er eine operationale Definition ("Wenn ...x1x2... und
...x1... wohlgeformt sind, ...x2... aber nicht, dann ist x2 dependent von x1." 33), deren
Allgemeingültigkeit er aber wenig später zurücknimmt: "Allerdings erschöpft sich die Dependenz noch
nicht in diesen distributionellen Verhältnissen. Die Definition klärt nicht in allen Fällen, welche
Elemente dominieren und welche dependent sind." (34) Und: "Eine vorgängige Definition der
Abhängigkeit ist nicht gegeben." (35) Auch die Einführung der Termini "Kopf" und "Tochter" (53)
8
Dependenzrelation sei durch das logische Bedingungsverhältnis hinreichend zu
charakterisieren. Da es bekanntlicherweise drei logische Bedingungsverhältnisse gibt nämlich Implikation, Replikation und Äquivalenz - , stellt sich sofort die Frage, welches der
drei Bedingungsverhältnisse in Anschlag gebracht werden muß. Die Antwort fällt offenbar
nicht immer eindeutig aus, und so hat man die Wahl des Bedingungsverhältnisses bisweilen
der "willkürlichen Entscheidung des Grammatikers" 14 anheimgegeben: da man
Bedingungsverhältnisse nicht beobachten könne, bleibe es dem Grammatiker überlassen,
"wie die Terme der Bedingung angeordnet werden". 15 Das ist freilich eher eine Kapitulation
vor dem Problem als dessen Lösung. - Nehmen wir einmal an, das Dependenzverhältnis sei
durch ein Bedingungsverhältnis charakterisiert, z.B. durch das Verhältnis der notwendigen
Bedingung. ´b hängt ab von a´ wäre dann zu interpretieren als ´a ist die notwendige
Bedingung für b´, oder: ´nur wenn a, dann b´. Diese Interpretation des Begriffs der
Abhängigkeit ist nicht abwegig; wir gebrauchen das Verb "abhängen" oft in dieser Weise in
der Alltagssprache. Etwa wenn wir sagen "Es hängt vom Ausgang der Wahlen ab, ob das
Kindergeld erhöht wird". Man sieht sofort, daß die so interpretierte Abhängigkeit eine
transitive Relation ist: wenn aRb und bRc, dann gilt auch aRc. Wenn wir unseren Kindern
nur dann neue Schuhe kaufen können, wenn das Kindergeld erhöht wird, dann können wir
auch sagen, daß es vom Ausgang der Wahlen abhängt, ob wir unseren Kindern neue Schuhe
kaufen können. - Diese Eigenschaft der Transitivität, die im übrigen für alle
Bedingungsverhältnisse charakteristisch ist, weist nun die Dependenzrelation im Sinne
Tesnières nicht auf. Wenn in einem Stemma b von a abhängt und c von b abhängt, dann
können wir zwar sagen, daß c irgendwie von a abhängt; wir benutzen "abhängen" aber dann
in zwei verschiedenen Bedeutungen. Dies mag klarer werden, wenn wir statt der Dependenzrelation ihre Konverse betrachten. Die Konverse der Dependenzrelation ist, wie dies
schon durch die Bezeichnungen Regens und Dependens nahegelegt wird, die Relation der
Rektion. Es handelt sich dabei freilich nicht um den traditionellen Rektionsbegriff, sondern
um dessen "rigorose Verallgemeinerung" 16 . Wenn a b regiert, und b c regiert, dann sagen
wir doch nicht auch, a regiere c. Die Relation von Regens und Dependens ist genauso wenig
transitiv wie die Relationen "Vater", "benachbart" oder "neben". Im Syntaxkonzept
Tesnières ist der Begriff der Abhängigkeit eingeschränkt: er bedeutet immer "hängt
unmittelbar ab" bzw. "regiert unmittelbar".
Die Dependenzrelation ist außerdem asymmetrisch. Dies ist aus dem Begriff der
Dependenz unmittelbar einzusehen: wenn b von a abhängt, dann ist ausgeschlossen, daß
auch a von b abhängt; wenn a b regiert, dann regiert b nicht auch a. - Schließlich ist die
bringt keine Klärung, da Heringer zur Definition dieser Termini den Begriff der Dependenz voraussetzt;
"Kopf" und "Tochter" sind nur andere Namen für die Tesnièreschen Termini "Regens" und
"Dependens".
14 Engel, U. (1977), 28.
15 Engel, U. (1970), 364.
16 Baumgärtner, K. (1970), 62.
9
Dependenzrelation mehreindeutig, die Rektionsrelation entsprechend einmehrdeutig. Diese
Eigenschaften ergeben sich unmittelbar daraus, daß jedes Dependens nur ein einziges Regens, ein
Regens aber mehrere Dependentien haben kann. Es ist die Eigenschaft, die die dependenzielle
Verzweigung des Stemmas nach unten ermöglicht.
Asymmetrie, unmittelbare Abhängigkeit und Mehreindeutigkeit bzw. Einmehrdeutigkeit sind
die formalen Eigenschaften, die der strukturalen Ordnung zugrundeliegen, insofern diese
stemmatische Ordnung ist. Nach dem bisher Gesagten kann dies aber nicht ausreichen, um die
Dependenzrelation zureichend zu charakterisieren. Die genannten formalen Eigenschaften der
Dependenzrelation sind völlig indifferent der Bestimmung gegenüber, daß die Glieder der Relation
zu einer Einheit synthetisch verbunden sind. Sie sind indifferent gegenüber dem funktionalen
Aspekt der Relation, der durch den Begriff der Konnexion etabliert wird und für die strukturale
Syntax fundamental ist. Diesem Aspekt wird Rechnung getragen, wenn man sich klarmacht, daß
sich die Glieder der Dependenzrelation, also Regens und Dependens, wie Funktion und Argument
verhalten. Funktion wollen wir hier im Sinne Freges verstehen, nämlich als etwas "Ungesättigtes",
"Unvollständiges", das mit dem Argument zusammen "ein vollständiges Ganzes bildet"17. Als
Regens ist ein volles Wort Funktion, die eine Leerstelle und damit einen Argumentbereich
definiert; der Argumentbereich ist die jeweils abhängige Wortartklasse, wie dies durch das reine
syntaktische Schema vorgegeben ist. Als Dependens ist ein volles Wort immer Argument.
Entscheidend ist, daß das Verhältnis von Funktion und Argument iterativ ist: jedes Argument kann
seinerseits Funktion sein und so seinerseits eine Leerstelle definieren. In dieser Iterativität von
Funktion und Argument besteht der konstruktive Sinn des reinen syntaktischen Schemas, der aber,
da nur vier volle Wortarten zur Verfügung stehen, erst durch die Translation ausgeschöpft werden
kann.
7. Worin besteht nun die synthetische Einheit, die in der funktionalen Differenzierung von
Regens und Dependens durch die Konnexion gestiftet wird? Die Antwort lautet: In der
funktionalen Differenzierung von Regens und Dependens stiftet die Konnexion die Einheit
des Begriffs. Die Einheit des Begriffs ist synthetische Einheit aus Begriffen, ist - anders
ausgedrückt - synthetische Einheit aus gegenständlichen Wortbedeutungen. Tesnière gibt
auch an, worin die sinnkonstitutive Rolle von Regens und Dependens jeweils besteht: "das
Dependens determiniert das Regens"; das Dependens ist das "Determinans", das Regens das
"Determinat". (21,9) Diese Redeweise ist allerdings nicht ganz glücklich gewählt, denn
Determination bedeutet Bestimmung; das Regens wird aber nicht bestimmt im eigentlichen
Sinn, sondern modifiziert oder spezifiziert. Die synthetische Sinneinheit, die durch die
Konnexion gestiftet wird, ist Begriffseinheit durch Differenzierung: die Bedeutung des
Dependens differenziert die Bedeutung des Regens.
Die traditionelle Grammatik bezeichnet diese Differenzierung gemeinhin als Attribuierung;
das Dependens ist Attribut zu seinem Gegenpart, dem Regens, für den es
merkwürdigerweise keinen entsprechenden funktionalen Ausdruck gibt. Anders übrigens in
der amerikanischen distributionellen Linguistik, die mit den Begriffen "head" und
"modifier" genau das funktionale Verhältnis von Regens und Dependens rücksichtlich
17 Frege, G. (1990), 128.
10
der Sinnkonstitution erfaßt hat. 18 So kann man auch sagen, daß die strukturale Ordnung, die
sich in fortlaufenden Dependenzbeziehungen entfaltet, Struktur der durchgängigen
Attribuierung ist. Wie vorher der Begriff der Rektion, so stellt auch dieser Begriff des
Attributs eine "rigorose" Verallgemeinerung des traditionellen Begriffs dar, da er nun auch
das umfaßt, das sonst mit dem Begriff des Komplements (also z.B. Objekte) belegt wurde.
Vom strukturalen Standpunkt aus, so Tesnière, bestehe keine Notwendigkeit zur
Unterscheidung von Komplement und Attribut (21,11); vom logischen, so fügen wir hinzu,
ebenfalls nicht.
Mit der Kennzeichnung der strukturalen Ordnung als Struktur der durchgängigen
Attribuierung kommen wir zum neuralgischen Punkt von Tesnières Synatxtheorie: der Satz als
Sinneinheit ist seiner Konstitution nach die Einheit des Begriffs. Das gilt nicht nur für Phrasen,
die kein finites Verb enthalten, die Tesnière gleichwohl als Sätze anerkennt - er spricht dann, je
nachdem, welcher Wortart das oberste Regens einer solchen Phrase angehört, von
"Substantivsatz" (73), "Adjektivsatz" (75) und "Adverbialsatz" (77) -, das gilt in gleichem Maß
für den Satz, dessen oberstes Regens ein finites Verb ist, für den Satz im üblichen Verstande also.
8. Wenn wir mit Tesnière annehmen, daß in der Sprache der Gedanke zum Ausdruck kommt (1,7),
daß der Sinn die letzte "raison d'être" der Satzstruktur darstellt (20,3), dann ist dieses Ergebnis nicht
zu akzeptieren. Gewiß, der Gedanke manifestiert sich im Begriff, aber wir denken in Begriffen nur
insofern, als wir urteilen. Das Urteil ist genuin logisches Gebilde; es ist wahr oder falsch, also
geltungsdifferent, der Begriff für sich allein genommen ist es nicht. Man hat schon immer, ganz
gleich welcher Urteilslehre man anhängt, das Urteil als eine Struktur konzipiert, in der zwei
Begriffe aufeinander bezogen und in dieser Beziehung synthetisch vereint sind; man hat aber auch
gesehen, daß diese Einheit nicht die Einheit des Begriffs ist. Der Himmel ist blau ist ein Urteil, es ist
wahr oder falsch, in ihm sind zwei Begriffe synthetisch vereint, aber eben nicht zur Einheit eines
Begriffs wie in der blaue Himmel. Die Urteilssynthese muß wie auch immer in der Sprache zum
Ausdruck kommen, soll der Gedanke in der Sprache zum Ausdruck kommen. Daß sie im Satz zum
Ausdruck kommt, ist unstrittig; wäre dies nicht der Fall, dann könnten wir in einem Satz weder die
Wahrheit sagen noch lügen.
Da der Urteilssinn in syntaktischen Strukturen, die durchgängig als Dependenzrelation
gekennzeichnet sind und in denen sich Sinn in durchgängiger Attribuierung konstituiert, nicht zum
Ausdruck kommt, steht damit nicht nur die Dependenzrelation, sondern auch die Konnexion als
fundierender Begriff der gesamten Syntax zur Disposition.
9. Überdies zeigt sich beim genaueren Hinsehen, daß das reine syntaktische Schema, so wie es
entworfen wurde und der Sachlage entsprechend nicht anders entworfen worden konnte, schwere
formale Unstimmigkeiten aufweist.
Drei Punkte sind von Bedeutung. - Erstens: Die stemmatische Form der Satzstruktur verlangt
zwingend ein Anfangsglied: irgendein Wort des Satzes muß als oberstes Regens fungieren.
Dasselbe gilt für das reine syntaktische Schema: eine der vier Wortarten muß die Funktion des
oberstern Regens übernehmen. Diesem Erfordernis vermag die Konnexion von sich aus nicht
Rechnung zu tragen. Zwar konstituiert die Konnexion die beiden Glieder der
18 Wha-Young Jung beschreibt die Dependenzrelation konsequent als das Verhältnis von "head" und
"modifier". Vgl. Jung, W.-H. (1995), 33 ff.
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Dependenzrelation, das Regens und das Dependens; sie konstituiert aber nicht auch ein
oberstes Regens, genauso wenig wie sie ein letztes unterstes Dependens konstituiert. Die
Entscheidung, das Verb als oberstes Regens einzusetzen, läßt sich von der Konnexion her
nicht begründen. So fehlt dem reinen syntaktischen Schema das, was die Konnexion eigentlich sein sollte: der Ursprung. - Zweitens: Damit hängt zusammen, daß die Konnexion
qua Dependenzrelation die Anzahl der Grundwortarten nicht zu begründen vermag: warum
gibt es gerade vier volle Wortarten und nicht etwa fünf oder nur zwei? - Drittens: Das
oberste Regens im reinen syntaktischen Schema ist das Verb (I); es regiert zwei
Dependentien, nämlich Substantiv (O) und Adverb (E). Auf den ersten Blick scheint dies
durch die Möglichkeit, daß ein Regens mehrere Dependentien haben kann, durch die
Eigenschaft der Mehreindeutigkeit der Dependenzrelation also, gerechtfertigt zu sein. Will
man aber den Begriff der Dependenz nicht um ihren strukturellen Sinn bringen, dann kann
es Mehreindeutigkeit der Dependenzrelation nur im Stemma, nicht aber im reinen
syntaktischen Schema geben. Im Schema muß jede syntaktische Position eindeutig
bestimmt sein; nur dann ist sie von jeder anderen Position funktional unterschieden. Im
Stemma ist dies nicht der Fall: im Stemma kann das Regens mehrere, d.h. eine numerisch
nicht begrenzte Anzahl von Dependentien haben, aber alle diese Dependentien sind dann
funktional identisch, sind von demselben Typus. Die Möglichkeit mehrerer funktional
identischer Dependentien ist für das Schema irrelevant. Darin liegt, daß die
Dependenzrelation im Schema nur unverzweigte Strukturen bilden kann.
10. Diese Unstimmigkeiten sind ebensowenig zu akzeptieren wie der Umstand, daß der Urteilssinn
in den von der Dependenzrelation erzeugten Strukturen nicht zum Ausdruck kommen kann. Damit
kommen wir um die Feststellung nicht herum, daß Tesnière in der Ausarbeitung seiner Idee der
Konnexion gründlich gescheitert ist. Muß man deshalb die Idee selbst verwerfen? Kann man den
Begriff der Konnexion ad acta legen, wie dies faktisch in der Rezeption des Tesnièreschen Werks
geschehen ist? Ich denke nicht, daß dem so ist. Die Idee nämlich, den Satz als eine synthetische
Einheit und damit als Struktur aufzufassen, die durch einen generellen Funktor konstituiert wird, ist
m.E. sogar die einzige Möglichkeit, um zu einem tragfähigen Satzbegriff zu gelangen. Dabei ist es
unerläßlich, die Bestimmtheit der Wortarten als integralen Bestandteil der Satzstruktur zu erkennen.
Ebenso unerläßlich ist es aber auch, den Funktor so zu konzipieren, daß er die Konstitution von
Sinn als Urteilssinn in der Sprache ermöglicht. Die Struktur des Urteils muß, wie auch immer, im
Satz ihren Ausdruck finden können. M.a.W.: Der Funktor muß Referenz zur Struktur des Urteils
aufweisen, die genuin logische Struktur ist. Tesnière hat diesen Schritt nicht vollzogen, obwohl er
eigentlich ganz naheliegend ist. Er übte sich vielmehr in sprachwissenschaftlicher political
correctness und vermied jeden Umgang mit der Logik.
Schon Aristoteles hatte erkannt, daß das Urteil Bestimmungsstruktur ist und aus
zwei Begriffen besteht, aus einem zu bestimmenden Begriff, dem Subjekt, und einem
bestimmenden Begriff, dem Prädikat; er hatte erkannt, daß die beiden Begriffe durch
einen Funktor aufeinander bezogen und zur synthetischen Einheit des Urteils gebracht
sind. 19 Den Funktor versuchte man seit alters in dem Wörtchen "ist" dingfest zu machen;
seiner Leistung entsprechend nannte man ihn Kopula. Der Zusammenhang des Begriffs
der Kopula und des Begriffs der Konnexion springt in die Augen; Baum hat darauf
19 Vgl. dazu Ziegler, J. (1984), 14-24, und Ziegler, J. (1989).
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hingewiesen, daß der Begriff der Konnexion "als Kopulabegriff bis in die Anfänge der
Logik" zurückgeht. 20 - Aber erst Kant verdanken wir die Einsicht, daß das Urteil qua
Bestimmungsstruktur auch Ermöglichungsstrukur gegenständlichen Sinns ist. 21 Diese
Einsicht hat sich freilich immer noch nicht überall herumgesprochen. Für die
Sprachwissenschaft indes ist diese Einsicht hochbedeutsam. Wenn nämlich das Urteil
Ermöglichungsstruktur gegenständlichen Sinns ist, dann ist jede gegenständliche
Bedeutung, und also auch die gegenständlichen Bedeutungen, die in der Sprache in den
Wörtern zum Ausdruck kommen, auf die Struktur des Urteils bezogen. Damit aber eröffnet
sich die Möglichkeit, die Wortartbestimmtheit am Urteilsbezug festzumachen und nicht an
mehr oder weniger fragwürdigen ontologischen Kriterien.
Konzipiert man die Konnexion als den generellen Satzfunktor im Hinblick darauf, daß
die Sinnkonstitution in der Sprache der Struktur des Urteils gerecht werden muß, dann muß
er der funktionalen Gliederung des Urteils in Subjekt und Prädikat gerecht werden. Als
konstitutive Relation konstituiert die Konnexion im reinen syntaktischen Schema dann vor
allem anderen zwei Wortklassen, die qua Wortartbestimmtheit im funktionalen Verhältnis
von Subjekt und Prädikat zueinander stehen, nämlich Substantiv und Verb. Sie sind die
beiden Glieder der Bestimmungsrelation und als solche an der Konstruktion des Satzes
fundamental beteiligt. So ist qua Wortartbestimmtheit von Substantiv und Verb
sichergestellt, daß sprachliche Sinnkonstitution in der syntaktischen Konstruktion auf die
Urteilsstruktur bezogen ist. - Die Konnexion konstituiert Substantiv und Verb aber nicht nur
als urteilsfunktionale aufeinanderbezogene Wortarten; sie konstituiert Substantiv und Verb
gleichzeitig auch als oberste Regentien, als Funktionen also, die Dependenzverhältnissen
zugrundeliegen und, wie wir sahen, die Konstruktion der synthetischen Einheit des Begriffs
ermöglichen. Auch diese Verhältnisse sind im reinen syntaktischen Schema ausgewiesen,
nämlich in der Formbestimmtheit von Adjektiv und Adverb: das Adjektiv ist Attribut des
Substantiv, das Adverb ist Attribut des Verbs. - Damit aber sind die Möglichkeiten, wie
Wörter qua Wortartbestimmtheit auf die Urteilsstruktur bezogen sein können, erschöpft:
entweder die Wörter sind wie Substantiv und Verb direkt auf die Urteilsstruktur bezogen,
oder sie sind als Attribute von Substantiv und Verb indirekt auf die Urteilsstruktur bezogen.
Diese Disjunktion ist vollständig; tertium non datur. Diese Verhältnisse geben eine zumindest plausible Erklärung dafür, daß es gerade vier volle Wortarten gibt: zwar sind im
reinen syntaktischen Schema auch Attributattribute qua Wortartbestimmtheit nicht
ausgeschlossen; eine solche Erweiterung des Schemas bringt aber nichts grundsätzlich
Neues, sondern iteriert nur das attributive Verhältnis.
Wenn wir die Symbole Tesnières für die Wortarten übernehmen, dann präsentiert sich
das reine syntaktische Schema wie folgt:
20 Baum, R. (1976), 33.
21 Vgl. insbesondere "Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt", KdrV, B 92-94. Zu dem an
Kant anschließenden Urteilskonzept vgl. Flach, W. (1974), und Flach, W. (1994), 247 ff.
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Dabei ist die die syntaktischen Verhältnisse fundierende Relation O-I Bestimmungsrelation;
die nachgeordneten Relationen O-A und I-E sind Dependenzrelationen, so wie wir sie
kennengelernt haben. Die syntaktischen Verhältnisse ermöglichen damit qua
Wortartbestimmheit das, was sie ermöglichen müssen: sie ermöglichen Sinnkonstitution als
Urteilssinn, und sie ermöglichen auf der Basis des Urteilssinns die Sinnkonstitution als
Einheit des Begriffs. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, braucht es zur Grundlegung der
strukturalen Syntax.
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Literatur
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Festschrift
für
L.E.
Schmitt
zum
80.
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Hildesheim/Zürich/New York. 247-259.
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