Inge Zimmer-Leinfelder Rollenbewusst Beziehung gestalten Leitung im Spannungsfeld widersprüchlicher Erwartungen und komplexer Anforderungen Rollen begleiten uns ein Leben lang. Wir werden in bestimmte Rollen hinein geboren, wir eignen uns Rollen an, wachsen oder schlüpfen in sie hinein, wir machen Rollenspiele, bewundern gute Rollenbesetzungen im Theater, wir identifizieren uns mehr oder weniger mit unseren Rollen, wir fallen auch einmal aus der Rolle, definieren, beschreiben und reflektieren sie, wir leiden unter Rollenverlusten, kennen Rollentausch und Doppelrollen, erleben Rollenzwänge, Rollenveränderungen und fast täglich Rollenkonflikte. Ein Begriff also, der in unserer professionellen Welt ebenso wie im privaten Leben eine große „Rolle“ spielt. Aber was ist das eigentlich, eine Rolle? Und was hat sie mit mir als Person zu tun? Was macht sie mit mir? Was mache ich mit ihr? Und welche Bedeutung hat dies alles für mich als Supervisorin? Also für jemanden, der mit SupervisandInnen über ihre professionelle Rollengestaltung nachdenkt? Mein Rollen-Verständnis hat soziologische und sozialpsychologische Wurzeln (Zimmer 1996). Diese beiden Zugänge kann man noch durch eine kulturanthropologische Definition ergänzen (Heuring o.J.). Ich will daher meinen weiteren Überlegungen kurze Definitionen des Rollenbegriffs aus diesen drei theoretischen Zugängen voranstellen. Zum Rollenbegriff Kulturanthropologisch Die Rolle ist definiert als die Gesamtheit von Kulturmustern, die mit einem bestimmten Status verbunden sind. Der Rollenbegriff umfasst Einstellungen, Haltungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die Inhaber (einer bestimmten Rolle,) eines bestimmten sozialen Status, von der Gesellschaft zugeschrieben werden. Soziale Rollen können so mit einem bestimmten Interaktionsverhalten, mit bestimmten Rechten und Pflichten und einem definierten sozialen Status identifiziert werden. Dabei sind zugeschriebene und erworbene Merkmale in ihrer Verflechtung bedeutsam für die unterschiedlichen Gesellschaften, um in funktional angemessener Weise kulturelle Strukturen zu entwickeln, die Probleme der Lebensbewältigung sowie des sozialen Werteempfindens lösen sollen. (Linten zitiert nach Heuring o.J.) 1 Newsletter Nr. 6, April 2015 Soziologisch Rolle wird hier definiert als die Fülle der Erwartungen, die von unterschiedlichen Seiten an einen Positionsinhaber gerichtet werden und damit normative Sollvorstellungen definieren. „Rollen sind relativ konsistente, mitunter interpretationsbedürftige Bündel von Erwartungen, die an eine soziale Position gerichtet sind und als zusammengehörig pertizipiert werden“(Wiswede 1977)). Die Rolle wird also definiert durch die an sie gerichteten Erwartungen, durch formulierte Normen, und durch Rechte und Pflichten. Parsons (siehe: Schreyögg 1991) stellt fest, dass – unabhängig von den konkreten Mitgliedern – „soziale Orte“ gegeben sind, die mit bestimmten Rechten und Pflichten ausgestattet und überdauernd sind. Diese jeweiligen „Positionen“ werden nach ihm von den jeweiligen Interagierenden als „Rolle“ ausgestaltet. Dabei geht er davon aus, dass über Identifikation eine fortlaufende Übernahme von Werten und Normen des umgebenden Sozialsystems erfolgt. Der soziologische Blick richtet sich also vorrangig auf das soziale System, das die Rolle definiert. Sozialpsychologisch In der Sozialpsychologie wird das Augenmerk besonders auf das Individuum (das handelnde Subjekt) gelegt, das auf bestimmte Rollenerwartungen in einer spezifischen Weise reagiert. So bezeichnet Plessner (1985) das Zusammenspiel der Individuen im Kontext gesellschaftlicher Normsysteme als „soziale Rollen“ und damit als „Gelenk“, mit welchem ein Individuum gesellschaftlich relevante Bewegungen ausführt. Eine Rollenanalyse schließt somit nach Plessner „das Bewusstsein des Rollenträgers, seine Motive und seine Selbstauffassung“ in das von der Rolle gegebene Verhaltensmuster mit ein. Dieser Ansatz macht deutlich, dass es immer um ein Zusammenspiel von Person und Rolle geht, um die persönliche Ausgestaltung einer Rolle und die Nutzung von Spielräumen. Die Verhaltensanforderungen, die sich auf eine Rolle richten, werden erst durch die individuelle Gestaltung des Rollenträgers zu sozialer Realität. Diese soziale Realität führt allerdings notwendigerweise immer wieder zu Rollenkonflikten. Rollenkonflikte Da die Rolle soziologisch als die Fülle der sie bestimmenden Erwartungen definiert wird, ist es naheliegend, dass unterschiedliche Personen, Gruppierungen, Rolleninhaber auch divergierende Erwartungen an einen Rolleninhaber herantragen. Da dieser somit nicht mehr alle Erwartungen erfüllen kann, gerät er in einen Intra-Rollenkonflikt (so können z.B. die Erwartungen der Vorgesetzten sich massiv unterscheiden von denen der Kollegen oder des Klientels. Oder die Erwartungen, die von außen herangetragen werden, geraten in Konflikt mit eigenen Vorstellungen). Das heißt, als RolleninhaberIn geht es immer wieder um die 2 Newsletter Nr. 6, April 2015 Auseinandersetzung mit divergierenden individuellen Entscheidungen Erwartungen, eigenen Vorstellungen und Da jedes Individuum außerdem nicht nur Inhaber einer Rolle ist (er oder sie hat berufliche Rollen, familiäre Rollen, gesellschaftliche Rollen usw.), können auch die Erwartungen an die unterschiedlichen Rollen (der Chef erwartet Überstunden, die Ehefrau einen gemeinsamen Abend, die Vorgesetzte erwartet von ihrem Mitarbeiter konträr anderes als die Kollegen in seiner Rolle als Mitarbeitervertreter usw.), und damit die verschiedenen Rollen, die man innehat, miteinander in Konflikt geraten. Dies wird als Inter-Rollenkonflikt bezeichnet. Beide Rollenkonfliktarten beinhalten individuelle psychische und soziale interaktionelle Konflikte. Eng verknüpft mit dem Rollenbegriff ist das soziologische Konzept der Identität. Balancierende Identität Aus der Vielzahl der Rollen, die wir innehaben, verbunden mit den entsprechenden Verhaltenserwartungen (externale Identifikationen) und den eigenen kognitiven und emotionalen Bewertungen (internale Identifikation) ergeben sich zwei Seiten des Identitätsbegriffs. Krappmann (siehe: Zimmer 1996) nennt Identität eine immer wieder neue Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligungen des Individuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situation auftreten. Jedes Individuum muss sich, um mit anderen in Beziehung zu treten, in seiner Identität, in seiner Besonderheit präsentieren und gleichzeitig auf die neuen Erwartungen und die unterschiedliche Identität der Kommunikationspartner reagieren. Dies ist ein kreativer Akt. Das Individuum muss eine Balance herstellen zwischen widersprüchlichen Erwartungen, zwischen den Anforderungen anderer und eigenen Bedürfnissen, sowie zwischen dem Verlangen nach Darstellung dessen, worin er sich von den anderen unterscheidet und der Notwendigkeit, die Anerkennung der anderen zu finden. Die soziologisch definierte Identität geht also aus der Auseinandersetzung mit sozialen Erwartungen aufgrund eigener Erwartungen hervor (wobei „eigene“ auch die in der Sozialisation gewonnenen Erwartungen sind) Mit diesem Begriff der balancierenden Identität wird auch deutlich, dass Identitätsentwicklung einen permanenten Auseinandersetzungsprozess darstellt. Auch professionelle Identität bedeutet somit die ständige Auseinandersetzung mit professionellen Erwartungen und eigenen Vorstellungen, verlangt also sowohl analytische und selbstreflexive Kompetenzen, als auch die Bereitschaft und Fähigkeit, soziale Konflikte aus zu tragen 3 Newsletter Nr. 6, April 2015 Rollenbewusst Beziehung gestalten Um rollenbewusst Arbeitsbeziehungen zu gestalten, muss der Blick sowohl auf die Organisation, die Institution, in der die Rolle beheimatet ist, gerichtet werden, als auch auf die Rollen und die interagierenden Personen, deren Identität und Biografie. Die Organisation gibt Rollenbeschreibungen vor, vermittelt – bewusst und unbewusst – Erwartungen an die Rollenträger. Die Interaktionsprozesse der Rollenträger untereinander, das heißt, die Beziehungsgestaltung im Kontext institutioneller Rollen, werden sowohl durch diese Rollendefinitionen, als auch durch die Personen, die diese Rollen einnehmen, geprägt. Rollenbewusst Beziehungen zu gestalten erfordert also die Integration vielschichtiger Ebenen. Um Arbeitsbeziehungen rollenangemessen und persönlich befriedigend zu gestalten, muss also Person und Rolle integriert sein. Die Interventionen müssen sowohl rollenangemessen sein als auch der eigenen Person entsprechen Eine Rolle, deren Inhaber besonders viele Konflikte bewältigen und ständig balancieren müssen, ist die Leitungsrolle. Eine Rolle, die sich durch einen festgelegten Platz in der Organisationsstruktur auszeichnet und hierarchisch unterstellte MitarbeiterInnen hat. In meiner langjährigen Arbeit mit Leitungskräften in unterschiedlichen sozialen Feldern ging es immer auch um die Gestaltung der professionellen Rolle in ihrem bewussten und unbewussten Zusammenspiel von Person und Organisation, also darum, die oft konflikthaften Nahtstellen zwischen der Rollenstruktur und der Organisationskultur einerseits und der psycho-sozialen Dynamik der Leitungskräfte andererseits zu verstehen. Nimmt man die zuvor benannten Rollendefinitionen auf, so kann man die Leitungsrolle als einen „Bereich“ (AuerHunzinger/Sievers 1991) bezeichnen, der sich durch eine enge Verflechtung von Vorgaben durch die Organisation und die individuelle Gestaltung der jeweiligen Person, die diese Rolle innehat, auszeichnet. Die Leitungsrolle bewusst zu gestalten, bedeutet also in diesem Sinne, die eigenen Kräfte so einzusetzen, dass der Umgang mit den von der Organisation vorgegebenen Zielen, Aufgaben und Strukturen mit den eigenen persönlichen Wahrnehmungen, Motiven, Einschätzungen, Werten, Strebungen und Kompetenzen integriert wird. Grundlage für eine solche bewusste Rollengestaltung ist ein Verstehenszugang sowohl zum institutionellen Kontext als auch zu eigenen Motiven und Handlungsmustern, die Bereitschaft, eigene Autorität zu entwickeln und zu übernehmen, und eine bei diesem Rollenverständnis ständig geforderte Konfliktfähigkeit. Hier sehe ich Leitungssupervision als einen wichtigen Reflexionsort, um durch die Analyse der konkreten Leitungserfahrungen die vielfältigen Verflechtungen von Person, Rolle und Organisation in ihren bewussten und unbewussten Erscheinungsformen besser zu verstehen. Ein rollenangemessenes Entscheiden und Handeln von Leitungskräften im Kontext der komplexen an sie gerichteten Erwartungen, ist angewiesen auf einen möglichst hohen Bewusstseinsstand. Der kann eine Grundlage sein für die Entwicklung einer der Leitungsrolle angemessenen Beziehungsgestaltung im Kontext der vielfältigen, hierarchisch eingebetteten Arbeitsbeziehungen. 4 Newsletter Nr. 6, April 2015 Leitungskräfte stehen ständig in einem Spannungsfeld zwischen den vielfältigen Erwartungen ihrer Bezugssysteme. Vorgesetzte, Kollegen, unterstellte Mitarbeiter, Klientel, Angehörige und Öffentlichkeit konfrontieren mit ihren oft diametral unterschiedlichen Erwartungen. Leitung kann also nie einfach nur Erwartungen erfüllen. Sie muss vielmehr alles an sie Herangetragene bewerten und sich immer wieder situativ in diesem Spannungsfeld eine eigene Position erarbeiten, diese in alle Richtungen vertreten und sich entsprechend konflikthaft auseinandersetzen. Zu den reflexiven Grundlagen, die nötig sind, um als Leitungsperson einen rollenangemessenen Stil der Beziehungsgestaltung mit den Rollenträgern unterschiedlicher Hierarchiestufen zu entwickeln, gehört auch ein bewusster Zugang zum eigenen Leitungsverständnis und seinen Motiven. Betrachtet man „Führung“ als ein gesellschaftliches Phänomen, Management als das gestaltende und bewegende Organ einer Gesellschaft und einer Institution, so erschließt sich folgerichtig, dass Führungskonzepte jeweils unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf Hierarchie transportieren und in engem Zusammenhang mit geschichtlichen Entwicklungen stehen. (Malik 2014). Dabei spielen sowohl gesamtgesellschaftliche als auch institutionsspezifische und individuell-biografische Entwicklungen und daraus resultierende, oft unbewusste Rollenbilder, eine wichtige Rolle (vgl. Zusatzausbildung für Leitungskräfte www.agm-fis.de.) Das Verständnis von Führen und Geführtwerden bedarf also einer ständigen Reflexion und der kontinuierlichen Auseinandersetzung – individuell und innerhalb der Institution. Institutionen der heutigen Gesellschaft sind hoch komplexe Systeme, die durch ständige Veränderungen viel Verunsicherung und Überforderung produzieren. Soziologische Untersuchungen haben gezeigt, dass gerade in solchen Phasen das Verhalten von Vorgesetzten, ihre Kommunikationsmuster, ihre Fähigkeit, Vertrauen herzustellen und Sicherheit und Raum für innovative Prozesse zu schaffen, maßgeblich das Fühlen und Handeln von Mitarbeitern prägen. Eine hohe Anforderung an die Mitarbeiterführung von Leitungskräften. In Leitungssupervision und Leitungsfortbildungen werden oft sehr konkrete Schwierigkeiten benannt und Fragen gestellt, die den Leitungsalltag und das eigene Rollenverständnis berühren: wie kann ich auch Vorgesetzten gegenüber Einfluss nehmen, ohne übergriffig zu werden und Grenzen zu verletzen? Wie kann ich ein guter Leiter sein und trotzdem Grenzen setzen und kontrollieren? Wie kann ich meine Autorität wahrnehmen, ohne autoritär zu sein? Wieviel Freiheit brauchen Mitarbeiter, wieviel Rahmen? Wie kann ich Beziehung zu Klienten leben, ohne meinen Mitarbeitern etwas wegzunehmen und in ihr „Revier“ zu geraten? Wie kann ich rollenangemessen mit Aggression und Kritik umgehen? Wie kann ich Leitung werden, wenn ich vorher Kollege war? U.v.m. Fragen, die in Leitungssupervision und Leitungsfortbildungen bei der Bearbeitung konkreter Szenen eine ertragreiche Reflexionsgrundlage bieten. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Leitungsdenken und -handeln trägt zu einem zunehmenden Bewusstseinsprozess bei. Als Leitung rollenbewusst Beziehungen zu gestalten, erfordert vielschichtigen Ebenen und deren Integration: Kompetenzen auf 5 Newsletter Nr. 6, April 2015 Kenntnisse um den institutionellen Kontext. Eine Identifikation mit der eigenen Rolle und ein Bewusstsein für das eigene Leitungsverständnis. Ein Wissen um die Erwartungen, die an diese Rolle geknüpft sind. Die Fähigkeit, sich trotz Identifikation auch kritisch zu distanzieren. Soziale Wahrnehmungsfähigkeit für die aktuelle Situation. Einfühlungsvermögen in die anderen Rollenträger. Die Fähigkeit, sich abzugrenzen und eignen Positionen zu vertreten. Einen Zugang zu eigenen Verhaltensmustern und Motiven. Konfliktfähigkeit. Um Arbeitsbeziehungen rollenangemessen und persönlich befriedigend zu gestalten, bedarf es also der kontinuierlichen Reflexion des jeweiligen Zusammenspiels von Person und Organisation. Einen besonders günstigen Rahmen für diese von der Exploration des subjektiv Erlebten ausgehende Reflexion bietet aus meiner Sicht Leitungssupervision in Form von Einzelsupervision oder Gruppensupervision. Literatur: Auer-Hunzinger, V./Sievers, B. (1991): Organisatorische Rollenanalyse und -beratung. In: Gruppendynamik 22. Heuring (o.J.): Rollentheorien, Rollenkonflikte, Identität, Attributionen“ www.donauuni.ac.at/md/kntent/studium Malik, F. (2014): Führen Leisten Leben. Frankfurt am Main/New York. Plessner, H. (1985): Gesammelte Schriften, Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt am Main. Schreyögg, A. (1991): Supervision, ein integratives Modell. Paderborn. Wiswede, G. (1977): Rollentheorie. Stuttgart. Zimmer, I. (1996): Soziale Konflikte in Gruppen- und Teamsupervision. In Forum Supervision Heft 8, S. 23-35. 6 Newsletter Nr. 6, April 2015