Reader - Linksjugend

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Reader
Zur Aufgabe politischer Bildung für
gesellschaftliche Emanzipation
30. Oktober – 1. November 2015 in Hildesheim
3. Nachwirkungen - Bildung in zeitgeschichtlicher Gegenwart
143
Unabgeschlossene Geschichte und diskontinuierliche Gegenwart
144
Einleitung
Rassismus als Analysekategorie
Rassismus und Antisemitismus
Sekundärer Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft
156
Rassismus und Antisemitismus als postnationalsozialistische Phänomene 162
Zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus in der
Einwanderungsgesellschaft
Postkoloniales Erinnern nach Auschwitz
Abwehrmuster im postnationalsozialistischen Umgang mit
17Q
Zeitgeschichte
Geteilte Geschichte(n) - pädagogische Erinnerungsarbeit
in der Einwanderungsgesellschaft
Generationenverhältnisse in zeitgeschichtlicher Reflexion
Involvierte Bildungsprozesse in zeitgeschichtlichen Nachwirkungen
195
4. Involvierte Bildungsprozesse - auf der Suche nach einer
selbstkritischen pädagogischen Theorie und Praxis
205
Kritik als Entlarvung: die Herstellung des >Wir<
Entlarvende Kritik - Verlagerung von Rassismus in den
208
Selbstkritische Bildung als engagierte Praxis
210
216
220
224
229
234
240
247
254
Literaturverzeichnis
259
Rechtsextremismus
Abwehrende Projektionen - Selbstbilder jenseits von Kritik
Involvierte Selbstreflexionen - Whiteness
Macht und Kritik in bildungstheoretischer Reflexion
Kritik (in) der Pädagogik
Verdrängte Widersprüchlichkeiten
Halbbildung als hegemoniale Bildung
Involvierte Kritik - Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft
Und
S
. <l<-anrJle$ P\Sel.
ich in Widersprüchen zu bewegen, gehört zu den alltäglichen Anforderungen in der modernen Gesellschaft und ihren Institutionen. Institutionalisierte Bildung wird von den darin agierenden pädagogisch Handelnden und von denen, die als Studierende, Weiterbildungsteilnehmende und
Schüler/innen diese Institutionen besuchen, als widersprüchlich erfahren.
Einerseits bietet institutionalisierte Bildung formale Abschlüsse und inhaltliches Wissen, um sich in der Gesellschaft zu etablieren, sich versorgen zu
können und gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten sowie die eigenen
Lebensbedingungen wenigstens partiell zu durchschauen. Andererseits
wird jede Form institutionalisierter Bildung auch in ihren Zwangsverhältnissen erlebt - sei es durch festgelegte Leistungs- und Prüfungsverfahren, sei
es durch den vorgegebenen Zeittakt und dadurch, dass jede/r sich darin in
eine bürokratische Ordnung einfügen muss, innerhalb derer er/sie verwaltet wird.Institutionalisierte Bildung verspricht, sich in der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung als freier Mensch, als selbst bestimmte/r,
verantwortliche/r und mündige/r Bürger/in bewegen zu können. Aber
dieses Versprechen erfolgt um den Preis der Selbstunterwerfung unter
die Regeln der Institutionen und ihrer Anforderungen. In der kritischen
Bildungstheorie ist dieser Widerspruch von Freiheit und Unterwerfung
von Gernot Koneffke als innerer Widerspruch der Bildung beschrieben
und analysiert worden. Koneffke macht deutlich, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft »keine Durchsetzung der Befreiung ohne Herrschaft«
gibt (Koneffke 2006, S. 32), dass aber zugleich damit der Befreiung Bedingungen gesetzt werden, deren Rationalität Herrschaft rechtfertigen muss.
Durch den Widerspruch, der jeder institutionalisierten Bildung innewohnt,
ist die »Heteronomie des Herrschaftsanspruchs« nicht aufgehoben, »der in
aller realen Schule zwar die Ermöglichung der Befreiung sichert, doch nur
zum Zweck der Dienste, die sie der Herrschaft leisten soll« (ebd., S. 33). Die
materialistische Analyse des Bildungswiderspruchs arbeitet heraus, »dass
in der und über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft die Befreiung
nur gebrochen gelang« (ebd.), weil in ihr der Erwerb von Eigentum zum
Maß der Freiheit geworden ist und eine »Identifikation von Freiheit und
Reichtum« erfolgte (ebd., S. 36). Der Gleichheitsanspruch, der genauso wie
der Anspruch auf Autonomie zum Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft gehört, ist dadurch gebrochen worden. In der Konsequenz lässt sich
von einem doppelten Widerspruch in der Bildung sprechen, einem von
Befreiung und Herrschaft und einem von Gleichheit und Herrschaft.
Mit dem Hinweis auf den Widerspruch von Gleichheit und Herrschaft in der Bildung verlagert sich die Aufmerksamkeit einer kritischen
Bildungstheorie auf die sozialen Beziehungen in Bildungsprozessen, auf
die kommunikativen Interaktionen der in den Bildungsinstitutionen Agierenden, und zwar sowohl der qua Profession agierenden Pädagog/innen
wie derer, die sich in diese Institutionen begeben, um sich zu bilden, weiter zu bilden und um formale Qualifikationen zu erlangen. Beziehungen
unter den Bedingungen gebrochener Gleichheit rücken in den Blick, wenn
gefragt wird, unter welchen Bedingungen es überhaupt möglich ist, Kritik zu üben und wer aus welcher Perspektive Kritik an gesellschaftlichen
Verhältnissen übt. Zugrunde liegt dieser Frage der methodologische Ansatzpunkt kritischer Bildungstheorie, den Brüchen nachzugehen, die mit
den Bildungsversprechen von Aufklärung, Autonomie und Gleichheit einher gehen, und diese Brüche jeweils aktuell an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemen heraus zu arbeiten. Koneffke spricht davon, dass
es im 20. Jahrhundert zu einer »Süblimierung der Gewalt« kommt, »für
die auch das Bildungswesen steht« (ebd., S. 41). Dieser Gewalt wird in den
folgenden Überlegungen nachzugehen sein, wobei heraus gearbeitet wird,
dass die Subjekte in den globalisierten Verhältnissen, im Kontext von Migrationsgesellschaften und in der Beziehung zu den zu unterscheidenden
Gewaltgeschichten von Nationalsozialismus und Kolonialismus auf sehr
unterschiedliche Weise dieser Gewalt unterworfen sind beziehungsweise
diese Gewalt selbst ausüben.
Die folgenden Studien zum pädagogischen Umgang mit Globalisierung, Migration und den Nachwirkungen von zeitgeschichtlichen Gewalterfahrungen und Gewaltausübungen arbeiten mit dem Instrumentarium
bildungstheoretischer Widerspruchsanalysen. Sie problematisieren dabei
aber weniger die ökonomischen Bedingungen von Bildungsprozessen,
sondern fragen nach den Subjektbeziehungen innerhalb von Bildungsprozessen. Sie fassen den Bruch der Gleichheit hinsichtlich der ungleichen
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Ausgangsbedingungen, unter denen Erfahrungen mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte reflektiert und repräsentiert werden können.
Die Einsicht in den »Widerspruch, dem man nicht nur unterliegt, sondern
der man selbst ist« (ebd., S. 38f) wird dabei zur Voraussetzung für eine Bildungskonzeption, die eigene Verstrickungen in kritisierte und problematisierte Verhältnisse sichtbar macht. Nicht die Unterwerfung unter Herrschaftsverhältnisse, steht hier im Mittelpunkt sondern eher die eigene Beteiligung an und das eigene Profitieren von Herrschaftsverhältnissen, die
durch fundamentale Ungleichheiten stabilisiert werden. Herrschaft wird
dabei nicht als etwas Äußerliches verstanden, dem zu unterliegen zwangsläufig erfolgt, sondern als eine Struktur, der bereitwillig entsprochen wird,
weil sie denjenigen Vorteile sichert, die ihr entsprechen. Die Mittäterschaft
an Herrschaft bei gleichzeitiger Kritik an herrschaftlich strukturierter Bildung macht die innere Zwiespältigkeit von Bildungsprozessen aus, die
sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in einer globalisierten Einwanderungsgesellschaft auseinander setzen und die von diesen Verhältnissen bedingt sind.
Mit dem methodologischen Ansatzpunkt immanenter Widerspruchsanalysen wird die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis in einem inneren
Zusammenhang mit den hier diskutierten gesellschaftlichen Feldern der
Globalisierung, der Migration und der zeitgeschichtlichen Nachwirkungen
von Nationalsozialismus und Kolonialismus verstanden. Pädagogik hat
Anteil an der Art und Weise, wie Globalisierung aufgefasst und gestaltet wird; sie ist beteiligt an den Wahrnehmungen von Migrationen und
Migrant/innen sowie an den gesellschaftlichen Platzzuweisungen, die daraus erfolgen; und sie trägt bei zu zeitgeschichtlich bedingten Welt- und
Selbstbildern. Deshalb wird in den folgenden Ausführungen auch nicht
von >Konsequenzen für die Pädagogik< gesprochen, womit meistens eine
Handlungsanweisung für gelingende Praxis gemeint ist. Sondern es geht
um die Auseinandersetzung mit Prozessen, in die Pädagogik mit ihren Begriffen und ihren Handlungsansätzen involviert ist.
Anhand von drei Feldern wird im Folgenden reflektiert, wie Bildungsprozesse verlaufen, in denen keine Distanz zu ihrem Gegenstand vorausgesetzt werden kann. Alle Beteiligten, Lernende wie Lehrende sind
involviert in die Problematiken von Globalisierung, Migration und zeitgeschichtlichen Nachwirkungen, wodurch die Positionen, die mit den Bezeichnungen >Lernende< und >Lehrende< unterschieden werden, ineinander übergehen. Wer lernt hier von wem, wenn sich beide Seiten ihrer zu
thematisierenden Gegenstände keineswegs sicher sein können? Ihre Unsicherheit ergibt sich weniger aus Wissensmangel, sondern vielmehr aus
ihren sozialen Beziehungen zu den Gegenständen. Wie sehen sie sich selbst
in einer globalisierten Gesellschaft, welches Verhältnis haben sie zur Einwanderungsgesellschaft entwickelt und in welcher Beziehung stehen sie
zu den historischen Bedingungen ihrer Gegenwart, in der die Erfahrungen
von Kolonialismus und Nationalsozialismus nachwirken? Gemeinsam
ist den Auseinandersetzungen mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, dass sie nicht abzuschließen sind, man mit ihnen nicht fertig
werden kann und dass es dabei immer um Selbstbilder und Weltbilder
geht. Die Selbstbilder betreffen die eigene soziale Position in globalisierten
Verhältnissen in der Einwanderungsgesellschaft nach 1945. Die Weltbilder
beziehen sich darauf, wie >Andere< in diesen Verhältnissen gesehen werden und wie dadurch die sozialen Beziehungen zur >Welt< wahrnehmbar
und beschreibbar sind. Beide Dimensionen beeinflussen Bildungsprozesse
und strukturieren die Art und Weise, wie aus Informationen über Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte Wissen wird.
Der konzeptionelle Ausgangspunkt für die folgenden Untersuchungen
besteht in der Annahme, dass es sich um involvierte Bildungsprozesse handelt, wenn sich Lernende und Lehrende mit Globalisierung, Migration und
Zeitgeschichte befassen. Mit der Einsicht, selbst drin zu stecken in dem,
was zu erarbeiten, zu analysieren und zu reflektieren ist, verändert sich der
Bezug zum jeweiligen Gegenstand, und es verändert sich die Beziehung
aller am Bildungsprozess Beteiligten. Es können keine distanzierten Positionen eingenommen werden, sondern die Arbeit der Reflexion besteht
gerade darin, die unterschiedlichen Beziehungen der Beteiligten zu den
verhandelten Problematiken offen zu legen. Bildungsarbeit wird in diesem
Prozess zu einer kontextbezogenen Arbeit an den eigenen Verhältnisbestimmungen zu den gesellschaftlichen Gegenständen, um die es in den
vorliegenden Studien geht. Involvierte Bildungsprozesse werden als ein
soziales Geschehen betrachtet, und zwar nicht nur, weil sich diese Prozesse
im Austausch mit anderen und in der Beziehung zu anderen abspielen,
sondern weil sie soziale Voraussetzungen haben. In der Konsequenz einer
involvierten Perspektive sind die Bedingungen meines eigenen Blicks auf
Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte zu kennzeichnen, um damit
den begrenzten Blickwinkel anzugeben, den ich einzunehmen in der Lage
bin. Dieser Blickwinkel ist bedingt von meiner eigenen sozialen Position,
die durch ein relativ hohes Maß an Privilegierung zustande kommt. Zur
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Kennzeichnung des eigenen Involviertseins in die diskutierten Problematiken halte ich es für erforderlich, die persönliche Eingebundenheit auch
sprachlich zu verdeutlichen und ein neutralisierendes Sprechen zu begrenzen, soweit dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit möglich
ist.
Aufgrund meiner sozialen Verankerung, die mir ein relativ hohes Maß
an Existenzsicherheit bietet, muss ich nicht jeden Tag über meine Versorgungssituation nachdenken, und wenn ich das tue, dann auf relativ hohem
Niveau. Das unterscheidet mich von der großen Mehrheit der Menschen,
die sich nicht sicher sein können, dass sie auch morgen genug zum Leben
haben werden. Meinem Blick auf die Globalisierung fehlt somit eine wesentliche Erfahrungsdimension globaler Lebenswirklichkeiten. Als Angehörige einer etablierten Mehrheitsgesellschaft bin ich nicht veranlasst, meine Zugehörigkeit zu eben dieser Gesellschaft zu legitimieren, da mir diese
Zugehörigkeit selbstverständlich zugestanden wird, solange ich die Bedingungen zur Integration erfülle. Das unterscheidet mich von allen sichtbar
gemachten Minderheiten in dieser Gesellschaft, die ihre Integrationsleistungen immer wieder unter Beweis stellen müssen und auch dann noch
lange keine Garantie dafür haben, fraglos dazu zu gehören. Damit fehlt
mir eine wesentliche Erfahrungsdimension, die sich insbesondere auf Migrant/innen und deren Nachkommen in der Einwanderungsgesellschaft
bezieht. In meinem Verhältnis zu den zeitgeschichtlichen Nachwirkungen
des Nationalsozialismus kann ich nur den Blick der >Tätergesellschaft< repräsentieren, auch dann, wenn ich versuche, der Opfer zu gedenken und
mich mit den Erfahrungen derer, die selbst oder deren Vorfahren verfolgt
gewesen sind, konfrontiere. Damit fehlt mir eine wesentliche Dimension
im Verhältnis zur Zeitgeschichte, die sich auf die Erfahrungen des Verlustes, der Verletzung, Verfolgung und der Auslöschung bezieht. In meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem NS und in dem Bemühen, die
Nachwirkungen des NS in Bildungskontexten zu bearbeiten, kann ich die
Thematik nie so repräsentieren, wie es erforderlich und angemessen wäre.
Ausgehend davon, den Antisemitismus als wesentlichen Gegenstand in
der Aufarbeitung des NS zu betrachten, ergibt sich auch hier eine spezifische Beschränkung meiner Perspektive, weil mir die Erfahrung antisemitischer Diskriminierung und Stigmatisierung äußerlich bleibt. In meinem
Verhältnis zu den zeitgeschichtlichen Nachwirkungen des Kolonialismus
kann ich mir die Geschichte nur aus dem zeitgeschichtlichen Kontext einer
Gesellschaft von Kolonisatoren aneignen. Damit fehlt mir eine wesentliche
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Dimension im Verhältnis zu den Nachwirkungen von Kolonialismus, da
ich die durch den Kolonialrassismus erzeugten Selbstbilder der Kolonisierten nicht repräsentieren kann. Auch wenn ich eine rassismuskritische
Perspektive einzunehmen versuche, ist eben diese Perspektive bedingt von
einem >weißen< Blick, den ich auch dann wiederhole, wenn ich mich kritisch mit Kolonialismus und Rassismus auseinander setze.
Die Bedingungen meiner Sicht auf die Themen, die hier bearbeitet
werden, bilden eine Grenzbestimmung und sind zugleich systematischer
Ansatzpunkt für Bildungsprozesse, die in Globalisierung, Migration und
Zeitgeschichte involviert sind. In der Konsequenz dieser Einsichten in die
eigenen Verstrickungen in Machtverhältnisse wird in den vorliegenden
Studien versucht, im Nachdenken über Bildungsprozesse und in der Entwicklung von Bildungskonzeptionen genau dieses eigene In-Beziehungsein zu den Problemen und Thematiken zu betonen und als eine Bedingung für Bildung als kritische Selbstreflexion anzusetzen. Über Globalisierung kann ich andere nicht aufklären, ohne meine eigene Verwicklung in
globalisierte Verhältnisse dabei zu reproduzieren, indem ich eben meine
Sicht dieser Verhältnisse vermittle. Über Migration kann ich andere nicht
belehren, ohne dass dabei meine Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft
meine Darstellung eben dieser Gesellschaft bedingen. Zu einer Aufarbeitung der Ideologien und Praktiken des NS kann ich andere nicht anleiten,
ohne dass meine Geschichtsbeziehung dabei mitspielt. Ebenso wenig kann
ich eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in der Bildungsarbeit
fördern, ohne dass meine soziale Positionierung dabei eine Rolle spielt. Ob
ich die Bedingungen des eigenen Sprechens über Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte aber sichtbar werden lasse und zum Gegenstand
von pädagogischer Reflexion mache, hängt von einem Bildungsverständnis ab, bei dem Bildung nicht als etwas erscheint, das ich anderen abverlange, sondern als eine soziale Interaktion, die mich mit den Gegenständen
und den Beteiligten an den Erkundungsprozessen dieser Gegenstände in
Beziehung setzt.
Für den systematischen Ansatzpunkt der vorliegenden Studien, das eigene »Drinstecken« in den Dynamiken von Globalisierung, Migration und
Zeitgeschichte explizit werden zu lassen und dadurch Bildungsprozesse
in Bewegung zu bringen, ist im Folgenden an diejenigen Positionen aus
den pädagogischen Fachdebatten anzuknüpfen, die nach den Grenzen und
Bedingungen ihrer eigenen Perspektive auf Globalisierung, Migration und
Zeitgeschichte fragen.
12
Die eigene Beziehung zu den Thematiken wahrnehmen zu können, sich
in Beziehung zu denselben zu verstehen, lässt mich auch in der institutionalisierten Funktion der Lehrenden andauernd selbst Lernende sein. Dies
zuzugeben und anzunehmen, verändert auch die Beziehung zu jenen, denen als >Lernende< in institutionalisierten Bildungszusammenhängen eine
andere Funktion zugewiesen wird. Insbesondere für die vielfältigen Arbeitsfelder der Erwachsenenbildung halte ich einen bildungstheoretischen
und bildungspraktischen Zugang über das eigene Involviertsein in die Zusammenhänge, um die es in Bildungsprozessen geht, für angemessen. Zu
entwickeln ist dabei die Bereitschaft zur Selbstreflexion bei allen Beteiligten
und damit die Fähigkeit, unabgeschlossene und uneindeutige Verhältnisbestimmungen zuzulassen und disparate Zugänge zu ermöglichen. In die
Zielperspektive einer solchen Bildungstheorie und -praxis rückt ein unabschließbarer Prozess der Auseinandersetzung mit sozialen Verhältnissen
und zeitgeschichtlich bedingten Erfahrungen, die mich mit den Begrenzungen meiner eigenen Welt- und Selbstbilder konfrontieren, und mit den
Erfahrungen anderer, die mit meinen eigenen nicht zu vereinbaren sind.
Der bildungstheoretische Zusammenhang der drei Themenfelder von
Globalisierung, Migration und zeitgeschichtlichen Nachwirkungen kommt
dadurch zustande, dass in allen drei Feldern die Begrenztheit und Bedingtheit der eigenen Perspektiven auf eben diese Felder zu einem konstitutiven
Bestandteil der Auseinandersetzung wird und zu einer Bedingung dafür,
Bildungsprozesse im Kontext von Globalisierung, Migration und zeitgeschichtlichen Nachwirkungen zu ermöglichen. In allen drei Bereichen sind
in der Pädagogik Ansätze und Konzepte entwickelt worden, die auffälligerweise immer mit dem Lernbegriff bezeichnet worden sind und nicht
mit dem Bildungsbegriff. Bekannt geworden sind diese Ansätze und Konzepte als >globales Lernen<, >interkulturelles Lernen< und >Lernen aus der
Geschichte^
Alle drei Lernbezeichnungen legen ein Verständnis nahe, bei dem völlig klar zu sein scheint, was es zu lernen gäbe, obwohl gerade das in allen drei Feldern gerade das Problem ist. Den inneren Widersprüchen, die
aus der pädagogischen Konzeptualisierung von Globalisierung, Migration
und Zeitgeschichte entstanden sind, gehen die folgenden Untersuchungen
nach und sprechen deshalb von Bildungsprozessen, nicht ohne zu vernachlässigen, dass es dabei auch etwas zu lernen gibt. Von Bildung ist hier
also nicht deshalb die Rede, weil dies etwas Höheres oder Tiefgründigeres
wäre, sondern weil anhand des Bildungsbegriffs die innere Widersprüch-
13
lichkeit jeder pädagogischen Unternehmung heraus gearbeitet worden ist.
Für die Analyse und Kritik von Bildungsprozessen in zwiespältigen
Globalisierungsverhältnissen gehe ich den uneindeutigen Erfahrungen
nach, die in einer als >globalisiert< gekennzeichneten Welt gemacht werden. Globalisierung wird dabei weder als neokapitalistische Weltvergesellschaftung verworfen, noch als postnationalistische Weltgemeinschaft
begrüßt. Es werden Analyseperspektiven vorgestellt, die eine nicht vereindeutigende Globalisierungskritik ermöglichen und die eigene Integration
in globalisierte Ökonomien reflektieren. Analysiert und reflektiert werden
die Bedingungen, unter denen Sichtweisen auf die Dynamiken der Globalisierung entwickelt werden. Dafür befasse ich mich mit Ansatzpunkten entwicklungspolitischer Bildungsarbeit und des globalen Lernens und
gehe insbesondere auf Konzeptionen ein, die für sich eine globalisierungskritische Sichtweise beanspruchen. Diskutiert werden Perspektiven aus
der Tradition kritischer Pädagogik, die auf weltweite Ungleichheitsverhältnisse eingehen, um zu fragen, inwiefern heute an diese Perspektiven
anzuknüpfen ist und welche Ansprüche an eine Bildungsarbeit zu stellen
sind, die Globalisierung zu ihrem Gegenstand macht.
Für eine Rekonstruktion des pädagogischen Diskurses um Migration
diskutiere ich die Kategorien von Fremdheit und Differenz, gehe auf den
Kulturalismus der interkulturellen Pädagogik ein und entwickle anknüpfend an eine kritische migrationspädagogische Debatte eine Perspektive
für das Bildungshandeln in der Einwanderungsgesellschaft. Der Kontext
der Einwanderungsgesellschaft wird als ein zu reflektierender gesellschaftlicher Rahmen für Bildungsprozesse in den Blick genommen. Anhand des pädagogischen Diskurses um Migration mache ich deutlich, wie
Identitäten erzeugt und Unterscheidungen vorgenommen werden. In Bildungsprozessen wird der Kontext der Einwanderungsgesellschaft in bestimmter Weise repräsentiert, und zugleich sind Bildungsprozesse in diesem Kontext situiert, so dass es nicht möglich ist, von außen einen Blick auf
Migrationsverhältnisse und deren Dynamiken zu werfen. Alle Beteiligten
in pädagogischen Zusammenhängen sind selbst Teil der Migrationsgesellschaft, und Bildungsarbeit hat die Aufgabe, das eigene Involviertsein einer
Reflexion zugänglich zu machen.
Eine Auseinandersetzung mit den zeitgeschichtlichen Bedingungen
von Bildung unternimmt das dritte Kapitel, wobei ich eine Analyse von
zwei zeitgeschichtlichen Zusammenhängen verfolge. Zugrunde liegt dem
die geschichtsphilosophische Einsicht historischer Diskontinuitäten und
unabgeschlossener Vergangenheiten, wie sie von Walter Benjamin in seinen Überlegungen zum Begriff der Geschichte formuliert worden ist (vgl.
Benjamin 1974). Für Benjamin ist Geschichte ein Ausdruck der Aneignung
von Vergangenheit und damit immer bereits auf die Gegenwart bezogen
und in der Gegenwart repräsentiert. Jenseits dieser Repräsentation ist
Geschichte nicht zugänglich. Von der Gegenwärtigkeit angeeigneter geschichtlicher Zusammenhänge gehe ich aus, wenn ich von Kolonialismus
und Nationalsozialismus spreche und danach frage, wie beide Komplexe
heute erinnernd repräsentiert werden.
Mit der Analysekategorie der Postkolonialität gehe ich auf die Nachwirkungen kolonialer Selbst- und Weltbilder ein und diskutiere eine postkoloniale Perspektive in der Brechung des bundesdeutschen Kontextes
hinsichtlich der Nachwirkungen des Nationalsozialismus in gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Erforderlich ist dafür eine Analyse
der Verhältnisbestimmungen beider Themenfelder historisch orientierter
Bildungsarbeit. Für die Analyse der Nachwirkungen kolonialistischer und
nationalsozialistischer Herrschaftspraktiken werden gegenwärtige Rassismen und Antisemitismen dargestellt, wobei auf die Unterscheidung
beider Problemfelder Wert gelegt wird. Bildungskonzepte diskutiere ich
insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit dem Nationalsozialismus,
wobei die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhältnis zum NS Ausgangspunkt für Perspektiven einer postnationalsozialistischen Bildungsarbeit ist. In spezifischer Weise stellen sich im bundesdeutschen Kontext
dieBeziehungen zum Kolonialismus dar. Um hier von einer postkolonialen Bildungsarbeit sprechen zu können, bedarf es einer unterscheidenden
Verhältnisbestimmung zur Erinnerungsarbeit, wie sie bisher hinsichtlich
des NS erfolgt und weiter zu entwickeln ist. Ich gehe von einer doppelten
Perspektiventwicklung für die historische Bildungsarbeit aus, die sich
nicht vereinheitlichen lässt. Den Zusammenhang beider Themenfelder historischer Bildungsarbeit sehe ich nicht in einer Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit der geschichtlichen Vorgänge, sondern darin, dass in beiden Feldern spezifische Auseinandersetzungen mit Opfer- und Täterperspektiven
erforderlich sind und dass diese Perspektiven sich in Bildungsprozessen
widerspiegeln.
Das vierte und letzte Kapitel widmet sich den Bedingungen und Formen von Kritik, die in einer Bildungstheorie beansprucht wird, die von
sich selbst behauptet, kritisch zu sein, oder der eben diese Kennzeichnung
des Kritischen zugeschrieben wird. Indem ich die Diskussion des Um15
14
t
gangs mit Kritik in der Erziehungswissenschaft nachzeichne, versuche
ich eine selbstkritische Perspektive einzunehmen, die es ermöglicht, in
Bildungsprozessen Zugänge zu einer radikalen Selbstreflexion zu fördern, ohne dadurch in Resignation fallen zu müssen. Die Ausarbeitung
dieser Perspektive erfolgt als eine Konsequenz aus den diskutierten Formen des Umgangs mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte. Mit
dem Versuch einer selbstkritischen Konzeptionsentwicklung verabschiede
ich mich weder von der Orientierung an Kritik als Kategorie der Bildung,
noch bestätige ich eine kritische Bildungstheorie in ihren Begründungen
und Bestimmungen. Heraus gearbeitet werden Ansprüche an eine Bildungskonzeption, die in der Lage ist, die selbstkritischen Debatten um den
pädagogischen Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte aufzunehmen für eine nicht-ignorante Bildungsarbeit unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Bildung verstehe ich als eine Praxis
der Reflexion in umstrittenen gesellschaftlichen Feldern. Sie entgeht einer
eindeutigen Besetzung, da sie weder Voraussetzung noch Ergebnis der
Auseinandersetzung mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte ist,
sondern sich abspielt in der Auseinandersetzung mit uneindeutigen Verhältnissen. Anknüpfend an die vielfältigen Einsprüche gegenüber einem
in sich ungebrochenen Bildungsbegriff erscheint es mir angemessen, von
einem Konzept der Bildung auszugehen, das es mir ermöglicht, Brüche
und Infragestellungen meiner eigenen durch Bildung angeeigneten Serbstund Weltbilder zu artikulieren.
Brüchen und Infragestellungen nachzugehen, gibt auch die methodologische Richtung an, in der für die vorliegenden Studien mit dem Bildungsbegriff umgegangen wird. Ein Bildungsbegriff, der abgesichert den
diskutierten Problemfeldern vorausgesetzt werden könnte, bliebe ignorant gegenüber den vielfältigen Einsprüchen einer unhinterfragt aufklärerischen, emanzipatorischen Bildung, wie sie in den letzten Jahren erfolgt
sind. Formuliert worden sind diese innerhalb der feministischen Kritik der
Bildung (vgl. Borst 2003), in postkolonialen und postmodernen Kritikbewegungen, denen bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam ist, dass sie das
Subjekt der Bildung in vielfältigen Brechungen sehen und repräsentieren
und dass sie die europäische Bildungstradition selbst in Herrschaftszusammenhängen verankert betrachten (vgl. Schirilla 2003). Bildungsansprüche
und Bildungsvorstellungen lassen sich somit nicht einfach den diskutierten Problemzusammenhängen von globalisierter Ungleichheit, Rassismus,
Antisemitismus und Diskriminierung gegenüberstellen. Bildung macht
16
keinen Gegensatz dazu auf, sondern ist selbst involviert in die Probleme,
die durch Bildungsarbeit einer Reflexion und Aufarbeitung zugänglich gemacht werden sollen. Die Gegensätze sind keine äußerlichen, aber sie sind
auch nicht suspendiert, liegen sie doch im Subjekt selbst, in der Entfaltung
seiner Funktionalität und seiner herrschaftsförmigen Integration. Wie sich
diese Integration in globalisierten Zusammenhängen, in der Einwanderungsgesellschaft und im zeitgeschichtlichen Kontext nach 1945 darstellt,
ist Gegenstand der vorliegenden Studien.
Für die Analyse und bildungspraktische Reflexion der drei Themenfelder wird die innere Widersprüchlichkeit von Bildung, wie sie mit der
kritischen Bildungstheorie herausgearbeitet worden ist, im Folgenden als
eine strukturelle Bedingung betrachtet, die sich in der Bildungsarbeit zu
den drei Themenfeldern widerspiegelt, wenn es darum geht, andere über
Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte aufklären zu wollen, ohne
selbst aufgeklärt zu sein. Eine kritische Bildungstheorie, die Engagement
nicht suspendieren will, muss sich mit tief greifenden Verunsicherungen
auseinander setzen, die ihre Protagonist/innen im Zentrum ihrer Überzeugungen treffen und von ihnen verlangen, das eigene Involviertsein in die
kritisierten Verhältnisse offen zu legen.
17
Adorno, Th. W.:
Erziehung zur Mündigkeit
In ders. Ffm 1970, S.133-147
Erziehung zur Mündigkeit
Adorno: Die Forderung zur Mündigkeit scheint in einer Demo kratie
selbstverständlich. Ich möchte, um das zu verdeutlichen, mich nur auf den
Anfang der ganz kurzen Abhandlung von Kant beziehen, die den Titel trägt
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« Da definiert er die
Unmündigkeit und impliziert da durch auch die' Mündigkeit, indem er sagt,
selbstverschuldet sei Diese Unmündigkeit, wenn die Ursachen ders elben nicht
am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegen,
sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. »Aufklä rung ist Ausgang
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Mir scheint
dieses Programm von Kant, dem man auch mit dem bösesten Willen
Unklarheit nicht wird vorwerfen können, heute noch außerordentlich aktuell.
Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich
in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfaßt. So ll dabei nicht
Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und Mut je des Einzelnen, sich
seines Verstandes zu, bedienen, vorausgesetzt. Hält man daran nicht fest, so
wird alle Rede von Kants Größe Geschwätz. Lippendienst; wie etwa, wenn man
in der Siegesallee auf den Großen Kurfürsten aufmerksam gemacht wird.
Wenn man es überhaupt mit dem Begriff einer deutschen geistigen Tradition
ernst nimmt, so ist dem zunächst einmal aufs energischste entge genzuarbeiten.
Becker: Mir scheint, daß wir an unserem gesamten Bildungswesen, so wie wir es
bisher in der Bundesrepublik hatten, deutlich machen können, daß wir
eigentlich nicht zur Mündigkeit erzogen werden. Wenn Sie sich die ganz
einfache Tatsache der Dreigliedrigkeit unseres Bildungswesens in Schulen für
sogenannte Hochbegabte, in Schulen für sogenannte Mittelbegabte und in sehr
viele Schulen für offenbar kaum Begabte klarmachen, dann ist in ihr eine
bestimmte erste Unmündigkeit bereits vorgebildet. Ich glaube, daß wir der
ganzen Frage der Mündigkeit nicht gerecht werden, wenn wir nicht den
falschen Begabungsbegriff, der unser Bildungswesen be -
133
stimmt, vorweg durch Aufklärung überwinden. Wir haben vielleicht vielen
Hörern bekannt ist, vom Deutschen Bildungsrat vor kurzem einen
Gutachtenband veröffentlicht, >Begabung und Lernen«, in dem wir anhand von
14 Gutachten von Psychologen, und Soziologen deutlich zu machen versucht
haben, daß Begabung nicht im Menschen vorgebildet ist. sondern in ihrer
Entfaltung abhängig ist von dem Challenge, dem der Einzelne ausgesetzt ist.
Das heißt, daß man jemanden »begaben« kann. Von hierher wird die
Möglichkeit, »Lernen durch Motivierung« in jedem hervorzurufen, eine
besondere Form der Entwicklung von Mündigkeit. Dazu gehört freilich ein
Schulwesen, das nicht klassenspezifische Ungleichheiten in seiner Gliederung
fortsetzt, sondern durch eine frühkindliche Überwindung klassenspezifischer
Sperren dann die Entfaltung zur Mündigkeit durch Lernmotivierung aufgrund
eines äußerst differenzierten Angebots praktisch möglich macht. Das heißt nun.
um in gängigen Vokabeln zu reden, nicht Mündigkeit durch Gesamtschule,
sondern Mündigkeit durch Abbau der über-komrnenen Dreigliederung und
durch ein sehr differenziertes, vielfältiges Bildungsangebot auf allen Stufen von
der Vorschule bis zur ständigen Weiterbildung, um auf diese Weise die
Mündigkeit im Einzelnen zu entfalten. Ein Prozeß, der um so wichtiger wird, als
dieser Einzelne seine Mündigkeit ja in einer Welt zu behalten hat, die ihn
insbesondere durch ihre Fremdsteuerung zu bestimmen scheint.
Adorno: Ich möchte das, was Sie unter spezifischer Reflexion auf eines der
wichtigsten pädagogischen Probleme in Deutschland begründen, von einer ganz
anderen Seite aus stützen, wie ja der Sinn unseres Gesprächs weniger der ist,
daß wir uns um irgend etwas streiten, wovon durchaus ungewiß ist, ob
Kontroversen bestehen, sondern daß wir vielmehr von den verschiedenen
Erfahrungsbereichen, die uns nun einmal eigentümlich sind, dieselben Fragen
berühren und experimentierend sehen, was dabei herauskommt. Ich habe die
Erfahrung gemacht, wenn ich etwas ganz Persönliches sagen darf, daß die
Wirkung meiner eigenen Sachen, soweit es eine solche gibt, in Wahrheit gar
nicht mit individueller Begabung. Intelligenz und ähnlichen Kategorien etwas
Entscheidendes zu tun hat. sondern vielmehr damit, daß ich durch eine Reihe
von Glücks134
fallen, deren ich mich keineswegs rühmen möchte und an denen ich ganz
unschuldig bin, in meiner eigenen Bildung nicht in derselben Weise den
Kontrollmechanismen der Wissenschaft ausgesetzt gewesen bin. wie das sonst
der Fall ist. Daß ich es also nach wie vor riskiere, ungedeckte Gedanken zu
denken, die sonst von diesem übermächtigen Kontrollmechanismus, der da
Universität heißt, den meisten Menschen schon sehr früh, vor allem in der
Zeit, in der sie - wie man das so nennt - Assistenten sind, abgewöhnt werden.
Es.zeigt sich nun dabei, daß die Wissenschaft selber durch diese
Kontrollmechanismen in den verschiedensten Bereichen so kastriert und so
steril wird, daß sie dann gleichsam dessen bedarf, was sie selber verpönt, um
überhaupt sich halten zu können. Wenn das stimmt, würde dadurch dieser
Fetisch Begabung, der natürlich noch mit dem aiten romantischen GenieGlauben sehr eng zusammenhängt, abgebaut werden. Das stimmt auch
überein mit dem psychodynamischen Befund, daß Begabung überhaupt nicht
Naturanlage ist, obwohl man ein naturales Residuum dabei vielleicht auch
wird konzedieren müssen - man soll da gar nicht puritanisch sein -. sondern daß
Begabung, wir sehen das etwa am Verhältnis zur Sprache, an der
Ausdrucksfähigkeit, an all diesen Dingen, ihrerseits in einem eminenten Maß
Funktion gesellschaftlicher Bedingungen ist, so daß schon die Voraussetzungen
der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit
der Gesellschaft determiniert ist.
Becker: Ich möchte hier eigentlich nicht sozusagen das ganze Arsenal, das
dazugehört, noch einmal entfalten. Aber man muß sagen, daß z. B. alles das,
was Basil Bernstein über die Sprachentwicklung des Kleinkindes in
Unterschichten ermittelt hat und was Oever-mann dann für uns in
Deutschland weiterentwickelt hat. ganz deutlich zeigt, daß schon in den
Anfängen der Sozialisation Bedingungen für lebenslange Unmündigkeit gesetzt
werden können. Im übrigen habe ich eben mit Amüsement ihren
selbstbiographischen Ausführungen gelauscht, weil es vielleicht kein Zufall ist.
daß wir beide heute in der Wissenschaft stehen, obwohl wir keinen typischen
Werdegang in dieser Wissenschaft zu verzeichnen haben und gerade dadurch in
der Lage sind, uns über den Begriff der Mündigkeit zu unterhalten
134
Adorno: Ja, nun ist aber das Merkwürdige an dem Problem der Mündigkeit,
wenn wir es einmal wirklich um den pädagogischen Komplex zentrieren, daß
man auch in der pädagogischen Literatur - und das ist nun etwas wahrhaft
Erschreckendes und sehr Deutsches - keineswegs jene entschiedene
Parteinahme für Erziehung zur Mündigkeit findet, die man voraussetzen
sollte. Ich habe mich mit freundlicher Hilfe ein bißchen umgesehen in der
pädagogischen Literatur über den Komplex der Mündigkeit. Und anstelle von
Mündigkeit findet man da einen existentialontologisch verbrämten Begriff von
Autorität, von Bindung, oder wie all diese Scheußlichkeiten sonst heißen, die
den Begriff der Mündigkeit sabotieren und damit den Voraussetzungen einer
Demokratie nicht nur implicite, sondern recht offen entgegenarbeiten. Ich bin
der Ansicht, daß man diese Dinge doch einmal niedriger hängen und zeigen
soll, welchem Muff nach wie vor in Deutschland selbst eine scheinbar doch so
sehr im Bereich des Geistes beheimatete Frage wie die der Mündigkeit
ausgesetzt ist.
Da heißt es etwa in einem Buch von Ernst Lichtenstein >Erziehung. Autorität,
Verantwortung - Reflexionen zu einer pädagogischen Ethik<. das — wenn
ich recht unterrichtet bin - einen sehr großen Einfluß vor allem in der
Diskussion über die Volksschule ausübt, an einer Stelle so: »Bedrängt uns
nicht gerade die Wirklichkeit eines ungeheuren und rapiden Verfalls des Sinns
für Autorität, der Ehrfurcht, des Vertrauens, des Glaubens an gültige Ordnung,
der Bindungswilligkeit auf allen Lebensgebieten, so daß manchmal eine
positive, aufbauende, eindringende Erziehung überhaupt gefährdet scheinen
will?« Ich möchte mich bei den Phrasen, mit denen Lichtenstein hier aufwartet,
gar nicht aufhalten. Das Interessante dabei, und das. was vielleicht unsere
Hörer auch notieren sollten, ist, daß hier nicht etwa von Bindungen geredet
wird aufgrund einer Position, deren objektive Wahrheit man annimmt und
Grund hat anzunehmen, wie etwa im mittelalterlichen Thomismus aufgrund des
damaligen Standes des Geistes, sondern daß hier deshalb, weil vielleicht aus
irgendwelchen Gründen Ordnung, Bindung gut sei, advoziert wird, ganz
unbekümmert darum, wie es um die Autonomie, also die Mündigkeit steht.
Lichtenstein fügt dreißig oder vierzig Seiten später an: »Was heißt eigentlich
>Autono136
mie<? Wörtlich Selbstgesetzlichkeit, Eigengesetzlichkeit. Das ist schon etwas
Verwirrendes.« Man fragt sich, verwirrend für wen? »Denn dem Begriff
haftet... unvermeidlich der Gedanke an eine absolut gesetzgebende souveräne
Vernunft an, die also auch in der Erziehung das einzige Maß zu sein
beanspruchen würde. Diese Voraussetzung des >autonomen Menschern... ist
dem Christen un-voliziehbar.« Nun, Kant war ja wohl ein Christ. »Aber die
geschichtliche Besinnung erwies auch, daß der Gedanke einer Pädagogik aus
reiner Vernunft einfach falsch ist. Erziehungsziele sind nie Setzungen des
Denkens, sind nie rational zwingend, allgemein gültig.« Ich glaube, man kann
philosophisch sehr wohl an dem Begriff der absoluten Vernunft Kritik üben
und an der Illusion, die Welt sei das Produkt des absoluten Geistes, man wird
aber deshalb nicht verleugnen dürfen, daß anders als durch Denken, und zwar
durch unbeirrbares und insistentes Denken, so etwas wie die Bestimmung
dessen, was zu tun richtig sei. richtige Praxis überhaupt, nicht vollziehbar ist.
Und daß hier philosophische Kritik am Idealismus mit der Denunziation des
Denkens einfach verquickt wird, finde ich einen abscheulichen Sophismus,
den man niedriger hängen muß. um endlich einmal in diesen Muff einen
Funken zu bringen, der ihn möglicherweise doch explodieren läßt. Becker:
Ich weiß nicht genau, ob der Muff explodieren kann, aber...
Adorno: Ich glaube, chemisch ist das möglich. Aber ob es gesellschaftlich
möglich ist. weiß ich nicht.
Becker: Die Frage geht ja nun erheblich über Deutschland und das deutsche
Denken hinaus. Vor einigen Jahren durchlief die amerikanische Presse die
Erfolgsmeldung, daß Caroline Kennedy »ein immer angepaßteres Kind«
werde. Daß die Anpassungsleistung als der Haupterfolg frühkindlicher
Erziehung gilt, ist wohl in sich eine Tatsache, die uns zu denken geben sollte,
denn diese Art von Pädagogik ist in einer Welt entstanden, die durchaus fern
von den Folgeerscheinungen des deutschen Idealismus liegt. Adorno: Mehr
vom Darwinismus als von Heidegger geprägt. Aber die Resultate sind sehr
ähnlich.
Becker: Genau darauf wollte ich hinaus. Ich glaube, daß die Frage der
Mündigkeit genaugenommen ein Weltproblem ist. Ich hab
137
mehrere Wochen hindurch sowjetrussische Schulen besichtigt. Dabei war
ungeheuer interessant zu sehen, wie in einem Land, das die Veränderung der
Produktionsverhältnisse vor sehr langer Zeit durchgeführt hat, sich in der
Nichterziehung zur Mündigkeit von Kindern außerordentlich wenig geändert
hat und daß in diesen Schulen weiter ein total autoritärer Unterrichtsstil
herrscht. Es ist wirklich ein interessantes Phänomen, wie die Erziehung zur
Unmündigkeit die Welt nach wie vor beherrscht, obwohl die Zeit der
Aufklärung ja seit einiger Zeit im Gange ist, und obwohl sicher nicht nur bei
Kant, sondern auch bei Karl Marx sich einiges gegen diese Erziehung zur
Unmündigkeit finden ließe. Nun, bei dem Zitat, das Sie vorhin brachten, hat
mich etwas besonders frappiert, nämlich die Feststellung, daß die Vorstellung
de<-autonomen Menschen für den Christen unvollziehbar sei. Es ist ja
interessant, daß die gesamte christliche Reformbewegung von der Bekennenden
Kirche bis zum Konzil sich in zunehmendem Maße um den sogenannten
mündigen Christen dreht. Wir können hier die theologischen Probleme sicher
nicht einbeziehen. Aber es ist doch wohl festzustellen, daß es in beiden Kirchen
heute eine th eo logische Interpretation gibt, die den Begriff der Mündigkeit
ähnlich ernst nimmt, wie er bei Kant genommen wird, und von hier aus in der Tat
die herkömmliche Struktur beider Kirchen sehr massh in Frage stellt.
Adorno: Das ist sicher der Fall. Kants eigene kleine Schrift zeugt dafür, indem
er ausdrücklich davon redet, daß innerhalb der Kirche seiner eigenen Zeit
Möglichkeiten zu der Mündigkeit, wie er sie visiert, bestünden. Aber Sie
haben insofern ganz recht, als da^ Problem der Mündigkeit nicht ein
deutsches Problem allein ist sondern ein internationales. Und. wie man
hinzufügen darf, eines, das weit über die Grenzen der politischen Systeme
hinausreicht. In Amerika ist es nun wirklich so, daß hier unmittelbar zwei
verschiedene Forderungen aufeinanderprallen: auf der einen Seite die dc^
kräftigen Individualismus, der sich nichts vorschreiben läßt, auf de i anderen
1
Seite die vom Darwinismus über Spencer bezogene Idix der Anpassung, eben
das adjustrnent. das ja vor dreißig bis vietvij: Jahren in Amerika noch geradezu
ein Zauberwort gewesen ist um; da s dieselbe Unabhängigkeit, die im gleichen
Atemzug pr ok la 138
miert wird, auch wieder sogleich fesselt und beschneidet. Übrigens ein
Widerspruch, der die gesamte bürgerliche Geschichte hindurch dauert. Daß so
verschieden geartete Ideologien wie die pragmatische Vulgärideologie in
Amerika und die Heideggersche Philosophie in Deutschland dann in genau
dem Gleichen, nämlich der Verherrlichung der Heteronomie übereinstimmen,
ist eine Bestätigung für die Ideologienlehre insofern, als selbst geistige Gebilde,
die ihrem Inhalt nach einander schroff widersprechen, durch ihren sozialen
Bezug, also durch das, was sie aufrechterhalten oder verteidigen wollen, dann
plötzlich übereinzustimmen vermögen. Wie überhaupt die Übereinstimmungen
zwischen dem westlichen Positivismus und dem, was an Metaphysik in
Deutschland noch übrig ist, geradezu bestürzend sind. Eigentlich laufen gerade
diese Übereinstimmungen auf eine Bankrotterklärung der Philosophie überhaupt hinaus.
Hecker: Übrigens ist mir bei der von Ihnen vorgelesenen Stelle noch etwas
anderes aufgefallen. Ist es eigentlich richtig, daß wir Autonomie in dieser
Form als Gegenbegriff zur Autorität setzen? Müßten wir nicht dieses
Verhältnis in einer etwas anderen Weise reflektieren?
Adorno: Ich glaube überhaupt, daß man mit dem Autoritätsbegriff einen
gewissen Unfug anstiftet. Gerade ich, der ich schließlich für die >Authoritarian
Personality': wesentlich verantwortlich bin - ich meine nicht für das darin
behandelte Phänomen -, habe ein gewisses Recht, darauf hinzuweisen.
Zunächst ist Autorität selber ein wesentlich sozialpsychologischer Begriff, der
nicht ohne weiteres die soziale Wirklichkeit selber bedeutet. Dann gibt es
etwas wie Sachautorität - also die Tatsache, daß ein Mensch von einer Sache
mehr versteht als ein anderer -. die man nicht einfach vom Tisch fegen darf.
Sondern der Begriff der Autorität erhält seinen Stellenwert innerhalb des
sozialen Kontextes, in dem er aufkommt. Aber ich möchte dazu noch etwas
Spezifischeres sagen, da Sie den Punkt Autorität gerade aufgeworfen haben;
etwas, was mit dem Sozialisierungsprozeß in der frühen Kindheit und damit
also, ich möchte fast sagen, mit dem Schnittpunkt gesellschaftlicher, pädagogischer und psychologischer Kategorien zu tun hat. Die Art, in der man psychologisch gesprochen - zu einem autonomen, also
133
mündigen Menschen wird, ist nicht einfach das Aufmucken gegen jede Art von
Autorität. Empirische Untersuchungen in Amerika, wie sie meine verstorbene
Kollegin Eise Frenkel-Brunswik durchgeführt hat, haben gerade das Gegenteil
gezeigt, nämlich daß sogenannte brave Kinder als Erwachsene eher zu
autonomen und opponierenden Menschen geworden sind als refraktäre
Kinder, di e dann als Erwachsene sofort mit ihren Lehrern am Biertisch sich
versammelt und die gleichen Reden geschwungen haben. Der Prozeß ist doch
der, daß Kinder - Freud hat das als die normale En t wicklung bezeichnet - im
allgemeinen mit einer Vaterfigur, also mit einer Autorität sich identifizieren,
sie verinnerlichen, sie sich zu eigen machen, und dann in einem sehr
schmerzhaften und nie ohne Narben gelingenden Prozeß erfahren, daß der
Vater, die Vaterfigur dem Ich-Ideal, das sie von ihm gelernt haben, nicht entspricht, dadurch sich davon ablösen und erst auf diese Weise über haupt zum
mündigen Menschen werden. Das Moment der Autori tät ist, meine ich, als ein
genetisches Moment von dem Prozeß der Mündigwerdung vorausgesetzt. Das
aber wiederum darf um keinen Preis dazu mißbraucht werden, nun diese
Stufe zu verherrlichen und festzuhalten, sondern wenn es dabei b leibt, dann
resultieren nicht nur psychologische Verkrüppelungen, sondern eben jene
Phänomene der Unmündigkeit im Sinn der synthetischen Verdummung, die
wir heute an allen Ecken und Enden zu konstatieren haben.
Becker: Ich glaube, es ist wichtig, daß wir hier festhalten, daß natürlich der
Ablösungsprozeß von dieser Autorität notwendig ist, daß aber die
Identitätsfindung ohne die Begegnung mit Autorität wiederum nicht möglich
ist. Das hat eine ganze Reihe von sehr komplexen und scheinbar
widersprüchlichen Konsequenzen für den Aufbau unseres Bildungswesens. Es
heißt, daß es keine sinnvolle Schule ohne Lehrer geben kann, daß andererseits
der Lehrer sich darüber klar sein muß, daß seine Hauptaufgabe darin besteht,
sich überflüssig zu machen. Dieses Nebeneinander ist so schwierig, weil in den
Auseinandersetzungsformen heute die Gefahr besteht, daß der Lehrer sich
autoritär gebärdet und die Schüler von ihm absehen wollen. Daß also sozusagen
dieser ganze Prozeß, wie Sie ihn eben geschildert haben, durch eine fa lsche
Frontstellung praktisch
140
zerstört wird. Das Ergebnis ist dann eine Scheinmündigkeit von Schülern, die
im Aberglauben und in der Abhängigkeit von allen möglichen
Manipulierungen endet, nur nicht in der Mündigkeit. Adorno: Dem würde ich
ganz und gar zustimmen. Man kann vielleicht das Problem der Unmündigkeit
heute noch unter einem anderen Aspekt sehen, der vielleicht gar nicht so
bekannt ist. Man sagt im allgemeinen, daß die Gesellschaft, nach dem Wort
von Riesman, »von außen her gesteuert«, daß sie heteronom sei, und man
unterstellt dabei einfach, daß, wie es ganz ähnlich auch Kant in jener Schrift
ausführt, die Menschen mehr oder minder widerstandslos das schlucken, was
das überwältigende Seiende ihnen vor Augen stellt und außerdem noch ihnen
einbleut, als ob. was nun einmal ist. so sein müßte.
Ich sagte vorhin, daß die Mechanismen der Identifikation und der Ablösung
nie ohne Narben geschehen. Ich möchte das mit Nachdruck auch auf den
Begriff der Identifikation selbst anwenden. Unsere Hörer haben sicher
allesamt etwas von dem Rollenbegriff gehört, der in der heutigen Soziologie
seit Merton und vor allem seit Talcott Parsons eine so ungeheure Rolle spielt,
ohne daß im allgemeinen die Menschen darauf aufmerksam werden, daß allein
im Begriff der Rolle selbst, der ja vom Theater genommen ist. die Unidentität
der Menschen mit sieb selbst verlängert wird. Das heißt, wenn die Rolle zu
einem sozialen Maß gemacht wird, so wird darin auch perpetuiert, daß die
Menschen nicht die sind, die sie selbst sind, also daß sie unidentisch sind. Ich
finde die normative Wendung des Rollenbegriffs abscheulich, und man muß
mit aller Kritik dagegen angehen. Aber phänomenologisch. also als
Beschreibung eines Tatbestandes, ist etwas dran. Es will mir dünken, als ob
den meisten Menschen die Identifikationen mit dem Über-Ich, die sie
vollziehen und von denen sie dann nicht loskommen, immer zugleich auch
mißlungene wären. Daß also unzählige Menschen etwa den erdrückenden,
brutalen und sie überwältigenden Vater verinnerlichen, aber ohne daß sie. eben
weil die Widerstände dagegen zu stark sind, diese Identifikation leisten
können. Und gerade weil die Identifikation ihnen mißlingt, weil es ungezählte
Erwachsene gibt, die eigentlich nur den Erwachsenen spielen, der sie nie ganz
geworden sind, müssen sie ihre Identifikation
141
mit solchen Vorbildern womöglich auch noch überspielen, übertreiben, sich in
die Brust werfen, mit Erwachsenenstimmen daherreden, nur um die Rolle, die
ihnen selber eigentlich mißlungen ist. sich und anderen glaubhaft zu machen.
Ich glaube, daß eben dieser Mechanismus zur Unmündigkeit gerade auch
unter gewissen Intellektuellen anzutreffen ist.
Becker: Ich würde denken, nicht nur unter Intellektuellen; wenn wir einmal
den Rollenbegriff sozusagen quer durch das ganze Spektrum der Gesellschaft
anwenden, würden wir auf ganz ähnliche Erscheinungen in allen Schichten der
Gesellschaft stoßen. Nehmen Sie mal die Situation in einem Betriebe, wo ja
auch der einzelne Arbeiter. Lehrling, Angestellte, gerade wenn er mit seiner
Situation nicht zufrieden ist, Rollen spielt, Rollen, die aus allen möglichen
Zusammenhängen kommen. Ich glaube, daß wir. wenn wir die Folgerungen
aus der Notwendigkeit von Mündigkeit auf den ganzen Arbeitsprozeß
übertragen, sehr schnell zu sehr gründlichen Veränderungen unseres gesamten
Berufsausbildungswesens kommen müssen. Ich darf hier noch einmal auf den
Bildungsrat und auf die kürzlich erschienenen Empfehlungen zur Lehrlingsausbildung verweisen. Die Tatsache, daß wir in Deutschland noch eine
Lehrlingsausbildung haben, die - wenn wir von wenigen ganz vorzüglichen
Großbetrieben absehen - eigentlich aus einer vorindustriellen Zeit stammt,
führt in der Tat dazu, daß wir Formen der Unmündigkeit perpetuieren und daß
die Ausbildung am Arbeitsplatz, das ganze sogenannte >on the Job training<,
praktisch in Formen der Abrichtung erfolgt jedenfalls sehr häufig, und daß wir
z. B. bei den heute fälligen Umschulungen von der Landwirtschaft oder vom
Bergbau usw., alles Dinge, die eine zahlenmäßig sehr große Rolle spielen, vor
der Schwierigkeit stehen, daß wir zwar das Angebot bestimmter sachlicher
Ausbildungen machen, aber dauernd mit diesem Angebot scheitern, weil wir
nicht gleichzeitig das autonome Verhalten mit vermitteln können, oder es
zumindest nicht tun. Es wird z. B. nötig sein, wenn jemand, der bisher Buchführung getrieben hat und nun durch die Einführung von entsprechenden
Maschinen Überflüssig wird und etwa als Programmierer vorgebildet werden
soll, nicht nur lernt, was er da tun muß, sondern sozusagen einen anderen
Orientierungshorizont, eine andere
142
Denkdimension vermittelt bekommt. Dazu wäre es da nn ?.. B, nötig, daß er
möglicherweise eine Fremdsprache lernt, obwohl er sie gar nicht braucht, weil
ih m dadurch ein anderer Erfahrungshorizont entsteht. Diese Kombination
von unmittelbarer Ausbildung mit Orientierungshorizont ist etwas, das in
unserer ganzen beruflichen Weiterbildung praktisch noch fehlt und das ich
deshalb für so bedeutungsvoll halte, weil in einer Welt wie der heutigen d er
Appell zur Mündigkeit fast so etwas wie eine Tarnung des allge meinen
Unmündig-gehalten-Werdens sein kann, und weil es sehr wichtig ist. die
Möglichkeit zur Mündigkeit in die konkreten Ausbildungsverhältnisse zu
übersetzen.
Adorno: Ja. das ist sicher auch ein Moment, das eine Rolle spielt. Ich möchte,
ohne mir anzumaßen, über diesen besonderen Sektor verbindlich urteilen zu
können, immerhin einblenden, daß zur Mündigkeit eine bestimmte Festigkeit
des Ichs, der Ich-Bindung hinzugehört, wie sie am Modell des bürgerlichen
Individuums gebildet ist. Die Möglichkeit, wie sie heute vielfach gefordert ist
und die - wie ich zugestehe - unumgänglich ist, sich, statt ein festes Ich
auszubilden, auf stets wechselnde Situationen umzustellen, har moniert mit
den Phänomenen der Ich-Schwäche, die wir von der Psychologie her kennen,
in einer, wenn ich mich nicht irre, doch sehr problematischen Weise. Ob etwa
bei Menschen, in denen es die Festigkeit einer Vorstellung vom eigenen Beruf
gar nicht mehr gibt, die sich also relativ mühelos, wie man so sagt, umstellen
und einarbeiten können, dies wirklich der Mündigkeit zugute kommt oder ob
dieselben Menschen nicht gerade, indem sie dann sonntags auf dem Sportplatz
jede Besinnung verlieren, sich als unmündig erweisen, das möchte ich als
Problem wenigstens offenhalten. Becker: Ich meine, ich brauche Sie nicht auf die
Dialektik der Aufklärung aufmerksam zu machen, sondern mochte nur sagen,
daß natürlich derselbe Vorgang, der durch Emanzipierung die Mün digkeit
möglich macht, von der Ich-Schwäche oder der Gefahr der Ich-Schwäche aus
auch die Emanzipation in ihren Folgen wieder gefährdet.
Adorno: Ja, diese Gefahr ist außerordentlich ernst. Ich glaube, da mit kommen
wir eigentlich an de n kritischen Punkt unserer Diskussion überhaupt. Kant hat
in seiner Schrift, von der ich ausge 143
gangen bin, auf die Frage »Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter«
geantwortet: »n ei n, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung«. Womit
er also Mündigkeit nicht als eine statische, sondern ganz konsequent als eine
dynamische Kategorie, als ei n Werdendes und nicht als ein Sein bestimmt hat.
Ob wir heute noch in derselben Weise sagen können, daß wir in einem
Zeitalter der Aufklärung leben , ist angesichts des unbeschreiblichen Drucks, der
auf die Menschen ausgeübt wird, einfach durch die Einrichtung der Welt und
bereits durch die planmäßige Steuerung auch der gesamten Innensphäre durch
die Kulturindustrie in einem alle weitesten Sinn sehr fragwürdig geworden.
Wenn man das Wort »Mündigkeit: nicht in einem phrasenhaften Sinn und
selber genau so hohl verwenden will, wie die anderen Herrschaften der
Mündigkeit gegenüber von Bindungen reden, dann muß man wohl zunächst
einmal wirklich die unbeschreiblichen Schwierigkeiten sehen, die in dieser
Einrichtung der Welt der Mündigkeit entgegenstehen. Und ich glaube,
darüber sollten wir doch etwas sagen. Der Grund dafür ist natürlich der
gesellschaftliche Widerspruch, daß die gesellschaftliche Einrichtung, unter der
wir leben, nach wie vor heteronom ist, das heißt, daß kein Mensch in der
heutigen Gesellschaft wirklich nach seiner eigenen Bestimmung existieren
kann; daß, solange das so ist, die Gesellschaft durch ungezählte
Vermittlungsinstanzen und Kanäle die Menschen so formt, daß sie innerhalb
dieser heteronomen. dieser ihr in ihrem eigenen Bewußtsein entrückten
Gestalt alles schlucken und akzeptieren. Das reicht dann natürlich auch bis in
die Institutionen, bis in die Diskussion über den politischen Unterricht und in
ähnliche Fragen hinein. Das eigentliche Problem von Mündigkeit heute ist. ob
und wie man-und wer das >man< ist. das ist nun auch schon wieder eine große
Frage - entgegenwirken kann.
Becken Wie mir scheint, ist in diesem Zusammenhang eine der wichtigsten
Aufgaben in der Schulreform die Auflösung der Bil dung nach einem festen
Kanon und der Ersatz dieses Kanons durch ei n sehr vielfältiges Stoffangebot,
also eine Schule - wie wir es technisch sagen- mit breiter Wahldifferenzierung
und ausgedehnter innerer Differenzierung innerhalb der einzelnen Fächer. Die
ganzen »Mündigkeitsspielereien«, wie sie in so Sachen wie Schü144
lermitverwaltung herkömmlicher Art stattgefunden haben, werden einen ganz
anderen Stellenwert bekommen, wenn der Schüler als einzelner und als Gruppe
an der Bestimmung seines Lehrplans und an der Auswahl seines Stoffplans
selbst mitwirkt und auf diese Weise nicht nur besser lernmotiviert, sondern auch
daran gewöhnt ist. daß, was in der Schule geschieht, die Folge seiner
Entscheidungen und nicht vorweg gegebener Entscheidungen ist. Ich bin mir
ganz klar darüber, daß man natürlich auch dieses System, wenn man es
entsprechend benutzt, als eine Scheinfassade aufbauen und in Wirklichkeit als
ein technokratisches Ausleseelement benutzen kann. Ich glaube aber nicht, daß
es so zu laufen braucht. Mir scheint. daß in den häufig abstrusen
Erscheinungsformen der Schüleropposition heute ein richtiger Kern steckt,
den man dadurch - nun. ich möchte nicht >auffangen sagen - aber dem man
dadurch die richtige Antwort geben müßte, daß man den mitbestimmen
wollenden Schülern hier die Chance gibt, ihre eigene sachliche Schullaufbahn
selbst mitzubestimmen.
Adorno: Mir kommt es so vor, als ob, so sehr das alles anzustreben ist, es doch
noch etwas zu sehr im institutionellen Rahmen zumal der Schule verbleibt. Ich
würde, auf die Gefahr hin. daß Sie mich einen Philosophen schelten, der ich
nun einmal bin, sagen, daß die Gestalt, in der Mündigkeit sich heute
konkretisiert, die ja gar nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, weil
sie an allen, aber wirklich an allen Stellen unseres Lebens überhaupt erst
herzustellen wäre, daß also die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit
darin besteht, daß die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller
Energie darauf hinwirken, daß die Erziehung eine Erziehung zum
Widerspruch und zum Widerstand ist. Ich könnte mir etwa denken, daß man
auf den Oberstufen von höheren Schulen, aber wahrscheinlich auch von
Volksschulen gemeinsam kommerzielle Filme besucht und den Schülern ganz
einfach zeigt, welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist; daß man in
einem ähnlichen Sinn sie immunisiert gegen gewisse Morgenprogramme, wie
sie immer noch im Radio existieren, in denen ihnen sonntags früh frohgemute
Musik vorgespielt wird, als ob wir. wie man so schön sagt, in einer »heilen
Welt< leben würden, eine wahre Angstvorstellung im übrigen; oder daß man mit
ihnen einmal eine Illu145
strierte liest und ihnen zeigt, wie dabei mit ihnen unter Ausnutzung ihrer eigenen
Triebbedürftigkeit Schlittengefahren wird; oder daß ein Musiklehrer, der
einmal nicht aus der Jugendmusikbewegung kommt, Scblageranalysen macht
und ihnen zeigt, warum ein Schlager oder warum auch meinetwegen ein Stück
aus der Musikbewe-gung objektiv so unvergleichlich viel schlechter ist als ei n
Quartett satz von Mozart oder Beethoven oder ei n wirklich authentisches
Stück der neuen Musik. So daß man einfach versucht, zunächst einmal
überhaupt das Bewußtsein davon zu erwecken, daß aie Menschen immerzu
betrogen werden, denn der Mechanismus der Unmündigkeit heute ist das zürn
Planetarischen erhobene mundus vult decipi, daß die Welt betrogen sein will.
Daß diese Zusammenhänge allen bewußt werden, könnte man vielleicht doch
im Si nn einer immanenten Kritik erreichen, weil es wohl keine normale
Demokratie sich leisten kann, explizit gegen eine derartige Aufklärung zu sein.
Obwohl ich mir sehr gut die Lobby etwa der Film -Industrie vorstellen kann, die
sogleich in Bonn vorstellig würde, wenn man etwas Derartiges versuchte, und
erklären würde, man wolle auf diese Weise einerseits einseitige
weltanschauliche Propaganda betreiben und auf der anderen Seite den für die
deutsche Bilanz so überaus wichtigen ökonomischen Interessen der Filmindustrie schaden. Diese Dinge müßten alle in einen realen Prozeß zur
Beförderung der Mündigkeit mit hineingenommen werden. Becker: Wobei
man aber immer noch nicht weiß, ob die auf diese Weise entlarvten Filme nicht
trotzdem, aufgrund Ihnen sehr wohl vertrauter unterirdischer Motive, eine
recht erhebliche Anziehungskraft ausstrahlen, so daß die Fil min dustrie
vielleicht ihrerseits eher geneigt ist, den Entlarvungsprozeß als eine Art von
Reklame anzusehen, als ihn von vornherein beseitigen zu wollen. Adorno: Man
kann sie aber den jungen Menschen madig machen. Jede Epoche bringt die
Ausdrücke hervor, die ihr angemessen sind. Und manche dieser Ausdrücke, etwa
>Schnulze< oder >madig ma-chen<, sind sehr gut. Ich würde eine solche
Erziehung des; Madig-machens< außerordentlich advozieren.
Becker: Ich würde gerne noch eine Frage anschneiden, die mich in diesem
Zusammenhang immer wieder beunruhigt. Stellen wir uns einmal einen
Moment vor, wir täten alles das, was wir jet zt hi er
146
erörtert haben: Wir würden ein differenziertes Schulwesen haben, in dem die
Breite der Angebote entsprechende Lernmotivation erzeugt, in der nicht
Auslese nach falschen Begabungsbegriffen erfolgt, sondern eine Förderung
unter Überwindung entsprechender sozialer
Hindernisse
durch
kompensatorische Erziehung und so weiter, und wir könnten auf diese Weise
sozusagen gewisse Grundvoraussetzungen für die Mündigkeit klären, und wir
würden ähnliche Dinge in der Berufsausbildung tun. Es bleibt die Frage bestehen, ob nicht, selbst wenn das alles geschieht, der auf diese Weise aufgeklärte,
kritisch bewußtgemachte Mensch dann doch auf eine bestimmte Weise in
seinem Verhalten ferngesteuert und in seiner scheinbaren Mündigkeit doch
nicht in dem Sinne autonom ist. wie man sieb das zunächst einmal in den
Anfängen der Aufklärung vorgestellt hat. Ich glaube gar nicht, daß das ein
Einwand gegen alles das ist. was wir besprochen haben. Aber es ist sozusagen
eine Mahnung zur Vorsicht gegenüber dem Optimismus, der sich möglicherweise damit verbindet. leb möchte nur sagen, daß auch dieser mündige
Mensch fortgesetzt in der Gefahr steht - Sie haben selbst vorhin darauf
hingewiesen -. ein unmündiger zu werden. Adorno: Diese Gefahr möchte ich
nachdrücklich unterstreichen. Und zwar ganz einfach aus dem Grund, weil
nicht nur die Gesellschaft, wie sie ist. die Menschen unmündig häl t, sondern
weil bereits jeder ernsthafte Versuch, sie zur Mündigkeit zu bewegen - das Wort
>erziehen< vermeide ich mit Absicht -, unbeschreiblichen Widerständen
ausgesetzt ist. und weil alles Schlechte in der Welt sofort seine beredten
Anwälte findet, die einem beweisen werden, daß gerade das, was man dabei
will, schon längst überholt oder nicht mehr aktuell oder utopisch sei. Ich
möchte das Gespräch am liebsten damit schließen, daß wir unseren Zuhörern
das Phänomen zu bedenken geben, das gerade im Eifer des Änderungswillen
allzu leicht verdrängt wird, daß Versuche, in irgendeinem partikularen Bereich
unsere Welt wirklich eingreifend zu ändern, sofort der überwältigenden Kraft
des Bestehenden ausgesetzt sind und zur Ohnmacht verurteilt erscheinen.
Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er diese
Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen
macht, was er denkt und vielleicht auch was er tut
14 7
Dennoch: Bildung als Prinzip
67
Gemot Koneffke
Dennoch: Bildung als Prinzip
Anmerkungen zu einer Diskussion
des Bildungsbegriffs
Publizierte Materialien zum ..Bildungstag 86", wie die Aufsätze in "Widersprüche"
(Heft 15, Juni 1985), Thesen und Stellungnahmen in "Bildung im Wandel" (1) (darunter
besonders die von U. Preuß-Lausitz), wie die Abschlußerklärung (..links", Nr. 194) oder
die Bilanz von H.-D. Zahn t.Hnks'', Nr. 196) - ebenso freilich wie eine breite Palette
von Äußerungen zu Bildungsreform und -problem der letzten Jahre - geben Anlaß genug
zu einigen Anmerkungen. Zu deren Gegenstand mache ich den Bildungsbegriff, weil dieser - vielfach beansprucht oder auch als Gegenstand gefordert - die entsprechende Diskussion der Linken zu prägen scheint. Er beherrscht sie nun gerade durch das Zwielicht,
in dem er, infolge der Vielfalt und Unverbundenheit, der unter seinem Titel bearbeiteten
Aspekte, keinen Kontur mehr erkennen läßt, und dadurch die Eigenschaften des Begriffs
verliert: er wird zum Material "krealiver", möglicherweise lustbetonter Gestaltung,
kaum aber zum Mittel eines Erkenntnisgewinns. Wenn aber die beklagte repressive Toleranz der Gegenstandsbereiche und Positionen überholbar werden soll, die Toleranz, die
nur da greift, wo nichts mehr eigentlich wichtig oder weniger gleichgültig ist, als die eigene Sache, so wäre gerade die Leistung eines Prinzips zu fordern, das die unverbundene
Vielheit des Einzelnen, der Teilaspekte und Interessen in Beziehung zu setzen und zu
gliedern vermöchte. Was die vielen pädagogischen Teilaspekte anbetrifft, so sehe ich,
auch und gerade unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, nur den Bildungsbegriff als leistungsfähiges leitendes und organisierendes Prinzip. Bedingung ist freilich,
daß man dem, was unterm Titel .,Bildung" ausgesagt werden soll, eine hinreichend
scharfe Fassung gibt. Eine Verwendung von ..Bildung" derart, daß jeder sich dabei das
Seine denken kann, beraubt den Begriff nicht nur seiner Leistungsfähigkeit, sondern verwirrt auch, wo er klären sollte und könnte und depotenziert damit die Diskussion.
Eine bündige Verwendung von "Bildung" aber, wie ich sie hier versuche, muß wegen
der notwendigen Raffurig vielleicht zu viel voraussetzen, um Mißverständnissen entgehen
zu können; sicher aber sollte sie zum Nachdenken und -fragen veranlassen können. Welche Ordnungsgesichtspunkte werden erkennbar, wenn man historisch hervortretende
Teilaspekte der Pädagogik zum Bildungsbegriff in Beziehung setzt? Diese Teilaspekte
sind erzeugt durch die Formen in denen die Widersprüche bürgerlicher Gesellschaft erscheinen. Eine Analyse dieser Formen, die aus dem Kanon ihrer Kriterien den Bildungsbegriff ausschließt, mystifiziert ihre Gegenstände (2), indem sie die Menschen und ihre
Verbände nur noch als Objekte vorstellen, als Resultate der Veränderungen ihnen äußerGernot Koneffke, Ptidagogikprofessor. Institut für PtJdagogik an der TH Darmstadt;
Adresse: Pankratiusstr. 2, 6100 Darmstadt
68
Gernot Koneffke
lieher Bedingungen aus ihnen äußerlichen Ursachen. Diese Art Analyse setzt die Auflösung des Subjekts voraus und macht sich daher selbst zum Mysterium. Weil die Menschen als nur noch Reagierende beschrieben werden, kann Bildung nur noch aporetisch
gefaßt werden: als - woher immer - stammende Form der blinden Reaktionsweisen.
über die Menschen die Bedingungen und Mächte, von denen sie doch prinzipiell abhängig sein sollen. zum Gegenstand verändernder Praxis machen. Die Mitwirkung des BHdungsbegriffe an der Analyse vermeidet diese Schwächen. Eine letzte kriegerische Auseinandersetzung, die Plünderung des Globus. die Zerstörung der Naturgrundlagen menschlicher Existenz, schon gar nicht der Einbruch der Computertechnologie oder die Veränderungen, die mit Kindheit und Jugend vor sich gehen, haben übersinnliche Quellen,
verdanken sich menschlicher Bosheit oder menschlichem Versagen, oder auch nur dem
Zufall (obgleich der gewiß eine Rolle spielt). Der Bildungsbegriff postuliert, daß pädagogisches Handeln selber zum Verursachungszusammenhang des geschichtlichen Resultats
gezählt werde. D.h. die gesellschaftlichen Veranlassungen pädagogischen Handeins sind
selber bereits Resultate auch der Art und Weise, wie sich die Menschen in und mit ihren
Gesellschaften gebildet haben, und die Resultate stehen allemal in einem Zusammenhang, der verursachend fortwirkt (sonst würden aus ihm auch keine Veranlassungen für
pädagogisches Handeln aufgegriffen). Erscheinen die historischen Resultate in diesem
Zusammenhang als offenkundige Mißbildungen, so liegt in ihnen doch auch "Bildung"
als deren Widerspruch, weil ohne das Potential an Überwindung im gesellschaftlichen
Zustand nicht der geringste Anhaltspunkt gegeben wäre, ihn als Mißbildung zu beurteilen und mit Friedenspädagogik. Ökopädagogik, Medienpädagogik, Freizeitpädagogik.
Antipädagogik usw. darauf zu reagieren. Fordert daher der Bildungsbegrfff, daß die gesellschaftlichen Veranlassungen pädagogischer Praxis, ebenso wie diese selbst in das
Licht der Dialektik von Bildung und Herrschaft gestellt werden (3), dann ist der' Zusammenhang, als ein gesetzmäßiger zu begreifen, so aber, daß er sich energisch - etwa im
Bildungsbegriff - auch gegen sich selber kehrt und damit Obersich hinausweist. Bildung
realisiert sich, wo wir die Gründe der Überwindbarkeit des Systems erfassen und damit
der Bedingungen politischer Praxis ansichtig werden können. Beurteilen wir also die Teilaspekte der einzelnen pädagogischen Praxen nach Maßgab en des Bildungsbegriffs, so
ergibt sich zunächst, in welcher Beziehung die Skandale, die pädagogisches Handeln provozieren, zum Gesetz der Reproduktion des Systems stehen, inwiefern sie im Reproduktionsprozeß des Systems ihren Grund haben und damit auch auf den Punkt deuten, in
dem das System in bestimmter Hinsicht die eigene Schwäche preisgibt. Ferner ergibt sich,
daß alle gesellschaftlichen Skandale, für die der Grund im Reproduktionsprozeß des Systems ausgemacht werden kann, durch diesen miteinander verbunden sind. Die Art der
Verbindung ist aber auch die der pädagogischen Praxen; aus der Einheit,die sie im dialektischen Verhältnis von Herrschaft und Bildung haben, folgt die Ordnung, in der sie
zueinander stehen und die ihre Konsequenzen für das pädagogische Handeln hat, etwa
für die Setzung von Prioritäten, im Hinblick auf mögliche Notwendigkeit der Integration
verschiedener Praxen oder auf die Gefahr, von dem, was sie überwinden wollen, vereinnahmt zu werden, die bestimmte Praxen (wie die Freizeit- oder Antipädagogik) stärker
mit sich führen als andere.
Der Bildungsbegriff erlaubt aber nicht nur, die pädagogischen Teilaspekte aus ihrer relativen Unverbundenheit herauszuführen und sie sich wechselseitig schärfer herausarbeiten zu lassen. Unverbundene pädagogische Praxen reagieren auf gesellschaftliche Skandale oder einschneidende Veränderungen. Sie lassen sich blind dafür einspannen, dem
Herrschaftsinteresse in die Tasche zu wirtschaften wie etwa eine Medienpädagogik, die
u.a. kostenlose Werbung für einschlägige Industrien besorgt oder eine Freizeitpädagogik, die objektiv an der Reproduktion der Arbeitskraft mitarbeitet, ohne zugleich die
Kritik dieser Funktion einzubeziehen. Oder die Empörung tiber die Skandale, aus der
Gernot Koneffke
70
sich der Impuls zum pädagogischen Handeln speist, greift zu kurz und und hat denselben
Effekt: eine Friedenspädagogik. die den Grund des Skandals in der Aggressivität der Individuen sucht, lenkt von den Störungen oder der Natur der Kapitalverwertungsprozesse
ab. hilft also mit, die wirklichen Ursachen möglicher Kriege zu verdunkeln (4), eine Ökopädagogik, die hinter der Produktivität der gegenwärtigen Wirtschaftsorganisation ausschließlich Destruktivkräfte wirken sieht, vergißt. daß die Produktivkräfte, die unter Vernichtung der Naturressourcen vornehmlich Schrott, also kalkulierbare Ersatznachfrage
und Waffen hervorbringen, auch als notwendige Bedingung einer Befreiung der Menschheit von Mangel und Elend angesehen werden müssen; eine Rückkehr in die Manufakturperiode ist nicht möglich, der pädagogische Impuls dazu depotenziert die Empörung
über den Raub durch Vergeudurig (5). Organisiert unter dem Bildungsbegriff schlägt pädagogisches Handeln vom Reagieren zum Agieren um. Es läßt sich die Bedingungen des
Systems nicht mehr urnstandslos vorschreiben, sondern setzt auch eigene Bedingungen.
Darin erweisen sich Fähigkeit und Entschlossenheit, an der Befreiung der Menschen von
der Verfügtheit zu arbeiten. Ein negatives Kennzeichen des richtigen Weges ist die Art
des wachsenden Widerstandes seitens der Herrschaft. Im pädagogischen Handeln eigene
Bedingungen zu setzen heißt zugleich, unter der Verbindung der verschiedenen pädagogischen Praxen die Einheit der Pädagogik wieder aufzudecken. Unter dem'Bildungsbegriff
aller als Befreiung von illegitimer Herrschaft. Was das heißt, unterliegt historischem
Wandel und vielfacher Aufteilung. immer aber geht es um dasselbe: um die Ermächtigung der Individuen zur Befreiung ihrer selbst mit allen anderen, so weit die notwendigen
Bedingungen dazu wesentlich auf Erfüllung mit pädagogischen Mitteln angewiesen sind.
Dialektik von Bildung und Herrschaft
Daher kann man die verschiedenartigen pädagogischen Praxen nicht nur nebeneinander
stellen und den in ihnen sich zersplitternden Kräften mit dem Titel "Bildung" bloß ein sie
einigendes Band anbieten. Begreifen läßt sich so gar nichts, und anstatt daß jeder dieser
Praxen ihr eigenes inneres Wesen als das auch alle anderen Praxen, als bereitliegende
Macht einsehbar würde, bleibt dieses Band denen, die es binden soll, nur äußerlich; "Bildung" wird zur magischen Formel. Der bloßen Beschwörung wird die Ohnmacht letztlich bestätigt. Bildung dagegen fordert das Begreifen der Geschichte, des Gewordenseins
der Menschheit in ihrem gegenwärtigen Zustand. Schließt diese Forderung mithin ein,
daß Bildung immer bereits Bildung voraussetze. so hätte. man sich doch nicht in einem
Paradoxon verfangen. Wer auf der Paradoxie von Bildung besteht, reklamiert ein Alibi
für Denkfaulheit. Und die Situation nachwachsender Generationen trifft der Vorwurf
sowieso nicht. Denn die Resultate von Geschichte, in denen der Widerspruch von Bildung und Herrschaft seine jeweils eigene Objektivität gewonnen hat, treten allen Lernenden unvermeidlich heteronom gegenüber, als ihnen zuerst Äußerliches und Fremdes.
Tatsächlich handelt es sich bei diesem Heteronomen um die Geschichte der Menschheit
an dem Punkt, an dem wir stehen, und damit auch um die eigene Geschichte. Das vermeintlieh Fremde als das in Wahrheit Eigene, in sich selber als freilich höchst widerspruchsvolles "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx) einzusehen, das ist
ein langjähriger und eigentlich unbeendbarer Prozeß, ein Prozeß auch gegen natürliche
Bedürfnisse und Strebungen. Daraus folgt einmal, daß, da Einsicht allemal etwas voraussetzt, was eingesehen werden kann oder soll, Bildung (als subjektive Leistung) Bildung
(als objektives Resultat solcher Leistung) voraussetzt. Zum anderen folgt daraus, daß, da
Bildung offenbar die Differenz zwischen sich verwirklichender Humanität der Indivi-
Dennoch: Bi/dung als Prinzip
71
duen und den Tieren oder menschlichen Karikaturen, den kretinierten Opfern bloßer
Anpassungsprozesse bezeichnet, Bildung ohne ver- und Entsagungen nicht zu haben ist.
Also muß im Begriff der Herrschaft unterschieden werden. Ohne den Zwang, den Organisation und Vollzug von Lernprozessen implizieren, können die Menschen nicht an den
Punkt kommen, an dem sie aus Einsicht den Schritt in die Selbstverfügung tun (wie es
sich denken ließe, daß aus Zwang Freiheit entsteht - das ist die alte bildungstheoretische
Aporie!) (6). So stößt man wieder auf die Dialektik von Bildung und Herrschaft: Herrschaft, die dem Bildungsprczeß der Sache nach innewohnt, ist einerseits identisch mit der
allgemeinen Herrschaft von Menschen über Menschen, denn die Bereitstellung notwendiger Bedingungen von Bildung wird vom Interesse der Herrschaft an der Verewigung ihrer
selbst erzwungen. Andererseits wird Bildung wirksam als Einspruch der Herrschaft gegen
sich selbst, insofern die Selbstverfügung der Menschheit, auf die Bildung endlich hinauswill, die Herrschaft aller, mithin die Überwindung aller Herrschaft, die Freiheit aller postuliert.
Nimmt man alle diese Bestimmungen des Bildungsbegriffs zusammen, so ergeben sich
auch weitere Aufschlüsse. Hier soll nur auf die Grenzen hingewiesen werden, die der Rede von "Subjektivitltt" gesetzt sind und ein Blick auf die Spielräume geworfen werden,
die hinsichtlich der Inhaltsbestimmung von Bildungsprozessen zur Verfügung stehen.
Vorab sollte bedacht werden, daß Bildung auf allen geschichtlichen Stufen, ihrer Sache
nach und zuletzt, als aus der Konstitution bürgerlicher Gesellschaft hervorgegangener
Begriff, eine außerordentliche Beständigkeit bewiesen hat. Selbstverständlich hat sich
Bildung den allgemeinen Bedingungen der Epochen, in denen sie ihre Wirksamkeit hatte,
eingefügt und war entsprechenden Modifikationen etwa im Übergang von der antiken
Sklavenhalter- zur Feudalgesellschaft. von dieser zur handelskapitalistischen. schließlich zur produktionskapitalistischen Organisation der Gesellschaft unterworfen. In diesem Wandel aber bewies sie, '- wie die gesellschaftliche Herrschaft, an die sie dialektisch
gebunden ist, stets an ihrer Verewigurig arbeitet - eine eigentümliche Kontinuität: indem sie, im Grunde auf die Negation bestehender Herrschaft gerichtet, durchgehend
auch alle Herrschaft negiert. Das Kontinuierliche, Beständige an ihr wird benennbar an
den Inhalten der Bildungsprozesse. Weil Bildung hinsichtlich der Gleichheit der Menschen keine Zugeständnisse machen kann und die Gleichheit der Menschen in der allen
Individuen gemeinsamen Vernunftfähigkeit gründet, muß alles, was immer im Wandel
der Zeiten auch am Bildungsinhalt sich ändert, vom Zentrum des Allgemeinen, für alle
Menschen Gültigen organisiert sein. Dieses manifestiert sich in Wissenschaft und ästhetischer Produktion, auch und grundlegend in den sogenannten elementaren Kulturtechniken. Damit sind auch in größter Vereinfachung die Grenzen der Inhaltsbestimmung von
Bildung bezeichnet. Die herrschende bürgerliche Gesellschaft honoriert diese Eigentümlichkeit der Bildung durch den Aufbau und die Durchsetzung eines allgemeinbildenden
Schulwesens, in dem systematisch betriebener Unterricht für alle verbindlich wird.
Selbstverständlich bricht bürgerliches Herrschaftsinteresse zugleich die Subversivität der
Institution, indem sie die in dieser sich aufhäufenden Brisanz durch mannigfache Kontrollinstrumente am Zusammenschluß zur kritischen Masse zu hindern sucht. Doch weist
wie auch so noch unübersehbar auf den Kern von Bildung: den systematischen Unterricht an Gegenständen der Wissenschaft (7). Dies ist auch heute (in der Sprache der Gesamtschulreform) das "Fundamentum"; von hier her müssen sich die pädagogischen
Praxen, die aus gesellschaftlichen Skandalen oder Verwerfungen ihre Veranlassung nehmen, rechtfertigen. Immer muß die Frage gestellt werden: welche Voraussetzungen an
gesicherten Kenntnissen und an Methodenbeherrschung sind vorhanden, um ökcnomisehe und politische Probleme, Probleme der technischen Revolutionierung der Wirtschaft und des Verhältnisses von Unterentwicklung und Industrialisierung zum Gegenstand machen zu können? Welcher Stand systematischer unterrichtlicher Vorbereitung
Gernot Koneffke
72
legitimiert "liberalisierte" Formen des Unterrichts. wie eine wirklich freie (nicht insgeheim gelenkte) Mitbestimmung der Lernenden oder den Projektunterricht, der nur vermeintlich "praxisnah" ist, während er tatsächlich durch notwendige Interdiszlplinarität
die Komplexität des Unterrichts nur steigert? Solche Fragen sind nicht neu. Ob die Pädagogik Bildung ohne den Preis der Freiheit realisieren dürfe und wie sie das gegebenenfalls
könne, wird seit Rousseau diskutiert und probiert, und nur in den seltensten Fällen wurde gefragt, welchen funktionellen Zusammenhang die Diskussion mit dem Prozeß bürgerlicher Gesellschaft. mit dem Stand der Klassenkämpfe erkennen lasse (8). Gewiß
kommt es darauf an, die Überwindung der Friedlosigkeit, die Rettung der natürlichen
Grundlagen gesellschaftlichen Lebens, die Revolutionierung der technischen Basis der
Wirtschaft bereits im Bildungsgang der nachwachsenden Generation zu den menschheitlichen Themen zu machen. die die gesellschaftlichen Skandale und Veränderungen provozieren. Der entscheidende Unterschied ist aber. ob man diese und ähnliche Themen als
eigene Komplexe zur intellektuellen Bearbeitung ohne die Frage nach den auch nur annähernden Voraussetzungen zur Erkenntnis der Sache für den Unterricht zusammenzieht
oder ob man sie als Probleme im Unterricht der Fächer aus den mannigfachen speziellen
Voraussetzungen ihrer Bearbeitung sich ausformen läßt. Auch Handeln ,kann und darf
nicht untersagt sein. aber ein Bewußtsein von der Vorläufigkeit alles nicht ausreichend
erkenntnisgeleiteten Handeins muß sichern, daß Handeln nicht als Ersatz für Lernen und
Erkenntnis mißdeutet wird. Gründlich konstituiertes Bewußtsein wird umso dringlicher,
je komplizierter die gesellschaftlichen Verhältnisse, je unermeßlicher die Gefahr wird.
Aktuallsierung der Subjektivität
Gerade wenn die Mitbestimmung des Lernenden beansprucht, das Bedürfnis der Heranwachsenden als Maß gefordert wird, erfolgt das unter Berufung auf das Recht auf Subjektivität, das von jedem Menschen, unabhängig vom Lebensalter oder anderen äußerlichen Bestimmungen einklagbar sein soll (9). Dieser Anspruch enthält die erschlichene Behauptung, daß das menschliche Individuum umstandslos als Subjekt zu gelten habe.
Erschlichen ist diese Behauptung, weil sie die Differenz von Potentialität und Aktualität,
zwischen Individuum und Exemplar der Gattung stillschweigend einzieht. Aktuelles Subjekt seiner Geschichte ist der Mensch umstandslos nur als Exemplar seiner Gattung, denn
es gibt kein anderes Subjekt der Geschichte, wohl aber diese. Als Individuum ist der
Mensch nur potentiell Subjekt, aktuell erst als Resultat der Bildung. Auf diese, auf Aktualisierung der Subjektivität hat jedes Individuum ein unveräußerliches und unverwirkbares Recht (10). Eigene, von äußeren Zwängen freie BestimmungsgrUnde des Handeins
finden wir ausschließlich durch Einsicht, diese durch gründliche Kenntnis der die Situation konstituierenden Elemente. Bedürfnisse, Bestrebungen, Leidenschaften, Gefühle
können ungeprüft überhaupt nicht als innere Motive gelten; zumeist dienen sie einem äußeren Interesse als Vehikel, die ganze Werbeindustrie floriert durch Ausbeutung dieses
Mechanismus. Auch pädagogisch wurde er verwertet: BertholdOtto z.B. stützte die Freigabe der Schülerinteressen zur inhaltlichen Füllung seines Gesamtunterrichts auf die
Überzeugung wirksamer Außenlenkung, die er .wolksorgamsches Denken" nannte. Viel
weniger umständlich pflegt heute der bedürfnisorientierte Unterricht vorzugehen: er ist
die einzige Alternative, wenn die Autorität des Lehrers undifferenziert unter Verdacht
gestellt wird. Unter diesen Voraussetzungen läßt sich ein Sommerschlußverkauf oder die
Gleichschaltung organisieren; die Organisationsfähigkeit politisch transzendierender
Kräfte aber hängt von der Selbstverfügung der Individuen ab, vom Schritt in die Subjek-
Dennoch: Bildung als Prinzip
73
tivität, der alle äußeren Bestimmungen hinter sich zurückläßt (ll). Es wäre anachronistisch, heute noch die Organisation des politischen Einspruchs auf ein vom Elend der
Verhältnisse selber erzeugtes Klassenbewußtsein gründen zu wollen. Wenn aber auch die
Resignation nicht in Betracht kommt, bleibt nur die Einsicht, in der die Möglichkeit einer
Organisation beschlossen liegt. Gleichzeitig' ist die Bildungsinstitution. ohne die solche Einsicht reiner Zufall wäre, universell gemacht worden. Wird auch, wie bemerkt, die hier
vom Herrschaftsinteresse erzwungene Universalität von eben diesem Interesse selbst
durch vielfache Brechung konterkariert, so muß es doch auch den Zugang zur Bildung
gezwungenermaßen offenhalten: zu systematischem Unterricht in wissenschaftlichen Gegenständen, in denen die Menschen ihr geschichtliches Wesen zur Geltung gebracht haben. Daher bleibt die Selbstorganisation der Subjekte eine reale Aussicht, aber nur um
den Preis des pädagogischen Verzichts auf unmittelbare Befriedigung, auf das Glück des
gegenwärtigen Augenblicks, das ohnehin Illusion ist, solange es auf Kosten des namenlosen Elends derer gewonnen ist, über die eine falsche, an die Anarchie der Kapitalinteressen ausgelieferte Weltgeschichte schon hinweggeschritten ist.
Wenn nach bildungspolitischen Konsequenzen gefragt wird, so wäre vor allem zu erinnern, daß die Einheitsschule nach wie vor die adäquate Institutionell-organisatorische
Darstellung des Bildungsbegriffs ist. Dieser Sachverhalt erlaubt nicht das Mißverständnis, daß da, wo die Umrisse der Einheitsschule in Reformansätzen sichtbar werden, sie
als Ergebnisse linker Politik zu reklamieren sind; sozialdemokratische ist schließlich sozialistische Politik höchstens sporadisch und durch Zufall. Vielmehr wird die Entwicklung von der strukturellen Krise angetrieben. Die Einheitsschule scheint in bestimmten
Hinsichten besser geeignet, die gesellschaftlichen Bedingungen der Kapitalverwertung
pädagogisch neu zu fundieren. Aber sie öffnet möglichem politischen Zugriff der Linken eine verwundbare Flanke. So zeigt sich die Umsetzung der Einheitsschulreforrn gemessen an den ihr einwohnenden Chancen - als Entwicklung einer fortschrittlichen
Institutionsstruktur ineins mit der Verfügbarmachung durch neue Brechungen, Verwerfungen und Kontrollmechanismen. Müssen wir uns darauf einstellen, daß der wirksamste
dieser Mechanismen von einem Leistungsprinzip organisiert ist, das seinerseits inhaltlich
am Konkurrenzprinzip hängt, können wir uns die Illusion schenken, daß gegen die systemfunktionale Geltung dieser Prinzipien ein politisches Kraut zu finden wäre. Allenfalls ein pädagogisches läßt sich vorstellen: eine in ihrer Begründung und ihrem Inhalt revidierte bzw. neuerlich bestätigte Allgemeinbildung. Ohnehin ist Allgemeinbildung das
einzig angemessene bildungstheoretische Korrelat zur Einheitsschulorganisation. Für eine
neue Allgemeinbildung ergäben sich in der Einheitsschule außerordentlich verbesserte
Möglichkeiten, den Charakter zurückzugewinnen, der ihr am Anfang bürgerlich zugeordnet wurde und einzig ihrem Begriff entspricht: das eigene Wesen eines jeden menschlichen Individuums in Erkenntnis menschheitlicher Geschichte freizulegen, in der Zueignung der Inhalte, die eine auf Verwirklichung von Humanität verpflichtete Kritik als tradierungewürdig und -bedürftig begründen konnte. Diesen Charakter erhielt sie gerade
gegen das in den realen Entwicklungen sich abzeichnende bürgerliche Herrschaftsinteresse: das Allgemeine des Bildungsprozesses auf das gesellschaftliche induzierte Selbsterhaltungsbedürfnis der Individuen zurückzunehmen und diese Leere außer mit den notdürftigsten Mitteln allgemeiner Kommunikationsfähigkeit und eingeschliffener Massenloyalität gerade mit dem Gegensatz des Allgemeinen, nämlich dem Partikularen individueller
Existenz in hochgradig arbeiteteiliger Gesellschaft zu füllen. Dagegen wäre die Anleitung
zur Auseinandersetzung mit Gegenständen von Kunst und Wissenschaft vielfältig und
immer wieder von neuem zu versuchen, eine Anleitung, die in jedem Gegenstand auch
geschichtliche Bedingung einsehbar macht. Die Pädagogik muß hier unmittelbar
bildungspolitische Anstöße geben. die Minimierung, schließlich Abschaffung leistungsdifferenzierten Unterrichts etwa in der allgemeinbildenden Schule überhaupt. Freilich
Gernot Koneffke
74
wäre dies gerade nicht unter dem Gesichtspunkt der Überwindung des Leistungsprinzips
zu betreiben, sondern unter dem Gesichtspunkt kontinuierlicher Pflege und Steigerung
der Leistungsfähigkeit: zur Überwindung des Konkurrenzprinzips und dessen gesellschaftlicher Gründe. Diese Pflege hätte alle Selektionsmechanismen strikte abzuweisen,
denn hinsichtlich der Zueignung einer Bildung, die die Humanität der Menschen erst realisiert, sind Unterschiede unter den Individuen schlechterdings unbegründbar. Der Dialektik, welcher die Umsetzung dieses Postulats unter unseren dürftigen Bedingungen unvermeidlich auslöste, bin ich mir bewußt. Ihr entgehen wir aber nicht, indem wir anstelle
der Bestimmung von Leistungsfähigkeit die Beschwörung von "Phantasie und Eigenständigkeit" (12) setzen: Phantasie - und doch wohl auch die mit dieser zusammengestellte Eigentätigkeit - ist das Flüchtigste am Individuell-Eigentümlichen, auch wenn sie
als soziologisch qualifiziert wird, und ohne die Substanz inhaltlich reicher Leistungsfähigkeit wäre ihre Allgemeinheit die geistiger Schmetterlinge, deren unUberschaubarer
Menge und Farbigkeit ihre Hinfälligkeit entspräche. Mit dieser Substanz aber hätte die
notwendige pädagogische Anregung solcher Phantasie ihren systematischen Ort mehr in
der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, sei es in der Arbeit von Jugendverbänden oder in freizeitpädagogischen Einrichtungen im weitesten Sinne für Jugendliehe und Erwachsene. - Das berufsbildende Schulwesen müßte die Bildungspolitik unbeirrt entweder aus dem "Lernort" Wirtschaft ganz abziehen oder doch unter die Kontrolle der Bildungsinstitution zu bringen versuchen. Dies ist das Minimum; in dem Maße,
in dem eine revidierte Allgemeinbildung griffe, empfinge die Berufsbildung (und das Beschäftigungssystem) entscheidende Impulse aus einem reicheren Bewußtsein der Schüler.
Unter diesen Bedingungen dürfte sich auch die bildungstheoretische Diskussion des freilich kompliziert gemachten Verhältnisses von Allgemein- und Berufsbildung einschneidend verändern lassen; ich sehe nicht, wie die alten (und großenteils falschen) Frontetellungen beharren können, wenn und so weit eine revidierte Allgemeinbildung wirkt und
die eher episodische Abkopplung der Institutionen allgemeiner Bildung vom Beschäftigungssystem auf Dauer gestellt werden kann.
Anmerkungen:
1 Sozialistisches Büro (Hrss.), Bildung im Wandel. Thesen und Materialien zum Bildungstag '86
in Frankfurt, Offenbach 1986
2 Dieser Gefahr ist Preuß-Lausitz (Bildung im Wandel, a.a.O., S. 27 ff) nicht durchweg entgan-
gen
3 VgI. H.-J. Heydorn, Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Bildungstheoretische
Schriften Bd. 2, Ffm. 1979 (1970 l. Aufl.)
4 Zu einer kritischen Friedenpädagogik vgl. F. Huisken, Anstiftung zum Unfrieden, Berlin 1984;
schon früher Heydom, Elemente einer Friedenserziehung (1970), in: Bildungstheoretische
Schriften Bd. I, Ffm. 1980; H.-J. Gamm, Kapitalinteresse und Friedenserziehung, in: ehr.
Wulf, Kritische Friedenserziehung, Ffm. 1973
5 Zur Kritik der Ökopädagogik vg!. zuletzt A. Bernhard, Erziehung zum Frieden mit der Natur?,
in: Demokratische Erziehung, H. 7/8, 1986
6 Vgl. I. Kant, Werke in 10 Bänden, hrg. v. W. Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1968, S. 711
7 Ich differenziere hier nicht weiter, mache aber darauf aufmerksam, wie wirksam der Inhalt als
kritisches Moment der Bildungstheorie auch seit Durchbruch bürgerlicher Herrschaft ist, wenn
es bei so verschiedenen und zeitlich auseinander liegenden Theoretikern wie W" v. Humboldt
und A. Gramsci festgehalten ist. Dazu A. Rang. Sozialität autonomer Subjekte - Anmerkungen zum Subjektkonzept bei W. v . Humboldt und A. Gramsci, in: R. Winkel (Hrg.), Deutsche
Pädagogen der Gegenwart, Bd. 1, Dösseidorf 1984
Dennoch:Bi/dungalsPrinzip
75
8 Beispielhaft und im Habitus verwandt noch mit jüngsten Angriffen auf Bildung und Pädagogik
E. Kev, Das Jahrhundert des Kindes, 1900 (deutsche erstmals 1902)
.
9 So etwa K. Mollenhauer. Vergessene Zusammenhange. über Kultur und Erziehung, München
1983, S. 84 ff
.
10 In diesem Zusammenhang verweise ich auf die in einer weiteren Öffentlichkeit wemg beacht:te
Diskulision zum Bildungs- und Subjektbegriff sowie zu den Funktionen von Schule und Erziehung. Diese Diskussion läuft seit Jahren in dem vom Argument-Kreis beaerbeiteten Projekt
Ideologietheorie (PIT) und verdient m. E. viel größere Beachtung. Zuletzt dazu A." Rang/B.
Rang, Das Subjekt der Pädagogik. Vorüberlegungen zum Zusammenhang von
ideologischer Praxis, in: Das Argument Nr. 149,27. Jg., Jan./Febr. 1985, ferner die einschlägi.
gen Abhandlungen in den Argument-Sonderbänden 58 (1981) u. 70 (1984)
11 Daß die Unschärfe des Bildungsbegriffs so weit geht, die Subsumtion selbst gegensätzlicher Positionen unter eine "linke" Aussage zum Bildungsbegriff zu zulassen, zeigt mit seltener Deutlichkeit die These 4 der Marburger ,,10 Thesen zur Hochschulpolitik" in "links" Nr. 193. Vg\.
dazu auch H.-D. Zahn in "links" Nr. 196/197, S. 20, 2.
12 Abschlußerklärung des Bildungstages. "links" Nr. 194, S. 35
Widerspruche 21/1986
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2
Widersprüche Heft 21
Winfried Thaa
Triebkraft Leistungsverhalten
Replik auf den Beitrag "Arbeitswissenschaften in
der DDR", WIDERSPRüCHE Heft 18
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INHALT
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SCHWERPUNKTTHEMA
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Waldorfpädagogik
Pädagogik der Ganzheitlichkeit
Ralf Deutschmann/Michael K6nig
"Die radikalste Form der Gesamtschule ... "
Ein Gespräch über Linke und Waldorfpädagogik
Wolfgang V6Iker
Beruf, Politik & Aussteigen aus der Sozialarbeit
Rückblick auf die Auseinandersetzungen
um Ganzheitlichkeit und Allseitigkeit
Niko Diemer
Wer heilet die Krankheit der Moderne
und stillet die Wunden der Linken 1
Ganzheitlichkeit, linke Vorgeschichte und die
Krisen der Vernunft und des Fortschritts
Ralf Schwendter
Ganzheit, Totalität, Maschinerien, Klassenströmungen
"New Age"
Gernot Koneffke
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Anmerkungen zu einer Diskussion des Bildungsbegriffs
Joachim Grupp
"Garantiertes Mindesteinkommen" und
"Ökologische Marktwirtschaft..
Möglichkeiten der Weiterentwicklung grüner
Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik
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Die kritische oder dialektische Bildungstheorie
Bildungstheorie begründet die Notwendigkeit von Bildung und Erziehung für die
Menschwerdung der nachwachsenden Generationen. Durch die gezielte Entwicklung der menschlichen Anlagen soll das, was den Menschen als Gattungswesen
ausmacht – seine Vernünftigkeit –, von Potentialität zu Aktualität werden. Kritisch wird Bildungstheorie, wenn philosophische, soziologische und psychologische Erkenntnisse in sie eingehen, die den dialektischen Zusammenhang von Zivilisation und Barbarei als Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft
beleuchten. Das pädagogische Ideal der Anpassung an das Bestehende ist der kritischen Bildungstheorie problematisch geworden. Zielte die vorkritische Bildungstheorie auf die Herstellung eines harmonischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft durch die individuelle Aneignung der Kultur, so zeigt die
kritische Bildungstheorie, dass die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Individuum und Gesellschaft durch die Gesamtverfassung der Gesellschaft verstellt ist;
die Resultate menschlich-historischer Tätigkeit haben sich gegen die einzelnen
Menschen verselbstständigt. Bildung kann daher heute lediglich in der Erkenntnis
der Voraussetzungen und Bedingungen dieses Verstelltseins bestehen und dadurch
auf deren praktische Überwindung dringen.
1. Zur Entstehung einer kritischen Theorie der Bildung
Die kritische Verwendung des Bildungsbegriffs war zunächst Bestandteil einer
kritischen Theorie der Gesellschaft. Max Horkheimer, einer der Begründer der
kritischen Theorie, schrieb 1952 über den Begriff der Bildung:
»Mit dem Aneignen [von Wissen, T. F.] ist es nicht getan. Wer nicht aus sich
herausgehen, sich an ein Anderes, Objektives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhalten kann, ist nicht gebildet, und der sogenannte Gebildete, der dazu unfähig ist, wird stets Male einer Beschränkung und Befangenheit
aufweisen, die seinen eigenen Anspruch auf Bildung Lügen strafen. Das Andere,
Objektive aber ist heute nicht bloß das Besondere, [...] sondern ebenso und in erster Linie das, ohne was die Entfaltung des einzelnen gar nicht möglich ist; ich
meine die vernünftige und menschliche Einrichtung, die Verbesserung und
Durchbildung des gesellschaftlichen Ganzen« (Horkheimer 1972: S. 169).
Dieser Bestimmung von Bildung steht eine gesellschaftliche Tendenz entgegen, für die Theodor W. Adorno 1959 den Begriff der »Halbbildung« prägte. Im
53
Gefolge verschärfter ökonomischer Konkurrenzbedingungen und der damit verbundenen positivistischen Ausrichtung der Wissenschaften wird »Erfahrung, die
Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung
und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften, [...] ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird. Anstelle des temps durée, des Zusammenhangs eines in sich
relativ einstimmigen Lebens, das ins Urteil mündet, tritt ein urteilsloses ›Das ist‹«
(Adorno 1975: S. 88).
In dem Maß, in dem den Individuen die Kenntnis des gesellschaftlichen
Ganzen schwindet, gewinnt die Kategorie der Bildung als kritische Kategorie an
Bedeutung. Denn Bildung wird immer weniger als die individuelle Aneignung der
Kultur verstanden; stattdessen rückt die Aneignung instrumenteller Kenntnisse
zur Realisierung fremdbestimmter ökonomischer Zwecke in den Mittelpunkt der
gesellschaftlichen Bildungsvorstellungen. Dadurch aber wird Bildung stärker an
die Dynamik sozioökonomischer Prozesse gebunden und wirkt wiederum stärker
auf den Verlauf dieser Prozesse zurück. Eine solche gesellschaftliche Entwicklung legt nahe, den Begriff der Bildung ins Zentrum kritischer Theorie zu setzen.
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wäre so vor allem als ein über
Bildung bzw. Halbbildung vermitteltes Verhältnis zu bestimmen. Diese Akzentverschiebung in der Theoriebildung wurde von Heinz-Joachim Heydorn seit den
1950er Jahren konsequent entwickelt:
»Die Schule ist ein gesellschaftlicher Faktor von großer Bedeutung geworden. Es
ist ein Produkt der modernen Geschichte, daß politische und wirtschaftliche Macht
immer enger mit dem Bildungswesen verknüpft sind. Der Griff ist dementsprechend fester, die Entwicklung der Bildungssysteme rührt an das Fundament. Die
Freisetzung der Produktivkräfte, Planung und Steuerung eines riesigen Spinnengewebes, Öffnung neuer Räume werden entscheidend durch Bildung bestimmt, aber
mit dem Vorantreiben der Bildungsentwicklung müssen auch die irrationalen Prämissen vorangetrieben werden, weil der objektive Widerspruch immer größer wird.
Die entfremdete Rationalität in ihr Verhältnis zur humanen zu setzen, das ist die
Aufgabe; wo dies gelingt, wird das Bewußtsein revolutioniert. Der Mensch soll Täter und Verantwortlicher seiner eigenen Taten sein. Die neuhumanistisch egalitäre
Bildungsrevolution nach 1789 hatte dies antizipiert, für einen Augenblick; der
Sprung aus dem Sozialdeterminismus endete im Nichts, aber der Mensch war am
Saum gefaßt. Das geöffnete Auge sah den Horizont« (Heydorn 1969: S. 387).
Die Vermittlung, die qua Bildung zwischen Individuum und Gesellschaft hergestellt wird, ist daher eine zwiespältige, dialektische. Denn allen Bildungsprozessen gehört einerseits ein instrumentell-integratives Moment an, das auf die Affirmation des Bestehenden zielt, andererseits aber auch ein kritisch-subversives
Moment, das darüber hinaus auf die Emanzipation der Menschen von dem gesellschaftlichen Zwang zielt, lediglich als Mittel für die Realisation fremder (ökono-
54
mischer) Zwecke und nicht als Zweck an sich selbst existieren zu können. Diese
Dialektik des kritischen Bildungsbegriffs ist von Gernot Koneffke, dem engsten
Mitarbeiter Heinz-Joachim Heydorns, prägnant beschrieben worden: »Aber die
Subversion, die das Bürgertum mit der Anweisung auf die ihres Verstandes sich
bedienenden Individuen in den Schwerpunkt der Bildungsinstitution und damit
seine eigene geschichtliche Verfassung einsetzt, ist selbst wieder eine gebrochene.
Denn Bürgertum definiert sich ökonomisch, Mündigkeit als bürgerliche verdreht
die in ihr gemeinte Freiheit zu der des Warenbesitzers, des Unternehmers. Im sich
immer bestimmter ausprägenden realistischen Zug bürgerlicher Pädagogik und
Schulentwicklung tritt bürgerliche Klassengesellschaft hervor, leistet bürgerliche
Ökonomie die anti-emanzipatorische Entschärfung der Subversivität. Die gemeinsame Selbstbefreiung der Menschheit von der Herrschaft des Mangels, auf
welche die frühe bürgerliche Bildungsplanung in ihrer Konsequenz abzielt, weil
die Mündigkeit aller – Befriedung der Menschheit – unter der Herrschaft des
Mangels nicht denkbar ist, diese kollektive Selbstbefreiung verfällt in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zur wirtschaftlichen Befreiung Weniger auf
Kosten der Vielen, bleibt zugleich aber doch in der Erkenntnismäßigkeit des bürgerlichen Bildungsauftrags aufgehoben. Es ist dieser Widerspruch, der in der Geschichte des bürgerlichen Bildungswesens ständig die Tendenz regeneriert und
abwandelt, das subversive Moment durch das integrative zu überformen, ja zu ersetzten; bürgerliche Herrschaft will sich schließlich auch im Bildungswesen zum
Ende der Geschichte deklarieren« (Koneffke 1969: S. 391).
2. Die Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns
Obwohl allein die Halbbildung – als das Gegenteil von Bildung – für die Individuen im gesellschaftlichen Maßstab realisierbar bleibt, ist dennoch »an Bildung
festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat aber keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde« (Adorno 1975: S. 94). Diese kritische Selbstreflexion war das theoretische Programm Heinz-Joachim Heydorns:
»Ohne die Anstrengung des Begriffs läßt uns das Handeln allein, findet es keinen Ausgang. Es bleibt auf dem Jahrmarkt und wird dort ausgeboten. Um den gegenwärtigen Ort zu bestimmen, muß die ganze Geschichte eingeholt werden; es
gibt keine Entlassung aus der Mühsal. [...] Dem geschichtslosen industriekapitalistischen Positivismus entspricht die geschichtslose, anarchische Rebellion; sie endet im Mülleimer der Verwertungsprozesse. Nur wer um seine Herkunft weiß,
kann die Grenze der Gegenwart zur menschlicheren Zukunft hin überschreiten«
(Heydorn 1970: S. 8).
55
Biographisches1
Heinz-Joachim Heydorn verstand sich zeitlebens als »bewußter Teil der Kraft,
welche Geschichte zu menschenwürdigen Zielen weitertreibt; Geschichte sollte
nicht mehr nur erlitten sein. Kraft und Substanz verändernden Eingriffs sollten
allemal im Begriff liegen, dieser jedoch eben, umgekehrt, nicht in kranker Abgehobenheit sich erschöpfen, vielmehr als lebende Geschichte seine Verwirklichung
finden« (Koneffke 1980: S. 7).
Heinz-Joachim Heydorn wurde am 14. Juni 1916 in Hamburg-Altona geboren.
Zur Zeit des Nationalsozialismus war er zuerst in der Bekennenden Kirche (BK),
einer Oppositionsbewegung evangelischer Christen, der auch Martin Niemöller
und Dietrich Bonhoeffer angehörten, aktiv. Der Einberufung zum Kriegsdienst
konnte er sich zunächst nicht entziehen, leistete aber in der Armee antifaschistische Aufklärungsarbeit und desertierte schließlich. Er wurde deshalb in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Während der Zeit der NS-Herrschaft gehörte er dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund an. 1945 wurde er Mitglied der SPD.
Von 1946–47 war Heydorn der erste Vorsitzende des Sozialistischen Deutschen
Studentenbundes (SDS). Den Kontakt zum SDS hielt er bis zu dessen Selbstauflösung 1970. Von 1953–61 war er Vorstandsmitglied der Sozialistischen Jugend –
Die Falken. Wegen seiner Beziehungen zum SDS wurde Heydorn 1961 aus der
SPD ausgeschlossen (Unvereinbarkeitsbeschluss).
Heydorn wollte nach dem Ende der NS-Herrschaft zunächst Berufspolitiker
werden. Er hatte Aussicht auf ein Bundestagsmandat und später auf die Ämter
des Hessischen bzw. Hamburgischen Kultusministers. Doch er widerstand der
Versuchung. Denn er hatte zwar »das leidenschaftliche Bedürfnis nach direktem
persönlichen Eingriff in den Gang der Dinge, aber da ist auch eine hochgradige
Sensibilität gegenüber den Gefahren der Verformung durch die auf Funktion und
Amt einwirkenden Zwänge, gegenüber der Korruptibilität, welcher der Berufspolitiker in der widersprüchlichen Gesellschaft prinzipiell ausgesetzt ist« (Koneffke 1980: S. 13). 1950 übernahm er eine Dozentur an der Pädagogischen
Hochschule in Kiel, später am Pädagogischen Institut im hessischen Jugenheim,
schließlich an der Hochschule für Erziehung in Frankfurt am Main. In der Lehrerausbildung blieb er bis zu seinem frühen Tod am 15. Dezember 1974 tätig.
Neben Forschung und Lehre übernahm Heydorn immer wieder verschiedene politische Ämter.
Die erziehungswissenschaftliche und die politisch-administrative Tätigkeit
wurden durch Heydorns Sozialismusverständnis zusammengehalten: »Sozialismus zielt auf die Befreiung des Menschen als kollektives Subjekt, auf verwirklichte Mündigkeit. Dies schließt ein, daß die Menschheit über jeden einzelnen
hergestellt wird. Pädagogik ist nach ihrem Selbstverständnis auf Mündigkeit ge1
56
Ausführlicher dazu: Koneffke 1980.
richtet; sie leitet einen Befreiungsprozeß ein. Sie kann die Behauptung der Mündigkeit auch dann nicht aufgeben, wenn sie als Instrument der Herrschaft dazu angehalten ist, Mündigkeit zu verhindern. Sie hält eine befreite Zukunft selbst dann
noch deklamatorisch fest« (Heydorn 1981: S. 238).
Hauptlinien der Theorie
Die bildungstheoretischen Überlegungen Heydorns entstanden vor allem ab 1950,
als er seine erste Dozentur in der Lehrerausbildung übernahm. Er arbeitete daran
kontinuierlich bis zu seinem Tod 1974 weiter. Innerhalb dieser sich ungefähr über
25 Jahre erstreckenden bildungstheoretischen Arbeit verschob sich deren
begrifflicher Fokus von der Kategorie der Erziehung hin zu der der Bildung: »Erziehung ist verhängt« – »Bildung dagegen begreift sich als entbundene Selbsttätigkeit, als schon vollzogene Emanzipation« (Heydorn 1970: S.10). Dass das
Verhängtsein von Herrschaft bis in die objektiven Strukturen der Gesellschaft hinein als bloßes Menschenwerk durchschaut und daher aufgehoben werden kann, ist
der Stachel, der in jeglicher Form von Bildung angelegt ist.
Dieses Potential, das bereits in der bürgerlichen Bildungtheorie enthalten war,
wird heute durch den positivistisch geprägten Verfall des Bildungsbegriffs
blockiert. In ihm manifestiert sich der Übergang der bürgerlichen Epoche, mit
ihren wenn auch widersprüchlichen Zivilisationsfortschritten, in eine Epoche
nachbürgerlicher Barbarei. »Wenn es nicht gelingt, das substantiell bürgerliche
Verhältnis des Bildungswesens zur Gesellschaft neu zu bestimmen, müßte man
sich mit der Feststellung des ohnehin nachweisbaren Schrittes in nachbürgerliche
Barbarei bescheiden« (Koneffke 1969: S. 418).
Der Verfall bürgerlicher Kultur ist nicht durch bloße Restauration aufzuhalten,
denn er wird durch diese Kultur selbst vorangetrieben. Der Widerspruch der bürgerlichen Existenz kann daher nur durch historischen Fortschritt aufgehoben werden. Um diesen begrifflich zu antizipieren bezieht sich Heydorn gesellschaftstheoretisch auf Kant, Hegel und Marx und bildungstheoretisch vor allem auf
Comenius und Humboldt. Sein Rückgriff auf die bürgerlichen Theoretiker begründet sich als Rückgriff auf die bürgerliche Theorie auf ihrem Höhepunkt, denn
auf diesem weist sie über die bürgerliche Gesellschaft hinaus, proklamiert die
Emanzipation des Menschen und nicht die des Bürgers mit seinen partikularen Interessen. Danach setzte der Niedergang der Theorie ein. Kriterium des Niedergangs ist die Ausbreitung des Positivismus: »Die Bildungstheorie des Positivismus ist die Antitheorie zu aller bisherigen Theorie, in welchem Kontext sie auch
immer erscheinen mochte; sie ist der Ausdruck einer naturwissenschaftlichen Widerspruchslosigkeit, die dem Widerspruch der modernen Gesellschaft aufgesetzt
wird, um die hilflose Kreatur zu verdecken, die ihm ausgeliefert bleibt« (Heydorn
1980: S. 309).
57
Der Widerspruch der modernen Gesellschaft ist die fortgesetzte Herrschaft von
Menschen über Menschen, die in den vorangegangenen Gesellschaftsformationen
ihre objektive Rechtfertigung in den Bedingungen des allgemeinen Mangels fand.
Mit der industriellen Freisetzung der Produktivkräfte ist diese Grundlage der
Herrschaft jedoch erfahrbar obsolet geworden. »Der Kampf des Menschen gegen
die ihn bedrohende physische Natur nähert sich seinem Ende; es beginnt der
Kampf des Menschen um sich selbst« (Heydorn 1970: S. 318). Herrschaft zeigt
sich nun als »die Wüste der Fremdbestimmung«, sie ist »unbeendeter Schmerz,
Raub eines Glücks, das in uns ist, keines Fremden bedarf und sich ausbreiten
will« (ebd.: S. 9). Die Erscheinungsform der Herrschaft ist gesellschaftlich verursachtes Leiden.
Befreiung ist die Befreiung vom Leiden, ist die Realisierung der Selbstverfügung des Menschen. Er soll befreit werden zu einer Existenz als Zweck an sich
selbst und befreit werden von einer Existenz als bloßes Mittel für die Realisation
fremder Zwecke. Jeder Mensch soll »sein eigener Urheber« werden (Heydorn
1970: S. 10).
Bildung ist der heute einzig mögliche Movens befreiender Praxis, weil das ungeheure Destruktivpotential der Gesellschaft eine klassische Revolution – die
Avantgarde führt die bewaffneten Massen – nicht mehr zulässt. Die »Durchführung einer klassisch revolutionären Veränderung [wird] in der technologischen
Gesellschaft unmöglich. Sie ist ohne Aussicht angesichts der Akkumulation von
Gewalt, ihrer Konsequenzen für einen ununterbrochen deffiziler und damit verwundbarer werdenden Apparat« (Heydorn 1970: S. 319). Jeder Aufstand der Massen würde die Selbstzerstörung der Menschheit provozieren. Daher kann die gesellschaftliche Transformation nur auf der Einsicht der Mehrheit der Menschen
gründen. Diese Einsicht wird durch Bildung ermöglicht, denn: »Die Sozialisation
[...], die Bewußtsein erhält, wird revolutionär« (ebd.: S. 328).
Dabei ist es »Aufgabe der Bildung, Möglichkeit schon zum lebenden Hinweis
zu bringen. Sie muß den möglichen Menschen in seine Gegenwärtigkeit setzen.
[...] Es ist dies das Ziel, das über Ausbeutungsfreiheit hinausweist auf Aufhebung
aller Unterdrückung. Bildung ist uneingeschränkte Selbstentfaltung des durch
seine Geschichte erzogenen und frei gewordenen Menschen. [...] Sie geht davon
aus, daß es auch in der Zukunft nur so viel Menschlichkeit geben kann, wie wir
fähig sind, vorzuleisten. [...] Sie vermag dies nicht allein, aber diese ist ihre Sache« (Heydorn 1972: S. 148 ff.).
Die Rolle des Lehrers
Die Menschlichkeit, die vorgeleistet werden muss, damit Bildung möglich wird,
ist die des Lehrers. Die Tätigkeit des Erziehers, des Lehrers soll Hinausführung
sein, Führung über das Bestehende hinaus. Er soll die Verfügung des Subjekts
58
über sich selbst ermöglichen. Der Lehrer »artikuliert das Bewußtsein, hilft ihm
aus seiner Ohnmacht, er wird zum Führer durch das verdorrte Land« (Heydorn
1970: S. 318). »Der Lehrer ist kein Berufsrevolutionär, sondern revolutionär im
Beruf. Er führt das entfremdete Individuum zum Kollektiv und das Kollektiv zum
entfremdeten Individuum; er hat das Instrument, das ihn beherrschen soll, erkannt, ist damit sein Herr geworden« (ebd.: S. 329).
Dies ist möglich, weil auch die instrumentelle Rationalität des technologischen
Zeitalters, deren Tradierung für die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft
unabdingbar ist, das Potential der Kritik, der Subversion enthält – die instrumentelle Rationalität lässt sich kritisch wenden. Daher ist auch die Schule, zumindest
ihrer Möglichkeit nach, der Ort, an dem revolutionäres Bewusstsein entstehen
kann. Eine solche Entwicklung wird besonders befördert, wenn die Kinder unterschiedlicher sozialer Klassen an einem Ort zusammenkommen und die Erfahrung
ihrer sozialen Ungleichheit zu reflektieren lernen. »Die herrschaftsbedrohende
Möglichkeit gleicher Bildung für alle, die die Organisation bietet, kann nur durch
die Verkehrung der Bildung in Unbildung für alle aufgefangen werden« (Koneffke 1969: S. 409).
Zusammenfassung
Die Bildungstheorie Heydorns ist ein geschichtsphilosophischer Ansatz. Sie fragt
danach, was der Mensch – als Gattungswesen – war, was er ist und was er sein
kann, was in seiner bisherigen Geschichte uneingelöste Möglichkeit geblieben ist.
Damit gründet diese Theorie auf der frühesten humanistischen Bildungsvorstellung: Der Mensch muss zu dem, was den Menschen ausmacht, herangebildet
werden (Johann Amos Comenius: 1638). Bildung ist bei Heydorn eine gesellschaftliche Kategorie. Ohne die Emanzipation der Gesellschaft kann es keine
Emanzipation des Individuums geben. Die Möglichkeit der Emanzipation der Gesellschaft ist jedoch bedingt durch die Fähigkeit der Subjekte qua Bildung einen
verbesserten gesellschaftlichen Zustand zu antizipieren.
Rezeption und Wirkung
Heydorn kam es mit seinen bildungstheoretischen Überlegungen darauf an, in die
politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit einzugreifen; insbesondere wollte
er dazu beitragen, die politische Perspektive der außerparlamentarischen Opposition (APO) zu klären. Seine Schriften wurden im Umfeld der APO am Ende der
1960er und Anfang der 1970er Jahre rezipiert. Als Wirkung ist ihnen aber bis
heute vermutlich nur zuzuschreiben, dass sie dazu beigetragen haben, die Gesellschaftskritik in die erziehungswissenschaftliche Fachdiskussion zu tragen. Diese
59
Wirkung ist jedoch weit entfernt von jener, die Heydorn selbst erstrebte. Er wollte
ErzieherInnen, LehrerInnen, ErwachsenenbildnerInnen das gesellschaftsverändernde Potential von Bildungsprozessen verständlich machen.
Über seinem Schreibtisch, so ist überliefert, hing ein Wort Samuel Becketts:
»Man muss weitermachen, ich werde weitermachen«.
Literatur
Adorno, Theodor W. 1975: Theorie der Halbbildung. In: ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik,
Frankfurt/Main, S. 66-94.
Heydorn, Heinz-Joachim 1969: Ungleichheit für alle. In: Das Argument, Nr. 54, Berlin, S. 361-388.
Heydorn, Heinz-Joachim 1970: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt/Main.
Heydorn, Heinz-Joachim 1972: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt/Main.
Heydorn, Heinz-Joachim 1980: Zur bürgerlichen Bildung. Anspruch und Wirklichkeit, Bildungstheoretische Schriften Band 1, Frankfurt/Main.
Heydorn, Heinz-Joachim 1981: Konsequenzen der Geschichte. Politische Beiträge 1946–1974, Frankfurt/Main.
Horkheimer, Max 1972: Begriff der Bildung. In: ders.: Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge
1930–1972, Frankfurt/Main, S. 163-172.
Koneffke, Gernot 1969: Integration und Subversion. Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen
Gesellschaft. In: Das Argument, Nr. 54, Berlin, S. 389-430.
Koneffke, Gernot 1980: Einleitung. In: Heydorn, Heinz-Joachim: Zur bürgerlichen Bildung. Anspruch und Wirklichkeit. Bildungstheoretische Schriften Band 1, Frankfurt/Main, S. 7-39.
60
Marco Hahn
Paulo Freire: Bewusstwerdung ermöglichen
Kein anderer hat die Auseinandersetzung mit der Problematik des Analphabetismus und sozialer Ungleichheit durch seine konkrete Praxisarbeit mehr geprägt als
der brasilianische Volkspädagoge und Befreiungstheologe Paulo Freire, der Anfang 1960er Jahre maßgeblich dazu beitrug, dass innerhalb kürzester Zeiträume
Millionen Menschen des Lesens und Schreibens mächtig wurden. AnalphabetInnen waren in Brasilien zu diesem Zeitpunkt nicht wahlberechtigt, so dass die Alphabetisierungskampagnen zu einem Faktor von hoher politischer Relevanz wurden und einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung des Landes leisteten
(Mayo 2006: S. 30).
Die Resultate sind bis heute faszinierend und das, obwohl oder gerade weil
seine theoretischen Prämissen Gegenstand von Kritik waren und sind. Zu Recht
wirft man ihm Eklektizismus (Methoden die sich verschiedener eigenständiger
Schulen bedienen und daraus neue Theorien generieren) vor, denn seine theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der Unterdrückung der Volksmassen
und den dadurch bewirkten Mangel an Bildung, welcher wiederum Unterdrückung reproduziert, speiste sich aus theoretischen Ansätzen verschiedenster
Couleur.1 DogmatikerInnen marxistischer Prägung sahen in Freires Pragmatik
eine Gefährdung ihrer »reinen Lehre«. Ein Vorwurf, der aber für sich genommen
keine fundierte Kritik an Freires Ideen darstellt und außer Acht lässt, dass Freires
Arbeit zu handfesten Ergebnissen im emanzipatorischen Sinne führte. Der maßgebliche Beitrag Freires bestand darin, gesellschaftliche Verfügungsmöglichkeiten marginalisierter Bevölkerungsteile zu erhöhen und somit gesellschaftliche
Teilhabe/Partizipation nicht nur in Brasilien zu ermöglichen.2
Seit vielen Jahren sind die Befreiungspädagogik Paulo Freires und die daraus
entstandenen Konzepte der Educación Popular integraler Bestandteil in vielen Bereichen progressiver lateinamerikanischer Bildungspraxis (Abu Chouka/Große
2007: S. 59). Den emanzipatorischen Ansätzen der Educación Popular liegt kein
starres bildungstheoretisches Konzept bzw. eine entsprechende Methode zu
Grunde, sondern sie verorten sich im Rahmen eines lernenden Konzeptes im
jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Educación Popular impliziert einen »dialektischen, pluralistischen und prozessualen Zugang [...], um sie in ihrer befreiungspädagogischen Perspektive und ihrer Dynamik als Projekt permanenter
Transformation bzw. Konstruktion zu rezipieren« (Hanemann 2001: S. 106 f.).
1
2
Vgl. Cremer/Schattenberg 2004.
Vgl. Bruns 2001: S. 68.
61
Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Deutschland haben Freires Theorien zu einer lebhaften Diskussion im pädagogischen und psychosozialen Bereich
geführt. Insbesondere das Empowerment-Konzept, das starke Parallelen zu den
Gedanken Freires aufweist (Herrriger 2006: S. 34 f.), hat mittlerweile in professionellen Kontexten Einzug gehalten. Jedoch wurde häufig im Rahmen einer
praktischen Umsetzung der gesellschaftskritische Kern ausgegliedert und die
Konzepte im Sinne neoliberaler Verwertungslogik zurechtgestutzt.3
Dialog versus Bankierskonzept
Freire, der sich selber in Abgrenzung zu »mechanischen Marxisten« als »dialektischer Marxist« (Freire, Zit. n. Zielke 1994: S. 73) verstand, beschrieb den Herrschaftscharakter gängiger Verschulung, dessen Aufgabe vor allem darin bestehe,
Unterdrückung und daraus resultierende soziale Ungleichheit zu internalisieren.
»Selbsterniedrigung ist ein anderes Merkmal der Unterdrückten, das daher
rührt, dass sie die Meinung, die die Unterdrücker von ihnen haben internalisiert
haben. Sie hören so oft, dass sie zu nichts nutze sind, nichts wissen und unfähig
sind, etwas zu lernen – daß sie krank sind, faul und unproduktiv –, so dass sie
schließlich von ihrer eigenen Unfähigkeit überzeugt werden« (Freire 1971: S. 49).
Freire misst dem Doppelcharakter der Unterdrückung und dem Phänomen der
Internalisierung sozialer Ungleichheit eine zentrale Bedeutung zu. »Der Unterdrücker ist also nicht nur jene physische Person, die den Unterdrückten durch erzwungene Arbeit ausbeutet, er ist vor allem eine psychische Macht, die tief im
Bewusstsein und in seiner Psyche sitzt, von dort seine Handlung lenkt und die
Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten behindert« (Figueroa 1989: S. 53).
Freire begriff verschultes Lehren und Lernen als ein hierarchisches Verhältnis,
da die Lehrenden über das zur Disposition stehende formale Wissen verfügen. Ein
Wissen, das sie für wissensrelevant halten. Es bestätigt sie in ihrer Rolle, welche
sowohl Prestige und Macht garantiert, als auch Herrschaft manifestiert. Lösungswege und Ergebnisse sind bekannt und vorgegeben. Die Lernenden haben lediglich Bestehendes zu bestätigen.
Freire verweist auf den Anhäufungscharakter einer derart verschulten Bildung,
indem er in Analogie zur Kontoführung den Begriff der »Bankiersmethode«
(Freire 1971) verwendet. Ein Verständnis von Erziehung und Bildung wird im
Rahmen verschulter Kontexte zu einem Akt der Spareinlage verkürzt, wobei die
Schüler als Anlageobjekt und die Lehrer als Anleger verstanden werden. Wissen
wird, wie Zinsen abwerfendes Geld, auf Konten in Form von Abschlüssen gehortet. Den Schülern wird dabei nur die Rolle des Sammelns und Katalogisierens zugestanden. Lernende werden als »leere Hüllen« betrachtet, die es mit Wissen zu
3
62
Vgl. Vossebrecher/Jeschke 2007.
füllen gilt. Sie werden zu Objekten pädagogischer Bemühungen degradiert.4 Dabei wird von der Ausschließlichkeit eines Lernens innerhalb eines pädagogischen
Gefälles ausgegangen: hier der Lehrer, der Wissen weiter gibt, dort die Lernenden, die Wissen aufnehmen (Overwien 2003: S. 2). Nach Freire erklärt der traditionelle Lehrer in einer vertikalen, autoritären Beziehung den Schülern die Welt,
die er aufgrund seiner Qualifikation entgegen den Lernenden vorgibt zu kennen.
Der Lehrer bestimmt die Thematik – die Schüler müssen zuhören.
Eine Alternative sieht Freire im direkten praxisrelevanten Dialog zwischen
Lehrenden und Lernenden. Der Dialog soll maßgeblich dazu beitragen, dass die
hierarchisch bedingte und den Lernprozess behindernde Trennung zwischen Lehrer und Schüler aufgehoben wird. Freire ließ sich dabei von Marx inspirieren, beispielsweise durch die »Feuerbachthesen«: »Die [...] Lehre von der Veränderung
der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen
verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss« (Marx/Engels 1953:
S. 594).
Freire zeigt Alternativen zum einseitigen Handeln zum »Wohle des Schülers«
auf. Die Rolle des Lehrenden besteht nicht darin, im Sinne des Bankierskonzepts
lediglich Wissenseinlagen in die Schüler zu machen, sondern gemeinsam mit den
Schülern in einen wechselseitigen, anregenden Dialog zu treten. In Freires Bildungskonzept wird dementsprechend der Authentizität der Lehrkraft eine hohe
Relevanz beigemessen, um die einem Dialog entgegenstehende hierarchische Distanz aufzubrechen. Professionelles Lehren bedeutet, dass der Lehrer nicht neutral
zu sein hat, sondern dem Schüler kritisches Denken durch eigenes kritisches Denken und Handeln nahe bringen soll, um Bewusstwerdung mit Hilfe der Reflexion
von Wirklichkeit zu ermöglichen. Um die vielfältigen Widersprüche der sozialen,
politischen und ökonomischen Existenz zu erkennen und diese durch aktives
Handeln verändern zu können ist es notwendig, das noch fremde Wissen in Zusammenhang mit der wahrgenommenen Lebenswelt und dem Alltagsbewusstsein
zu bringen.
Die psychosoziale Methode Freires – Lebensweltorientierung als
pädagogisch-politisches Konzept
Für einen anregenden, dialogischen Lehr-Lernprozess muss der Lerngegenstand
über konkrete Schlüsselprobleme vermittelt werden, sei es über den wetterfesten
Hausbau, über die sich anhäufenden Müllberge, soziale Ungleichheit oder über
Gesundheitsprobleme. Diese Vermittlungsebenen sind die Voraussetzung für kritisches Lernen im Dialog. Aus seiner Kritik an der »Bankiersmethode« (Freire
1971) entwickelte Freire die »lebensweltorientierte Methode«, die in Bezug zu
4
Vgl. Freire 1971: S. 57 ff.
63
seinen Alphabetisierungsprogrammen auch als »Silbenmethode«5 bezeichnet werden kann.
In einer thematischen Voruntersuchung werden die wichtigsten Bereiche als
»generative Themen« (Freire 1971: S. 80) ausgewählt und analysiert. Diese sind
durch Felduntersuchungen den jeweiligen lebensweltlichen Kontexten zu entnehmen. Entsprechend bietet sich eine gemeinsame Auswahl mit den Kursteilnehmern an, die dem jeweiligen historischen und politischen Kontext angepasst werden kann. Im brasilianischen Kontext ist beispielsweise das Wort Favela (Slum)
ein maßgebender Gegenstand problemorientierten Lernens und somit ein generatives Wort der Favela-Bewohner, das im Grunde für eine spezifische Lebensrealität steht. Das Wort FAVELA wird per Dia an die Wand projiziert (Kodierung)
und mit/anhand der Thematisierung vielerlei Probleme diskutiert (Enkodierung).
Letztlich wird das Wort in seine Silben zerlegt (FA VE LA) und neue Kombinationen gebildet6, was bis fast ins Unendliche gesteigert werden kann. Durch das Ändern der Silbenkombination wurden Wörter wie Vela (Kerze), Velo (Schleier) gebildet. Dabei entstanden stets neue Diskussionen um die Bedeutung der Wörter.7
Freire betont, dass bei den genannten Kodifizierungs- und Dekodifizierungsprozessen von der Lebenswelt der Teilnehmer ausgegangen und sichergestellt werden
muss, dass alle am Prozess der Bewusstwerdung Beteiligten sich in dialogischer
Form äußern können.
Diese Methodik, die nicht nur eine Methode um der Methodenvielfalt willen
ist, sondern Teil eines emanzipatorisch-politischen Konzeptes, setzte bei der Aneignung der Schriftsprache in Freires Alphabetisierungskursen vorher nie erreichte Geschwindigkeiten des Lernens frei. Die Betroffenen erkannten, dass Alphabetisierung konkret nützliches Wissen mehrt und Solidarität stiften kann. Die
Aneignung der Schriftsprache verliert den Schein einer unüberwindbaren Hürde.
Sie geschah fast beiläufig und spielerisch und zeigt eine Möglichkeit des Lehrens
und Lernens jenseits eines naiven Erziehungsbegriffes, der Unterricht auf die
bloße Vermittlung von Fachkenntnissen reduziert.8
Freire betrachtet den Lernprozess als ein natürliches Streben nach Wissensaneignung des Menschen und brach mit konventionellen Vorstellungen des Lehrens,
die sich durch Distanz zu den Lernenden und zum Lerninhalt auszeichnen. In der
Umsetzung seiner ungewöhnlich didaktisch aufbereiteten Kurse fand er Antworten auf seine Frage »wie Arbeiten und Lernen so gekoppelt sein können, dass wir
weder arbeiten, um zu lernen, noch lernen um zu arbeiten, sondern, dass wir lernen, indem wir arbeiten. [...] Menschen haben im Akt des Verwandelns der objektiven Realität denken gelernt« (Freire 1973: S. 216).
5
6
7
8
64
Vgl. Dabisch 2002.
Vgl. Dabisch 2002.
Vgl. Freire 1974: S. 86.
Vgl. Figueroa 1989: S. 65.
Der im Sinne von Freires Methodik angestrebte Lernprozess der Bewusstwerdung wird definiert als »der Lernvorgang, der nötig ist, um soziale, politische und
wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen« (Freire 1971: S. 25).
Der Bruch mit der »Kultur des Schweigens« (Freire 1971), wie Freire das Ergebnis der Bewusstwerdung (Conscientização) im Zuge progressiver Bildungsprozesse bezeichnet, ist die Grundlage für einen qualitativen Sprung der zu Objekten degradierten Ausgebeuteten hin zu Subjekten, die ihre Umwelt erklären,
entmystifizieren und diese als veränderbar wahrnehmen. Dieser Schritt ermöglicht eingreifendes Handeln, die Befreiung von einengenden Umständen und verdeutlicht, warum Freires Ansatz als Befreiungspädagogik bezeichnet wird.
Chancen für emanzipatorische Bildungsprozesse
In Freires Bildungsverständnis lässt sich eine erweiterte Sichtweise auf und Bedeutung von Bildungsarbeit erkennen, »mit der die ganze Bandbreite der sozialen
Beziehungen erfasst wird; dies ermöglicht uns, unser Verständnis von Pädagogik
perspektivisch auszuweiten zu einem Projekt der Befreiung, das sich nicht nur auf
die individuellen Erziehungsfälle, sondern auch auf die Gesellschaft insgesamt
bezieht« (McLaren/Lissovoy 2003: S. 217).
Das Konzept Freires hat die »pädagogischen und sozialen Bewegungen in der
ganzen Welt beeinflusst und wurde für die Begründung und Tradierung von kritischer Erziehungswissenschaft (critical pedagogy) und von multikulturellen pädagogischen Konzeptionen insgesamt bedeutsam« (ebd.: S. 218). Freires »psychosoziale Methode« (Dabisch 2002: S. 5) hat das Ziel der Befreiung/Überwindung
von lähmenden Umständen, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx/Engels 1968: S. 385).
Damit ist stets die Überwindung restriktiver Denkweisen mitgedacht, die konkrete Veränderungs- und Handlungsmöglichkeiten ausklammern. Freires Ideen
bieten zudem Ansatzpunkte vor allem in der Frage der Lehrerrolle und der Konzeption emanzipatorischer Bildungsarbeit. Freires »Pädagogik der Befreiung« bewies, dass mit Hilfe von Bildungsprozessen, die in soziale Bewegungen eingebettet sind und somit Teil eines politischen Transformationsvorhabens sind, ein
wichtiger Beitrag zur Umwälzung von Unterdrückung reproduzierenden Gegebenheiten geleistet werden kann.
Bei verkürzter Betrachtung scheinen Freires befreiungspädagogische Ansätze
von einem spezifisch geographisch-historischen Kontext überlagert zu sein, der
eine Übertragung auf hiesige Bildungspraktiken unmöglich erscheinen lässt. Bei
näherer Betrachtung lassen sich jedoch Parallelen ziehen, die Chancen und kreative Ansatzpunkte für emanzipatorische Bildungsprozesse im Rahmen institutionalisierter Bildung auch in Deutschland bieten. Freire selbst beschrieb sie folgen-
65
dermaßen: »Unsere Aufgabe ist es, die Freiräume in einer Gesellschaft und in den
Institutionen dieser Gesellschaft zu entdecken. Wir müssen uns fragen: Was machen die Freiräume aus, die wir innerhalb des Systems haben und die es uns ermöglichen, etwas zu tun? Der Begriff des Freiraums führt uns zu dem historisch
Möglichen. d. h., wir können nur das tun, was unter den jeweils historischen Bedingungen möglich ist und nicht, was wir vielleicht gern tun möchten. Sind wir
uns der Situation des Freiraumes bewusst, müssen wir sehr korrekt darüber nachdenken, wie wir die Freiräume nutzen und darin arbeiten können, um unsere gegenwärtige Situation zu verändern« (Freire 1981: S. 96).
Die Übertragung der Ideen Freires auf die ebenfalls von sozialer Ungleichheit
geprägte Gesellschaft Deutschlands hält der Sozialphilosoph Oskar Negt, der die
gewerkschaftliche Bildungsarbeit unter anderem durch seine Theorie des exemplarischen Lernen maßgeblich mitgeprägt hat, insofern für sinnvoll, als dass es
bei kritischer Erziehungswissenschaft nicht um eine »Gesinnungsschulung« gehe:
»Es kommt vielmehr darauf an, die nicht explizit gewordenen Erfahrungsgehalte
und die in solidarischen Kommunikationen gebundene Erfahrung im Medium der
formalen Sprache und der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis zu entfalten«
(Negt 1968: S. 64).9 Die Grundlage für Emanzipation von Einengungen, Verhinderungen und die Möglichkeit der Entfaltung ist jedoch das Erkennen der eigenen
Situation und somit das Erkennen des Wesens der Unterdrückung selbst. In emanzipatorischen Bildungsprozessen zur Förderung der Bewusstwerdung könnte es
demnach darum gehen, innere und äußere Umstände aufzudecken, die Lernen als
Teil einer Verfügungserweiterung behindern. In Freires Alphabetisierungskursen
wurde dies zu einem zentralen Bildungs- und Reflexionsgegenstand selbst erhoben. Diese Form der Entfaltung im pädagogischen Prozess kann als Förderung
des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses und als Teil eines EmpowermentProzesses bezeichnet werden, der weder mit Indoktrination, noch mit der Verschleierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und somit konventionell-normativen Bildungs- und Erziehungsmodellen etwas gemein hat.
9
66
Vgl. den Text von Julika Bürgin im vorliegenden Band.
Literatur
Abu Chouka, Sherin/Große, Juliane 2007: Revolution durch Bildung. In: Holm, Andrej (Hrsg.): Revolution als Prozess, Hamburg, S. 57-76.
Bruns, Angélique 2002: Demokratie und soziale Gerechtigkeit: die pädagogischen Konzepte von Célestin Freinet
und Paulo Freire im Vergleich. Oldenburg.
Cremer Enno-Edzard/Schattenberg, Mareen 2004: Eine kleine philosophische Reise durch Paulo Freires »Pädagogik
der Unterdrückten«. In: Aspekte der Freire Pädagogik Nr. 1, Oldenburg.
Dabisch, Joachim 2002: Über die psychosoziale Methode Paulo Freires. In: Aspekte der Freire Pädagogik Nr. 16,
Oldenburg.
Figueroa, Dimas 1989: Paulo Freire zur Einführung. Hamburg.
Freire, Paulo 1971: Pädagogik der Unterdrückten: Bildung als Praxis der Freiheit. Stuttgart.
Freire, Paulo 1973: »Freire«. In: Jahrbuch Pädagogik: Dritte Welt. »Welterziehungskrise« und Konzeptionen alternativer Erziehung und Bildung. Berlin, S. 207-216.
Freire, Paulo 1981: Die Freiräume nutzen. In Freire, Paulo (Hrsg.), Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte
zu befreiender Bildungsarbeit, Reinbek.
Hanemann, Ulrike 2001: Educación Popular im sandinistischen Nicaragua. Erfahrungen mit der Bildungsreform im
Grundbildungsbereich von 1979 bis 1990. Bd. 1., Hamburg.
Herriger, Norbert 2006: Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Stuttgart.
Marx, Karl/Engels Friedrich 1953: Die Deutsche Ideologie. In: Bücherei des Marxismus-Leninismus 29,
Berlin/DDR.
Marx, Karl 1968: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin/
DDR.
Mayo, Peter 2006: Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire. Hamburg.
Mc Laren, Peter/Lissovoy, Noah de 2003: Paulo Freire. In Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik,
Bd. 2, München.
Negt, Oskar 1968: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung, Frankfurt/Main.
Overwien, Bernd 2003: Das lernende Subjekt als Ausgangspunkt –
Befreiungspädagogik und informelles Lernen.http://www.globaleslernen.de/coremedia/generator/ewik/de/
Downloads/Grundlagentexte/Overwien_2C_20lernendes_20Subjekt.pdf [Zugriff 01.11.2011].
Vossebrecher, David/Jeschke, Karin 2007: Empowerment zwischen Vision für die Praxis und theoretischer Diffusion.
In: Forum Kritische Psychologie 51, Berlin, S. 53- 66.
Zielke, Axel 1994: Nie gab es solch eine Gelegenheit zur Wiedergeburt des Traumes vom Sozialismus. Ein Interview.
In: Pädagogik 47 (7-8) Weinheim, S. 72-74.
67
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
Seit ihrem Bestehen ist es eine der zentralen Aufgaben der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Angebote der politischen Bildung für das linke gesellschaftliche Umfeld bereitzustellen. Unterschiedliche Zielgruppen sollen Wissen und Kompetenzen erwerben und erweitern können, um politisch
handlungsfähig(er) zu werden und aktiv an einer umfassenden Veränderung der Gesellschaft und der Überwindung von Herrschaft in ihren vielfältigen Formen mitarbeiten zu können. Kritisches Denken, Emanzipation
und Partizipation sind in diesem Zusammenhang zentrale Begriffe. Diese
umreißen nicht nur den Zielhorizont, den es mittels unterschiedlichster
Veranstaltungen zu diversen, für einen politischen und gesellschaftlichen
Wandel elementaren Themen und Inhalten zu erreichen gilt. Sie sollten
auch konstitutiv sein für die Art und Weise, wie bei Vorträgen und Tagungen, Gesprächs- und Arbeitskreisen, Seminaren und Workshops miteinander gearbeitet wird. In diesem Sinn geht es auch um die Entwicklung
einer Haltung. Zu guter Letzt formulieren sie einen Anspruch hinsichtlich
der Klientel, die mit den vielfältigen Formaten politischer Bildung erreicht
werden soll, im Idealfall ein repräsentativer Querschnitt der an linken Themen interessierten Bevölkerung.
Dieter Schlönvoigt hat diesen Anspruch an eine linke und emanzipative
Bildungsarbeit mit dem Begriff des »politischen Kulturraums« umrissen.
So müssten Bildungssettings von den Fragen und Problemen der Subjekte
ausgehen und an ihre Alltagspraxen anknüpfen, damit der Transfer der erarbeiteten Inhalte in politisches und gesellschaftliches Denken und Handeln gelingt. Die jeweilige Lerngruppe kann zwar zunächst als eine Art »Labor« fungieren, doch damit das Gelernte alltagsrelevant werden kann, muss
stets der Transfer auf die gesellschaftliche Ebene sichergestellt werden. Für
Schlönvoigt kennzeichnet dieses Spannungsfeld eine Dialektik von individueller und gesellschaftlicher Emanzipation (vgl. Schlönvoigt 2006).
Bezieht man diese Forderungen auf die vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse, Differenzen sowie auf die Frage,
wie sie verändert werden können, müssen diese innerhalb der zu gestaltenden »politischen Kulturräume« stets im Blick behalten und thematisiert werden. Es gilt, soziale Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
119
sowie ihre vielfältigen Schnittstellen implizit oder explizit aufzuzeigen und
schließlich zu ihrer Überwindung beizutragen. Ein solcher intersektionaler
Ansatz kann dazu beitragen, dass eine Auseinandersetzung nicht auf einer individuellen Ebene verbleibt, so ndern in die gesellschaftliche Analyse integriert wird. Dazu wollen wir zunächst klären, was Intersektionalität ist, und in einem zweiten Schritt darstellen, was das mit politischer
Bildung zu tun hat.
Intersektionalität: »Ein provisorisches Konzept«
Der Begriff der Intersektionalität wurde 1989 von der US-amerikanischen
Schwarzen1 Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt. Für sie handelt es sich dabei – wie es in einem ihrer leider nicht ins Deutsche übersetzten Schlüsseltexte heißt –, um »ein provisorisches Konzept, das zeitgenössische Politik mit postmoderner Theorie verknüpft« (Crenshaw 1995: 378).2 Sie hatte
sich mit mehreren Gerichtsverfahren beschäftigt, in denen Schwarze Arbeiterinnen, die gegen ihre Entlassung durch General Motors klagten, jeweils unterlagen, da dem Konzern keine Benachteiligung aufgrund des Geschlechts oder der »Rasse« nachgewiesen werden konnte – denn sowohl
weiße Frauen als auch Schwarze Männer behielten ihre Jobs. Mit der Metapher von der Straßenkreuzung (intersection) wollte Crenshaw deshalb das
Problem der Überschneidung von zunächst zwei als gegeneinander abgeschlossen gefassten Kategorien der Antidiskriminierungs-Gesetzgebung –
Race und Gender – verdeutlichen: »Wenn an einer Kreuzung ein Unfall passiert, kann er durch Autos aus jeder beliebigen oder manchmal aus allen
Richtungen verursacht sein. In ähnlicher Weise könnte, wenn eine Schwarze
Frau geschädigt wird, weil sie sich auf einer Kreuzung befindet, ihre Verletzung aus geschlechtlicher oder aus rassistischer Diskriminierung herrühren.
[…] Aber es ist nicht immer leicht, einen Unfall zu rekonstruieren: Manchmal deuten die Bremsspuren und Verletzungen darauf hin, dass Verschiedenes gleichzeitig geschah, und es gelingt nicht, den Schuldigen zu ermitteln.« (Crenshaw 1989: 149)
1
Zur Großschreibung von »Schwarz« als politische (Selbst-)Bezeichnung: Sow
2008.
2
Englischsprachige Zitate wurden von den Autor_innen im gesamten Artikel ins
Deutsche übersetzt.
120
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
Doch weil für die Anwältin das Interesse der Geschädigten – der Schwarzen Frau auf der Kreuzung – im Mittelpunkt stand, fand sie es nicht hinnehmbar, dass in solchen Fällen »meistens alle Beteiligten einfach wieder
in ihre Autos steigen und davonsausen« (ebenda). Sie führte aus: »Indem
ich die Spur der Kategorien bis zu ihren Schnittstellen nachzeichne, hoffe
ich, auf eine Methodologie hinzudeuten, die letztendlich den Tendenzen,
Race und Gender als einander ausschließend oder voneinander getrennt
anzusehen, Einhalt gebietet.« Zugleich ermunterte sie dazu, das Konzept
»auszuweiten und etwa Klasse, sexuelle Orientierung, Alter und Color mit
einzubeziehen« (Crenshaw 1995: 378).
Das Bild »situiert Intersektionalität als ein Ereignis«, wie Jasbir Puar hervorhebt, die in den USA und international als eine der wichtigsten QueerTheoretiker_innen of Color gilt – auch wenn sie selbst diese Kategorie
als »jeder konkreten Bedeutung entleert« betrachtet. Entgegen manchen
heute verbreiteten Vorstellungen vom »Raster« einander kreuzender
schnurgerader Straßen zeige Kimberlé Crenshaw, »dass Identifizierung ein
Prozess ist und Identität eine Begegnung« (Puar 2011). Daran zu erinnern
tut gut, denn Crenshaws Arbeit hat nicht nur großen Einfluss auf die UNDebatten über weltweit verbindliche Antidiskriminierungs-Richtlinien. Sie
ist außerdem wegweisend für die Women’s Studies und die aus den Gay &
Lesbian Studies hervorgegangenen Queer Studies der nordamerikanischen
Akademien, die aufgeschlossener für interdisziplinäre Forschung sind als
europäische und schneller auf gesellschaftliche Emanzipationsprozesse
reagieren. Inzwischen wird Intersektionalität in Europa ebenfalls »als zentrales Paradigma verstanden, mit Hilfe dessen multi-axiale Differenz […] in
feministischen Studien analysiert wird« (ebenda). Allerdings entstand das
Interesse der wissenschaftlichen Institutionen daran »eher aus einer sehr
späten Einsicht in die Notwendigkeit, »Rasse« zu theoretisieren wie auch
aus dem Bemühen der europäischen Women’s Studies, den institutionellen
Status der US-amerikanischen […] zu erreichen« (ebenda). Zumal in Universitäten der Bundesrepublik, die sich bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts
weithin gegen den intersektionalen Ansatz sperrten, wird er deshalb noch
allzu oft als Theorie-Import verhandelt, den es in eingefahrene Denk-Traditionen zu integrieren gelte, während weiter ignoriert bleibt, was Mehrfachdiskriminierte dazu auch hierzulande seit den 1980er Jahren erarbeitet haben (vgl. Voß/Wolter 2013). Aber intersektionale Untersuchungen, die von
spezifischer Erfahrung von Unterdrückung absehen, sind nicht nur unnütz,
sondern womöglich »sogar gefährlich […], indem sie eine Beliebigkeit sozi-
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
121
aler Unterschiede postulieren, die sehr gut gegen eine emanzipatorische
Wissensproduktion verwendet werden kann« (Erel u.a. 2007: 245f.).
Modelle der Intersektionalität
Es lohnt, sich zunächst einmal einen Überblick über das zu verschaffen, was
gegenwärtig als Intersektionalität diskutiert wird. Wissenschaftliche Einführungen zum Thema beschreiben meist in Anlehnung an die Soziologin
Leslie McCall drei Modelle, die sich methodologisch in Hinblick auf die Bedeutung der Kategorien unterscheiden. Dabei wird die von Kimberlé Crenshaw aufgezeigte Methode intrakategorialer Ansatz genannt und zwischen
einem anti- und einem interkategoria len angesiedelt (vgl. McCall 2005:
1773). Forscher_innen, die dem intrakategorialen Ansatz folgen, konzentrieren sich auf bestimmte soziale Gruppen an vernachlässigten Schnittstellen, »um die Komplexität gelebter Erfahrung innerhalb solcher Gruppen
offenzulegen« (ebenda: 1774). Sie setzen also bei der lebensweltlich vermittelten Fremd- oder Selbst-Zuordnung von Menschen zu Gruppen an – und
zeigen zugleich auf, dass diese stets als Gegensatzpaare wie »Schwarze/
Weiße«, »Männer/Frauen« usw. konstruiert und hierarchisiert werden (vgl.
Crenshaw 1995: 113). Im Unterschied zum antikategorialen Ansatz beruft
sich Crenshaw jedoch ausdrücklich mit einem gesellschaftskritischen Anspruch auf Jacques Derrida, den Begründer der Dekonstruktion.
Der antikategoriale Ansatz betrachtet dagegen von vornherein »das gesellschaftliche Leben als zu komplex und überfließend von multiplen und fluiden
Bestimmungen sowohl der Strukturen als auch der Subjekte, um in festen
Kategorien irgendetwas anderes als simplifizierende soziale Fiktionen zu erkennen, die mit den Differenzen auch Ungleichheiten produzieren« (McCall
2005: 1773). Hieran knüpft vor allem eine zumeist hochakademisch formulierte dekonstruktivistische und queertheoretische Identitätskritik an. Jedoch gibt die durch ihre Studien zur »Dominanzkultur« bekannte Birgit Rommelspacher zu bedenken, »wie weit eine solche Infragestellung getrieben
werden kann, will sich der Widerstand gegen kategoriale Setzungen nicht
in der Unendlichkeit von Verwerfungen verlieren. […] Insofern wird in dem
Zusammenhang vor der Gefahr eines ›linguistischen Idealismus‹ gewarnt.«
(Rommelspacher 2009: 6) Entsprechend räumt Jin Haritaworn – der wie andere in der Bundesrepublik sozialisierte Queer-Theoretiker_innen of Color
an angloamerikanischen Universitäten lehrt – zwar ebenfalls ein, dass eine
122
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
»Aufzählung sozialer Attribute […] meine kontextspezifische, in der Entwicklung begriffene Identität nur unzureichend zusammen[fasst]. Genauso wenig
aber, und im Gegensatz zu manchen postmodernistischen Ideen der Unvorhersehbarkeit und Beliebigkeit aller Identifikation, lassen sich diese Positionierungen von ihren sozialen Bedingungen trennen« (Haritaworn 2005: 25).
So ist etwa die verspätete Ankunft der Intersektionalität an den deutschen
Hochschulen vor allem deren Unwillen geschuldet, sich mit eigenen institutionell rassistischen Ausschlüssen auseinanderzusetzen (vgl. Voß/Wolter
2013: 59f.). Wenn die dort nun allmählich Fuß fassende Queer Theory gern
die aus den USA kommende »Essentialismuskritik« übernimmt, dagegen
die Queer of Color-Kritik, auf die sie sich beruft, nicht rezipiert, erkennt Haritaworn darin folglich eine Vertuschung realer Dominanzverhältnisse: »Die
hiesige Queer Theory überspringt somit die symbolische Identitätsverwirrung der Amerikaner_innen und etabliert sich a priori als rein weiße Disziplin.« (Haritaworn 2005: 33)
Der interkategoriale Ansatz wiederum nimmt weder von persönlicher
»Betroffenheit« noch von einer prinzipiellen Kritik von Kategorien seinen
Ausgang. Vielmehr legt er gesellschaftliche Strukturen zugrunde und übernimmt »provisorisch vorhandene analytische Kategorien, um Ungleichheitsbeziehungen zwischen sozialen Gruppen und wechselnde Figurationen
von Ungleichheit in multiplen und miteinander in Konflikt stehenden Dimensionen zu dokumentieren« (McCall 2005: 1773). Diese Richtung wurde
im deutschsprachigen Raum von Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp
geprägt. Sie gehen von drei symmetrischen Haupt-Achsen der Differenz aus
– nämlich Klasse, Geschlecht und »Rasse«/Ethnizität –, die unter modernen, kapitalistischen Bedingungen die Ungleichheitsverhältnisse fast aller
Gesellschaften prägen (Klinger/Knapp 2007: 21). Indes kritisiert Rommelspacher an diesem Modell unter anderem, dass »die Achsen […] jeweils
nur eine Zuordnung auf einer Dimension« zulassen und »diese zugleich
polar« anordnen: »Wo aber würde man etwa auf der Achse Ethnizität z.B.
Juden, Afrodeutsche oder Aussiedler_innen einordnen? Die Polarität der
Zuordnung suggeriert ein Mehr oder Weniger in der Teilhabe an einer bestimmten Kategorie. Insofern ist unklar, wo die ›Überschneidung‹ ansetzt
beziehungsweise wie man sich Wechselwirkungen zwischen verschiedenen
›Überschneidungen‹ vorstellen könnte.« (Rommelspacher 2009: 7)
Andererseits werde nicht hinterfragt, dass bereits »die Formulierung
dessen, was eine Achse ausmacht, Resultat einer spezifischen Position und
damit strenggenommen […] Ausdruck spezifischer Überschneidungen ist«
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
123
(ebenda). Rommelspacher verweist hier als Beispiel auf Schwarze feministische Kritiken, die – in Anlehnung an Crenshaw – herausgearbeitet haben, dass sich bestimmende »Strukturen für die Geschlechterposition […]
je nach Klasse, Ethnizität, rechtlichem Status, Behinderung oder sexueller
Orientierung unterscheiden« (ebenda).
In der Bundesrepublik wird über diese drei Modelle hinaus der Mehrebenen-Ansatz von Gabriele Winker und Nina Degele diskutiert (vgl. Çetin 2012: 85ff.). Sie definieren Intersektionalität als »kontextspezifische,
gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. Herrschaftsverhältnisse), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen« (Winker/Degele 2009: 15). Sie unterscheiden also drei Ebenen, die
sie insgesamt unter dem Zwangsgesetz von Lohnarbeit und Verwertung
sehen und – anders als es derzeit in der wissenschaftlichen Diskussion in
der Regel geschehe – miteinander in Beziehung setzen wollen (ebenda: 23).
Auf derjenigen der sozialen Strukturen werden die kapitalistischen Produktionsverhältnisse gesichert und die Arbeitskraft reproduziert. Dabei
generiert vor allem der kurzfristige Bedarf an passend qualifizierten und
flexibilisierten Arbeitskräften zu möglichst geringen Löhnen im Verbund
mit unbezahlter Reproduktionsarbeit Ungleichheit. Die Ebene der symbolischen Repräsentation liefert die Rechtfertigung der Differenzkategorien
durch hegemoniale Argumente, die auf naturalisierenden und hierarchisierenden Wertungen beruhen. Auf der Ebene der Identitätskonstruktionen
schließlich versuchen sich die durch die kapitalistischen Verhältnisse ständig in ihrer Existenz verunsicherten Individuen stabilisierende Zugehörigkeiten zu schaffen, indem sie sich voneinander abgrenzen (ebenda: 26f.).
Winker und Degele ergänzen die Triade von Klasse, Geschlecht und
»Rasse« durch Körper als vierte Grundkategorie und sprechen von Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen (ebenda: 38).
Sie begründen dies damit, dass sich die Klasse – im Gegensatz zu »Rasse«
und Geschlecht – nicht als vermeintlich »naturgegeben« legitimieren lasse.
Vielmehr habe sich »mit dem Kapitalismus der Glaube an Mobilität und die
Ideologie des grundsätzlich möglichen Aufstiegs ›vom Tellerwäscher zum
Millionär‹ durchgesetzt. Statt Naturalisierung sind dort Verbesserung und
Optimierung herrschende Legitimationen und genau darin trifft sich die inzwischen soziologisierte (d.h. entnaturalisierte) Kategorie Klasse mit Körper […]. Körper können ihren Wert steigern.« (Ebenda: 39f.)
124
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
Intersektionalität und neuere soziale Bewegungen
Gegenüber den in der Bundesrepublik verbreiteten akademischen Tendenzen, abstrakte Modelle von Intersektionaliät zu entwickeln, unterstreicht die Geschichte der neueren sozialen Bewegungen im Herkunftsland des Begriffs den politischen Charakter des »provisorischen Konzepts«.
So hat Kimberlé Crenshaw die Intersektionalität nicht »erfunden«, sondern
steht bewusst in der Tradition des US-amerikanischen Schwarzen Feminismus (vgl. Crenshaw 1989: 139f.; Crenshaw 1995: 378).
Eine offensichtliche Voraussetzung des von Crenshaw mit dem Bild der
Straßenkreuzung beschriebenen Problems war, dass es überhaupt eine Antidiskriminierungsgesetzgebung gab. Während zum Beispiel in der Bundesrepublik erst 2006 das »Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz« in Kraft trat,
das zudem lediglich sechs von 13 nach der Charta der Europäischen Union
verbotenen Diskriminierungsgründe nennt – wobei schicht- und klassenspezifische Diskriminierung nicht darunter fallen (vgl. Çetin 2012: 105) –, waren in den USA bereits Jahrzehnte zuvor weitergehende Regelungen erstritten worden. Dieser Erfolg der moderateren Bürgerrechtsbewegung
wäre nach Auffassung von Kimberlé Crenshaw ohne den Druck durch radikale aufständische Gruppierungen wie die Black Panthers nicht möglich
gewesen (Crenshaw 1995: 121). Genauso wie sie deshalb für deren Legitimität streitet, verteidigt sie umgekehrt ihre eigene Entscheidung, den
emanzipatorischen Kampf innerhalb der staatlichen Instanzen fortzuführen, gegen Vorwürfe, damit Illusionen über ein rassistisch und sexistisch
verfasstes Gemeinwesen zu nähren. Sie beruft sich dazu auf den Mitbegründer der Kommunistischen Partei in Italien und marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891-1937), der aufgrund seiner Analyse der Bedeutung der Zivilgesellschaft im Westen den »Übergang vom Bewegungskrieg
(und vom Frontalangriff) zum Stellungskrieg auch im Feld der Politik« empfahl (Gramsci 1992: 816). Crenshaw schließt sich Gramscis Ansicht an: Gerade weil die Ideologie als Praxis in dieser Gesellschaft eine zu große Rolle
spielt, als dass der direkte Angriff auf die Herrschaft unmittelbar erfolgreich sein könnte, ist es nötig, sich innerhalb der Zivilgesellschaft bzw. der
»ideologischen Apparate« (Louis Althusser) zu bewegen und ihre Möglichkeiten zu erweitern, um so allmählich »eine Gegen-Hegemonie zu schaffen« (Crenshaw 1995: 119). Die oben beschriebene vergleichsweise größere Offenheit US-amerikanischer Hochschulen für Themen und Ansätze
des aktuellen emanzipatorischen Aktivismus begünstigt diesen Weg und
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
125
arbeitet gleichzeitig einer möglichen Erstarrung der politischen Theorie
entgegen.
Für die Bundesrepublik waren jedoch lange Zeit Desinteresse und Abschottung linker Bewegungen aus der weißen Mehrheitsgesellschaft gegenüber den praktischen Kämpfen und der Theoriebildung von einheimischen People of Color prägend.
Defizite im Diskurs der Bundesrepublik
Die Genese des Diskurses um Intersektionalität im Kontext der Kämpfe
innerhalb der zweiten deutschen Frauenbewegung entzündete sich rund
um den Anspruch, die Kategorie Gender absolut zu setzen und als entscheidendes Differenzkriterium zu definieren. Die »Norm-Frau« war weiß,
deutsch und zur Mittelschicht gehörig. Die daraus resultierenden Kämpfe
der Frauenbewegung waren dementsprechend auf sich aus den Erfahrungen und der Lebenssituation jener ableitbaren Themen und Forderungen fokussiert. Gegen die vermeintliche Gleichheit der Lebenslagen aller
Frauen argumentierten jüdische, Schwarze und/oder migrantische und/
oder »behinderte« Frauen mit dem Hinweis, dass sie andere, zum Teil sogar gegenläufige, Unterdrückungserfahrungen machten, die aus dem Ineinanderwirken unterschiedlicher Differenzkategorien resultierten (vgl. Mamozai 1989; Oguntoye u.a. 1997; Hügel u.a. 1993; FeMigra 1994).
Frauen mit Behinderung wiesen im Kontext der Debatte um das Recht
auf Abtreibung darauf hin, dass ihre spezifische Situation, nämlich gegen
(Zwangs-)Sterilisationen kämpfen zu müssen, in der Perspektive »der« Frauenbewegung nicht vorkommt (vgl. Rommelspacher 2009: 2). Die oben genannten marginalisierten Gruppen kritisierten, dass sie vom Mainstream
der Frauenbewegung, wenn überhaupt, als »die Anderen« und ihre Forderungen als »Spezialinteressen« wahrgenommen würden und dass sie durch
ein »feministisches Wir« vereinnahmt werden (vgl. Walgenbach 2012).
Im Zentrum dieser frühen bundesdeutschen Debatten um Intersektionalität stand jeweils das Verhältnis von Sexismus zu anderen Herrschaftsund Unterdrückungsverhältnissen wie Rassismus, Ableism (auf Deutsch
vereinfachend: Behindertenfeindlichkeit) bzw. Antisemitismus, während
eine Auseinandersetzung mit der Kategorie Klasse lediglich eine nachrangige Stellung einnahm (vgl. Klinger/Knapp 2007). Mit dem Eingang der Debatte um Intersektionalität in den universitären Diskurs zu Beginn des 21.
126
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
Jahrhunderts war daher die Hoffnung verbunden, dass durch eine Klärung
des Analyserahmens auch die Klassenverhältnisse ausreichend thematisiert werden und die Bedeutung der »Kategorie Klasse« näher definiert
wird. Klassenverhältnisse werden in der Regel zwar als eine der Kategorien benannt, aber nie neu bestimmt. Dabei müsste genau das geschehen,
um Phänomene konzeptualisieren zu können, die etwa unter dem Begriff
»akademisches Prekariat« zusammengefasst werden.
Bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich der für eine intersektionale Analyse von sozialen Ungleichheiten und Machtverhältnissen zu berücksichtigenden sozialen Kategorien lässt sich bei allen Autor_innen die Triade aus
Race, Gender und Class finden. Diese knüpft an US-amerikanische Traditionen an, bei denen diese drei sozialen Kategorien im Kern der Diskurse
standen und neben Rassismus und Sexismus immer auch die Klassenverhältnisse ein zentrales Analysekriterium darstellen, was im bundesdeutschen Kontext nicht immer der Fall war. So erschien zum Beispiel 1982 die
Originalausgabe eines Buchs von Angela Davis in den USA unter dem Titel Women, Race, and Class, während die deutsche Übersetzung den Titel
Rassismus und Sexismus trug – der Begriff des Klassenkampfs tauchte hier
erst im kleingedruckten Untertitel auf. Wie bereits erwähnt, wird mittlerweile versucht, sich dieser Leerstelle anzunehmen: So entwickelten etwa
Winker und Degele – wie bereits oben ausgeführt – für eine intersektionale Analyse der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse
in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften ein Mehrebenen-Ansatz, in
dem sie neben anderen der Ebene der sozialen Strukturen und hier insbesondere der Rolle der Reproduktion der Arbeitskraft zentrale Bedeutung beimessen.3
Obwohl durch die Akademisierung des Diskurses um Intersektionalität
kapitalismuskritische Forschungsperspektiven die Debatte dominierten,
führte die akademische Aneignung dazu, dass zunehmend der Bezug und
die Anschlussfähigkeit an soziale Bewegungen und die jeweiligen Subjekte
verlorengingen.
3
Zu früheren Debattenbeiträgen von Imanuel Wallerstein, Étienne Balibar und Samir Amin: Voß/Wolter 2013.
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
127
Intersektionalität, Bewegung und Bildung
Wenn heute intersektionale Erwägungen Eingang in die politische Bildung
finden, so ist das einer drängenden Notwendigkeit geschuldet. Das Projekt Intersektionale Gewaltprävention des Berliner Vereins Dissens, das
eine praxisnahe Qualifizierung für pädagogische Fachkräfte in der Arbeit
mit Jugendlichen entwickelt hat, definiert Mindeststandards für eine intersektionale Sozial- und Bildungsarbeit, die maßgebend für die bundesweite Debatte sind: 1. »Soziale Differenzachsen entlang von Geschlecht,
sozialer Klasse, Ethnizität, Sexualität, Nationalität und weiteren Kategorien
werden als Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse verstanden. 2. In einer intersektionalen Arbeit wird auf jegliche Formen naturalisierender Zuschreibungen verzichtet. 3. Ebenso verzichtet ein intersektionaler Ansatz
auf Formen kulturalisierender Zuschreibungen. 4. Eine intersektionale Sozial- und Bildungsarbeit ist auf den Abbau und die Auflösung von Dominanzstrukturen ausgerichtet. Zu diesem Zweck bedient sie sich der Dekonstruktion. Dekonstruktion heißt in diesem Zusammenhang, für jene
gesellschaftlichen und politischen Herstellungsprozesse von Identitäten
zu sensibilisieren, anhand derer Zugehörigkeiten und damit verbundene
Ein- und Ausschlüsse reguliert werden« (Dissens 2012).
Was sich wie eine Auflistung von Selbstverständlichkeiten liest, verweist
auf einige Schwierigkeiten, die sich unmittelbar aus der Art und Weise ergeben, wie sich soziale Bewegungen konstituieren. Als kollektive Akteur_
innen entwickeln sie eigene Formen politischer Bildung, die als Teil einer
Handlungsstrategie für gesellschaftliche Emanzipation verstanden werden.
Das positive Selbstbild, das der kollektiven Identität zugrunde gelegt und
zum Teil des Mainstream-Curriculums werden soll, zielt darauf, Diskriminierung abzubauen, verschlossene Berufsfelder zu öffnen oder aber nichtdiskriminierende Selbstbezeichnungen gesellschaftlich durchzusetzen. Im
Kampf gegen Benachteiligungen werden die zugeschriebenen Identitäten
allerdings allzu oft auch fest-geschrieben. So wie antikapitalistischen Bewegungen häufig zu Recht vorgeworfen wird, sich nicht für Phänomene
wie Sexismus oder Rassismus zu interessieren, lässt sich auch sagen, dass
die gängigen Diversity-Konzepte Fragen sozialer Gerechtigkeit außen vor lassen, von der Überwindung von Herrschaft ganz zu schweigen. Die (Selbst-)Homogenisierung der Frauen- oder Schwulenbewegung, der Fokus vieler Gewerkschaften auf den weißen, eindeutig männlichen, heterosexuellen,
nicht »behinderten« Facharbeiter – oftmals werden große, in sich sehr ver-
128
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
schiedene Bevölkerungsgruppen im Streiten um Anerkennung und Gleichbehandlung wiederum vereinheitlicht und vereindeutigt. Die Bedürfnisse
und Interessen eines Teils der Gruppe, die vertreten werden soll, werden
zu Bedürfnissen und Interessen aller Teile erklärt. Der Vorwurf der »Spaltung« bringt Marginalisierte auch »ihrer Community« zum Schweigen.
Schwarze, jüdische oder/und migrantische und/oder »behinderte« Einwände an der Identitäts- und Repräsentationspolitik der zweiten deutschen Frauenbewegung behalten bis heute ihre Gültigkeit, weil oft die
Praxis und die Theoriebildung marginalisierter Teile auch anderer sozialer
Bewegungen nach wie vor ausgeblendet bleiben. Es ist kein Zufall, dass in
den 1980er Jahren eine »Schwarze Frauenbewegung« oder in den 1990er
Jahren Selbstorganisationen jüdischer, Schwarzer und/oder migrantischer
Lesben- und Schwulen entstanden sind. Ihr Fehlen in den »großen« Bewegungen setzt sich fort im Fehlen ihrer Körper, ihrer Bilder, ihrer Inhalte in
der entsprechenden politischen Bildung.
Seminar- und Workshopkonzepte, Buch- und Zeitschriftenbeiträge, Plakatkampagnen, Empowermentstrategien oder fachliche Austausche aus
dem Spektrum dieses »spezifischen Teils der sozialen Bewegungen« (Puar
2011) haben es erst über einen Umweg in die politische Bildung geschafft.
Vor allem aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen auf den Ebenen symbolischer Repräsentationen und von Identitätskonstruktionen (vgl. Winker/Degele 2009: 15) wie etwa beim Aufflammen des antimuslimischen
Rassismus sind die Schnittmengen unterschiedlicher Unterdrückungs- und
Herrschaftsverhältnisse zum Gegenstand akademischer Auseinandersetzungen um Intersektionalität geworden. Erst als es in den Universitäten
»respektabel« geworden war, ist das Konzept in die politische Bildung eingegangen. Die Reflexion darauf, wie eine Emanzipation und das (Self-)Empowerment aussehen können, die der Komplexität zeitgenössischer Subjektivitäten gerecht werden, verlässt vielleicht deswegen zunehmend den
Bereich des Aktivismus und gerinnt stattdessen in ein bildungssprachliches
Reden darüber, »wie es sein müsste«. Die Identifikation und Bearbeitung
bewegungsimmanenter Unzulänglichkeiten verliert an Raum und macht
dem Klagen Platz, »die anderen« kämen ja nicht oder verstünden die vermeintlich gemeinsame Sprache gar nicht mehr.
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
129
Anforderungen an intersektionale politische Bildungsarbeit
In den letzten Jahren ist eine regelrechte Inflation von Methoden und Konzepten zu verzeichnen, die in der Bildungsarbeit auf »Vielfalt«, »Heterogenität« und »Diversität« setzen. Bildung – zumal außerschulische politische
Bildung – wird als einer der zentralen Orte ausgestaltet, an dem Unterscheidungen thematisiert werden können. Dabei gerät zunehmend in den
Hintergrund, dass Bildung zugleich einer der wichtigsten Orte ist, an denen gesellschaftliche Ungleichheit produziert und reproduziert wird. Das
Wechselverhältnis von Differenz und hierarchisierender Differenzierung
könnte dabei die Grundlage eines Bildungsverständnisses sein, das dabei
hilft, eine Kritik an Ungleichheiten zu formulieren. Eine emanzipatorische
Bildungsarbeit muss heute der Komplexität gesellschaftlicher Zustände gerecht werden, die immer auch ihren Niederschlag in konkreten Subjektivitäten finden. Wenn der Bildung die Aufgabe zukommen soll, autonome
Entscheidungsfindung und Handlungso rientierung zu ermöglichen, darf
sie weder bei einem unkritischen Subjekt-Begriff noch bei einem unhinterfragten Begriff der Verschiedenheit stehenbleiben.
Soziale Ungleichheiten entlang von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus oder Heteronormativität schreiben sich in den Körper, in den Geist und in die Seele von Menschen ein. Politische Bildung,
die nicht von den Überlappungen und dem Zusammenwirken von einander ungleichen Verschiedenheiten ausgeht, wird nicht im Dienst gesellschaftlichen Fortschritts und gesellschaftlicher Befreiung stehen können.
Was aber ist vor diesem Hintergrund ein »intersektionaler Anspruch«?
Lässt sich Herrschaftskritik überhaupt im Seminarkontext oder bei einem
Diversity-Training üben? Wer kann – auf welche Weise – für andere Menschen Empowerment oder Emanzipation als Lernziel definieren? Welches
Wissen und welche Qualifikationen brauchen Trainer_innen und Teamer_
innen, die intersektional arbeiten wollen?
Zeitgemäßes Verständnis von Ungleichheit
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen von 2006 über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen (Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2008) stellt einen zukunftsweisenden Begriff der Ungleichbehandlung zur Verfügung, der auch in der politischen Bildungsarbeit eingesetzt
werden kann. Die Definition einer »Behinderung« fasst die Ungleichbehandlung nicht mehr als ein individuelles Defizit einer vermeintlich »betrof-
130
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
fenen« Person, sondern verortet sie als Wechselwirkung zwischen einem
Menschen mit körperlicher, seelischer, geistiger oder Sinnesbeeinträchtigung und einer Gesellschaft, die mit verschiedenen Barrieren eine volle,
wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verhindert.
Es geht beim Begriff der »Inklusion«, der sich daraus ableitet und die Vorstellung von »Integration« abgelöst hat, nicht mehr darum, defizitär konstruierte Menschen an Strukturen anzupassen, die an sich in Ordnung sind.
Jetzt ist es Aufgabe der Strukturen und Curricula, des Personals und der
Veranstaltungsorte, sich auf die Verschiedenheit der (potenziell) Teilnehmenden einzulassen. Dieser Paradigmenwechsel in der »Behindertenpolitik« findet sich auch im Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen
(Behindertengleichstellungsgesetz, BGG), das bereits in seinem zweiten
Paragrafen auf die »besonderen Belange behinderter Frauen« sowie auf
eine notwendige »Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von behinderten Frauen« verweist (BGG § 2). Hier wird auf
voneinander verschiedene Subjekte orientiert, die Überlappungen von
»Behinderung« und Geschlecht werden nicht nur zur Kenntnis genommen,
sondern auch im Sinn von Affirmative Action (»positive Diskriminierung«)
als staatliche Aufgabe definiert.
Abbau von Barrieren
In dem Gesetzestext werden unterschiedliche Barrieren für »behinderte
Frauen« und – allgemein – »Behinderte« reflektiert. Der Norm-»Behinderte«, so will es scheinen, ist also männlich. Anders als im Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz, wo es im Zusammenhang von verschiedenen
Formen der Diskriminierung um ein Oder geht, ist hier dennoch die Komplexität von »Behinderung« wenigstens in Bezug auf Geschlechterverhältnisse berücksichtigt. Im Sinn eines (Self-)Empowerments und als notwendige Bedingung für (Selbst-)Organisierung – und damit: der Förderung von
Teilhabe – ist bundesweit (bisher einmalig) Neuland betreten worden. Dennoch gilt es, ein inhärentes Dilemma nicht außer Acht zu lassen: Es ist die
Ungleichmachung, die eine soziale Anerkennung als Gruppe erst notwendig macht. Der Streit gegen eine Stigmatisierung benötigt die Bestätigung,
dass es eine abgrenzbare Gruppe gebe, die »anders« ist. Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, wird noch jahrelang eine Herausforderung für eine
Bildungsarbeit sein, die sowohl die soziale Konstruiertheit von Identitäten
als auch die Notwendigkeit einer strategischen Identitätspolitik in sich aufnehmen und produktiv machen muss, wenn sie erfolgreich sein will. Die
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
131
Akzeptanz mehrdimensionaler Identitäten und der Abbau ebenso mehrdimensionaler Diskriminierungen ist eine der Grundvoraussetzungen für
eine gelingende Aktivierung zu einer Gesellschaftsveränderung, die nicht
»im Namen von«, sondern »von« Menschen passiert. Die Teilnehmer_innen an Bildungsprozessen, die intersektional angelegt sind, sollten befähigt werden, in der Mehrzahl zu denken und selbst-bewusst im Umgang
mit Uneindeutigkeiten werden.
Wessen Norm? Welche Abweichungen?
Die Orientierung an der eigenen Lebenswelt bietet einen Dreh- und Angelpunkt für intersektionale Ansätze, denn weder Bildungsarbeiter_innen
noch Teilnehmer_innen an Bildungsprozessen befinden sich im luftleeren
Raum. Die Sozialwissenschaftlerin Ines Pohlkamp rät: »Die Vielheit der sozialen Differenzen erfordert eine versöhnliche Grundhaltung mit sich selbst.
Denn durch die Verschiedenheit der sozialen Differenzen, durch die Pluralität der Lebensweisen, der Selbstverortungen und der persönlichen Auseinandersetzung können in der Bildungsarbeit Fehler passieren und Verletzungen auftreten.« (Pohlkamp 2012: 16) Dieses Eingeständnis ist gerade
deswegen wichtig, weil Bildungsprozesse in den meisten Fällen in zeitlich
befristeten, räumlich abgeschiedenen Kontexten angelegt werden, so auch
bei der RLS. Selbst wenn sie als sichere Räume konzipiert sind und sogar so
funktionieren, findet Lernen in einer gesellschaftlichen Umwelt statt, die
keine Schutzräume vorsieht. Vorherige Erfahrungen wie auch eine Lebenswelt, in die die Teilnehmenden dann »entlassen« werden und die eben fundamental anders ist, stellen Unwägbarkeiten dar, die von der Konzeption
über die Durchführung bis hin zu einem Abschlussbericht, der gegebenenfalls notwendig ist, berücksichtigt werden müssen. Es lohnt sich deswegen immer, eigene Erfahrungen mit Macht und Ohnmacht zu reflektieren
und (sich) die eigenen Anteile am Bildungsprozess – inklusive eigener Unzulänglichkeiten – möglichst bewusst zu machen.
Intersektionale Methoden, wie sie in Diversity- und Social-Justice-Ansätzen entwickelt wurden, aber auch in der geschlechterreflektierenden
und rassismuskritischen Bildungsarbeit, stellen sicher eine Erweiterung
herkömmlicher Ansätze dar. Die Frage aber, wie Verschiedenheit und Ungleichheit in ihnen konzeptualisiert und artikuliert werden, besteht fort. Es
lässt sich, bei aller Vermittlung, nicht erklären, ob und wie beispielsweise
für Sexismus und Rassismus jenseits individueller Erfahrung von Diskriminierung, Gewalt oder anderem Leid (oder, entgegenstehend, Privilegierung
132
Claudia de Coster / Salih Wolter / Koray Yılmaz-Günay
durch das Fehlen solcher Erlebnisse) ein gemeinsames Maß zu finden ist.
Die Gefahr, dass die eigene Erfahrung als Bagatellisierung der Erfahrungen
anderer Menschen wahrgenommen wird, ist eine reale Möglichkeit, die als
»Opferkonkurrenz« bereits in den Diskurs eingegangen ist. So stellt sich in
der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus beispielsweise oft der Einwand
her, palästinensische Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in Israel,
in den besetzten Gebieten oder in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten
könnten nicht artikuliert werden, weil der Anti-Antisemitismus in der Bundesrepublik für diese Narrative keinen Platz lasse. Multiperspektivische
Konzepte und Methoden, die historisch-biografische Bildung mit transnationalen Aspekten zusammendenken und auf ein Entweder/Oder und andere Projektionen verzichten, sind bisher aber eine Seltenheit, die viel zu
wenig in den Blick genommen wird.
Eine weitere Frage, der sich intersektionale Ansätze vor diesem Hintergrund stellen müssen, betrifft ebendieses Zusammenwirken von unterschiedlichen Wissensbeständen und Erfahrungswelten einschließlich ihrer Weitergaben: Wie weit lässt sich Komplexität eigentlich erhöhen, ohne
selbst zum ausschließenden Moment zu werden? Alters- und geschlechtergerechte Sprachen und Bilder, die einrichtungsbezogen und im Sozialraum funktionieren und das Lokale mit dem Globalen verbinden – oder zumindest einer solchen Abstraktion nicht den Weg verbauen –, müssen oft
erst entwickelt werden.
Bildung ist einer der gesellschaftlichen Bereiche, die mit Anforderungen
überladen werden, weil dort der staatliche und gesellschaftliche Zugriff vor
allem auf Kinder und Jugendliche so groß ist wie an kaum einem anderen
Ort. Eine kritische Bestandsaufnahme dessen, was »geht« und was »fehlt«,
wird immer auch auf die Möglichkeiten und Grenzen von Bildung schauen
müssen. Die Vergewisserung, dass Bildung nicht alles kann – aber auch nicht
alles können muss –, wird zum Kernbestand dessen gehören müssen, was
als pädagogische Haltung beschrieben werden kann. Die Sprachlosigkeit,
die sich bisweilen in ungeplanten und unerwarteten Situationen einstellt
und unter der nicht nur viele Teilnehmer_innen leiden, sondern auch Bildungsarbeiter_innen, ist ein Produkt von Gesellschaft. Ihre Überwindung
kann deswegen auch nur gesamtgesellschaftlich gelingen.
Intersektionalität in der Bildungsarbeit
133
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gute zeiten,
schlechte zeiten
emanziPatorische bildung in der krise ihrer voraussetzungen
Julika bürgin
46
luxemburg 2/2015 | das bisschen bildung ...
Emanzipatorische Bildung zieht ihre Energie
aus emanzipatorischen Bewegungen und Praktiken. Sie ist stark in Zeiten starker Demokratie,
in denen der Demos um Demokratisierung
kämpft. Aus der politischen und sozialen Praxis
(die im besten Falle selbst Bildungsprozesse
ermöglicht) entstehen Fragen, die aufzuklären
sind. Die Praxis bringt Menschen zusammen,
die miteinander etwas klären wollen, um etwas
zu bewegen. Greifbare Ziele und die Aussicht
auf ihre Verwirklichung machen die Anstrengungen von Bildung lohnenswert.1
Und heute? Die gesellschaftlichen
Voraussetzungen emanzipatorischer Bildung
lassen sich als dreifache Krise beschreiben: als
Krise der Demokratie, als Krise gesellschaftlicher Emanzipationsprojekte und als Krise
konkreter Utopien. In der Krise befinden sich
insbesondere Gewerkschaften und Parteien,
die sich eine grundlegend andere Gestaltung
der sozialen und ökonomischen Verhältnisse
auf die Fahnen geschrieben hatten. Wo Menschen sich in Verbänden organisieren, haben
Mitgliedschaften oft wenig mit dem eigenen
Leben zu tun. Die Schwächung der politischsozialen Kultur hat auch Folgen für emanzipatorische Bildungsprozesse. Eine Arbeiterin
in der Pharmaindustrie, aktives Mitglied der
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie, beschreibt die Veränderungen für ihr
gewerkschaftliches Umfeld so:
»Also die Erfahrung, die ich gemacht hab,
Anfang der achtziger Jahre, wo ich so die ersten
Seminare gemacht hab als neu gewählte Vertrauensfrau, was machste jetzt – damals is’ ja noch
viel mehr vor Ort gemacht worden, im Bezirk im
Umkreis, da biste in ein Hotel, Wochenendseminare zu dem und dem Thema und Einführung
Betriebsverfassung, und was is’ das überhaupt, und
was wollen wir. Und die sind damals bei uns, muss
ich sagen, sehr gut gelaufen, das hat mir super gefallen, ich hab Dinge erfahren, wusst’ ich überhaupt
nicht, ne? Und Gewerkschaften und überhaupt
und bin dabei geblieben. […] Sind Leute da, die
wollen dasselbe im Prinzip wie du, die wollen sich
informieren, die wollen was verbessern für ihre Kollegen, für sich. Alles, was ich für mich mach, hat
auch ‘nen Nutzen dann für die Kollegen vor Ort
und ich denk’, mittlerweile fehlt das so ein bisschen,
hab ich so den Eindruck. Das was mich damals zur
Gewerkschaft gebracht hat und gehalten hat, waren
viele dieser Veranstaltungen am Wochenende, nach
Feierabend, wo heut die wenigsten bereit sind, die
Zeit zu investieren, unabhängig davon, ob‘s was
kostet oder nicht. Wenn wir heute ein Wochenendseminar anbieten, dann buchst du mal zwanzig
Zimmer in ‘nem Hotel ein halbes Jahr vorher und
machst aus, wie kurz vorher du absagen kannst,
ohne was zu bezahlen.« 2
Brüchig geworden ist die soziale Basis, aber
auch der Fluchtpunkt emanzipatorischer
Bildung. Verloren gegangen ist die »konkrete
Utopie«, mit Ernst Bloch verstanden als reale
Möglichkeit einer gesellschaftlichen Alternative. Wie kann emanzipatorische Bildungsarbeit mit diesem Widerspruch ihrer eigenen
Voraussetzung umgehen?
In der Bildungspraxis wird über die Krise
gesellschaftlicher Emanzipationsprojekte eher
selten gesprochen. Das hat gute Gründe: Da
emanzipatorische Bildungsarbeit auf eine
emanzipatorische Praxis orientiert, schwächt
diese Diagnose einen zentralen Bezugspunkt
dieser Arbeit. Und das Sprechen über die Krise
kann als unsolidarisches und entmutigendes
Julika bürgin ist Politologin und Erziehungswissenschaftlerin. Seit 2015 lehrt sie an der
Hochschule Darmstadt. Zuvor war sie viele Jahre
in und mit Gewerkschaften aktiv – insbesondere
in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung.
Ihre thematischen Schwerpunkte sind emanzipatorische und politische Bildung, subjektwissenschaftliche Forschung und Arbeitspolitik.
Kleinreden der existierenden Initiativen,
Organisationen und Bewegungen empfunden
werden. Allein: Wenn die Diagnose stimmt,
wäre mit dem Pfeifen im Walde bereits verfehlt,
was Bildung im Kern ausmacht.
was kann bildung sein?
Der kritische Bildungstheoretiker HeinzJoachim Heydorn diskutierte Bildung in
seiner letzten Veröffentlichung als »befreiende
Verarbeitung« (2004). Er schrieb den Text mit
dem Titel »Überleben durch Bildung« im Jahr
1974 mit Blick auf Aufrüstung, Überfluss bei
... umbauen | luxemburg 2/2015
47
gleichzeitigem Hunger und die Unfähigkeit,
die Ressourcen und technischen Möglichkeiten
für ein humanes Leben zu nutzen. Er betonte,
dass Bildung den gesellschaftlichen Widerspruch
nicht überwindet, sondern die eigenen Voraussetzungen bewusst macht. Mit diesem Bewusstsein »stellt sich die Frage nach neuen Formen
der Auseinandersetzung, die den Bedingungen
angemessen sind« (ebd., 265).
Es überliest sich leicht, wie folgenreich
dieser Gedanke ist: Es geht um die eigenen
Voraussetzungen. Wir sind Teil der Gesellschaft, die ihre Möglichkeiten nicht nutzt, die
Bedürfnisse aller zu befriedigen. Alle reproduzieren diesen Widerspruch in der alltäglichen
Lebensführung, auch die BildungsarbeiterInnen. Wir können den Widerspruch auch nicht
widerspruchsfrei verarbeiten, weil wir mit unserem Alltagsverstand unser Leben bewältigen.
Die Reflexion darüber eröffnet nicht unbedingt
neue Handlungsoptionen, sondern kann das
eigene Handeln infrage stellen. Eine auf Gesellschaft bezogene Bildung kann also bedrohlich
werden, denn »bei Strafe des Untergangs«
dürfen die Individuen ihre Handlungsfähigkeit
nicht aufgeben, »solange es keine praktischen
Alternativen gibt« (Hirschfeld 2013, 94).
In den Gewerkschaften schützt das Zweckbildungsverständnis die Einzelnen vor dieser
Art Untergang. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist erklärtermaßen auf den Zweck einer
Verbesserung der Verhältnisse in Betrieb und
Gesellschaft gerichtet, wie unterschiedlich dies
auch immer im Einzelnen verstanden wird.
Die Verwirklichung der Ziele steht und fällt mit
kollektivem Handeln, weshalb Seminare darauf
ausgerichtet sind, Handlungsfähigkeit zu stärken. Das Prinzip der Handlungsorientierung ist
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luxemburg 2/2015 | das bisschen bildung ...
deshalb ein Korrektiv gegen Erkenntnisse, die
die Handlungsfähigkeit bedrohen. Genau deshalb kann es aber auch Aufklärung verhindern,
wenn diese für das unmittelbare Organisationshandeln nicht dienlich ist. Das Verhältnis
zwischen bewegungsorientierter Praxis und
Bildung ist also äußerst sensibel. Was die
emanzipatorische Praxis blockieren kann, ist
Aufgabe emanzipatorischer Bildungsarbeit: die
Widersprüche und ihre widersprüchliche Verarbeitung zu verarbeiten. Dabei geht es nicht um
ein kritisch coloriertes Bildungsideal innerer
Freiheit, sondern im Gegenteil darum, mit den
gewonnenen Erkenntnissen die emanzipatorische Praxis und die eigene Handlungsfähigkeit
zu befördern.
So sehr emanzipatorische Bildungsarbeit
deshalb Distanz zum Alltagsgeschäft benötigt,
so sehr muss sie als transformatorisches
Projekt diese Distanz permanent einreißen.
Was das bedeutet, ist kaum ausbuchstabiert
oder erforscht. Dass man in der politischen
Praxis etwas lernt, ist unbenommen. Aber diese
Lernprozesse sind nicht immer emanzipatorisch. Was lernt ein Mensch, dessen Stimme
üblicherweise nicht gehört wird, in einer
politischen Versammlung, in der sie ebenfalls
nicht gehört wird? Was lernt er, wenn er erlebt,
dass seine Erfahrungen nicht wichtig sind? Was
lernt sie, wenn ihr Widerspruch nicht ›zielführend‹ für die Praxis ist? Lernprozesse können
heteronome Sozialverhältnisse zementieren.
Die politische Praxis folgt einer eigenen Logik,
die auch im emanzipatorischen Feld nicht notwendig selbstbestimmt ist: Der Abgabeschluss
für den Antrag ist nächste Woche? Also müssen
ihn die ExpertInnen schreiben. Gelernt werden
kann immer, aber Bildungsprozesse benötigen
ein Mindestmaß an reflexiver Distanz zur
(eigenen) Praxis, um damit im besten Fall die
Praxis zu verändern. Die Distanz entsteht nicht
automatisch, sondern hat zeitliche und örtliche,
vor allem aber konzeptionelle Voraussetzungen.
Diese lassen sich nicht als Leitfaden
definieren. Aus den Beobachtungen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit folgere ich, dass vor
allem eine gemeinsame problemorientierte Perspektive, ein Freiraum vom Handlungsdruck
nötig ist – auch um neu über Handlungsmöglichkeiten nachdenken zu können. Die Arbeit
an alltagsrelevanten Lösungen und das Durchdringen von Problemen folgen unterschiedlichen Logiken, die gerade nicht umstandslos
ineinandergreifen. Nötig sind deshalb sowohl
lösungsorientierte als auch problemorientierte
Räume für Bildung und Reflexion.
emanziPatorische bildung
und die Praxis
Emanzipatorische Bildungsprozesse gibt es in
allen Bildungsbereichen. Die äußerst unterschiedlichen Bedingungen etwa von Schulen,
außerschulischer politischer Jugendbildung,
beruflicher Erwachsenenbildung und Hochschulen können hier nicht entfaltet werden.
Ich möchte einen Unterschied betonen, der
quer zu den Grenzziehungen der Bildungsbereiche liegt, nämlich: Verstehen die Beteiligten
diesen Bildungsprozess als Teil einer emanzipatorischen Praxis oder nicht?
Sie werden es wahrscheinlich dort tun, wo
Seminare und Veranstaltungen aus der
politischen Praxis »ausgegliedert« werden, um
erklärtermaßen wieder auf diese zurückzuwirken. Das Motto »lernen, um zu handeln«
verdeutlicht diesen Gedanken für
die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Von
vornherein ist klar, dass hier etwas aufzuklären ist, um etwas gemeinsam zu verändern.
Anders verhält es sich mit Unterricht und
Schulungen, wenn diese aus der Perspektive
der Bildungssubjekte dem Erwerb eines
Zertifikats oder Abschlusses, also der Bewältigung einer biografischen Herausforderung,
dienen. Hier steht Bildung nicht von vornherein in einem emanzipatorischen Handlungskontext, und auch bildungspolitische
Emanzipationsziele gibt es nicht (mehr).
Bildungsprozesse außerhalb von Bewegungszusammenhängen haben die politische
Praxis zunächst nicht als Bezugspunkt. Ihr
verbleiben dennoch (mindestens) drei Ansatzpunkte für emanzipatorische Bildungsprozese:
Erstens können Selbst- und Welterkenntnisse
von den Einzelnen nicht nur als Gefahr, sondern auch als Gewinn verarbeitet werden und
Handlungsfähigkeit befördern. Zweitens können kritische Bildungsimpulse dazu beitragen
(nicht garantieren), dass sich emanzipatorische
Praktiken in und um Bildungsinstitutionen
entwickeln. Drittens ist Bildung selbst ein Praxisfeld, das Möglichkeiten emanzipatorischen
Handelns eröffnet.
Die emanzipatorische Bildungspraxis
beansprucht, andere gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur zu denken, sondern im
Bildungsprozess auch herzustellen. Es geht
um Inhalte, Interaktionsweisen, Methoden
und Rahmenbedingungen. Auch hier sind die
Möglichkeiten in der formalen Bildung (Schule,
Hochschule, Berufsausbildung) besonders eng
begrenzt, zumal, wenn Curricula zu erfüllen
und Leistungen zu bewerten sind. Aber auch in
diesen Bereichen entwickeln Lehrende Kon-
... umbauen | luxemburg 2/2015
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zepte für eine kritische Lehre, zu denen etwa
gehört, die Voraussetzungen selbst zum Thema
zu machen.
Diese haben sich nicht allesamt verschlechtert. Was als Anspruch der heranwachsenden
»Generation Y« diskutiert wird, nämlich dass
sich das gute Leben zumindest ansatzweise
im Hier und Jetzt realisieren lassen muss,
reklamieren auch immer mehr Erwachsene, die
erfahren haben, dass der Lohn für ein erfolgreiches Projekt bestenfalls ein neues Projekt
ist. Junge Gewerkschaftsmitglieder lehnen
Zertifikate in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit vehement als das Gegenteil dessen ab,
was Bildung für sie ausmacht, nämlich: kein
Leistungsdruck, keine Konkurrenz, keine
Bewertung, keine Benotung, miteinander statt
gegeneinander arbeiten. Und sie entwerfen
Seminare als Protopraxis, die auch in anderen,
vor allem betrieblichen Praxisfeldern Dinge in
Bewegung bringen soll. Ihre Stichworte sind:
Miteinander, Füreinander, Solidarität ohne
Erfolgsdruck, Demokratie, Selbstbestimmung
(vgl. Bürgin 2013, 222f).
Bildung ist ein Praxisfeld mit transformatorischem Potenzial, ist aber keine Ersatzpraxis für andere Politikfelder. Die großen
gesellschaftlichen Probleme machen es nötig,
gesellschaftlich einzugreifen. Wenn man die
gegenwärtigen globalen Proteste betrachtet,
dann sind Bildungsprozesse für ihr Zustandekommen nicht zu wichtig zu nehmen. Um
die Richtungen des Handelns zu bestimmen,
Handlungskrisen zu verarbeiten und aus
Protesten Bewegungen zu machen, sind Bildungsprozesse allerdings bedeutsam. Bildung
kann helfen, nicht zu resignieren, nicht zynisch
zu werden, die kleinen Veränderungen nicht für
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luxemburg 2/2015 | das bisschen bildung ...
große zu halten und an den Beharrungskräften
der Verhältnisse nicht klein zu werden.
utoPien bilden,
zusammenhänge organisieren
Emanzipatorische Bildung war bislang eng mit
dem Feld der politischen Bildung verbunden.
Das hat auch strategische Gründe, denn die
politische Bildung ist bildungs- und förderpolitisch der einzige Bereich, auf den sich
emanzipatorische Bildung berufen kann. Aber
es ist offensichtlich, dass ihr Gegenstand über
»die Politik« hinausreicht und auch weiter
gefasst ist als »das Politische«. Wenn man das
Gemeinsame der bildungspraktischen und
-wissenschaftlichen Überlegungen der letzten
Jahre sucht, dann wird man an diesem Punkt
schnell fündig: Es geht um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen
mit dem Ziel ihrer menschlichen Gestaltung.
Vermutlich liegt es an der scheinbaren
Unveränderbarkeit des großen Ganzen, dass
diese Auseinandersetzung auch als Gegenstand von Bildung in den Hintergrund gerückt
ist. Bildungsarbeit, die die Verhältnisse und
ihre Veränderbarkeit nicht vernachlässigen
will, steht gegen den Trend und gegen die
Rahmenbedingungen.
Ein Blick auf das Feld der Arbeit zeigt
beispielhaft, dass wir es hier nicht mit theoretischen Luxusproblemen zu tun haben. Die
kommandierten Beschäftigten im Niedriglohnbereich und die Hochqualifizierten im
High Performance Management befinden sich
nicht nur in unterschiedlichen Arbeitswelten,
sondern sie verstehen die Arbeitswelt und
das Arbeitshandeln der anderen auch nicht
automatisch. Gewerkschaftsmitglieder suchen
das gemeinsame Allgemeine als Grundlage
für gemeinsames Handeln, aber sie können
den Gesamtkontext nicht aus ihren eigenen
Erfahrungen und Analogieschlüssen herstellen
(vgl. Bürgin 2013, 208f). Sie sind auf Zusammenhangwissen angewiesen, wenn sie das
Handeln und die Forderungen der anderen
als begründet verstehen und kollektiv handeln
wollen. Berufsgewerkschaften organisieren
sich entlang von partikularen Interessen,
für die Branchengewerkschaften geht es um
Solidarität schlechthin.
Unter erschwerten Voraussetzungen wird
emanzipatorische Bildung also bedeutsamer:
als Aufklärung über die Verhältnisse, über
Krisen, Handlungsmöglichkeiten sowie die
zukünftige Gestaltung der Gesellschaft. Dabei
geht es in der Bildungsarbeit in Organisationen immer auch um Bildungsräume zur Kritik
und künftigen Gestaltung der eigenen Politik.
Emanzipatorische Bildungsarbeit ist nicht
der Missing Link zwischen dem Hier und Jetzt
und veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie kann gegenwärtig auf keine konkrete
Utopie orientieren. Aber sie kann Raum
für Utopiebildung und für die Suche nach
Eingriffsmöglichkeiten sein. Wie Uwe Hirschfeld argumentiert, kann emanzipatorische
Bildungsarbeit den Mangel an gesellschaftlichen Alternativen weder kompensieren noch
beheben, aber das Bewusstsein des Mangels
offen halten. »Die Widersprüche werden nicht
mehr im Unbewussten belassen, wo sie uns
zerstören; sie werden zum Hebel der Veränderung.« (Heydorn 2004, 272) »Bewusstsein
ist alles.« (ebd., 273) Mit diesem Satz endet
der letzte Text von Heinz-Joachim Heydorn.
Und Bildungsarbeit stößt noch mehr an, wenn
Zimmer einer Familie, die seit über 14 Jahren im »Lager« mit
einer Duldung lebt. Duldung © Stefanie Zofia Schulz
sie sich als »reflektierendes, aber (zumindest
indirekt) auch organisierendes Moment
alternativer Praxisbewältigung« (Hirschfeld
2013, 98), also als gesellschaftlich relevante
Protopraxis versteht.
literatur
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Hirschfeld, Uwe, 2013: Fragmentierter Alltagsverstand und
die Herausforderung »kritischer Lehre«, in: Forum Kritische Psychologie 57, 90–99
1 Der Text basiert auf Erfahrungen in und Forschung über
gewerkschaftliche Bildungsarbeit (vgl. Bürgin 2013a). Auch
wenn diese viele Besonderheiten aufweist, wird hier versucht,
einige der dort gewonnenen Erkenntnisse zu verallgemeinern.
2
Mit sprachlicher Glättung zitiert nach Bürgin 2013a, 186.
... umbauen | luxemburg 2/2015
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