68_72_Wissenschaft_2 16.4.2010 15:23 Uhr Seite 68 ANWALTSETHIK Klienteninteressen gehen den Anwaltsinteressen vor Stephan Bernard lic.iur., LL.M., Rechtsanwalt & Mediator SAV/AFM bei Meyerbernard, Zürich Bürger misstrauen Anwälten. Um das Bürgervertrauen in den Berufsstand wiederherzustellen, ist auch in der Schweiz ein breiter Diskurs zur Anwaltsethik nötig. Besonders in der Mandatsführung braucht es ethische Richtlinien, die über das kodifizierte Berufsrecht hinausgehen. 68 I. Devil’s Advocate Würden Sie den vermeintlichen Teufel vor Gericht vertreten? Die angehende Juristin1 wird nicht nur regelmässig nach dem Film «Devil’s Advocate» gefragt, sondern auch, ob sie selbst später als Anwältin eine Mörderin oder Kinderschänderin vertreten und auf einen Freispruch hinwirken könnte. Vielleicht sagt sie ja, weil sie in der Strafrechtsvorlesung gelernt hat, jedermann stehe in jedem Strafverfahren ein Recht auf Verteidigung zu. Dann stehen die Chancen gut, dass sie von Laien unverzüglich zur Devil’s Advocate erklärt wird. Zivilprozesse mit einem geschummelten Beleg als Beweismittel zu führen, sehen Laien dagegen oft als anwaltliches Kavaliersdelikt, bisweilen sogar als beruflich gebotenen Bubentrick an – jedenfalls sicher als weit moralischer als die Verteidigung einer schuldigen Sexualstraftäterin. Ethische Bewertung anwaltlichen Handelns durch die Allgemeinheit und anwaltliches Berufsrecht klaffen mithin weit auseinander: Denn während das Recht die konsequente Verteidigung der Sexualstraftäterin gebietet, verbietet es gleichzeitig das Einbringen eines geschummelten Belegs.2 Bürgerinnen misstrauen Anwältinnen. Umfragen zur Integrität verschiedener Berufsgruppen zeigen, dass Anwältinnen regelmässig viel schlechter wegkommen als zum Beispiel Lehrerinnen, Feuerwehrleute oder Richterinnen.3 Das Klischee des Devil’s Advocate oder – etwas altmodischer ausgedrückt – der Winkeladvokatin hält sich hartnäckig. Der Hauptgrund für ihren schlechten Ruf dürfte indessen darin liegen, dass Anwältinnen als geldgierig und ihre Honorare als deutlich übersetzt angesehen werden: «Amerikanische Kollegen beanstanden, das öffentliche Leitbild für ehrgeizige Jungjuristen seien mergers & acquisitions als Berufsfeld geworden, für murders & executions interessiere sich keiner mehr.»4 Der renommierte deutsche Anwalt Friedrich Graf von Westphalen spricht von der «Pest der Kommerzialisierung des anwaltlichen Berufs»5, und der Berliner Rechtshistoriker Uwe Wesel hält auf dem Klappentext seines Buchs «Risiko Rechtsanwalt» pointiert fest: «Da die meisten Anwälte mehr an Umsatz und Profit interessiert sind als an Recht und Gerechtigkeit, sind sie für ihre Mandanten tatsächlich ein Risiko.»6 Auch in der Schweiz hat die Diskussion zur anwaltlichen Vergütung spätestens seit dem Bundesgerichtsentscheid 135 III 259 Einzug gehalten: Ein Genfer Anwalt hatte sein Honorar von 600 000 Franken einseitig auf 2,1 Millionen Franken heraufgesetzt, nachdem er eine Forderung von 80 Millionen Franken erfolgreich eingetrieben hatte. Das Bundesgericht billigte dieses nachträgliche Erfolgshonorar, obschon es vor Bundesrecht nicht standhalten dürfte.7 Es fehlt nun nicht an pointierter Urteilskritik: «Der Anwaltsberuf ist ein Traumberuf: Wenn Rechtsanwälte Erfolg haben, sahnen sie ab. Wenn sie scheitern, können sie trotzdem ihren Aufwand in Rechnung stellen. Und wenn Anwälte gar mies arbeiten, erfährt es niemand.»8 Solche ethische Fragestellungen, die auch meinen Berufsalltag als Anwalt betreffen, und das erwähnte angekratzte Vertrauen in meinen Berufsstand bilden den Anlass für den Aufsatz. II. Anwaltsethik 1. Überflüssige Anwaltsethik? Anwaltsethische Diskussionen halten viele Anwältinnen für überflüssig:9 Zu anwaltlichen Honoraren sei festzuhalten, dass der Markt den Preis regle. Berufsrecht und Berufsethik seien relativ einfach und klar: Die Anwältin wahre innerhalb des gesetzlichen Rahmens einseitig Parteiinteressen; einzige Richtschnur sei das Interesse der Klientin, das es konsequent zu wahren gelte. Seit dem Prozess gegen Kröcher/Möller sei das sogar für das Strafrecht durch das Bundesgericht festgehalten worden.10 Das Berufsrecht kodifiziere in Art. 12 BGFA eine Art Berufsethik mittels notwendiger Mindestregeln. Mehr brauche es nicht, und jede darüber hinausgehende ethische Diskussion erweise sich demnach als überflüssig. 2. Notwendige ethische Debatte Diese Antworten reichen nicht aus. Sie stellen das Vertrauen der Bürgerinnen in den anwaltlichen Berufsstand nicht her. Ohne Vertrauen kommen Anwältinnen nicht aus. In der Mandatsbeziehung bestehen krasse Informations- und Machtasymmetrien. Klientinnen müssen der Anwältin einen Vertrauensvorschuss gewähren, denn sie können die Qualität ihrer Arbeit in aller Regel nicht beurteilen. Ohne Vertrauen der Klientinnen ist die Beziehung zur Anwältin beeinträchtigt und der Nerv der täglichen Arbeit betroffen.11 plädoyer 2/10 68_72_Wissenschaft_2 16.4.2010 15:23 Uhr Seite 69 ANWALTSETHIK Es ist deshalb für Anwältinnen nicht nur ethisch geboten, sondern auch (ökonomisch) klug, zur Stabilisierung oder (Wieder-)Herstellung des Bürgervertrauens über Anwaltsethik nachzudenken und diese einzufordern.12 3. Diskussionsstand und Fragestellung In der Schweiz fehlt ein breiter (normativer) Diskurs zur Anwaltsethik. Grundlegend dazu ist sicher der (rechtspsychologische) Sammelband von Ehrenzeller/Ludewig-Kedmi «Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten». Die Perspektive jener Autoren ist aber meist eher beschreibend-empirisch und nicht normativ.13 Ansonsten beschäftigen sich wenige Publikationen mit dem Thema: Schiller geht in seinem Werk «Schweizerisches Anwaltsrecht» knapp auf Berufsrecht und Berufsethik ein.14 Fellmann/Zindel oder Testas Dissertation «Die zivil- und standesrechtlichen Pflichten des Rechtsanwalts gegenüber dem Klienten» gehen dagegen nicht explizit auf ethische Fragen ein.15 Auch die Sichtung etwa der «Anwaltsrevue» und des «plädoyer» der letzten zehn Jahre ergab wenig: die sehr kurze Veröffentlichung von Dürrs «Anwaltsethik im Jahr 2000» und meine eigene Publikation «Anwaltliche Gewinnoptimierung ohne Schranken – eine Replik».16 In Deutschland ist der Diskurs zu Anwaltsethik dagegen sehr rege. Dort existiert der «Arbeitskreis Ethik» des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins; am 60. Anwaltstag fand zum Beispiel eine offene Sitzung dieses Ausschusses zum Thema Berufsethik statt.17 Im «Anwaltsblatt» und in den «Bundesrechtsanwaltskammer-Mitteilungen» finden sich zahlreiche Publikationen zum Thema.18 An der Leibniz Universität Hannover wurde im Sommersemester 2009 ein Seminar zu «Anwalts- plädoyer 2/10 ethik» mit hochkarätigen Gastreferierenden durchgeführt. Che-Yuan Chang dissertierte an der Universität Köln zum Thema «Wirtschaftliche Ethik des Rechtsanwalts».19 Und die Rechtsanwaltskammer Frankfurt a. M. organisierte gar einen Aufsatzwettbewerb zum Thema «Die Ethik des Rechtsanwalts im Beruf – Ist auch in Zukunft an einem gemeinsamen Pflichtenkodex der Rechtsanwälte fest zu halten?».20 Die weit aktivere Debatte in Deutschland prägt daher notgedrungen die folgenden Ausführungen. Es ist nicht Ziel dieser Publikation, eine umfassende «Schweizerische Anwaltsethik» vorzulegen. Ich beschäftige mich ausschliesslich mit der Anwaltsethik in der Mandatsführung. Nicht erörtern werde ich theoretischere Fragestellungen21 oder gar rechtshistorische Fragen zur Anwaltsethik.22 Bei der Mandatsführung scheinen mir drei über die als Berufsrecht im BGFA kodifizierte Berufsethik hinausgehende Aspekte zentral, die sich durchaus in bester «bürgerlicher» Anwaltstradition bewegen; jedenfalls dann, wenn sich die Anwältin in ihrem Beruf nicht nur als Bourgeoise, sondern auch als Citoyenne versteht.23 Ordnet man die Fragestellung dieses Aufsatzes in eine integrative anwaltliche Unternehmensethik ein, so befasst sie sich einzig mit den Geschäftsgrundsätzen und dem «Mission statement» in Bezug auf die Mandatsführung. Die unternehmensethische Dimension ist deshalb zentral, weil Unternehmensstrukturen ethisches Verhalten der einzelnen Anwältin erleichtern, fördern, aber auch erschweren oder gar verhindern können. Neben der Integrität jeder Anwältin braucht es Strukturen, die dies erlauben und möglich machen. Weitgehend vernachlässigt werden vorliegend indessen aus Platzgründen sehr wichtige, praktische anwalts(unternehmens)ethische 1 Die weibliche Form schliesst hier und nachfolgend Männer ein. 2 Vgl. dazu statt vieler Hohler, «Grenzen der Verteidigung», forumpoenale 5/2009, 296ff. bzw. Fellmann/ Zindel, Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2005, 29f. 3 GFK-Vertrauensindex 2009. 4 Salditt, «Grauzonen anwaltlicher Freiheit, kasuistisch betrachtet», BRAK-Mitt. 4/2001, 152ff. 5 von Westphalen, «Fragmentarisches zur Ethik anwaltlichen Handelns», AnwBl 3/2003, 131. 6 Wesel, Risiko Rechtsanwalt, 2001. 7 Vgl. dazu eingehend und überzeugend Schwander, «Erfolgshonorar ohne Zustimmung des Klienten?», ZBJV 8/2009, 582ff.: Das Urteil wurde zum plädoyer-Fehlurteil 2009 gekürt und «liess die Plädoyer-Jury erschaudern», plädoyer 1/10, S. 82. 8 Vgl. den Blog des Juristen und Journalisten Dominique Strebel (Träger des Medienpreises 2009 des Schweizerischen Anwaltsverbandes): http://dominiquestrebel. wordpress. com/2009/08/25/anwaltmusste-man-sein; zudem auch: http://dominiquestrebel.wordpress.com/ 2009/09/17/neues-zum-traumberuf-anwalt. Vgl. weiter auch plädoyer 1/10, S. 82. 9 So beispielsweise Hannappel, NJW, Beilage zu Heft 5/2006, 13ff. 10 BGE 106 Ia 100, insbesondere 105. 11 Dazu etwa «Busse, Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts», AnwBl/1998, 233, oder mit eingehender Begründung Brink/Sauter, «Zur freiwilligen Selbstverpflichtung des Rechtsanwalts: eine institutionenökonomische Analyse», NJW, Beilage zu Heft 5/2006, 4ff., insbesondere 7ff. 12 Ähnlich Brink/Sauter, (FN 13), 10. 13 Ehrenzeller/Ludewig-Kedmi, Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten, 2006. 14 Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Zürich 2009, (9ff.). 15 Fellmann/Zindel, Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2005, 29f.; Testa, Die zivil- und standesrechtliche Pflichten des Rechtsanwalts gegenüber dem Klienten, 2001. 16 Dürr, «Anwaltsethik im Jahr 2000», Anwaltsrevue 11–12/1999, 4; Bernard, «Anwaltliche Gewinnoptimierung ohne Schranken – eine Replik», Anwaltsrevue 11–12, 529ff. 17 Dazu Kallenbach «Alles erlaubt, nur weil es nicht verboten ist?», Bericht über die Veranstaltung des Berufsrechtsausschusses beim 60. Anwaltstag in Braunschweig, AnwBl/2009, 514f. 18 Eine (unvollständige) Bibliografie stelle ich Interessierten auf Mailanfrage gerne zu. 19 Chang, Wirtschaftliche Ethik des Rechtsanwalts, 2003. 20 Publiziert als Beilage zur NJW 5/2006. 21 Vgl. dazu etwa Hellwig, «Das Konzept des anwaltlichen Berufsbildes», AnwBl/2008, 651f., Ignor, «Gedanken zur Berufsethik des Rechtsanwalts», BRAKMitt. 5/2009, 207ff. und Singer, «Zwischen Berufsethos und Kommerz: Eine Frage der Ehre!? Gedanken zur anwaltlichen Berufsethik», AnwBl 6/2009, 393. 22 Vgl. dazu zum Beispiel Kannowski, Anwaltstaktik und Anwaltsethik im Mittelalter, NJW 11/2008, 713ff.; zur schweizerischen Entwicklung des Anwaltsberufs und seines Selbstverständnisses des Mortanges/Pretre, Anwaltsgeschichte der Schweiz, 1998. 69 68_72_Wissenschaft_2 16.4.2010 15:23 Uhr Seite 70 ANWALTSETHIK Themen wie Mitarbeiterführung, Unabhängigkeit von angestellten Anwältinnen, Rechtsform von Anwaltsunternehmen, Honorarpolitik, Werbung oder Akquisition. Insbesondere Vorgaben von Anwaltsunternehmen für ihre angestellten Anwältinnen24 können unter Umständen strukturell Ethikdefizite in der Mandatsführung anlegen und dadurch Anwaltsethik in der Mandatsführung verunmöglichen. III. Anwaltsethik in der Mandatsführung 1. Interessenwahrung a. Vielschichtige Interessenwahrung Anwaltliche Interessenwahrung erscheint auf den ersten Blick weit einfacher als sie oft ist. Kurzfristige und langfristige, finanzielle und immaterielle25 Klienteninteressen können kollidieren. Ein rechtlich optimales Resultat muss nicht gleichzeitig ein gutes Ergebnis im gesamten Lebenskontext der Klientin sein. Um dies abzuschätzen, sind mitunter interdisziplinäre Zusammenarbeit und Grundkenntnisse von Nachbardisziplinen unerlässlich. Bisweilen sind zudem weder für die Klientin noch für die Anwältin die konkreten Risiken eines Falls vorhersehbar. All dies sollte eine gute Anwältin mitberücksichtigen, wenn sie das Für und Wider eines Vergleichs, einer Klageeinleitung, eines Rechtsmittels oder eines Geständnisses mit der Klientin bespricht. Es kommt noch dazu, dass sich gelegentlich die anwaltliche Einschätzung einer optimalen Wahrung der Klienteninteressen nicht mit dem von der Mandantin gewünschten Vorgehen deckt. Manchmal lässt sich diese Differenz auch in ausführlichen Gesprächen nicht bereinigen. Kurz: Anwaltliche Interessenwahrung ist eine vielschichtige Tätigkeit. 70 b. Interessengegensätze bei der Interessenwahrung Interessenwahrung der Klientin ist aber nicht nur vielschichtig, sondern steht zudem oft offen oder latent im Gegensatz zu den persönlichen Interessen der Anwältin. Während sich die Klientin zum Beispiel ein möglichst tiefes Honorar wünscht, möchte die Anwältin gut verdienen. Dem Mandanteninteresse läuft auch zuwider, wenn eine Anwältin aus moralischen Erwägungen oder Angst vor drohendem Reputationsverlust nicht voll hinter der Klientin steht oder nicht motiviert ist, den Fall zu führen. Definitiv zur potenziellen (Verfahrens)Gegnerin ihrer Klientin wird die Anwältin im Zeitpunkt eines juristischen Kunstfehlers. Heikel sind überdies sicher auch finanzielle Klumpenrisiken bei häufiger oder gar überwiegender Mandatszuweisung durch Vermittlerinnen, die gegensätzliche Interessen wie die Klientin haben können. Ein Beispiel dafür sind Rechtsschutzversicherungen. Um ungute Abhängigkeiten zu vermeiden, sind über eine längere Periode betrachtet meines Erachtens Zuweisungen pro Rechtsschutzversicherung im Umfang von maximal zehn bis zwanzig Prozent des Umsatzes einer Kanzlei vertretbar.26 Auch in den Kantonen, in denen Staatsanwälte völlig frei ihre Prozessgegnerin, die Verteidigung, auswählen dürfen, besteht die Gefahr, dass die Anwältin in der Vertretung der Klientinneninteressen gehemmt wird. Die Zürcher Praxis, bei der die Verteidigerin im Untersuchungsverfahren durch ein unabhängiges Büro für amtliche Mandate beziehungsweise durch die Bezirksgerichtspräsidentin eingesetzt wird, wahrt die anwaltliche Unabhängigkeit weit mehr. Verdienstvollerweise plant die Zürcher Staatsanwaltschaft trotz neuer StPO bei der Oberstaatsanwaltschaft künftig ein unabhängi- ges Büro für amtliche Mandate einzurichten, so dass die freie Wahl der Verteidigerin der einzelnen «Front-Staatsanwältin» im konkreten Fall entzogen wird. Auch einzelne, andere Kantone bemühen sich um eine möglichst rechtsstaatskonforme Umsetzung.27 Mir ist das fehlende Sensorium der übrigen Kantonen und des Gesetzgebers der neuen StPO für diese rechtsstaatlich höchst problematische Konstellation darum unverständlich. Sie fördert geradezu Interessengegensätze bei der Interessenwahrung. Eine Sensibilisierung für solche diffizile Interessenkonflikte, die über berufsrechtlich strikt verpönte Interessenkollisionen hinausgehen, ist für jede Anwältin nötig. Unter anderem genau deshalb ist eine hohe persönliche Integrität unabdingbar. Aber bereits schon die Wahrung der klaren Berufsregeln verlangt ein intaktes Ethos; ihre zentrale Leitlinie «Klientenvor Eigeninteresse» konsequent durchzuhalten, ist bisweilen durchaus anspruchsvoll. c. Wider eine naive Wertungsabstinenz Anspruchsvoll ist auch der Umgang mit den eigenen Wertungen. Mit dem Einzug der Hermeneutik als Methode in die Rechtswelt wurde klar, dass sich Rechtsanwenderinnen ihres Vorverständnisses bewusst sein sollten.28 Denn sonst melden sich unberücksichtigte Wertungen und unbewusstes Vorverständnis auf eine andere Weise – etwa in unreflektierter Rechtsanwendung, schlechtem Schlaf, Kompensationsverhalten oder ungenügender Mandatsführung aufgrund eines verdrängten Moraldilemmas.29 So kann zum Beispiel bei einem mündlichen Vortrag die Körpersprache der verbalen Aussage widersprechen und damit das konsequente Einstehen für die Klientin gefährden.30 Dennoch pflegen viele Juristinnen in ihrem Selbstbild eine naive Wertungsabstinenz. «Emotionen sind unter Juristen verpönt. Wie die Sioux-Indianer kennen sie weder Schmerz noch Freude.»31 Juristinnen bekommen in ihrer Ausbildung nach wie vor kein Instrumentarium für einen konstruktiven und offenen Umgang mit ihren Emotionen und Wertungen zur Verfügung gestellt, obwohl sich vieles in ihrem Beruf um emotional heikle Themen dreht. Da bedarf es eines Kulturwandels, in Bezug auf die Anwaltschaft und andere juristische Berufe: vermehrtes persönliches Nachdenken, Gespräche mit Kolleginnen, Coachings/Supervisionen zu ethischen Fragen sollten in den Berufsalltag einfliessen, wie dies in psychosozialen Berufen längst üblich ist. Denn ohne solche Reflexionen ist letztlich die sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung in Gefahr. Deshalb ist nach meinem Dafürhalten die berufsethische Auseinandersetzung aufgrund von Art. 12 lit. a BGFA sogar berufsrechtlich geboten.32 2. Die goldene Regel als Referenz Als einfache erste ethische Richtschnur in der konkreten Begegnung mit den Klientinnen eignet sich die goldene Regel, ins Sprichwort umgesetzt: «Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu.» Dieser Grundsatz gilt sinngemäss weltweit.33 Dabei geht es letztlich darum, die Klientin trotz Informationsasymmetrien und dem daraus resultierendem Machtungleichgewicht als gleichwertigen Mitmenschen zu behandeln und Empathie für sie und ihre konkreten Anliegen aufzubringen.34 Daraus folgt konkret etwa, dass man nur bei genügender zeitlicher Kapazität Fälle annimmt und zudem ausschliesslich dann, wenn die anwaltliche Fachkompetenz bei der konkreten Sach- und Rechtslage plädoyer 2/10 68_72_Wissenschaft_2 16.4.2010 15:23 Uhr Seite 71 ANWALTSETHIK gewährleistet werden kann. Daraus ergibt sich aber beispielsweise auch, unprätentiös und nahbar in der Begegnung zu sein, auf Standesdünkel zu verzichten und Honorare zu verlangen, die man in der Lage der konkreten Mandantin auch als gerechtfertigt ansähe. Ist trotz redlichen Bemühens kein Verständnis für die Lage und das Verhalten der Mandantin aufzubringen, werden Empathie und Einhaltung der goldenen Regel schwierig; oft ist es dann sinnvoller, ein Mandat nicht anzunehmen beziehungsweise niederzulegen. Theoretisch stimmen dem wohl viele Anwältinnen zu. Die praktische Umsetzung ist nicht immer ganz einfach; Druckphasen, schlechte Laune der Anwältin und begriffsstutzige, beratungsresistente oder sonst im Umgang schwierige Klientinnen erweisen sich oft als Hürden. Als Orientierungsgrösse ist die goldene Regel dennoch hilfreich; schon nur, weil sie das Bewusstsein eigener Schwächen und Unzulänglichkeiten fördert. 3. Sinngemässe Übertragung des Ärztegelöbnisses Als eine weitere, sinngemäss auf anwaltliches Handeln anwendbare ethische Bezugsgrösse mag das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes dienen. Es schreibt Ärztinnen vor, alle Patientinnen – egal welcher Herkunft, politischer Zugehörigkeit und konkreten Lebenssituation – gleich zu behandeln, und erteilt weitere strenge Auflagen.35 Unmittelbar ist diese Vorgabe zwar nicht auf anwaltliche Interessenvertretung übertragbar, aber wenigstens sinngemäss. Auch für das Tätigwerden einer Anwältin sollten die soziale Schicht und Herkunft der Klientin nicht allein ausschlaggebend sein36; der Anwaltsberuf erfüllt im Selbstverständnis des bürgerlichen Rechtsstaats eine zentrale Funktion bei der Gerechtigkeitssuche – durch die unbedingte Parteinahme für die Mandantin plädoyer 2/10 und nicht etwa durch Fraternisierung mit den Rechtspflegeorganen als «Diener des Rechts».37 Dadurch unterscheidet sich dieser Beruf grundlegend von anderen Dienstleistungen, die sich nicht mit primären (Rechts)Gütern befassen.38 Daraus ergeben sich besondere Rechte wie das anwaltliche Zeugnisverweigerungsrecht, aber eben auch gewisse Obliegenheiten. Es soll nun keinesfalls der Eindruck entstehen, Anwältinnen dürften kein Geld oder auch gelegentlich nicht relativ viel Geld verdienen; Selbstausbeutung oder Selbstkasteiung sind nicht gefordert. Aber sie sollten sich wegen des erwähnten rechtsstaatlichen Auftrags bei der Annahme eines Mandats nicht nur von ökonomischen Erwägungen leiten lassen.39 Der – durchaus bürgerliche – Rechtsund Sozialphilosophe Otfried Höffe hält dazu fest, ein Anwalt, der sich als «Diener am Recht» und an der Gerechtigkeit empfinde, solle Mandate nicht deshalb ablehnen, weil sie kein hinreichendes Honorar versprächen.40 Auch diese Forderung ist nicht nur aus der anwaltlichen Dienstpflicht bei der Gerechtigkeitssuche, sondern spezifisch für diesen Beruf – wegen seiner Verpflichtung zum Schutz primärer (Rechts)Güter – überdies aus der goldenen Regel ableitbar. Sie steht zudem in bester, wenn auch mancherorts verschütteter Berufstradition, Pflichtmandate anzunehmen und diese gewissenhaft zu führen. Versteht sich die Anwältin in ihrem Beruf nicht nur als Bourgeoise, sondern auch als Citoyenne, nimmt sie diese Pflicht ernst. Das Grundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung soll bekanntlich verbürgen, dass der Zugang zur Justiz nicht nur von der Finanzkraft abhängt und wenigstens eine gewisse Waffengleichheit mit Begüterten hergestellt wird.41 Die «bürgerliche» Anwältin ist dabei sozusagen als 23 Vgl. zu einem weitergehenden «linken» Anwaltsverständnis Meier, «Aussersihler Anwälte: Nachhaltiges Wirken», plädoyer 6/08, insbesondere 12f. Vgl. derselbe dazu ebenfalls, «Wertekonflikte von Rechtsanwälten und Richtern«, insbesondere 77 bis und mit 85, im oben erwähnten von Ehrenzeller/LudewigKedmi herausgegebenen Sammelband. 24 Gerade auch unter diesem Gesichtspunkt sind beispielsweise Anwalts-AGs durchaus kritisch zu betrachten, wie Sträuli, «Auf dem Weg zu alten Solothurner Zuständen», plädoyer 6/08, 20ff., völlig zu Recht anmerkt. 25 Vgl. dazu Petermann, «Zivilprozess und psychische Belastung», ZZZ, 2004, Sonderdruck, 443ff. 26 Als nicht nachvollziehbar erachte ich deshalb die Forderung nach einer Aufweichung des Anwaltsmonopols zugunsten angestellter Rechtsschutzversicherungsanwältinnen von Küng/Schoch, «Anwaltsmonopol als Sperrzone für Rechtsschutzversicherungen?», Anwaltsrevue 4/2009, 180. Interessenkonflikte zwischen angestellter Versicherungsanwältin und Mandanteninteresse wären vorprogrammiert. Ich pflichte deshalb Stoessel, «Rechtsschutzversicherung und Anwaltsmonopol – eine Entgegnung», Anwaltsrevue 10/2009, 472ff., bei. 27 VGL. Müller, «Unabhängige Verteidigung in Frage gestellt», plädoyer 1/10, S. 6f. 28 Vgl. einführend Rüthers, Rechtstheorie, 1999, 92ff., oder Mastronardi, Juristisches Denken, 2003, 29ff.; grundlegend Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970. 29 Vgl. dazu Ludewig-Kedmi, «Berufsschwierigkeiten und Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten. Ergebnisse einer Pilotstudie», 105ff. sowie dieselbe, «Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsversuche von Richtern aus psychologischer Sicht«, 9ff., insbesondere 28ff., beides in dem oben erwähnten von ihr mit herausgegebenen Sammelband. 30 Konsequent ist deshalb Daniel Vischer, der als Verteidiger die Wahrheit gar nicht wissen will (vgl. das Porträt in Glaus/Lüönd, Läufer, Mietmaul, König. Anwälte an der Schnittstelle von Recht und Macht, 2005, 287ff.). 31 Haft, Juristische Rhetorik, 1999, 168. 32 Die Standardwerke zum schweizerischen Anwaltsrecht Fellmann/Zindel, (FN 4), 102ff. und Schiller, (FN 16), 9ff. und 360ff., machen keine entsprechenden Ausführungen, die meine These stützen würden; Schiller ist – wenn ich ihn richtig verstehe – sogar dezidiert anderer Meinung (a.a.O., insbesondere 9ff.). Meiner Auffassung schon näher ist der deutsche Kommentar von Feuerich/Weyland, «Bundesrechtsanwaltsordnung», 2008, Rn. 5 zu § 2, der von einer besonderen ethischen Verpflichtung der sogenannten freien Berufe spricht und damit in den rechtlichen Begriff «Freie Berufe» einen Verweis über das Recht hinaus auf die Ethik legt. 33 Vgl. statt vieler: Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, 2001, 327. Eine gute Einführung zu diesem Grundsatz findet sich auf http://de.wikipedia. org/wiki/Goldene_Regel. 34 Vgl. dazu Stieger Gmür, «Empathie als Schlüssel zur guten Klientenbeziehung», Anwaltsrevue 8/2009, 380ff. 35 Vgl. dazu: http://de.wikipedia.org/ wiki/Genfer_ Deklaration_des_Welt%C3%A4rztebundes. 71 68_72_Wissenschaft_2 16.4.2010 15:23 Uhr Seite 72 ANWALTSETHIK Brückenbauerin zwischen Mitbürgerin und Justiz gefordert. Struktur und Honorarpolitik vieler Kanzleien sowie ein selbst gewähltes betriebswirtschaftliches Korsett beschränken ihren Handlungsspielraum; sie schliessen viele KMUs, breite soziale Schichten und die meisten Migrantinnen von ihren Dienstleistungen faktisch aus. Der Anwaltsmarkt ist zunehmend segmentiert. Viele Anwältinnen führen unter einem Stundenansatz von 300, 350 oder 500 Franken kein Mandat und schon gar nicht solche unentgeltlicher Rechtsverbeiständung; auch gelegentliche, nicht kostendeckende aussergerichtliche Beratung leisten sie nicht. Zentrale Orientierungsgrösse ihrer Tätigkeit ist der maximal erzielbare Marktpreis und die Ertragsoptimierung. Mein Postulat läuft der zunehmenden Kommerzialisierung des Anwaltsberufs diametral entgegen.42 Die regelmässig sehr hohen Honorare vieler Kanzleien, ohne die Bereitschaft zur Ausnahme, und Konstellationen wie im oben zitierten Bundesgerichtsentscheid43 diskreditieren letztlich den Berufsstand und reduzieren ihn auf ein simples, ausschliesslich profitorientiertes Dienstleistungsgewerbe. Deutsche Juristinnen befürchten teilweise heute schon, dass sich ohne eine breit im Berufsstand abgestützte Wahrnehmung der anwaltlichen Obliegenheiten – beispielsweise für Bedürftige – mittelfristig die beruflichen Privilegien nicht rechtfertigen und erhalten lassen. Denn diese seien sich stets aufs Neue durch Einhaltung des «bürgerlich»-rechtsstaatlichen Auftrags zu verdienen.44 IV. Eine Art Zwischenfazit Für die anwaltsethische Mandatsführung reicht es nicht aus, sich bloss der kodifizierten Ethik des Berufsrechts und der einseitig- 72 konsequenten Interessenwahrung ohne zusätzliche Reflexion verpflichtet zu fühlen. Eine Sensibilität für die Vielschichtigkeit und die offenen oder latenten Interessengegensätze in der anwaltlichen Interessenwahrung ist über das Berufsrecht hinaus nötig. Diese Forderung dürfte sich durchaus noch im Rahmen einer guten anwaltlichen Tradition bewegen. Einen Traditionsbruch markiert dagegen die da vertretene Auffassung wider eine naive Wertungsabstinenz, verbunden mit der Forderung, sich seiner persönlichen Haltungen bewusst zu sein oder sich wenigstens darum zu bemühen. Dies ist für eine sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung nötig. Zugespitzt ausgedrückt ist Nachdenken über Berufsethik und die eigenen Wertungen sogar berufsrechtlich geboten. Ich befürworte die sinngemässe Übertragung des Genfer Gelöbnisses des Weltärztebundes auf die Grundsätze der anwaltlichen Berufsausübung. Bemühten sich alle Anwältinnen redlich darum, würde das Vertrauen in den Berufsstand wohl nicht voll, aber weitgehend hergestellt. Ohne Einhaltung dieser Regeln von möglichst vielen, am besten allen Anwältinnen wird das Berufsimage aber sicher weiterhin angekratzt bleiben und viele Anwältinnen werden auch in Zukunft ihrem Auftrag nicht oder nur partiell nachkommen. Ob dies mittelfristig Folgen zeitigt, und wenn ja welche, ist schwer abschätzbar. Eine ungeschönte Diskussion darüber tut not. Meine Schlussfolgerung für die juristischen Berufsverbände: Sinnvoll wäre eine «Arbeitsgruppe anwaltliche Berufsethik», unter anderem mit Supervisions- und Coaching-Angeboten von erfahrenen Kolleginnen für junge Anwältinnen. Zudem fände ich es begrüssenswert, vermehrt Berufsethik zum Gegenstand der Aus- und Fortbildung zu machen.45 36 Vorbildlich deshalb das Credo der Zürcher Rechtsauskunft Anwaltskollektiv www.anwaltskollektiv.ch/ wer_sind_wir.php. 37 Vgl. dazu grundlegend BGE 106 Ia 105. Zur Notwendigkeit von Rechtsbeiständen als Zugangsgarantinnen zum Recht, Schiller, (FN 14), 2ff. und 7ff. Eingehend zum Ganzen, aber auch zu den Schranken der unbedingten Interessenwahrung Fellmann/Zindel, (FN 4), 124 und 126ff. 38 Ähnlich der deutsche Kommentar von Feuerich/ Weyland, (FN 34), Rn. 5 zu § 2, der von einer besonderen ethischen Verpflichtung «freier Berufe» ausgeht, weil sich diese mit elementaren (Rechts) Gütern befassen. 39 Vgl. dazu auch das Interview mit Wolf in der Zeitschrift Anwaltsreport 4/2009, 9f., der ebenfalls versucht, das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes auf die Anwaltschaft zu übertragen. 40 Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, 1988, 22. 41 Dazu prägnant Müller/Schefer, Grundrechte in der Schweiz, 4. A, 893ff. 42 Dazu Ziffer I, zudem statt vieler für die deutsche Diskussion Hellwig, «Anwaltsethos – Lehren aus der Finanzkrise», AnwBl. 7/2009, 465ff., Singer, (FN 23), 393ff., Schmid: «Juristische Marktschreierei», Editorial NJW 27/2009 oder Henssler, «Die Anwaltschaft zwischen Berufsethos und Kommerz», AnwBl 11/2008, 721. Vgl. ausserdem die prominente Stellung der anwaltsbetriebswirtschaftlichen Fragestellungen mit dem Blickwinkel auf Ertragsoptimierung in den letzten Jahren in der Anwaltsrevue oder im Rahmen des Anwaltskongresses 2009. 43 BGE 135 II 259. 44 Vgl. dazu statt vieler Knopp, «Die Ethik des Rechtsanwalts», BRAK-Magazin 1/2005, 11. 45 Diese Auffassung vertritt ebenfalls Hellwig, (FN 44), 465ff.; ähnlich auch Bradshaw, Thesen, in NJW 5/2006, 27. plädoyer 2/10