Bewegt. Für Helmut Lachenmann. von Wolfgang Rihm Gestern im Konzert spielte das Ensemble Modern Helmut Lachenmanns Mouvement ( - vor der Erstarrung - ), ein Stück, das mich stark und seltsam anrührte. Es ist etwas geschehen, eine Umwertung erfahrbar: Mittel, denen das Zeichen des Gegen-Aktes aufgeprägt war (wie, bzw. meistens nicht von den Komponisten, oft, bzw. fast immer von den Rezensenten aufgeprägt) erwiesen sich als Zeichen gelassener, ja überlegen entspannter Gestaltung. Sie erwiesen sich erneut als Gegenzeichen, gegen die eigene Verfestigung, gegen ihre Einordnung ins Repertoire der eindeutig besetzten Vokabeln. Musik derartiger Helle (blitzartig: "Jeux" und "Sommernachtstraum") war bisher jm Tonfall zeitgenössischer Musik unbekannt. Mir unbekannt. Es ist aber eine schneidende Helle, wie sie metallisch aus einigen Schönberg-Partituren bekannt ist (Suite op. 29, Oper Von Heute auf Morgen), in diesem Punkt müßte ich den Eindruck des Entspannten, der sicher durch meine eigene Unentspanntheit verstärkt ist, modifizieren bzw. gegen jenes Schlaksige, Laxe, Unverbindliche abgrenzen, das heute im Begriff Entspannung mitschlottert. Es ist in diesem Mouvement eine Bewegung vernehmbar, die ich so zu umschreiben versuche: Feuer im Eis, oder besser: Feuer aus Eis. Schon wieder knackt es schwer im Vorstellungsgebäude "entspannt - gelassen - hell". Ich muß, indem ich mir widerspreche, daran festhalten. Die Klassizität des Ablaufs stärkt den Eindruck: Aus der Verfügung über die Mittel (die bei H. L. ja offensichtlicher als bei anderen, mich eingeschlossen, s e i n e , seine eigenen Mittel sind) entsteht hier eine Problemlosigkeit der zweiten Art; die Virtuosität der ausgestrichenen Virtuosität erschöpft sich nicht in mahnender Gebärde, sondern legt etwas offen, das jeder großen Kunst innewohnt: das Spiel. Wie furchtbar auch der Pfiff, die Weise klingen mag, die auf dem Knochen, der zur Flöte wird, "gespielt" werden kann -auch die Skelette Ensors haben etwas Heiteres, wenn sie so um einen Ofen stehen und sich wärmen. Die Beglückung, die von kritischer Kunst ausgehen kann, mag vom Komponisten, der sich und seine Sprache vor der Erstarrung erlebt und Sprache und Selbst nicht dem Lamento überläßt, sondern weitertreibt und -zwingt, diese dennoch am Entstandenen wahrnehmbare Beglückung mag vom Autor schockhaft erfahren worden sein, Schritt ins Unangemessene (nicht: ins Verbotene, denn dieses gibt es nicht in der Kunst, es wird immer nur von Mediokrität und Kunstgewerbe beschworen als Ausweis, dürftig aber dennoch Kunst zu sein). Die Dichte dieses Mouvement und die Selbstverständlichkeit, mit der die Erstarrung sich davonläuft, indem sie sich nennt, gehören zum Aufregendsten. das mir in letzter Zeit an musikalischer Kunst begegnete. Es ist wie bei jenem Psychologie-Gemeinplatz: durch Aussprechen des Übels dieses zu bannen - die ausformulierte Erstarrung führt ohne Pathos und Trotz zu einer Beweglichkeit, einem Richtungsreichtum (die Farben dieser Erstarrung!), einer Gestaltfülle, die ich gerade in ihrer untragischen Erscheinungsart bewundere, hatte doch die Titelhälfte ( - vor der Erstarrung) das Ohr beinahe "falsch" gerichtet, also "richtig" im Sinne einer Dramaturgie der Umwertung. Komponieren ist aber nicht nur strategischer Umgang mit Klang, Sprache und Selbst, sondern auch ein Vorgang zwanghafter Art. Das ist nicht meine Privat-Erfahrung, es ist - je nach dem verunsichernde oder bekräftigende - Empirie: keiner verläßt sich beim Komponieren, immer drückt sich der Körper im Werk, in der "Schrift" (hier nicht: Handschrift, sondern Schrift des künstlerichen Prozesses, Schrift des Werkes ...) ab (nicht aus!) und unsere Sprach- und Bewegungsformen gleichen denen unserer physischen Präsenz. Das ist kein Mangel, es ist eine menschliche Eigenart: nach dem eigenen Bild zu formen. Auch unsere Imagination ist nicht etwa deswegen begrenzt, weil sie zur Ausbildung unserer Inbilder führt. Mouvement ( - vor der Erstarrung) hat mich mit einer kompositorischen Realität konfrontiert, die mich reizt, durchaus unbehaglich: Höchste Anspannung, ohne expressive Gebärde ist da realisiert, Gelöstheit ohne die geringste Aufgabe von Bindung, Phantasie der Strenge, fast kindliche Folgerichtigkeit, Logik der eigengesetzlichen Kraft. Natürlich bin ich jetzt mitten in der ausweglosen Konzertkritikersituation: Unsagbares aufzuschreiben, wodurch es in Gefahr kommt, Unsägliches zu werden. Aber ich glaube, wir verstehen uns (wer sind "wir"?): Ich bin aufgekratzt durch dieses Stück Musik. Gerade wie es so gar keine Anstrengung unternimmt, "zu Herzen" zu gehen - es rührt mich tief. Auf die Gefahr hin, von keinem verstanden zu werden: Das Stück hat Rossini'sche Härte, stellt Bleiwürfel auf die Beine eines Weberknechts, nimmt dem Wind die Luft und ist mit einer Klugheit gemacht, die es eigentlich nicht (mehr) gibt. Ein Erlebnis völlig anderer Art (aber vergleichbar in der Art, wie es mich "angeht") hatte ich vor ein paar Wochen in Venedig: Luigi Nonos "Prometeo". Natürlich, eine andere Welt, aber auch eine neue, in die es mich zieht, deren Geistigkeit nicht Nachahmung erheischt, sondern Auseinandersetzung und Ausprägung des eigenen Eigenen. Das wird oft vergessen: die größten Kunstwerke sind nicht die, an denen man klebt und deren Schatten uns vielfältig gestanzt in anderen Werken wiederbegegnet, sondern jene, die wir getrost verlassen können, die auch aus weitester Entfernung sichtbar bleiben, die wir nicht verwechseln und mit ihrem Schatten vertauschen: es gibt sie nur einmal und sie leuchten selbst, sind schattenlos. Mouvement hörend und darüber schreibend konnte ich eigene Erstarrung erkennen und erschüttern. Dank Deiner Bewegung, Helmut! (aus: MusikTexte, Heft 9, Februar 1985)