Demokratie als Staatsschauspiel, in

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Andreas Fisahn
DEMOKRATIE ALS STAATSSCHAUSPIEL
I. Prolog: Die SPD bekennt sich im Entwurf des Bremer Grundsatzprogramms ohne wenn und
aber (wie die übliche Floskel lautet) zum Staat der Bundesrepublik. 1958 - vor der
Verabschiedung des Godesberger Programms - schrieb Wolfgang Abendroth der SPD ins
Stammbuch: Die Sozialdemokratie bedarf "illusionsloser Vorstellungen über die
Notwendigkeit und die Mittel zur Verteidigung der Reste demokratischer Möglichkeiten und
zur Erkämpfung der politischen Demokratie. Einen solchen strategischen Plan durch klare
Analysen der Rolle und des Wesens der Staatsgewalt zu liefern - das (und nicht
'geisteswissenschaftliche` Spekulation) ist die Aufgabe eines
Parteiprogramms."(Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, S.134) Daß dieser Appell auch
heute noch aktuell ist, daß die SPD auch im Bremer Programm keine Analyse und Konzeption
entwickelte, wurde in dieser Zeitschrift (vgl. Sozialist 4/89) bereits dargestellt. Hier soll es
darum gehen, ausgehend von in der linken Staats- und Rechtstheorie entwickelten Analysen
und Strategien sozialistische Ansprüche an den Demokratieteil eines Programms zu
entwickeln.
II. Exposition: (1) Ausgangspunkt der Diskussion soll die "klassische" Vorstellung von
Demokratie sein, die schlicht Selbstregierung des Volkes bedeutet. Das richtet sich gegen alle
durchsichtig apologetischen Umdefinitionen von Demokratie, nach denen - um nur zwei
Beispiele zu nennen - schon das Wahlrecht für eine größtmögliche Zahl von Bürgern oder der
effektivste Modus eines auf festgesetzten Regeln basierenden Verfahrens als Demokratie
bezeichnet wird. Demokratie in ihrer klassischen Bedeutung ist in ihrem Ausgangspunkt
individualistisch auf den freien Willen des oder der Einzelnen gegründet, gleichzeitig der
Intention nach aber kollektivistisch, da die Vielzahl der einzelnen Willen zu einem
Allgemeinwillen vereint werden soll, politische Einheit hergestellt werden muß.
Daraus ergibt sich eine Problemlage, auf die Demokratietheorien eine Antwort gesucht haben;
nämlich, wie kann aus der Vielzahl der egoistischen Einzelwillen, der Sonderinteressen ein
allgemeiner Wille (der volonté générale Rousseaus)im Sinne des vernünftigen
Allgemeininteresses gebildet werden, oder die Frage anders gestellt: wie können die
vernünftigen Interessen des Citoyen gegen diejenigen des egoistischen Bourgeois
abgeschottet und durchgesetzt werden? Die demokratische Antwort auf dieses Problem - die
nicht wie z.B. Hegel metaphysisch verbrämt die vernünftige Einheit beim Monarchen
voraussetzt - fordert die Herstellung ungefähr gleicher Voraussetzungen bei den Individuen
oder die Ausschaltung antagonistischer Interessenlagen an, so daß "alle über alle das Gleiche
beschließen." Rousseau entwirft seine Vision der Demokratie unter der Voraussetzung einer
Gesellschaft, die durch eine egalitäre Eigentumsstruktur oder aber durch gemeinschaftliches
Eigentum, also durch die politische und soziale Gleichheit der Bürger gekennzeichnet ist.
Marx hat schon in seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts gleichzeitig die Notwendigkeit
der Demokratie betont wie deren Probleme in der Bürgerlichen Gesellschaft, gekennzeichnet
durch den Dualismus von Staat und Gesellschaft, die Besonderung des Staatsapparats als von
der Gesellschaft getrenntem politischem Herrschaftsmittel, gesehen. Marx entwickelte daraus,
daß die Bedingung für die Aufhebung dieses Dualismus, für die Rücknahme des Staats in die
Gesellschaft die Aufhebung des Privateigentums, die Vergesellschaftung der
Produktionsmittel sei, auf deren Grundlage durch eine freie Assoziation der Produzenten an
die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen die Verwaltung von Sachen treten
könne. Die freie Entfaltung eines jeden, formulieren Marx und Engels im kommunistischen
Manifest, ist die Bedingung für die freie Entfaltung aller. Freiheit und Gleichheit sind so in
der Bestimmung der Selbstregierung des Volkes aufgehoben.
(2) In den staatstheoretischen Analysen des Niedergangs der Weimarer Republik wurde das
Problem der politischen Demokratie und des Rechtsstaats auf der Grundlage einer
klassengespaltenen, antagonistischen Gesellschaftsstruktur erneut diskutiert und von Autoren
wie Leibholz, Heller, Kirchheimer und Neumann "soziale Homogenität" als Voraussetzung
der Demokratie postuliert. Kirchheimer und Neumann analysierten den Substanzverlust der
parlamentarischen Prärogative, die Entmachtung des Parlaments durch Justiz und Bürokratie.
Der Rechtsstaat, verstanden als Herrschaft des allgemeinen Gesetzes, der auch die Exekutive
und Jurisdiktion unterworfen sind, wandelte seine Funktion von der Machtkontrolle der
Exekutive im Kaiserreich zunächst zur Machtbeschränkung des Parlaments, um schließlich
vollständig beseitigt zu werden, so daß im Nationalsozialismus nichts blieb, was als "Recht"
zu charakterisieren gewesen wäre. Als wesentliche Bedingungen dieser Entwicklung nennt
Neumann: "Wenn Abgeordnete einer progressiven Massenpartei gewählt werden und die
Gefahr besteht, daß sie die Legislative zu einer Institution für tiefgreifende soziale
Veränderungen verwandeln, dann entstehen unweigerlich antiparlamentarische Tendenzen in
der einen oder anderen Form."(Behemoth,S.49) Träger dieser Entwicklung waren die "alten"
Eliten in Industrie, Bürokratie, Justiz und Armee. Weitere objektive Bedingungen der
Aushöhlung des Rechtsstaats sehen Neumann und Kirchheimer in den sozio-ökonomischen
Veränderungen in Form der Machtkonzentration bei den oligopolistisch und monopolistischen
Kapitalen und dem größeren Staatsinterventionismus, die den modus vivendi der
kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, die Herrschaft des allgemeinen Gesetzes, obsolet
erscheinen ließen.
(3) Die linke staats- und rechstheoretische Analyse der Entwicklung der Bundesrepublik war
stark an die in der Weimarer Republik entwickelten Theoreme angelehnt. Wolfgang
Abendroth, einer der wenigen, die in den Anfängen des bundesdeutschen Staates eine an
Marx orientierte Rechts- und Staatstheorie entwickelten, verteidigte früh den
emanzipatorischen Gehalt des Begriffs "sozialer und demokratischer Rechtsstaat" des
Grundgesetzes gegen eine konservative Interpretation, die ihn zur verfassungsrechtlichen
Absicherung des Status quo verdrehte, indem er anknüpfend an Hellers
Sozialstaatskonzeption die Ausweitung demokratischer Entscheidungsstrukturen auf die
Wirtschafts- und Sozialordnung postulierte. Der Staats der Bundesrepublik sei aufgrund der
Sozialstaatsbestimmung des GG verpflichtet, eine "angemessene Sozialordnung" zu schaffen,
was eine normative Absage an die liberale Vorstellung des Rechtsstaates bedeute, nach der
sich Gerechtigkeit durch das freie Spiel der Kräfte in der Gesellschaft von selbst herstelle, die
außerdem längst durch den (ökonomisch) interventionistischen Staat illusionär geworden war.
Da die Inhaltsbestimmung des sozialen Rechtsstaats zwischen verschiedenen sozialen
Gruppen oder Klassen streitig war, folgerte Abendroth, "daß die Stellung des
Sozialstaatsgedanken im Rechtsgrundsatz der demokratischen und sozialen
Rechtsstaatlichkeit darauf angelegt ist, den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie
auf die Wirtschafts- und Sozialordnung und auf das kulturelle Leben auszudehnen, um von
hier aus dem Sozialstaatsgedanken konkreten Inhalt zu verleihen."(Antagonistische
Gesellschaft und pol. Demokratie, S.122) Desgleichen verlange die Konzentration
wirtschaftlicher Machtpositionen, die als "indirekte Gewalt" über den Staat wirksam und
damit zur politischen Herrschaft wird, die Verbindung von Sozialstaat und Demokratie als
Demokratisierung der Gesellschaft. Schließlich bestehe die Gefahr, daß der Widerspruch
zwischen formal-demokratischer politischer Macht und nicht demokratisch legitimierter
ökonomischer Macht in Krisenperioden dazu führt,daß die demokratische Willensbildung
auch im Staat ausgeschaltet wird, was nicht nur "die Aufhebung der Demokratie, sondern
ebenso die Beseitigung jeder Form der Rechtsstaatlichkeit" bedeute.(aaO.,S.124) Abendroth
analysiert die Entwicklung der Bundesrepublik als Prozeß der Restauration, in dem der
Klassenkompromiß, der im Bonner Grundgesetz festgeschrieben war, reaktionär
zurückgenommen wird. Er konstatiert eine Tendenz zur Aushöhlung der demokratischen
parlamentarischen Regeln und der Legalität des Rechtsstaats und warnt vor dem Übergang zu
einem autoritären oder faschistischem Regime. Alternativ zum Entwurf des Godesberger
Programms formulierte Abendroth deshalb: "Die Sozialdemokratie ist sich bewußt, ... daß die
Gefahr obrigkeitsstaatlicher Aushöhlung und faschistischer Vernichtung der demokratischen
Institutionen der geltenden Verfassung nur abgewendet werden kann, wenn in ständigem
zähem Ringen der Bereich der demokratischen Selbstverwaltung in allen Organisationen der
öffentlichen Verwaltung - vor allem auch in den Kommunen, den Kommunalverbände und
den Ländern - ständig gegenüber dem Bereich obrigkeitsstaatlicher bürokratischer
Verwaltung vergrößert wird, wenn die Machtstellung der Parlamente gegenüber der
Regierungsgewalt, die Macht der demokratisch organisierten Parteien gegenüber ihren
parlamentarischen Repräsentanten, der Einfluß und die Diskussionsbereitschaft der
Mitgliedschaft innerhalb der Parteien gegenüber ihren Bürokratien und Leitungen ... gestärkt
wird, ... vor allem aber, wenn das Gewicht der breitesten demokratischen Massenverbände,
der gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeitnehmer, der genossenschaftlichen
Zusammenschlüsse der Konsumenten und Kleinproduzenten und der Vereinigungen der
sozial Geschädigten gegenüber dem undemokratischen Druck des Finanzkapitals auf Staat,
bürgerliche Parteien und Verwaltung vergrößert wird."(aaO.,S.415)
III. Peripethie: (1) Die Entwicklung der Bundesrepublik ist anders verlaufen. Es gab weder
eine umfassende Demokratisierung aller Lebensbereiche , noch wurden Rechtsstaat und
formal-demokratische Spielregeln vollständig beseitigt und durch einen neuen Faschismus
ersetzt. Tatsächlich entwickelte sich in der Bundesrepublik ein Modell korporativistischer
Demokratie auf konsensualer Grundlage, das gleichzeitig einerseits systemkonforme
Verteilungskämpfe und Interessenvertretung als Kompromiß zwischen den Verbänden und
Machtgruppen zuläßt und andererseits den Status quo einer kapitalistisch organisierten
Gesellschaftsordnung als Konsens unterstellt und gegen antikapitalistische Potentiale sowohl
abschottet wie repressiv schützt.
Auf der Grundlage einer bis Anfang der 70'er Jahre weitgehend ungebrochenen
ökonomischen Prosperität mit einer bisher unbekannten Wohlstandsproduktion, die den
Massenkonsum zur Bedingung einer "angemessenen" Profitentwicklung werden ließ, konnten
sich im Bereich der Verteilungssphäre, d.h. für die Modi der Verteilung des auf
privatkapitalistischer Grundlage erwirtschafteten Sozialprodukts, Formen der korporativen
Interessenvertretung entwickeln. Gestalt und Inhalt des Sozialstaat Bundesrepublik wurde
konzertiert zwischen den Vertretern von Kapital, Arbeit und der Staatsbürokratie
ausgehandelt, d.h. weitgehend als Kompromiß installiert. Die Funktionsweise der Demokratie
unterlag so einem entscheidendem Wandel, von einer in der theoretischen Begründung
individualistischen Legitimation von staatlichem Zwang, von politischer Herrschaft, wurde
sie zu einer Verbändedemokratie, in der nicht Individuen sondern Gruppen und Verbände die
Protagonisten der politischen Demokratie sind. Dadurch änderte sich auch das Wesen der
(parlamentarischen) Repräsentation. An die Stelle der Repräsentation des ganzen Volkes, des
Allgemeinwillens, ist - in Anerkennung von antagonistischen oder zumindest pluralistische
Interessenlagen - die Repräsentation von Spezialinteressen getreten. Der "endgültige Sieg der
Repräsentation von Sonderinteressen über die politische Repräsentation ist der Typus von
Verhältnis, der sich in der Mehrheit der europäischen Staaten zwischen den großen
entgegengesetzten Interessengruppen (den Repräsentanten der Unternehmer bzw. der
Arbeiter) und dem Parlament herausgebildet hat: ein Verhältnis, das zu jenem neuen System
gesellschaftlicher Regulierung führte, das man zu Recht oder zu Unrecht neokorporativistisch
genannt hat. Für dieses System charakteristisch ist ein Dreiecksverhältnis, in dem die
Regierung ... nur noch als Vermittler zwischen den gesellschaftlichen Grupppen interveniert
sowie allerhöchstens noch als Garant für die Einhaltung der geschlossenen Abkommen" dient.
(Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, S.17) Keiner näheren Erörterung bedarf die Tatsache,
daß sich in einer solcherart korporativen Demokratie der demokratische Gleichheitsgedanke one wo/man, one vote - nur sehr indirekt darstellt, da sich das machtpolitische Gewicht der
am Kompromiß beteiligten Verbände nicht demokratisch über die Anzahl der Stimmen
bestimmt. Nichts desto trotz wurden auf diese Weise sowohl die formal-demokratischen
Regeln als auch rechtsstaatliche Legalität stabilisiert. Es wurde ebenso eine politische
Integration durch demokratische Beteiligungsmöglichkeiten innerhalb der korporativen
Demokratie wie eine soziale Integration durch den sich entwickelnden Sozialstaat erreicht,
innerhalb dessen Interessengegensätze - wenn auch an der Oberfläche - harmonisiert wurden
und die Perspektive sozialer Egalität offen schien. Auf dieser Grundlage konnte der berühmte
"demokratische Konsens" entstehen, der die privat-kapitalistische Produktionsweise und
ungleiche Macht- und Eigentumsverteilung als gegebene Strukturprinzipien der
Gesellschaftsordnung beinhaltet und Voraussetzung der Kompromisse innerhalb der
Verteilungssphäre ist.
(2) Obwohl ein solcher Konsens, den öffentlichen Diskurs dominierend, die Stabilität des
Status quo politisch weitgehend sicherte, wurde dieser gegen die Systemlogik übersteigende
Potentiale auch bürokratisch und repressiv abgesichert. Kennzeichnend für eine solche
bürokratische Abschottung ist die Machtverlagerung von den Parlamenten auf die
bürokratischen Apparate, die längst nicht mehr nur exekutiv, d.h. die parlamentarischen
Beschlüsse ausführend, tätig werden, sondern deren Aktivitäten mit Mühe und Not von den
Parlamentariern nachvollzogen und kontrolliert werden können. Gesetzesvorhaben und
Beschlußvorlagen kommen nicht "aus der Mitte der Abgeordneten", sondern werden von sog.
Experten und Fachleuten in den Bürokratien entwickelt und von den Parlamentariern und
Regierungsfraktionen abgesegnet. Nicht nur in der Kommune sind die Volksvertreter als
Laien den besser informierten Profis der Verwaltung hoffnungslos unterlegen. Gleichzeitig
werden die staatlichen Entscheidungsebenen zentralisiert, d.h. Kommunal- und
Länderparlamente verlieren gegenüber dem Bund erheblich an Entscheidungsspielraum.
Markantestes Phänomen ist die chronische Finanznot der Kommunen, die gestaltende,
innovative Politik fast unmöglich macht, und die Tatsache, daß selbst in den Zentralbereichen
der Länderhoheit, Bildungspolitik und Polizei, bundeseinheitliche Vereinbarungen und
Gesetzesmusterentwürfe den Handlungsrahmen abstecken. Der Föderalismus verliert seine
Funktion als vertikale Machtbalance und degeneriert zum Mittel parteipolitischer
Verzögerungs- oder Verhinderungstaktik. Max Adler sprach resümierend von der "Entartung
der Demokratie durch Entstehung einer berufsmäßigen Kaste von öffentlichen Funktionären
und ihre Verwandlung aus einer Organisation der Selbstbestimmung des Volkes zu einem
Instrument seiner Beherrschung durch diese Kaste." (Die Staatsauffassung des Marxismus,
S.177) Auch der interne Aufbau der Allerweltsparteien ist durch die Vorherrschaft des
Apparats gekennzeichnet. Nur in Ausnahmesituationen (z.B. "Nachrüstung") erfolgt die
Willensbildung in einem langwierigen Prozeß von unten nach oben. Die Normalität, der nach
"Geschlossenheit" schreienden veröffentlichten Meinung angepaßt, ist durch zentralisierte
Entscheidungen und generalstabsmäßige Politikplanung gekennzeichnet, nähert sich dem
technischen Ideal einer reibungslos funktionierenden Maschine. Weit entfernt vom offenen
demokratischen Diskurs werden einfache Parteimitglieder, selbst Mandatsträger als
Transmissionsriemen und Werbeträger der Partei eingeplant.
Der Rechtsstaat hatte in seiner klassischen Konzeption die Funktion der inhaltlichen Bindung
der exekutiven und rechtsprechenden Gewalt, womit eine ethische Minimalbedingung
staatlichen Handelns impliziert war, nämlich die Gleichbehandlung aller Bürger und
Bürgerinnen, und staatlicher Zwang kalkulierbar wurde. Unterminiert wird diese Funktion
durch die Dominanz von Generalklauseln und Maßnahmegesetzen. Die inhaltliche
Bestimmung der Generalklauseln erfolgt durch die Verwaltung und die Gerichte, wobei im
Rahmen korporativer Demokratie weitgehend ein Interessenausgleich versucht wird. Letztlich
ist es aber möglich auf diese Weise fortschrittliche Gesetzgebung zu kanalisieren, den Status
quo gegen Veränderungen abzuschotten und dieses nicht nur weil sich die herrschenden
mächtigen Gruppen durchsetzen können, sondern auch weil die Gerichte und Verwaltungen
selbst "staatstragend" zusammengesetzt sind, elitär rekrutiert werden oder zumindest der
Mehrheit einen opportunistischen Korpsgeist abnötigen. Die letzte Bastion der bestehenden
Verhältnisse ist das Bundesverfassungsgericht, das sich über seine Interpretation des
Grundgesetzes als Werteordnung die Möglichkeit zu politischen Kurskorrekturen
offengehalten hat. Fast vollständig unabhängig von "demokratischen Unwägbarkeiten"
werden die Entscheidungen im europäischen Rahmen getroffen.
Die Mechanismen der politischen Repression sollen hier nicht in epischer Breite erörtert
werden. Es sei nur darauf hingewiesen, daß sie nicht als lineare Entwicklung sich stetig
verschärfender Repression interpretiert werden kann, richtiger scheint es, sie als Strategie der
flexible response zu kennzeichnen. Wurde bei der Verabschiedung der Notstandsgesetze noch
von dem Einsatz militärischer Einheiten gegen Widerstandspotentiale ausgegangen, zeigt die
Entwicklung des Ausbaus und der Effektivierung polizeilicher Truppen und der
Geheimdienste, daß real andere Formen "geeigneter" waren. Der Berufsverbotebeschluß von
1972 intendierte, die Mitglieder der - erst vier Jahre vorher wieder legalisierten kommunistischen Partei auszuschalten. Mit der marginalen Bedeutung der DKP hat auch der
Beschluß seine Relevanz eingebüßt, möglich scheint es, daß er durch die sog.
Sicherheitsüberprüfungen (entsprechend Sicherheitsrichtlinien vom 1.5.88), nach denen alle
Arbeitnehmer in sicherheitsempfindlichen Bereichen gecheckt und entfernt werden können,
verdrängt wird. Festzustellen ist eine Entwicklung zur präventiven Kontrolle und
Überwachung; das hat ein Klima zur Folge, in dem der oder die einzelne nicht weiß,
inwieweit seine oder ihre gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten beobachtet und
registriert werden.
(3) Nicht nur diese Entwicklungen, sondern auch Phänomene wie die allseits beklagte Staatsund Parteienverdrossenheit, politische Apathie und das Erstarken rechtsextremistischer
Gruppierungen deuten darauf hin, daß sich am Funktionsmodus der noch in den 70`er Jahren
adäquaten korporativen Demokratie erhebliches geändert hat. Wenn korporative Demokratie
Interessenvertretung und damit eine beschränkte Partizipation an politischen Entscheidungen
über die Verbände ermöglichte, setzt sie zugleich ein Engagement und Einflußnahme in
diesen Verbänden voraus. Die Identifikation mit Verbänden und die Organisationsbereitschaft
in den Parteien ist jedoch erheblich zurückgegangen. Die Gründe dafür werden u.a. in einer
veränderten Sozialstruktur der Gesellschaft gesucht. Durch die ökonomische Krise sind
Umstrukturierungsprozesse der Wirtschaft in Gang gesetzt worden, die viele in prekäre, d.h.
sozial ungesicherte Arbeitsverhältnisse abgedrängt hat, und damit gewerkschaftlicher
Einbindung erschwerte. Neben dem zahlenmäßigen Rückgang der industriellen
Produktionsarbeiter fand innerhalb der Sektoren eine Ausdifferenzierung der
Arbeitsverhältnisse statt, die eine spontane Gruppensolidarität verhindert. Konstatiert wird
auch die Auflösung sozialer Milieus, die einhergeht mit einer Tendenz zur Individualisierung
und Vereinzelung, die eine Distanz zu Großorganisationen zur Folge hat. Die Gründe sind
aber auch bei diesen selbst zu suchen, in der beschriebenen bürokratischen Verkrustung und
dem sich in ihnen ungehindert ausbreitenden Karrieristentum. Die Grundlage der kollektiven
Demokratie auf konsensualer Grundlage wird durch die Rücknahme des Sozialstaates und
durch diesen selbst ausgehöhlt. Der Schein einer Homogenisierug über den
Interessenausgleich schwindet genauso wie die Hegemonie der Verbände. Andrerseits
artikulierten sich in den "neuen sozialen Bewegungen", in Bürgerinitiativen, neue Bedürfnisse
und Interessen sowohl neben den bestehenden Organisationen und Verbänden wie neben den
staatlichen Vertretungskörperschaften.
IV. Lösung oder Katastrophe: (1) Die konservative Antwort auf diese neue Situation besteht
einerseits in einem verschobenem Integrationsmodus, der keinen vollständigen Bruch mit den
skizzierten Formen aufweist. aber die Akzente verschiebt, so daß man von einer "selektiven
Integration" (Hirsch) sprechen kann, die die Zentren der Leistungsgesellschaft umfaßt,
während gleichzeitig an der Peripherie eine Ausweitung der repressiven Instrumente, die sich
vor allem durch Kontrolle und präventives Vorgehen charakterisieren läßt, zu verzeichnen ist.
An die Stelle der sozialen Integration setzt die konservative Strategie die ideologische
Integration. Wie C.Schmitt währen der Weimarer Republik die Chimäre der nationalen
Homogenität als Voraussetzung der Demokratie gegen das linkssozialistische Postulat der
sozialen Homogenität setzte, propagieren die Konservativen die Rückkehr zum nationalen
Selbstbewußtsein, zur konventionellen Moral. Wenn diese Kulturrevolution von rechts
gesellschaftlich hegemoniefähig war, stößt sie an ihre Grenzen, wo sie beim Wort genommen
und einer "modernen" technokratischen Politik gegenüber gestellt wird, wie man an der
Ausdifferenzierung des rechten Spektrums ablesen kann.
(2) Eine fortschrittliche Perspektive der Demokratie in der Bundesrepublik sei an zwei
Vorschlägen neueren Datums diskutiert. Joachim Hirsch setzt auf die neuen sozialen
Bewegungen, auf die Alternativbewegung. Weil sozialer Protest in den staatlichen
Institutionen kleingerieben und/oder opportunistisch umgeformt werde, fordert er "statt des
`langen Marsches' durch die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft (...den) konsequenten
Schritt aus ihnen heraus." (Der Sicherheitsstaat, S.136) Autonome Begründungen
gesellschaftlicher Zusammenhänge, Selbstorganisation und gegengesellschaftliche
Experimente gewännen einen neuen Wert. Hirsch plädiert für einen radikalen Reformismus,
"radikal im doppelten Sinne; als konsequente Durchsetzung von Selbstorganisation und
autonomer Interessenwahrnehmung bei der praktischen Veränderung der Arbeits- und
Lebensverhältnisse, durch `dezentrale' Ausweitung der Bruchstellen und Konflikte und
konsequenten Verzicht darauf, emanzipatorische Vorhaben vorrangig mit Hilfe des Staates
betreiben zu wollen." (aaO.,S.172) Staatsreformistische Vorstellungen seien nach den
Erfahrungen mit der sozialdemokratischen Regierung der 70`er Jahre obsolet; Hirsch will sich
nicht "den Kopf der Herrschenden zerbrechen" und entwickelt als Strategie sozialistischer
Politik, "unmittelbar praktisch erfahrbar zu machen, was `Sozialismus' für die
gesellschaftlichen Individuen bedeuten kann, sozialistische Formen des Produzierens und
Zusammenlebens zu entwickeln, auszuprobieren und zu erkämpfen." (aaO., S.153)
Auch U.K. Preuß knüpft an die in den neuen sozialen Bewegungen entwickelten neuen
Bedürfnisse und Interessen an, die er "Reziprozitäts-Interessen" nennt. Diese zeichnen sich
dadurch aus, daß Bedürfnisse nicht mehr individuell und egoistisch zu befriedigen sind,
sondern nur noch unter gegenseitiger Rücksichtnahme. Als Beispiel führt er das Interesse an
einer "sauberen Stadt" an, dessen Befriedigung davon abhängt, "daß die anderen Individuen
ihr individuelles Interesse durch ein entsprechendes individuelles Verhalten befriedigen, das
im Vertrauen auf das gleichgerichtete Verhalten ihrer Mitbürger dann auch tatsächlich zur
Interessenbefriedigung führt." (Kritische Justiz,89, S.10) Gleichzeitig sei die Befriedigung
dieser Präferenzen über den Staat nur sehr begrenzt denkbar, da hier erstens weiterhin
Sonderinteressen dominieren und zweitens nur eine unakzeptabel Steigerung der Kontrolle
zum Ziel führen würde. In den Reziprozitäts-Interessen, im reflexiven Handeln sei die
Ausschaltung egoistischer Sonderinteressen, die Möglichkeit einer einheitlichen
Willensbildung implizit vorhanden, weshalb ein neues Modell der Demokratie möglich
werde. Preuß fordert, "neben der territorialen Repräsentation durch Parteien, Wahlen und
Parlamente sowie der funktionalen Repräsentation durch Verbände eine neue Arena der
`reflexiven Repräsentation'zu schaffen, durch die das vorhandene gesellschaftliche
Reflexionspotential nicht nur passiv einen Ausdruck fände, sondern auch aktiv gefördert und
geformt würde." (aaO., S.12) Die Zukunft der Demokratie liege im Schutz des
Reflexionspotentials des Individuum, d.h. in der Ausweitung des Rechtsstaates, dem Ausbau
des Schutzes durch die Menschen- und Bürgerrechte. Auch Preuß kommt damit zu dem
Ergebnis, daß neben Staat und etablierten Organisationen Freiräume zu schaffen sind, in
denen sich reflexives Handeln entwickeln kann oder im üblichen Sprachgebrauch, in denen
sich neue solidarische Formen des Zusammenlebens entwickeln können.
(3) Beiden Autoren ist entgegen zu halten, daß sie - trotz entsprechender Analysen - bei der
Entwicklung von Perspektiven die grundlegenden gesellschaftlichen Konflikte wegdefinieren.
Während Hirsch in seiner Analyse deutlich auf die repressive Dimension des
Sicherheitsstaates hinweist, bleibt diese bei der Entwicklung politischer Perspektiven einfach
unberücksichtigt, Selbstorganisation und alternative Lebensformen scheinen außerhalb der
integrierten Normalität nicht nur möglich, sondern perspektivisch sogar hegemoniefähig zu
sein. Treten solch alternative Lebenszusammenhänge jedoch aus ihrem Nischendasein heraus
und werden zur tatsächlichen Gefahr für die Funktionslogik des gesellschaftlichen Status quo,
ist nicht ersichtlich, warum es nicht zu einer bürokratisch, autoritären Auseinandersetzung mit
denselben, zu einer Kanalisierung oder Repression durch den staatlichen Sicherheitsapparat,
den man aus besonderem taktischen Geschick anderen überließ, kommen sollte.
Sind hier noch antagonistische Interessenlagen spürbar, wenn sie auch strategisch
unberücksichtigt bleiben, werden sie bei Preuß in der "Interessen-Reziprozität" aufgesaugt,
die selbst einen demokratisch geregelten Interessenausgleich unnötig macht, da die
individuellen Interessen quasi mit den gesellschaftlichen Interessen übereinstimmen, ihre
Sozialverträglichkeit im reflexiven Handeln apriori angelegt ist. Die Homogenität der
Interessen hat sich angesichts neuer Problemlagen und Bedürfnisse von selbst eingestellt, die
"strukturellen Probleme und krisenhaften Widersprüche einer politischen Demokratie, die auf
einer kapitalistischen Ökonomie aufruht," (Preuß, aaO., S.1) sind verschwunden und machen
dem ego-und gleichzeitig altruistischen Staatsbürger - unabhängig von seiner sozialen Lage Platz.
Wenn man also die Erfahrung, daß der Marsch durch die Institutionen eher die
Maschierenden als die Institutionen ändert, und die "neuen" Bedürfnisse nach individueller
Selbstbestimmung politisch für die Demokratie fruchtbar machen will, bleibt das Postulat der
umfassenden gesellschaftlichen Demokratisierung, abgesichert durch den rechtsstaatlichen
Schutz, weiterhin aktuell. Die dargestellten Ansätze sind insoweit aufzugreifen, als es
notwendig erscheint, dem Individuum die Chance der Interessenartikulation, letztlich der
Selbstbestimmung, zu ermöglichen, was aber nicht den konsequenten Schritt aus den
staatlichen Institutionen heraus impliziert, sondern den Umbau der korporativistisch,
bürokratischen Strukturen der politischen Demokratie. Erforderlich ist eine Demokratisierung
des Alltags, d.h. das Anknüpfen an die Lebenssituationen und die Eröffnung neuer Wege
demokratischer Mit- und Selbstbestimmung. Ein Ausbau der Möglichkeiten direkter
Einflußnahme von Bürgern und Bürgerinnen auf die Entscheidung ihrer konkreten
Lebenslagen, d.h. die Einführung neuer verbindlicher Entscheidungsstrukturen und die
Kompetenzbeschränkung sowie direkte Bürgerkontrolle bürokratischer Entscheidungen
schaffen die Voraussetzung über eine so installierte Gegenmacht zur Demokratisierung auch
der Wirtschafts- und Sozialordnung voranzuschreiten. Das bedeutet, die Ausdehnung und
Rückeroberung der politischen Demokratie für das Individuum wird zum Mittel, sie selbst
über eine soziale Demokratie, wie Abendroth sie postulierte, abzusichern. Die inzwischen
auch von der SPD geforderten Volksabstimmungen sind eine bescheidene Möglichkeit der
Erweiterung der politischen Demokratie, können aber den Umbau der Bürokratie nicht
ersetzen. Zu denken ist an Wahl- und Mißtrauensverfahren für Staatsfunktionäre. Hierher
gehört dann auch die Rücknahme von Verwaltungsfunktionen durch die Gesellschaft, wie sie
in selbstorganisierten Projekten, z.B. Frauenhäusern, Jugendzentren, möglich ist. Eine
Demokratisierung darf vor einer Umstrukturierung und Entbürokratisierung der Parteien und
Verbände nicht halt machen. Der Schutz politischer Entfaltung, deren rechtstaatliche
Sicherung, gewinnt so noch mehr Bedeutung. Erforderlich ist deshalb eine erhebliche
Reduzierung der "Sicherheitsapparate" und ihr völliges Herausdrängen aus dem politischen
Bereich. Klar ist, daß der Verfassungsschutz abgeschafft gehört. Die Alternative zu einem
solchen Weg scheint zwar nicht, wie Abendroth es gesehen hat, der Weg in einen neuen
Faschismus zu sein, - dagegen sprechen die internationalen Verflechtungen und die neue
Qualität militärischer Abenteuer - sondern eine Fortentwicklung und Verschärfung der
beschriebenen Tendenzen der politischen Demokratie. Demokratie degeneriert endgültig zum
Staatsschauspiel; der Regisseur bleibt unsichtbar, die Charaktermasken der Protagonisten sind
beliebig auswechselbar, die Staatsbürger langweilen sich auf den Rängen und der Erfolg
richtet sich ausschließlich nach der Professionalität der Werbeagentur.
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