Vortrag von Hervé Polesi, Soziologe an der Universität Straßburg

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Vortrag von Hervé Polesi, Soziologe an der Universität Straßburg
(übersetzt von Monika Schmidmeier, Würzburg)
Geschlechtertheoretische Diskurse in Frankreich
I.
Theoretische Grundlagen
Bevor ich über die Situation von Frauen und Männern in der heutigen französischen
Gesellschaft spreche, erscheint es mir notwendig, kurz auf theoretische und historische
Fragestellungen einzugehen.
Ich werde mich darauf beschränken, die wesentlichen Konzeptionen, die heute eine
feministische Reflexion in Frankreich erlauben, darzustellen.
zwei große Denkrichtungen: die essentialistische und die kritische Sichtweise
Wir können zwei große Denkrichtungen, die sich gegenüberstehen, unterscheiden:
Die eine gibt vor, über die Frau zu arbeiten, die andere, über die Frauen. Der Unterschied ist
gewaltig: auf der einen Seite haben wir all jene, die ihre Arbeiten, ihr Handeln auf die
Vorstellung gründen, dass es ein weibliches Wesen gibt, eine weibliche Natur, die ewig und
fundamental der Frau zu eigen ist. Diese Denkrichtung nennen wir die essentialistische.
Auf der anderen Seite haben wir diejenigen, für die es nicht per se eine feminine oder
maskuline Natur gibt, sondern soziale Geschlechter, in die sich alle Individuen einer
Gesellschaft einordnen lassen. Diese Denkrichtung, der auch ich mich zuordne, wird als die
kritische Sichtweise bezeichnet.
Sie haben wahrscheinlich schon einmal den Satz von Simone de Beauvoir gelesen: „Man wird
nicht als Frau geboren, man wird es“. Dieser Satz kann als gemeinsames Credo all jenen
Intellektuellen dienen, die eine kritische Sichtweise der sozialen Geschlechter teilen. Da ich
mich selbst zu dieser Denkschule zähle, wird sich auch mein Vortrag im Wesentlichen
innerhalb dieses Paradigmas bewegen.
Das mögen sie als unausgewogen oder als ungerechtfertigt empfinden. In der Tat existiert ein
Ungleichgewicht, aber es geht zugunsten der essentialistischen Sichtweise. Denn im
Gegensatz zu den kritischen Lesarten, die in der Ideengeschichte relativ jung sind, haben die
essentialistischen Interpretationen schon eine sehr lange Tradition, die wir mühelos bis in die
Antike zu den alten Griechen zurückverfolgen können: Wenn Sie Aristoteles lesen, finden Sie
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in der Tat schon eine komplette Argumentation über die Natur der Frau, und in dieser
Argumentation bricht Aristoteles nicht mit seinen Vorgängern.
Grundidee der Essentialisten: die Frau ist ein schlecht gemachter, unvollendeter Mann
Zusammengefasst lässt sich die Grundidee der essentialistischen Denkschule (etwa bei
Aristoteles) folgendermaßen zusammenfassen: Die Frauen sind für sie schlecht gemachte
Männer, auf halbem Weg zwischen den vollwertigen Menschen – den Männern – und den
Monstern. Wenn Sie das mit dem Bild kombinieren, das in den biblischen Schriften von der
Frau gezeigt wird, erhalten Sie 2000 Jahre jüdisch-christliche Gesellschaften, die – abgesehen
von ihren spezifischen Besonderheiten – sich um die zentrale Vorstellung einer weiblichen
Natur strukturiert haben, gemäß dem Bibelzitat „Und Gott erschuf die Frau“.
Sie sehen, ich kann gut meinen Vortrag in die kritische Lesart einordnen, ohne der
essentialistischen Denkrichtung ein Antwortrecht zubilligen zu müssen.
Beispiele in der Geschichte für ein Handeln nach den essentialistischen Vorstellungen:
Diese essentialistische Bewegung findet man überall dort, wo sich historisch etwas abspielt,
was den Platz der Frauen in der Gesellschaft betrifft. Ich nenne ein Beispiel unter vielen: in
Frankreich wurde 1892 ein Gesetz verabschiedet, das den Frauen die Arbeit unter Tage in den
Minen und in der Nacht verbot. Wunderlicher Schutz für die Gesundheit der Frauen bei der
Arbeit… Paradoxerweise hat Frankreich vor einigen Jahren unter dem Druck der
Europäischen Kommission das Nachtarbeitverbot für Frauen wieder abgeschafft, und zwar
ausgerechnet in dem Moment, in dem das Internationale Krebsforschungsinstitut die
Nachtarbeit als wahrscheinlich krebsfördernd einstufte. Der Widerspruch ist nur ein
scheinbarer: 1892 ging es nicht so sehr darum, die Gesundheit der Frauen zu schützen, als
vielmehr um etwas anderes. Nehmen Sie sich die Zeit und fragen Sie sich, was die Arbeit
unter Tage, in den Minen, und die Nachtarbeit gemein haben. Es ist die Dunkelheit. Nun ist
aber die Dunkelheit günstig für die Ausschweifung und die Wollust, für die Verderbnis der
Sitten. Da die Frauen in moralischer Hinsicht als von Natur aus schwach und der Wollust
zugeneigt galten, durften sie nicht dieser risikoreichen Umgebung ausgesetzt werden. Was in
Gefahr war, war also die Stabilität der Familie und damit die der gesamten Gesellschaft.
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Ein zweites Beispiel: Der Arbeitseinsatz der Frauen in der Industrie anlässlich des 1.
Weltkrieges (1914-1918) folgt den gleichen essentialistischen Vorstellungen: Denn die
Frauen wurden als Arbeitskräfte ab dem Moment einsetzbar, wo die Arbeiten einfach wurden
(Stichworte: Arbeitsteilung, Segmentierung und Parzellierung von Arbeit) und die
sogenannten „weiblichen Qualitäten“ wie etwa die Fingerfertigkeit erforderten.
Der zentrale Begriff des kritischen Feminismus in Frankreich: die „rapports sociaux“
(etwa: Machtverhältnisse zwischen Gruppen oder Individuen in einer Gesellschaft)
Aber bevor ich mit der Aufzählung von Beispielen fortfahre, schlage ich vor, dass wir einen
Augenblick bei den theoretischen Grundlagen des kritischen (französischen) Feminismus`, in
dessen Kontext auch ich meinen Vortrag einreihe, bleiben.
Der zentrale Begriff, den man sich merken sollte, ist der Begriff des „rapport social“. Damit
ist nicht das Gleiche wie mit „relation sociale“ gemeint, also es geht hier nicht um
Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Individuen, etwa zwischen Männern
und Frauen. Er ist eher mit „Machtverhältnis in einer Gesellschaft“ oder mit
„Rollenverteilung in einer Gesellschaft“ zu übersetzen, denn mit diesem Konzept des „rapport
social“ ist ein Konzept der Gliederung von Gesellschaften gemeint. (Anmerkung: Für den
französischen Begriff des „rapport social“ gibt es keine genaue Entsprechung in anderen
Sprachen. Grund hierfür ist, dass dieses Konzept der „rapports sociaux“ allein von der
französischen Soziologie verwendet wird, und zwar von der kritischen Denkschule des
Feminismus. Zentral ist hierbei, dass in dem Begriff „rapport social“ stets die Konnotation der
Dominanz einer sozialen Gruppe über die andere enthalten ist, also etwa der Männer über die
Frauen).
Das Konzept der „rapports sociaux“ beschreibt also die Strukturierung von Gesellschaften.
Die „rapports sociaux“ gliedern die menschlichen Gesellschaften genauso wie die
wesentlichen Kräfte der Physik das Universum. Sie kennen vielleicht diese 4 fundamentalen
Kräfte: die Schwerkraft, der Elektromagnetismus, der starke Zellkern und der schwache
Zellkern. Diese 4 Kräfte stellen das dar, was die Physiker als Standardmodell bezeichnen.
Unsere gesamte Existenz lässt sich aus diesen 4 Kräften herleiten. Diese Prinzipien des
Zusammenhalts einerseits und der Trennung andererseits sichern die Stabilität unseres
Universums, ohne dass es deswegen starr wäre.
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Die „rapports sociaux“ müssen genauso als Kräfte gesehen werden, die eine Gesellschaft
organisieren, indem sie die einzelnen Individuen miteinander verbinden oder voneinander
trennen.
Definition der „rapports sociaux“ nach Maurice Godelier
Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir das Zitat von Maurice Godelier, einem
Anthropologen, zu betrachten, das ich besonders aussagekräftig dazu finde, was die „rapports
sociaux“ sind:
Definition:
„Es sind egal wie geartete Verhältnisse/Rollenverteilungen zwischen Menschen, die die eine
oder die andere oder alle drei der folgenden Funktionen erfüllen:
1.) Sie bestimmen die gesellschaftliche Form des Zugangs zu den Ressourcen und zu der
Kontrolle der Produktionsbedingungen
2.) Sie organisieren den Ablauf der Arbeitsprozesse und teilen die Mitglieder der Gesellschaft
zwischen diesen Prozessen auf
3.) Sie bestimmen die gesellschaftlichen Formen des Umlaufs und der Wiederverteilung der
Produkte der individuellen oder kollektiven Arbeit
Ich lade Sie ein, sich später noch die Zeit zu nehmen, diese Definition noch einmal in Ruhe
durchzugehen und sich damit in einer vertieften Lektüre auseinanderzusetzen.
Sie werden verstehen, dass diese „rapports sociaux“ einerseits Individuen einer Gesellschaft
voneinander trennen und andererseits andere Individuen zusammenschweißen und soziale
Gruppen bilden. Die „rapports sociaux“ sind also zugleich Prinzip der Trennung und des
Zusammenhalts in einer Gesellschaft, diese Bivalenz ist ihnen zu eigen. Sie verstehen jetzt,
warum ich anfangs darauf hinwies, dass es ein Begriff ist, der schwierig zu übersetzen ist.
Rapports sociaux de sexe, de classe, de génération et de race
(etwa: Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, den gesellschaftlichen Klassen, den
Generationen und zwischen den Rassen)
Diese rapports sociaux teilen die Individuen einer Gesellschaft nach verschiedenen Aspekten
oder Axen ein: Wir unterscheiden die „rapports sociaux de sexe“, also Machtverhältnisse
zwischen den Geschlechtern, zwischen Männern und Frauen; dann die „rapports sociaux de
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classe“, also Machtverhältnisse zwischen den einzelnen sozialen Klassen; außerdem gibt es
auch noch „rapports sociaux de génération“, also Machtverhältnisse bzw. Rollenverteilungen
zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen, sowie viertens die „rapports sociaux de
race“, also die Machtverhältnisse zwischen den Rassen.
Zentrale These: die gesellschaftlichen Klassen, die Geschlechter, die Rassen und die
Altersgruppen sind keine natürlichen Gegebenheiten, sondern gesellschaftliche
Konstruktionen
In allen Fällen handelt es sich um gesellschaftliche Konstruktionen: Das ist im Fall der
sozialen Klassen offensichtlich, aber weniger offensichtlich für die anderen Aspekte, die
„natürlich“ erscheinen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, wahrzunehmen, dass auch die
Altersgruppe, das Geschlecht oder die Rasse eben keine natürlichen Gegebenheiten sind. Dies
ist meine zentrale These.
Der Begriff der „consubstantialité“ nach Danièle Kergoat: die Wesenseinheit der
verschiedenen „rapports sociaux“
Ein letzter wichtiger theoretischer Aspekt betrifft die Beziehungen zwischen den
verschiedenen „rapports sociaux“, also zwischen den Machtverhältnissen, die in einer
Gesellschaft existieren: Hier werden heute verschiedene Bezeichnungen verwendet, aber
keine erscheint mir so zutreffend wie diejenige, die die Soziologin Danièle Kergoat
vorschlägt. Sie greift auf einen Begriff aus der christlichen Theologie zurück und
charakterisiert die „rapports sociaux“ als „consubstantiels“, das heißt „wesensgleich“.
(Anmerkung: Mit dem Begriff der „consubstantialité“ ist in der Theologie die Einheit und
Wesensgleichheit von Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist gemeint).
Gott Vater ist nicht gleich Gott Sohn und nicht gleich Gott Heiliger Geist, aber sie bilden eine
Einheit, sind wesensgleich, nicht voneinander zu trennen. Genauso verhält es sich mit den
verschiedenen „rapports sociaux“, da sich alle diese sozialen Machtverhältnisse in einer
gegebenen Gesellschaft zu jeder Zeit und überall manifestieren.
Wir können deshalb zwar die Auswirkung oder den Ausdruck eines bestimmten „rapport
social“, eines bestimmten sozialen Machtverhältnisses, in einer gegebenen Gesellschaft
studieren, doch das ist dann immer nur ein Artefakt. Wir können zum Beispiel zwar die
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geschlechtsbedingten Machtverhältnisse („rapports sociaux de sexe“) in einer Gesellschaft
betrachten, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass sie stets Schnittstellen mit anderen
sozialen Machtverhältnissen („rapports sociaux“) aufweisen: Es gibt gewiss Männer und
Frauen, aber auch Weiße und Schwarze, Bürger und Arbeiter. Eine bestimmte Frau reiht sich
in die geschlechterbedingte Rollenverteilung ein, aber auch in andere soziale
Machtverhältnisse („rapports sociaux“), denn sie ist jung oder alt, weiß oder schwarz, reich
oder arm. Wenn wir einen bestimmten „rapport social“ betrachten, verschwinden vielleicht
die anderen aus unserem Blickwinkel, aber sie verschwinden deshalb nicht aus der
Gesellschaft, die wir beobachten, - und das müssen wir im Hinterkopf behalten, denn wir
gehen sonst das Risiko ein, einen Diskurs zu führen, der sich auf eine beschnittene Realität
stützt. Das sollte gesagt sein. Wir werden uns heute trotzdem auf den „rapport social de sexe“,
auf das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen, konzentrieren.
Zwei Prinzipien beim Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern: das Prinzip der
Trennung und das Prinzip der Hierarchisierung
Zwei Prinzipien sind in der empirischen Betrachtung dieses „rapport social“ am Werk: Das
Prinzip der Trennung und das Prinzip der Hierarchisierung.
Das Prinzip der Trennung besagt, dass Männer und Frauen nicht die gleiche Arbeit verrichten.
Ursprünglich läuft dies auf die Zuordnung der Frauen in den reproduktiven Bereich – dem
Haushalt – und die der Männer in den produktiven Bereich hinaus.
Im heutigen Frankreich ist die Einordnung der Frauen zu dem reproduktiven Bereich
beibehalten – nach wie vor leisten Frauen den allergrößten Teil des Haushalts - , doch
abgeschwächt durch die Geschichte. Frauen sind heute auch im produktiven Bereich präsent,
aber innerhalb dieses Bereichs wird das Prinzip der Trennung beibehalten: denn Männer und
Frauen machen nicht die gleiche Arbeit.
Das Prinzip der Hierarchisierung ist diese doppelte Tendenz, nach der sich die Männer zum
einen die Positionen und Arbeiten reservieren, die gesellschaftlich am angesehensten sind,
und zum anderen auch diejenige, nach der eine „Männerarbeit“ noch „mehr wert“ ist als eine
„Frauenarbeit“.
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Kommen wir noch einmal auf die „consubstantialité“, also die Wesenseinheit der
verschiedenen „rapports sociaux“ zurück: Sie werden sehen, dass es sich hierbei nicht um
eine rein theoretische Vorstellung handelt, sondern dass die sich überschneidenden
Auswirkungen der verschiedenen sozialen Machtverhältnisse ganz und gar konkret sind.
Ein erstes Beispiel: Als ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem 1. Weltkrieg eine
bestimmte Arbeitgeberschaft Frauen an der Stelle von männlichen Arbeitern einsetzt,
geschieht dies nicht etwa aus Sorge um die Emanzipation der Frauen. Sondern es geschieht
aus dem Grund, dass dies den Einsatz von billigeren Arbeitskräften ermöglicht.
Die Arbeitergewerkschaften sind übrigens in ihrer Gesamtheit gegenüber der Anstellung von
weiblichen Arbeitskräften reserviert und verteidigen vor allem die Vorstellung, dass das
Gehalt des Mannes als Ernährer der Familie für einen guten Unterhalt der Familie reichen
muss. Sie können sich leicht vorstellen, in welchem Ausmaß die Anstellung von Frauen in
bestimmten Branchen der Industrie ein besonderes Feld für Auseinandersetzungen zwischen
Arbeitgebern und Gewerkschaften sein konnte.
Ein zweites Beispiel für die „intersection“ zwischen den verschiedenen „rapports sociaux“,
also dafür dass die unterschiedlichen sozialen Machtverhältnisse in einer Gesellschaft
Schnittstellen, Überschneidungen aufweisen (Anmerkung: Der Begriff der „intersection“ wird
von anderen Soziologen anstelle des Begriffs der „consubstantialité“, den Danièle Kergoat
wählt, verwendet):
In Frankreich arbeiten in der Pflege alter Menschen überwiegend Frauen, und zwar besonders
häufig Frauen mit einem Migrationshintergrund, also deren Eltern oder Großeltern aus den
ehemaligen Kolonien nach Frankreich einwanderten. Und die Arbeit in der Pflege ist schlecht
bezahlt.
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