Standortbestimmungen in Umbruchszeiten: Strategien für 2013 Dokumentation eines Workshops vom 1. Dezember 2011 mit Wahlkampfstrategen der Parteien, Wissenschaftlern sowie Politikberatern 1 Standortbestimmungen in Umbruchszeiten: Strategien für 2013 Dokumentation eines Workshops vom 1. Dezember 2011 mit Wahlkampfstrategen der Parteien, Wissenschaftlern sowie Politikberatern Herausgegeben von METRO GROUP, Michael Wedell Berlin, 2012 2 3 VORWORT Das Jahr 2011 markiert nicht nur die Halbzeit für die schwarz-gelbe Bundesregierung, sondern aufgrund sich regelrecht überstürzender Entwicklungen und Krisen, global wie national, auch eine Phase prinzipieller Veränderungen. Um nur einige Schlagwörter zu nennen: Die Atomkatastrophe von Fukushima, der dadurch ausgelöste Paradigmenwechsel der Bundesregierung hin zum Atomausstieg, der erste grüne Ministerpräsident regiert in Deutschland mit der SPD als Juniorpartner, die sich verschärfende Verschuldung einiger EU-Länder und die dadurch ausgelöste Euro- und Wirtschaftskrise, staatliche Rettungsschirme in schwindelerregender Milliardenhöhe, lautstarke Partizipationsbestrebungen der Zivilgesellschaft, die Auflösungstendenzen in der FDP, das Auftreten einer neuen Partei auf der politischen Bühne. Solche Umbruchszeiten, wie wir sie aktuell erleben, erfordern von den politischen Akteuren aller Parteien neue Standortbestimmungen, um daraus erfolgreiche Strategien zu entwickeln. Wie können und müssen sich die Parteien in Zeiten von Krisen positionieren? Welche Antworten finden sie auf die drängenden Herausforderungen für unser Land und für Europa? Geht es darum, neue Werteorientierungen anzubieten oder vor allem um pragmatische Lösungen für die anstehenden Entscheidungen? Funktioniert das traditionelle politische Handwerk überhaupt noch unter den Bedingungen des radikalen Wandels im Minutentakt? Setzen die Menschen in unsicheren Zeiten eher auf Personen oder auf Parteien? Schenken Sie ihr Vertrauen prinzipiell eher den großen oder lieber neuen, modernen Parteien wie den Piraten? Darüber diskutierten am 1. Dezember 2011 Strategen aus Partei- und Fraktionsspitzen sowie dem Bundeskanzleramt mit Wissenschaftlern und Politikberatern. Kaum eine Woche nach diesem Strategiegespräch zeigte sich, wie rasch und vor allem überraschend Veränderungen in der Politik geschehen. Der Generalsekretär der FDP trat zurück und eine andere Rücktrittsdiskussion, jene um Bundespräsident Christian Wulff, erschütterte die politische Landschaft. Nur ein Jahr zuvor war Bundespräsident Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten, übrigens damals auch wenige Tage nach dem Strategiegespräch 2010. Einmal mehr wird dadurch klar, wie schwierig es in so schnelllebigen Zeiten für Politiker ist, überhaupt noch langfristig zu planen, andererseits aber auch, wie unverzichtbar für das Vertrauen der Bürger Strategien und politische Programme sind, die über die Tagesereignisse hinaus Bestand haben und verlässliche Orientierung bieten. Michael Wedell METRO GROUP, Konzernrepräsentanz Berlin / Nationale Politik 4 5 METRO _ p o l i s Regelmäßig lädt die METRO GROUP Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur zur politischen und wirtschaftspolitischen Debatte in kleinem Kreis ein. Mit dem Workshop METRO_polis möchten wir die politische Diskussion anregen, Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterschiedlicher politischer Couleur miteinander ins Gespräch bringen und einen Beitrag zur (wirtschafts-)politischen Debatte in Deutschland leisten. Dabei stehen Tiefgang statt 30-Sekunden-Statements und Freiheit der Rede statt des Austauschs politisch korrekter Floskeln im Mittelpunkt. Es gilt die eiserne Regel „alles ist unter drei“ – das heißt, das Gesprochene bleibt im Kreise. Nach der Veranstaltung haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit zu entscheiden, welche Teile des gesprochenen Wortes auch in der nun vorliegenden Dokumentation erscheinen sollen. 6 7 Eva Christiansen Wir haben in diesem Jahr die Auswirkungen der Globalisierung in deutlichster Weise zu spüren bekommen, um nur einmal zwei ganz große Ereignisse zu nennen: Die Schuldenkrise in Europa und die Reaktorkatastrophe in Fukushima mit all ihren Folgen. Die Schnelligkeit, die durch die globale Vernetzung erzeugt wird, ist in Krisenzeiten zudem als Brandbeschleuniger tätig. Ich glaube, dass man sagen kann, wir leben in historischen Umbruchszeiten. Auch die Parteienlandschaft ist diesen Umbrüchen ausgesetzt. Spätestens seit der Deutschen Einheit hat sich unsere Gesellschaft erheblich verändert. Stichworte sind hier der Trend zur Individualisierung, sich auflösende Milieus und die damit verbundenen Schwierigkeiten, insbesondere für die beiden großen Volksparteien. Das ist alles schon länger in Gang, dennoch kommt es mir so vor, als ob sich auch dieser Trend in den letzten Jahren noch stärker beschleunigt. Interessanterweise bekommen es die Grünen, je stärker sie bei Wahlen werden, ja auch damit zu tun, wie schwer es manchmal ist, den Spagat der unterschiedlichen Erwartungen von Anhängern und Wählern auszuhalten. Darüber können wir nachher noch diskutieren. „Ich glaube, jenseits der ökonomischen Schwierigkeiten ist dies das Gefährlichste dieser Krise, das wir im Auge behalten müssen: Kann Politik in der Globalisierung überhaupt noch etwas gestalten?“ Eva Christiansen Referatsleiterin „Politische Planung; Grundsatzfragen; Sonderaufgaben“ sowie Referatsleiterin „Medienberatung“ im Bundeskanzleramt Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Wendezeiten Anfang der 90er-Jahre haben sich die Auseinandersetzungsgrade in der Politik verändert. Ein Beispiel: Der Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ war eine klare Standortbestimmung. Aber diese Frage war spätestens nach den Wendezeiten in den 90er Jahren entschieden. Es ist klarer, darüber zu diskutieren, ob ich für oder gegen den Sozialismus bin. Schwerer zu kommunizieren ist da z.B. schon, ob man für die „Rente mit 67“ oder man grundsätzlich dafür ist, aber Ausnahmen will. Dadurch wird die Unterscheidbarkeit der Parteien schwerer. Insbesondere die beiden Volksparteien wollen die Mitte der Gesellschaft gewinnen. Aber diese Mitte ist ja kein statischer Punkt, sondern auch in Bewegung. Durch die Veränderungsgeschwindigkeiten, wie wir sie durch die Globalisierung erleben, verändern sich auch Gewissheiten, die früher als unumstößlich galten. Ich würde uns in dieser Diskussion aber davor warnen, – ich habe das bereits bei unserer letzten Runde getan – dass wir daraus die Schlüsse ziehen, dies ist das Ende der Volksparteien oder dass wir nur noch drei große Parteien haben werden oder es eine Partei gar nicht mehr geben wird. Eben all das, was heute in den Medien sehr schnell ausgesprochen und als gegeben wahrgenommen wird. Wir haben z.B. eine neue Gruppierung, die Piraten-Partei, die viele vorher gar 8 9 was lange Zeit belächelt wurde, heute wieder als eine ökonomische Stärke Deutschlands wahrgenommen. Das ist jetzt eine sehr konsensuale Einleitung, aber wir finden hier bestimmt genug kontroversen Stoff für unsere Diskussion. nicht auf dem Schirm hatten. Ob sie es allerdings schaffen, 2013 zu einer bundesweiten Kraft zu werden, sei dahingestellt. Aber offensichtlich hat sich im Bereich der Netzpolitik eine Lücke aufgetan, in welche die Piraten-Partei stoßen konnten. Mein Fazit, was die Parteien angeht: Da kann sich bis 2013 noch eine Menge bewegen. In Deutschland ändert sich etwas, was wir in anderen Ländern schon lange haben, nämlich dass es mehr Parteien gibt, die erfolgreich um die Gunst der Wähler werben und die großen Parteien dadurch schwächer werden. Für mich ist es trotzdem nicht ausgeschlossen, dass gerade die Volksparteien, die Union und die SPD, aus den gegenwärtigen historischen Auseinandersetzungen und den daraus erwachsenden Gestaltungsmöglichkeiten wieder eine neue Kraft bekommen. Ich glaube jedenfalls daran. Es wird spannend sein, das zu diskutieren. Mein zweiter Punkt: Die Verwerfungen im Finanzsystem und die Schuldenkrise in Europa werden nicht nur die nächsten Wochen und Monate, sondern die nächsten Jahre bestimmen. Es ist eine Entwicklung, die uns als Demokraten alle herausfordert, nämlich zu zeigen, dass Politik gestalten kann, dass wir Regeln setzen können, an die sich auch gehalten wird und dass wir die Dinge überhaupt noch verändern können. Ich glaube, jenseits der ökonomischen Schwierigkeiten ist dies das Gefährlichste dieser Krise, das wir im Auge behalten müssen: Kann Politik in der Globalisierung überhaupt noch etwas gestalten? Was mich, mit Blick auf unser politisches System, persönlich sehr positiv stimmt, ist, wie verantwortungsvoll sich eigentlich unser demokratisches Parteiensystem und die viel belächelte deutsche Konsensgesellschaft gezeigt hat. Das war schon in der Finanzkrise so. Wenn man in anderen Ländern schaut, mit welcher Aggressivität, ja fast Brutalität, die Parteien dort gegeneinander kämpfen, kennen wir diese Form aus meiner Sicht zum Glück nicht. Es gibt im Wahlkampf sicherlich harte Auseinandersetzungen, aber in den großen Fragen haben wir im Parlament doch überwältigende Mehrheiten gehabt, die sich aus einem Verantwortungsbewusstsein heraus entwickelt haben, obwohl man daraus kurzfristig hätte Profit schlagen können. Übrigens wird auch unser Tarifpartnersystem, 10 Rudi Hoogvliet Ich werde eine Ergänzung mit einem anderen Blickwinkel und bezogen auf die Bundestagswahl 2013 machen. Strategien zu entwerfen und dann zu verwerfen, weil sie von der Realität überholt werden, beziehungsweise sie zu korrigieren, das ist das tägliche Brot von uns allen. Politik ist nun mal ein schnelllebiges Geschäft. Trotzdem sind wir hier am Tisch, nicht nur aus Selbsterhaltungstrieb, der Meinung, dass wir Strategien brauchen in der Politik. Ich auch. Ich glaube, die Kunst besteht darin, aus diesem Wust konjunktureller Entwicklungen ein paar wenige Punkte herauszupicken, die vielleicht Trendwenden andeuten, die so viel Bestand haben, dass sie zu einer gewissen Entwicklung führen. „Die Politiker, die nicht blind nach Bild, BAMS und Glotze agieren, sondern gefestigt, geerdet sind, ausgestattet mit einer Orientierung, denkend in langen Linien und mit klaren Ansagen operieren, die werden gewinnen.“ Rudi Hoogvliet Sprecher der Landesregierung Baden-Württemberg Sicherlich, wenn man von Schnelllebigkeit redet, dann ist das letzte Jahr das beste Beispiel. Bis zum Sommerende waren alle Journalisten, aber auch viele in der Politik und hier am Tisch der Meinung, die Bundesregierung braucht 2013 gar nicht mehr antreten, das ist alles schon durch, das wird RotGrün. Nun müssen wir feststellen, das war ein Hype, der sich, bedingt durch verschiedene Entwicklungen, wieder beruhigt hat - durch die kalte Absage von Wowereit an Rot-Grün, durch die Eurokrise und die daraus folgende Konzentration auf die großen Parteien und, vor allem, die Exekutive, durch das Eintreten der Piraten auf der parteipolitischen Bühne – mit ungewissem Ausgang, was mich anbetrifft. Ich halte es auch für übertrieben, wie intensiv sich meine Partei mit den Piraten auseinandersetzt, daran ist vielleicht auch die Berliner Brille Schuld. Ich glaube, die strategische Abteilung im Bundeskanzleramt hat durchaus damit zu tun, dass sich die Trennlinien zwischen den Parteien zunehmend verwischen. Sie sind darauf eingegangen, Frau Christiansen, die großen Pole gibt es nicht mehr. Es gibt in der Tat überraschende Übereinstimmungen in der Sicht auf die großen Krisen. Ob die sogenannten Volksparteien noch als Parteien mit Grundsätzen, Werten, Programmen wahrnehmbar sind, daran hab ich meine Zweifel. Was bis zur Berlin-Wahl oder spätestens bis zum Atomausstieg der Bundesregierung ausgeschlossen wurde, nämlich Schwarz-Grün, 11 das hat sich auch wieder zurück korrigiert. Natürlich gibt es jetzt den Ruf nach großen Lösungen, nach großen Koalitionen wie immer in solchen Krisen. Die kleinen und mittleren Parteien mit wenig Kompetenzzuschreibungen in den harten finanziellen und wirtschaftlichen Themen haben es da immer schwieriger. Es gibt aber so etwas wie den Ruf nach Mut und Zuversicht. Nach Führung, nach Ehrlichkeit, also nach Tugenden, die vielleicht nicht von Parteien als Institutionen ausgehen, sondern eher von den Politikern, die in ihnen arbeiten, mit ihnen verbunden werden. Das ist auch ein Ruf nach spürbarer, belastbarer Glaubwürdigkeit. Das sollten wir beachten. Mich hat umgetrieben, um zurückzukommen auf die Region, in der ich wirke, wie sehr ein Land wie Baden-Württemberg sich bei den Umfragen abgekoppelt hat von den bundesweiten Trends. Das ist in meiner, mittlerweile langjährigen, Erfahrung sehr ungewöhnlich. Gemeinhin, so kenn ich es von Landtagswahlen, ist der Trend auf Gedeih und Verderb davon abhängig, was auf Bundesebene geschieht. Den Bundestrend kannst du nicht aufhalten, nie, das stand in meinem Lehrbuch. Jetzt haben wir eine Situation, in der wir zwei- oder dreimal hintereinander nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei der SPD den gegenläufigen Trend, ganz andere Zusammenhänge und andere Zahlen sehen. Woran liegt das? Meine These ist, das hat mit den Parteien nichts zu tun. Das ist ein Kopf, das ist eine Person, die das verursacht. Und als These in den Raum geworfen: Vielleicht ist dieser Ruf nach Köpfen in krisenhaften Zeiten damit erklärbar, dass die Trennlinien zwischen den Parteien nicht mehr wirklich wahrnehmbar sind. In Zeiten, wo eine Bundesregierung aus dem Atom aussteigt und damit auch nicht mehr die Kampflinie zu den Grünen hat, wo man sich Bemühen muss, für die Bevölkerung wahrnehmbare programmatische Unterschiede darzustellen, wird eher nach den handelnden Personen geschaut und gewählt. In so einer Zeit entscheiden zunehmend Köpfe, keine Programme. Bezogen auf die Bundestagswahl 2013 ist es durchaus möglich, dass wir bis dahin in krisenhaften Zeiten leben werden. Die programmatischen Unterschiede werden sich in nächster Zeit nicht verschärfen. In den Grundsatzprogrammen sind Unterschiede durchaus vorhanden, aber zumindest weiten Teilen der Bevölkerung nicht bekannt und in der handelnden Politik nicht wahrnehmbar. Zugespitzte Probleme, die zu einer Polarisierung der Parteien führen, sind derzeit nicht da. Vielleicht könnte es ja so sein, dass diejenigen Parteien, die mit der glaubwürdigsten, ehrlichsten, interessantesten, Mut machenden Person aufwarten können, bei der nächsten Wahl allein deshalb Erfolg haben werden. Vielleicht ist es in der Tat so banal. Ich glaube, dass in Zeiten der amorphen politischen Parteienmasse und großen Probleme nach paternalistischen Figuren gesucht wird, also eine Personalisierung in einem Maße stattfindet, wie wir sie seit langem nicht gekannt haben. Vorausgesetzt, man hat eine solche Person, wird das tatsächlich zum Erfolg führen, was – in Klammern gesetzt – für meine Partei keine guten Aussichten gibt. 12 Thomas Steg Das reizt natürlich, sofort aufgenommen zu werden. Ich glaube, was wir im Moment erleben, ist die Bestätigung einer grundsätzlichen Erfahrung von Krisenzeiten: Manifeste Krisen sind die Stunde der Exekutive. Da bewahrheitet sich der immer doppelseitige Ausspruch: „Wer dran ist, ist dran“ mal zum Positiven. Man hat einfach einen unendlichen Vorteil, weil Politik gerade in Krisen von vorn bestimmt wird und andere tatsächlich nur reagieren können. Zweitens: Ich glaube in der Tat, dass wir heute überhaupt nicht abschätzen können, welche Polarisierungen und Mobilisierungen im Wahljahr 2013 stattfinden werden. Die Umgruppierung in der Parteienlandschaft ist in Deutschland noch nicht „Ob die FDP noch einmal die Chance hat abgeschlossen. Ob etwas Neues kommt, sich zu regenerieren? Bei Landtagswahlen muss man abwarten. Ob die FDP noch eher nicht. Bei der Bundestagswahl durcheinmal die Chance hat sich zu regenerieaus, wenn sie sozusagen einen Existenzren? Bei Landtagswahlen eher nicht. Bei wahlkampf führt.“ der Bundestagswahl durchaus, wenn sie sozusagen einen Existenzwahlkampf führt. Dr. Thomas Steg Ob die Piraten eine Chance haben, muss Geschäftsführer der man auch abwarten. In Umfragen werden STEG Kommunikation und Beratung GmbH sie unverändert hoch notiert, teilweise zweistellig. Aber haben sie überhaupt Potential sich auf Bundesebene zu etablieren und bundesweit Landeslisten zu organisieren? Man kann überhaupt noch nicht sagen, ob sie in Zukunft mehr als ein urbanes Metropolenphänomen sein werden. Insofern stimme ich der Ausgangsthese zu: Wir können durchaus nicht ausschließen, dass es eine Renaissance der großen Parteien gibt, dass sie sich stabilisieren, dass sie nicht weiter einbrechen werden. In Krisenzeiten jedenfalls traut man ihnen wieder mehr zu. Was die Personen angeht, bin ich durchaus der Meinung, dass sie für die Vermittlung wichtiger sind als gemeinhin angenommen oder als es hier in Deutschland ganz lange unterstellt worden war. Jedoch hat man nicht immer das Glück, dass das mit den Personen an der Spitze tatsächlich so funktioniert. Der baden-württembergische Ministerpräsident füllt genau eine Leerstelle aus, nach vielen Versuchen hat das Land jetzt endlich wieder einen Landesvater. Er ist der erste legitime Nachfolger von Erwin Teufel. Zwischendurch fehlte eben diese Landesvaterfigur. Insofern brauchte es auch den historischen Moment, die Katastrophe von Fukushima und ihre Folgen, dass die Grünen diese Rolle einmal besetzen können. 13 Wenn es um Köpfe geht, so hat die Bundesregierung gegenwärtig offensichtlich Schwierigkeiten, Kompetenz und Vertrauen zu vermitteln. Das hängt vor allen Dingen mit der Schwäche der FDP zusammen. Es gibt im Moment keine Anzeichen, dass die FDP auf der personellen und sachlichen Ebene so bald anders bewertet wird. Wenn die Bundesregierung noch einigermaßen dasteht, liegt es an der CDU. Genauer betrachtet liegt es nicht an der CDU, sondern an der Kanzlerin. Da werden wir die Situation erleben, dass die Kanzlerin sich in eigenen Sphären bewegt und kein Kandidat sich mit ihr auf Augenhöhe auseinandersetzen kann. Wir werden also eine asymmetrische Ausgangslage haben. Für die SPD bedeutet das, ich nehme an, dass die Grünen davon Abstand nehmen einen eigenen Kanzlerkandidaten zu benennen, sich ganz anders auf die Herausforderung der Bundeskanzlerin einzustellen. Es ist ein bisschen eine sphärische Situation, wie es bei Willy Brandt 1972 der Fall war, damals konnte kein Kandidat an dessen Nimbus kratzen oder wie in den 50er-Jahren bei Adenauer. Darauf muss man sich einstellen. Obwohl die Bundesregierung einen enormen Ansehens- und Vertrauensverlust erlitten hat, bedeutet das nicht, dass keine Chance besteht, dass zumindest die Union bestätigt wird und die Kanzlerin 2013 im Amt bleibt. Denn im Gegensatz zu den Parteien ist der Ansehensverlust der Kanzlerin allenfalls gering und es könnte ihr sogar gelingen, als erfolgreiche Krisenmanagerin die gesamte Konkurrenz zu überstrahlen. „Wir haben die Grundthese, dass es nur noch um Personen geht, durch die Diskussion hier widerlegt. Die Personen müssen, siehe Hegel, einen Zeitgeist repräsentieren und den auch mit einer frischen Sprache formulieren können.“ Christian Schoppik Abteilungsleiter Bayerische Staatskanzlei Grundsatzfragen, Planung und Kommunikation 14 Christian Schoppik Wir haben in dieser Runde ja schon mehrfach festgestellt, die Ära der großen Erzählungen ist vorbei. Damit hängt diese Fokussierung auf Personen zusammen und die Entwicklung von der Parteien- hin zur Personendemokratie, um nicht zu sagen zur Präsidialdemokratie wie in den USA. Ich möchte trotzdem mal Anwalt für eine andere These sein, die ein bisschen bewusst gegen den Strich geht: Wir brauchen die Geschichten! Personen wirken eben nicht, wenn sie nicht diese Erzählungen haben. Kretschmann ist so ein klassischer, angelsächsischer Storyteller. Er erinnert an große historische Bögen. Er stellt sich in Kontinuitätslinien, er bezieht sich auf Traditionen, Erzählungen. Was mich gefreut hat, Frau Christiansen, dass Sie das Thema Gestaltungsmöglichkeiten in der Politik angesprochen haben. Die Finanzkrise hat zu einer Renaissance des politischen Gestaltungsauftrags geführt. Doch die Erklärungen der Politik hierfür müssen verbessert werden. Und wer diese Nachfrage mit seinem Angebot erfüllt, gewinnt Legitimation und Vertrauen auch jenseits aller Parteizugehörigkeit. Karl-Rudolf Korte Wenn wir hier sagen, es ändert sich alles schnell und wird immer komplizierter, entgegnen die Akteure, das war schon immer so. Trotzdem spüren alle, es ist irgendetwas anders. Empirisch zu messen ist es schwer. Ich bezeichne das immer als Gewissheitsschwund, um es mir selbst begrifflich zu vergegenwärtigen. Vielleicht kann man sagen: Komplexität schlägt Rationalität im Moment. Wenn man es messen würde, würde man sagen, das Ausmaß von Nichtwissen hat zugenommen, ebenso von Risiko, von Komple„Die alte Volksparteiendemokratie mit xität. Von daher kann man vielleicht sagen, einem hohen Konzentrationsprozess von Risiko ist zur Regelentscheidung der zwei Parteien in der Mitte wird nicht wiePolitik geworden. Welche Konsequenzen derkommen. Aber die Mitte hat sich völlig zieht man daraus? Eine Möglichkeit wäre, neu sortiert. Parteien wirken oft alt bei der bewusst zu entschleunigen, wenn KompleWillensbildung. Sie sind aber im Hinblick xität die Rationalität schlägt. Ich finde die auf Veränderungsprozesse sehr lernfähig.“ langsame Tradition mit drei Lesungen im Bundestag eine Oase von Entschleunigung Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte im Vergleich zu allen anderen Systemen Direktor NRW School of Governance, (Ökonomie, Medien etc.) um uns herum. Universität Duisburg-Essen Ihre Qualität liegt darin, dass sie dem Tagespopulismus und dem Tagesdrang, direkt zu entscheiden, entgegensteht. Das ist eine Antwort auf die Krise: Bewusst die Qualität von Entscheidungen zu erhöhen durch Entschleunigung. Sich dazu zu bekennen, wäre für die Parlamentarier auch ein Gewinn. Andere Aufwertungen sind für die Parlamentarier zuletzt durch Grundsatzentscheidungen in Karlsruhe gefallen. Der Euro ist zu einem Parlaments-Euro geworden, der von den Entscheidungen des Bundestages abhängig gemacht wurde. Ein zweiter Punkt ist aus meiner Sicht: Es gilt die Kommunikation zu verändern, das heißt, die Erklärmacht von Politikern stärker zu nutzen, als das bisher der Fall ist. Diese Erklärmacht nutzt das Narrativ. Wenn Reden polarisieren, drücken sich die Politiker in der Regel vor einer Begründung, vor einer Erklärung. Wenn sie dazu aber den Mut hätten, könnten sie auch Mehrheiten für Unpopuläres organisieren. Das ist klassische Erklärmacht. Wie kann man den gesellschaftlichen und den sozialen Frieden in dieser Gesellschaft auf diesem Niveau erhalten? Was muss man dafür tun? Das wäre eine Begründungslinie aus der Erklärmacht resultieren könnte. Frau Christiansen hat eine Allparteienregierung in der Krise beschrieben, was uns in der Tat von allen anderen 15 Ländern abhebt und unterscheidet. Dieses hohe Gut, unseren gesellschaftlichen und sozialen Frieden auf diesem Niveau zu erhalten, dazu brauchen wir Europa. Eine Allianz aus Berechenbarkeit und Sicherheit wird am Wahltag 2013 gewinnen. Die Personen, die das authentisch durch Erfahrung verkörpert, werden vermutlich in einer Euro-RettungsKoalition auch gewählt. Mein letzter Punkt betrifft generell noch einmal die Qualität von Entscheidungen. Man braucht Risikokompetenz bei den Akteuren. Wenn Risiko die Regelentscheidung ist, und Spitzenakteure heute etwas entscheiden und nächste Woche das Gegenteil, wie kann man das eigentlich erklären? Die Legitimation kann nur daraus erwachsen, dass jede Entscheidung nicht normativ entkernt daherkommt. Das wird viel zu wenig gemacht. Ich muss einen Hauch von normativer Erklärung mitliefern, warum meine Entscheidung jetzt zu dieser Partei passt. Eine normative Verortung schützt vor dem Vorwurf von Beliebigkeit. Für die Qualität der Entscheidung ist auch wichtig, dass man beweist, dass Bürgerpartizipation ernster genommen wird. Nicht, dass ich die Illusion hätte, dass sich wirklich mehr an Stichwahlen beteiligen oder Wähler sich aktiver zeigen; aber die Option zu haben, Teilhabe auch möglich zu machen, das ist nicht zu unterschätzen. „Wie kann man „Europa“ erzählen in der Globalisierung, in der beginnenden Weltgesellschaft? Einen zentralen Bereich muss darin die Geschichte von Europa als einer lebendigen, vitalen Wertegemeinschaft einnehmen.“ Bernward Baule Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Leiter des Referates Bürgerangelegenheiten, Strategien – Corporate Social Responsibility, Corporate Citizenship – Engagementpolitik, nachhaltiger Konsum 16 Bernward Baule Ich stimme in sehr Vielem dem zu, was die Vorredner gesagt haben, wobei ich in Bezug auf die beiden Eingangsreferate die Problemsichtung vielleicht etwas anders ableiten würde. Denn unterhalb der Schwelle einer noch immer wahrnehmbaren deutschen Konsenskultur und offensichtlicher Trends wie die digitalisierte Welt und die Globalisierung einschließlich der Verschuldungs-, Banken und Finanzkrisen machen sich eine Reihe von Strömungen bemerkbar, die die bisherige politische Gesamttektonik unterspülen. Das schlägt sich auch semantisch nieder. Es liegt ja eine deutlich anders gelagerte Akzentuierung vor, wenn von einer „Trendwende“ gesprochen wird oder wenn eine grundlegende „Umbruchszeit“ diagnostiziert wird. Wenn es sich in der Tat so verhält, dass wir in einer gravierenden Umbruchszeit leben, vielleicht gar in einer politischen, sozialen und ökonomischen „Großen Transformation“ (worauf Begriffe wie Green Economy, Nachhaltigkeitsgesellschaft, Green New Deal, Suffizienzgesellschaft, Postdemokratie zielen), dann sind angesichts des Schwundes früherer Klarheiten, neue Orientierungen und darauf aufbauende Führungskraft sehr viel stärker gefragt und eingefordert. Einen themen- und argumentationsreduzierten Wahlkampf wie den letzten wird sich keine Partei mehr leisten können. Zum einen darf gerade in Wahlzeiten die öffentliche Auseinandersetzungsfähigkeit einer Demokratie nicht weiter beschädigt werden (sondern ist vielmehr zu stärken), zum anderen ergeben sich neue Parteienkonstellationen jenseits von Blockbildungen. In unserem früheren demokratischen Repräsentativsystem waren nutzenbringende politisch-kulturelle „Gewohnheiten“ eingebaut, beispielsweise so etwas wie die Weisheit des Wählers: man hat eine Partei(enkoalition) an die Regierungsmacht gebracht, dann hat diese noch einmal eine Chance erhalten, nach zwei Legislaturperioden kamen auf jeden Fall die anderen an die Regierung. Dies funktioniert nicht mehr, und zwar nicht nur wegen der Erosion der früher großen sozialmoralischen Milieus und der zunehmenden Volatilität der Wähler, sondern vor allem, weil mehr Parteien um die politische Macht konkurrieren und man als Wähler grundsätzlich nicht mehr wissen kann, welche Regierungskonstellationen sich künftig in den Ländern und im Bund bilden und welche Programmatik zum Zuge kommen wird. Die „Weisheit“ des Wählers läuft ins Leere. Damit gehen Selbstverständlichkeiten unserer Demokratie verloren - auch ein Indiz, das anzeigt, dass wir uns in einer Umbruchszeit befinden, die tiefer geht als bloße Tendenzwenden. Glaubwürdigkeit, Authentizität, Seriosität und Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit werden erheblich mehr als bisher zu entscheidenden Wahlmünzen für den Wähler, und es noch nicht ausgemacht, dass die Politik grundsätzlich wie speziell in den kommenden Wahlen diese Münzen einlösen kann. Sie hat ja schon genug Schwierigkeiten mit der anderen Münze der Demokratie, der tiefer gehenden argumentativen Begründung und deren Vermittlung über die traditionelle Werbung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hinaus. Umbruchssituationen sind Zeiten neuer Orientierung im Hinblick auf sich entwickelnde, tiefer gehende Problemkonstellationen. 17 Ich denke, dass sich zumindest drei Bereiche identifizieren lassen, in denen sich diese Orientierungssuche widerspiegelt, die aber jeder für sich auch Disparates beherbergen. Erstens: Es gibt eine anwachsende Aufwertung der Gesellschaft als - Herr Korte hat es eben angesprochen – Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft. So erleben wir eine weiter anwachsende, öffentlichkeitsstarke Zivilgesellschaft als der organisationsbezogene Teil einer umfassenden Bürgergesellschaft. Wir erleben, dass sich immer mehr Bürger aktiv einschalten und sich vermehrt engagieren wollen. Bürgerschaftliches Engagement bringt heute Ehrenamt, Freiwilligentätigkeit und Partizipation zusammen. In vielen anderen Ländern (Stichworte Arabellion, Occupy-Bewegung) und auch bei uns existiert dieses Bedürfnis nach Teilhabe, nach Partizipation in hohem Maß. Bürgergesellschaft bedeutet Vertrauen auf eigenes Tun/Mittun, auf Selbständigkeit, Eigeninitiative, Selbstund Mitverantwortung, Mitregierung. Das hat seine eigene soziale und politische Logik. Freilich bricht sich dies zurzeit etwas im Sicherheitsdenken von Teilen der arrivierten Mittelschichten angesichts der Finanzkrise. Es gibt einen Widerspruch zwischen Austerität und Aufbruch. Aber der Hebung der Engagementpotentiale gehört die Zukunft, weil im Freiwilligenengagement Orientierung vermittelt und Sinn erfahren wird. Zweitens: Auch der Staat ist sich seiner nicht mehr so sicher wie früher. In der Umbruchszeit (einschließlich der Finanz- und Schuldenkrise) wird deutlich: Der Staat weiß selbst nicht mehr richtig, welche alten, welche neuen Aufgaben er selber übernehmen soll/muss. Ist der Staat ein Wohlfahrtsstaat, der die Daseinsfürsorge, den Sozialstaat und die wirtschaftliche wie gesellschaftliche Infrastruktur sichert? Oder ist er ein Gewährleistungsstaat, der nur Aufgabenerfüllung gewährleistet, aber nicht selbst übernimmt? Oder ist er ein aktivierender Staat, der die Bürger antreibt zu eigenen Leistungen? Oder ist er ein Katalysator-Staat, der die wichtigen Richtungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorgibt und anstößt, aber dann nur den Rahmen der Entwicklung bildet? Oder handelt es sich um einen gesamtgestaltenden Staat, der sagt, wir müssen jetzt führen und damit die gesamte Entwicklung voll bestimmen, weil wir wissen, wo es lang geht – der also einen (vollen oder libertinären) Paternalismus betreibt, um die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft beispielsweise zu einer Nachhaltigkeitsgesellschaft zu machen? Welchen Standort besitzt künftig der Staat? Hinzu kommt die Herausforderung nach neuen institutionellen Arrangements. Wir haben früher immer gesagt: Markt oder Staat. Jetzt haben wir Markt und/oder Staat und/ oder Bürgergesellschaft. Wie passt das zusammen? Wie kompatibel sind die jeweiligen Logiken? Wie sieht ein künftiges produktives Arrangement aus? Zu Zeit besitzen wir da große Schwierigkeiten. Ich erlebe dies selbst - ein Bespiel - in der Ministerialbürokratie, die über lange Traditionsräume hinweg hierarchisch geprägt und strukturiert ist, und deshalb erhebliche Schwierigkeiten hat zu akzeptieren, dass da plötzlich Partner aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und vor allem aus der Zivilgesellschaft/Bürgergesellschaft vorhanden sind, die mitbestimmen und mit der Verwaltung verhandeln wollen - und zwar auf Augenhöhe. Darauf entsprechend zu reagieren und sein Verhalten demgemäß nichthierarchisch auszurichten, stellt erhebliche neue Verhaltensanforderungen an die Verwaltungsbürokratie (auf allen föderalen Ebenen); diese hat der Staat in der geforderten Weise zumeist „noch nicht drauf“. Positiv hat dies funktioniert in der Erarbeitung und Umsetzung der Nationalen Corporate Social Responsibility(CSR)-Strategie der Bundesre18 gierung, die als Nationales CSR-Forum Vertreter der Politik, der Verbände, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft/NGO´s gebündelt und einbezogen hat. In vielen anderen Fällen muss man ein Scheitern konstatieren. Man darf auf die Entwicklung gespannt sein. Drittens: Der Europabereich, der sich permanent weiterentwickelt. Neuerdings wird immer wieder hervorgehoben, dass wir hier eine Erzählung brauchen. Erzählung steht eigentlich für einsichtsvolle Begründung und Sinnvermittlung in einer besonders zugänglichen Darstellungsform. Eigentlich brauchen wir eine Revitalisierung der alten und deren Integration in eine neue Erzählung/Begründung. Zum einen die alte Erzählung, die sagt, wir in Europa stützen uns und fühlen uns einander wirtschaftlich verpflichtet, weil wir den Frieden durch gegenseitiger Verflechtung sichern, weil wir die Demokratie brauchen, weil wir wirtschaftliche Prosperität erhalten und ausbauen wollen. All das gilt weiterhin und muss auch den Jüngeren erzählt werden. Zugleich muss man ein erweitertes Narrativ entwickeln: Wie kann man „Europa“ erzählen in der Globalisierung, in der beginnenden Weltgesellschaft? Einen zentralen Bereich muss darin die Geschichte von Europa als einer lebendigen, vitalen Wertegemeinschaft einnehmen, eine Europäische Union, die sich zusammenfindet und im freiheitlichen Willen ohne Zwang sich selbst bindet an zentrale Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Teilhabe, Rechtsstaat und Sozialstaat, an einen Gerichtshof. Denn dies ist der wahre Kern, die Wertegemeinschaft auf der Basis der Selbstbindung bringt Europa in die beginnende Weltgesellschaft als Allererstes ein. Der ökonomische Imperativ: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ kann und darf nicht das letzte Wort sein. Natürlich geht dies fundamental die Bürgergesellschaft/Bürgerschaft (als Souverän) an, aber ebenso die Politik. Allerdings liegt hier eine wesentliche Schwierigkeit darin, dass die Politik oft gar nicht mehr sieht, von welch hoher Bedeutung das stetige Werben und die Vermittlung der Einsicht in die Fundamente der bundesdeutschen wie europäischen Demokratie ist. Jede Generation muss neu gewonnen, für jede eine „Erzählung“ gefunden werden. In Zeiten finanzieller Restriktionen kürzt man immer zuerst an den vermeintlich 19 „weichen“ Politikbereichen, und mit wachsender Gleichgültigkeit vornehmlich an der politischen Bildung. Aber das ist ein großer Fehler. Politik darf nicht mehr davon ausgehen, zu sagen: Irgendwie wird die Demokratie schon bestehen, irgendwie wird Europa weitergehen, sondern sie muss aktiv reingehen in die Vermittlung politischer Werte und der partizipativ-parlamentarischen Demokratie, um diese Grundorientierungen hier bei uns wie im europäischen Kontext wieder stärker zu sichern und zu erneuern. „Ich würde mir mehr solcher „Räume“ wünschen, in denen Politiker die Zeit haben, sich Gedanken zu machen. Vielleicht würde es auch den Wähler ansprechen, wenn jemand sagte, ich weiß das einfach nicht. Schon weil es der Alltagsrealität entspricht, dass Menschen nicht auf alles sofort eine Antwort haben.“ Knut Bergmann Ich möchte ein ausgesprochen unpolitisch scheinendes Statement abgeben. Die Angebots-These von Herrn Schoppik möchte ich ergänzen um den Gedanken, jetzt kommt die unpolitische Ansage, dass Politik gut daran täte, einmal davon wegzukommen, ein rein instrumentales Verhältnis zu allem und jedem Thema zu haben. Nehmen wir das Beispiel Europa, Bernward Baule hat es angesprochen: Wenn wir Europa immer nur instrumentell und rein funktional damit begründen, dass die Europäische Union und der Euro für unsere Wirtschaft wichtig sind, und es keinerlei „geistigen“ Überbau gibt und auch die Historie keine Rolle mehr spielt, sondern allein die materiellen Vorzüge, dann werden wir mittelfristig niemanden mehr von Europa überzeugen können. Und das gilt selbst für Jüngere, die den Begriff „Erbfeindschaft“ und die Schützengräben von Verdun – wenn überhaupt – nur noch aus Geschichtsbüchern kennen. Und diesen rein instrumentell-funktionalen Zugang von Politik lässt sich bei vielen der hier genannten Themen runterbrechen. Zum Teil gilt es auch für das, was Herr Korte sagte, mit der Entschleunigung durch die drei anachronistischen Lesungen im Bundestag. Ich würde mir mehr solcher „Räume“ wünschen, in denen Politiker die Zeit haben, sich Gedanken zu machen. Vielleicht würde es auch den Wähler ansprechen, wenn jemand sagte, ich weiß das einfach nicht. Schon weil es der Alltagsrealität entspricht, dass Menschen nicht auf alles sofort eine Antwort haben. Jetzt sagt der Regierungssprecher hier natürlich, dafür werden wir nicht gewählt – sondern wir werden dafür gewählt, immer auf alles sofort eine Antwort zu haben. Ich bezweifle das aber. Dr. Knut Bergmann Fellow des Projekts „Zukunft der politischen Parteien“ der stiftung neue verantwortung, Berlin 20 Bernward Baule hat mit seinem Beispiel aus der Ministerialbürokratie wirklich wunderschön gezeigt: Wenn wir als Politik und als Bürokratie, ich entstamme selbst einer solchen, nur einen Hammer haben als Instrument, dann ist automatisch jedes Problem ein Nagel, auf den wir gelegentlich so lange einprügeln, bis die ganze Wand zusammen bricht. Das funktioniert in der Zivilgesellschaft mit ihren Bestrebungen überhaupt nicht. Es funktioniert auch nicht in den Parteien, wenn ich meine Mitglieder nur dazu brauche, dass sie Stimmvieh sind und Plakate kleben, dann ist das ein rein instrumentelles Verhältnis. Insofern wäre mein Rat – jetzt Ende 2011 – an jede Partei: Das Problem ist grundsätzlich, dass ihr immer nach 2013 fragt, aber nicht nach 2017. Eva Christiansen Die Frage steht im Raum, warum hat die Politik, ich meine alle Parteien im Parlament, es nicht geschafft, den Deutschen den Euro zu erklären? Woher nehmen wir eigentlich die Gewissheit, zu sagen, die Politik hat nicht genügend erklärt, warum wir den Euro brauchen? Alle Umfragen, die ich kenne, zeigen, dass eine klare Mehrheit der Leute den Euro richtig finden und damit auch richtig finden, dass wir alles tun sollten, den Euro zu stärken. Sie sind unterschiedlicher Meinung, wenn die Instrumente abgefragt werden, aber im Grundsatz sind die Deutschen doch solidarisch. Was ich damit sagen will, wir machen uns selbst kleiner als nötig, wenn wir diese Frage annehmen, und ich meine damit alle. Denn es ist ja nicht nur die Leistung der Bundesregierung, die den Euro so wunderbar verteidigt, sondern es sind doch fast alle Parteien für den Bestand des Euro. Alle argumentieren doch, wie wichtig und erfolgreich der Euro für uns Deutsche ist, damit wir in der Globalisierung standhalten können, also lassen wir uns die Erklärmuster, die wir haben, nicht so klein machen. Wir sollten uns nicht alle einreden lassen, dass uns die großen Geschichten komplett fehlen, dass wir nicht genug erklären. Der zweite Punkt, den ich noch einmal in den Raum stelle, ist das Thema Personen und Personalisierung. Wir haben keine Direktwahl der Bundeskanzlerin oder des Ministerprä21 sidenten. Meine Erfahrung ist, dass der Herausforderer noch so gut sein kann, entscheidend ist, ob man mit der amtierenden Regierungsarbeit zufrieden oder unzufrieden ist und welcher Partei man die Lösungskompetenz für die Zukunft am meisten zutraut, d.h. Regierungsparteien werden abgewählt oder bestätigt. Jetzt zu Herrn Kretschmann: Ich kann nicht beurteilen, ob er ein guter „Geschichtenerzähler“ ist. Sein Pfund am Anfang war doch vor allen Dingen, dass er kein Schreckgespenst war für diejenigen Wähler, die mit der CDU-geführten Landesregierung unzufrieden waren. Jetzt ist er im Amt und kann die Landesvaterrolle ausfüllen und den Leute zeigen, ob er das kann oder das nicht. Das war der Vorteil, der in seiner Person lag. Einen Herausforderer, der gute Persönlichkeitswerte hat, ist eine notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung. Oliver Schmolke Mich reizt die Frage nach der fehlenden großen Erzählung, die hier viele angesprochen haben, zu Widerspruch. Ich weiß nicht, wie es den Kolleginnen und Kollegen geht, aber wenn ich in der Politik das Bedürfnis nach Narrativen höre, dann läuft es mir immer kalt den Rücken herunter. Wir sind eigentlich nicht dazu da, Narrative zu entwickeln, wir müssen uns vielmehr Urteilskraft zutrauen und für Orientierung sorgen. Anders gesagt, wer als Politiker auf der Suche nach Narrativen ist, zeigt, er hat keine oder besser: ihm fehlt die Orientierung. In dem Moment, in dem die Orientierung da ist, taucht die Frage nach dem Narrativ gar nicht mehr auf. Sie verschwindet einfach. Ich bin der Meinung, wir kommen aus einer Phase sehr starker Erzählungen in der Politik. Wir hatten über Jahre in allen gesellschaftlichen Bereichen ein sehr starkes Narrativ der liberalen Idee, genauer gesagt, einer marktliberalen Idee. Das war überall spürbar und hat mit der gegenwärtigen Koalition auch „Gerechtigkeit geht über die Lippen, das ist eine Formation an die Macht gebracht. Die ein alltagstaugliches Wort und es ist erfahIronie der Geschichte ist nun, dass in dem rungsgesättigt. Denn es gibt Zeichen einer Moment, in dem diese Formation übergespaltenen Gesellschaft. Das ist mein Blick nommen hat, die Orientierung weggebroauf 2013: Wir werden eine große gesellchen ist, durch verschiedene Probleme, schaftliche Debatte um die Gerechtigkeitsvor allem durch die fortdauernde Finanzfrage erleben.“ marktkrise. Das Alte ist vorbei, und das Neue hat noch nicht begonnen. Alle sind Dr. Oliver Schmolke auf der Suche danach, wo das Neue greifLeiter der Planungsgruppe der SPD-Bundesbar zu machen ist. Und so heißt es jetzt, es tagsfraktion im Deutschen Bundestag fehle die große Erzählung. 22 So wenig wie die liberale Erzählung vom Abbau des Staates noch überzeugt, so wenig überzeugt die Rückkehr zum alten sozialstaatlichen Weg. Das hat die SPD 2009 erfahren und das gilt bis heute. Alle sind auf der Suche nach neuen Ordnungskategorien. Eigentlich ist das die hohe Zeit einer neuen Ordnungspolitik. Da gebe ich meinen Nachbarn ausdrücklich Recht. Alle Parteien sind gut beraten, sich diesem Wettbewerb der Ideen auszusetzen. Wie kann die Politik eine neue Ordnung finden? Wie sichern wir die demokratische Legitimation von Entscheidungen? Ich glaube nicht, dass sich die Trennlinien zwischen den politischen Lagern verwischen. Wir haben aber ein gemeinsames Problem. Es geht um die Zukunft der Demokratie, das wissen wir alle. Zur Forderung nach Entschleunigung: Ich sehe diesen Wunsch als Indikator einer anomischen Prozessveränderung. Wir ringen um die Kontrolle politischer Entscheidungsprozesse, die immer massiver von anonymen Marktmächten vorgegeben werden. Wir haben die Kontrolle nicht, und die Leute spüren das. Sie haben kein Vertrauen mehr. Damit bin ich beim nächsten entscheidenden Stichwort, dem Vertrauensverlust. Und der trifft uns alle gleichermaßen. Das ist etwas, was uns gemeinsam herausfordert, worüber wir alle nachdenken müssen. Wie ist dieser Verlust von Vertrauen in die etablierte Politik zu überwinden? Es gibt einen Trend, der ausgelöst ist durch die Dimension der Krise, und zwar zurück zu einer werteorientierten Politik. Um Werte wird wieder gerungen. Ich will das festmachen an dem Thema Europa. In der Frage, wie es weitergeht, steht ein Wert im Zentrum, über den gesprochen werden muss, das ist die Solidarität. Trägt die Solidarität in einem transnationalen Gebilde oder rutschen wir zurück in nationale Loyalitäten? Diese Frage wird jetzt ausgefochten, nicht ohne Risiko. Es ist nicht so, dass Solidarität in der Bevölkerung immer als gut empfunden wird und dass, wer sie sich auf die Fahnen schreibt, immer der Sieger der Geschichte ist. Das kann nach hinten losgehen. Zugleich aber gibt es ohne Solidarität jenseits nationaler Grenzen kein Europa. Darum streiten wir. Das führt auch wieder zu Trennlinien und möglicherweise zu sehr scharfen Trennlinien. 23 Thomas Falkner Ich will mal einen Schritt zurückgehen, um eine realistische Analyse zu machen, warum die Welt so kompliziert geworden ist. Wie sind die Herausforderungen? Es sind zwei große Basisprozesse: Der eine dauert länger und hat damit zu tun, wie wir den Standort Deutschland politisch, sozial, ökonomisch, kulturell in der globalisierten Welt definieren. Wir müssen weiter über die Wettbewerbsbedingungen nachdenken. Das hat mit Effizienz zu tun, mit Rohstoffeffizienz und Bildung. Was ist eigentlich die Basistechnologie? Ist es die grüne Technologie oder sind es Computer und Digitalisierung oder beides zusammen? Darüber lagert sich der zweite Punkt, der lässt sich als Finanzkrise im weiteren Sinne beschreiben. Die haben wir in der ganzen Dimension noch nicht erfasst. Dies sind alles große Fragen. Die haben alle etwas mit dem sozialen Zusammenhang und mit Regulation zu tun. Es sind eigentlich linke Fragen - links im gesellschaftspolitischen Sinne, nicht eingeengt auf die Partei DIE LINKE. Was bedeutet das für die Parteien? Da ist der Problemdruck ganz enorm. Ich beobachte auch, was Sie gerade beschrieben haben: Nicht Entschleunigung, sondern Hyperdynamisierung von politischen Prozessen, sodass man vor der Frage steht, funktioniert diese Demokratie noch oder eigentlich nicht mehr? Zur Prognose für 2013: Gerade die großen Parteien, die mit zumindest regional volksparteilichem Charakter, stehen unter dem Druck zu entscheiden, ob sie sich eher im traditionellen Sinne mit traditionellem Handwerkszeug verhalten, also das Bild mit „Die Linkspartei hat sich im Grunde dem Hammer und dem Nagel, oder ob genommen mit der Programmdebatte sie zu einem ultradynamischen Pragmaentschieden, eher einen sozialstaatlich tismus übergehen. Offensichtlich ist hier konservativen linksfundamentalistischen ein Pragmatismus der kontrollierten, Kurs zu gehen. Damit hat sie sich positinotwendigen Schritte. Das hat auch mit oniert.“ Erzählung und Vertrauenswerbung zu tun, wenn man eingesteht, die Welt ist eben Dr. Thomas Falkner so. Das wiederum finde ich, macht Frau Referent des Franktionsvorstandes DIE Merkel ziemlich klug, nachdem sie ja erst LINKE im Landtag Brandenburg mal unter Beschuss geraten war, sie sei entweder zu zögerlich oder es fehle der große Wurf, einfach zu sagen: Liebe Leute, wir müssen hier erst einmal schauen, wir dürfen auch nicht zu schnell schießen. Es kann sein, dass das, was wir im Mai noch nicht richtig finden, im Dezember seinen richtigen Zeitpunkt hat. Das ist ja auch Politik. Die Kunst, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Die Linkspartei hat sich im Grunde genommen mit der Programmdebatte entschieden, eher einen sozialstaatlich konservativen linksfundamentalistischen Kurs zu gehen. Damit 24 hat sie sich positioniert. Bei den beiden großen Parteien ist es schwieriger, das gebe ich zu. Die FDP hat nicht den Volksparteicharakter. Zu den Grünen will ich sagen, der Hype war mehr als Fukushima, das fing früher an. Und es hat was mit Basistechnologie zu tun, also mit der Suche der Menschen gerade in Baden-Württemberg, die richtige Öffnung zu kriegen für die zukünftige Entwicklung. Da ist viel in Bewegung. Letzte Bemerkung: Da ist etwas dran, dass das Ende dieser Chimäre Neoliberalismus da ist. Das war eine Deutungsmacht, das ist in weiten Dingen zu Ende gegangen, da müssen wir rhetorisch neu ansetzen. Man muss auch erkennen, dass es als kulturelles Phänomen, als Zeitgeist, als Lebensphilosophie scheitert. Das letztere erleben wir gerade bei „Occupy“, das andere eher bei den Piraten. Ich halte das schon für ernster. Ich glaube, dass wir uns darauf einrichten müssen, dass da eine neue Generation nachkommt. Diejenigen, die schon stark mit Computern, mit Digitalisierung und im Netz sozialisiert sind, kommen jetzt aus der Ecke der Freaks und Nerds in die Mitte der Gesellschaft und zwar als nachrückende Generation. Christopher Gohl Ich möchte zwei Themen aufgreifen, die wichtig waren. Erstens das Narrativ. Zweitens das, was ich demokratische Regierungsfähigkeit nennen möchte, das betrifft die Gestaltungsfähigkeit, die Frau Christiansen angemerkt hat. Ich will kein Narrativ haben für die Wähler „Wenn Politiker Gestalter, nicht Getrieoder für das Wohlfühlen, sondern eigentbene sein wollen, wenn sie Führung lich für die Orientierung der Politik selbst. kommunizieren wollen, dann brauchen Sie muss wissen, was sie eigentlich will sie eine klare, konsistente Vorstellung und sie muss auch eine Ordnung haben, davon, wie das alles einmal zusammendie sie erklären und in ein Narrativ umhängen soll in Europa.“ setzen kann. Wenn man ein konsistentes Narrativ, eine konsistente Ordnung, ein Dr. Christopher Gohl konsistente Vorstellung davon hat, wie die Leiter der Abteilung Politische Planung, Welt funktionieren sollte, kann man auch Programm und Analyse der FDP-Bundeskonsequente Politik machen. Man kann geschäftsstelle wiedererkennbare Politik machen. In diesen Umbruchszeiten, in denen wir neue Ordnungen finden und auch begründen müssen für Europa, sehe ich nirgendwo eine Partei, die auch nur einen Hauch einer Antwort hätte, wie sie sich die Demokratie in Europa eigentlich vorstellt. Wir haben völlig unterschiedliche Vorstellungen in Europa über die Rolle des Rechtsstaats, über die Verfassung, die Rolle von Gesetzen und Gerichten. Wenn Politiker Gestalter, nicht Getriebene sein wollen, wenn sie Führung kommunizieren wollen, dann brauchen sie eine klare, 25 konsistente Vorstellung davon, wie das alles einmal zusammenhängen soll in Europa. Nun zum Problem der demokratischen Regierungsfähigkeit. Das zentrale Problem der Politik liegt nicht darin, nicht regierungsfähig oder gestaltungsfähig zu sein, sondern auf demokratische Art und Weise regierungsfähig und gestaltungsfähig zu sein. Sozusagen die Staatskunst unter demokratischen Bedingungen zu üben und zu lernen, wie Bürger besser beteiligt werden, damit neben der Akzeptanz auch die Qualität von Entscheidungen erhöht wird. Richtig beteiligen zu können, ist in einer Demokratie doch eine Frage strategischer Führung. Ich sehe bei den Parteien noch keine großen Anstrengungen, dass sie das Handwerk der Beteiligung lernen. Auch bei den Grünen vermute ich, dass sie sich eher als die Ersetzung demokratischer Beteiligung betrachten und sich als Bewegung und als natürliches Bindeglied zwischen Gesellschaft und Parteien begreifen. Die Frage nach dem Narrativ und nach demokratischer Regierungsfähigkeit fallen zusammen, wenn wir beantworten wollen, was in Zeiten leerer Kassen vom Staat und von der Politik verlangt wird. Ich meine, dass wir Staat und Politik zu häufig noch verwechseln. Ich würde mal gern die Perspektive diskutieren, Politik zu entstaatlichen. Das passiert gerade, weil Akteure in der Gesellschaft selbst anfangen, Projektpolitik zu machen und Probleme zu lösen. Was die Frage aufwirft: Wofür ist der Staat im Kern zuständig? Wofür ist die Regierung zuständig, und wofür Markt, Bürgergesellschaft und Einzelner? Wie schon von Herrn Baule gefordert, diese Verhältnisse müssen wir neu bestimmen. „Um stärker zu werden als die Union, muss die SPD eigene Angebote machen und nicht nur darauf setzen, dass Frau Merkel am Ende versagt hat. Diese Konzepte sehe ich bislang nicht. Dort liegt die Aufgabe.“ Ulrich Deupmann war zum Zeitpunkt des Gesprächs Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und ist jetzt Partner der Brunswick Group 26 Ulrich Deupmann Wir haben viel über das große Überforderungssyndrom gehört. Die Bürgerinnen und Bürger, die abends die Tagesschau schauen, kennen dies, aber auch die Politik. Hinzu kommt als wichtigster gesellschaftlicher Trend: der Vertrauensverlust. Ein Gefühl hat sich verbreitet: Die da oben haben das nicht mehr im Griff. Das verunsichert die Leute sehr. Und ähnlich tief geht der Vertrauensverlust gegenüber der ökonomischen Elite. Die Leute haben das Gefühl: Unser Wirtschaftssystem funktioniert nicht mehr richtig. Der Merkel’sche Ansatz ist: Wo keine Orientierung ist und ich auch keine habe, schau ich mal, was nächste Woche richtig ist. Diese späten Erkenntnisse versuche ich dann möglichst im Sinne nachholender Sinnstiftung zu verkaufen. Das funktioniert bislang, weil die Ergebnisse nicht dagegen gesprochen haben. Die Bürgerinnen und Bürger haben kaum den fachlichen Überblick, die Eurokrise zu beurteilen. Sie wissen nicht, was auf der Instrumentenebene richtig oder falsch ist. Sie schauen am Ende auf Ergebnisse: Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Wirtschaftsdaten sind noch gut, der Euro ist noch nicht zerbrochen - kein großer Grund also, sich zu beklagen. Bei der Eurokrise weiß noch niemand, wie das endet. Die Ergebnisse zählen auch hier für die Frage, ob diese Kanzlerin abgewählt wird. In dieser Lage ist für alle Parteien das Geheimnis des Erfolgs, wenn sie zu ihrem Markenkern zurückkehren und diesen Kern herausstellen. Die Grünen haben das mit ihrem Konzept der Nachhaltigkeit sehr erfolgreich gezeigt. Sie sind auf diesem Gebiet glaubwürdiger als andere und damit wirklich vorne im Empfinden der Leute. Die SPD ist zwar weitgehend geschlossen und hat sich im Gegensatz zu vielen Erwartungen nach der Wahlniederlage 2009 nicht zerfleischt. Sie hat es aber noch nicht geschafft, sich mit Blick auf ihren Markenkern zu profilieren. Der heißt Arbeit und Gerechtigkeit. Dieser Kern muss wieder in politische Richtungsthemen verwandelt werden. Das ist eine Voraussetzung dafür, wenn die SPD in zwei Jahren wieder den Kanzler stellen will. Um stärker zu werden als die Union, muss sie eigene Angebote machen und nicht nur darauf setzen, dass Frau Merkel am Ende versagt hat. Diese Konzepte sehe ich bislang nicht. Dort liegt die Aufgabe. Am Ende werden zwei Dinge darüber entscheiden, wer stärkste Fraktion im Bundestag wird. Das eine sind die Ergebnisse dieser Regierung. Der zweite Punkt wird sein, ob es SPD und Grünen gelingt, einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zu entwickeln, der die Menschen überzeugt, An dieser Frage entscheidet sich letztlich, ob es eine Chance gibt, Frau Merkel abzulösen. Joachim Koschnicke Ich habe mich angesprochen gefühlt, als Eva Christiansen sagte, warum machen wir uns eigentlich so klein. Wenn man die Adlerhorst-Perspektive einmal verlassen darf, glaube ich in der Tat, dass die Deutschen da draußen „Ich glaube, dass neben den klassischen Disziplinen, die Parteien immer geprägt haben mit Blick auf Wahlkämpfe, Kompetenzwerte, Personenwerte, eine weitere Disziplin hinzugetreten ist. Das ist so etwas wie eine kulturelle Bindungskraft in die Gesellschaft hinein zu entwickeln.“ Joachim Koschnicke Geschäftsführer Forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH 27 schaftsordnung aus der Balance ist und wieder hingeführt werden muss, dann sind das die Fragen, welche die Parteien beantworten müssen und vielleicht auch zur Wahl stellen müssen. Ich glaube, dass da zunächst die großen, die traditionellen Parteien, einen Vorteil haben, weil sie historisch immer wieder gefordert waren, auf vergleichbare gesellschaftliche Phänomene zu reagieren. Aber es ist damit nicht gottgegeben, dass es den großen Parteien gelingt. Ich glaube, dass neben den klassischen Disziplinen, die Parteien immer geprägt haben mit Blick auf Wahlkämpfe, Kompetenzwerte, Personenwerte, eine weitere Disziplin hinzugetreten ist. Das ist so etwas wie eine kulturelle Bindungskraft in die Gesellschaft hinein zu entwickeln. Wir wissen alle, dass Wahlkämpfe keine Erntedankfeste sind. Man wird nicht nur gewählt, weil es irgendwie gut gelaufen ist. Insofern braucht man diese kulturelle Bindungskraft in die Gesellschaft hinein, doch die haben die etablierten Parteien, die Grünen gehören mittlerweile zu diesem etablierten Kreis, nicht wirklich. Was auch die Ursache dafür ist, dass wahrscheinlich neue Parteien wie die Piraten zumindest eine Chance haben. Mal sehen, ob sie es schaffen oder medial verdrängt werden. sehr viel unaufgeregter und cooler sind als die meisten hier im Raum. Die Deutschen sind auch gelassener als viele andere Nationen. Das hängt natürlich mit der ökonomischen Stärke zusammen, mit den Ausgleichen des Sozialsystems, mit der erfolgreichen Gesellschaftsordnung. Wir haben nicht diese Protestkultur, diese Protesteruption wie in den anderen europäischen Ländern, in Spanien, Großbritannien ganz stark, aber auch in Israel, in Chile oder, von den USA ausgehend, „Occupy“. Ich persönlich glaube sogar, dass der Begriff der German Angst sich mittlerweile überholt hat. 2008, nach Lehmann und dann nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, waren die Deutschen gefasster als die allermeisten anderen Nationen. Meine persönliche These ist, wenn wir ein Referendum in Deutschland durchführen würden zu europäischen Fragen, also was die FDP im kleinen macht, hätte ich keine Furcht. Ich glaube, dass die Mehrheit der Deutschen den bisher gewählten Weg unterstützen würde. Es ist so wie Frau Christiansen gesagt hat. Es gibt auf der anderen Seite natürlich auch Vertrauensschwund, ein Überforderungssyndrom und viele andere Begrifflichkeiten. Wenn man die Menschen fragt, wovor habt ihr am meisten Angst, dann antworten sie, vor verschuldeten Staaten, was sehr klug ist. Ihre zweitgrößte Sorge, ist die vor instabilen Sozialsystemen, was noch klüger ist, weil es eine Ableitung von der ersten ist. Die drittgrößte Sorge ist seit vielen Monaten stabil: Es die Angst vor überforderten Politikern. Das hat es früher nicht gegeben. Das Problem ist hier allerdings, dass die wenigen, die das hoffentlich durchblicken und durchschauen, nicht sagen dürfen, was sie wissen, weil sonst die Märkte so oder so reagieren würden. Der ehrliche Diskurs muss den möglichen Reaktionen der Märkte untergeordnet werden. Das ist momentan das eigentliche Problem, da würden große Geschichten nicht helfen. Es ist ehrlicher zu sagen, wir suchen nach den Antworten. Was heißt das mit Blick auf zukünftige Wahlen und Wahlkämpfe? Es ist ja vordergründig richtig, was gesagt wurde, die großen Konfliktlinien scheinen erst mal ausgeräumt, zumindest die traditionellen Konfliktlinien. Wenn es stimmt, dass momentan die Gesell28 Ansgar Hollah Zur Frage nach Personen oder Parteien: Ich glaube auf Landesebene ist es schon so, auf kommunaler Ebene sowieso, dass die Person eher im Vordergrund steht. Also Kurt Beck in Rheinland Pfalz abzuwählen, das wird nicht ganz leicht sein. Wowereit in Berlin ist auch so ein Phänomen. Da kommt es schon mehr auf die Person an. Auf der Bundesebene glaube ich allerdings, dass Parteien schon mehr im Vordergrund stehen als Personen. Wenn Parteien dann das Gefühl vermitteln, wir können das, egal was auf uns einstürmt, wir kriegen das hin und wir haben auch die Leute dazu, die das in gelassener Fahrweise regeln können, dann hat man gar nicht so schlechte Aussichten. Herr Koschnicke hat die Politikverdrossenheit angesprochen, wie viele Leute kritisch die überforderten Politiker betrachten. Für mich gehört hier auch dazu, dass Politiker nicht Dinge versprechen, die sie nicht einlösen können. Auf der anderen Seite gibt es einen Reflex der Politiker, der häufig zu beobachten ist. Beispielsweise wenn wir diese schrecklichen Geschehnisse der Nazimorde anschauen: Wir haben im Prinzip Strukturen so etwas aufzuklären, „Wenn Parteien dann das Gefühl vermitteln, wir können das, egal was auf uns einstürmt, wir kriegen das hin und wir haben auch die Leute dazu, die das in gelassener Fahrweise regeln können, dann hat man gar nicht so schlechte Aussichten.“ Ansgar Hollah Leiter der Planungsgruppe der CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag 29 trotzdem kommt der Ruf nach einen Sonderermittler, einem extra Ausschuss, einem neuen Gremium. Wenn man als Politik sagt, die Instrumente, die wir haben, reichen nicht, wir brauchen etwas Neues, dann organisiere ich doch geradezu den Eindruck, dass Politik überfordert ist. Andere stellen mit Absicht dann gleich die Problemlösungsfähigkeit des Systems in Frage. Das alles vermittelt dann den Eindruck, dass die Politik überfordert ist. Rudi Hoogvliet Ich glaube nicht, dass die Politik überfordert ist. Ich glaube, dass es der Politik seit langem an Mut fehlt, dass sie viel zu ängstlich agiert. Mit dem, was hier gesagt wird, gewinne ich keine Wahlen. Wir reden hier über die Bundestagswahl 2013, natürlich muss man den Blick auch mal auf 2017 oder 2020 werfen. Natürlich brauchen wir Werte. Ich wäre der Letzte, der das bestreiten würde. Natürlich brauchen wir eine Erzählung. Oder eine gefestigte Grundordnung oder einen Markenkern, gegen den man nicht verstoßen darf. Die SPD ist, wenn ich das richtig sehe, gerade durchaus erfolgreich, aber mühsam dabei, den von Schröder beschädigten Markenkern wiederherzustellen. Das alles ist Voraussetzung, aber damit allein gewinnst du keine Wahl. Das ist das Fundament, das Grundrauschen. Und natürlich haben wir weiß Gott große Probleme zu lösen. Sie haben Recht, es ist eine Umbruchszeit. Es sollte eigentlich vieles passieren, eine Neuordnung von Staat, Markt und Gesellschaft, eine Stabilisierung und Weiterentwicklung der Demokratie. Was hält diese Gesellschaft zusammen? Ich halte diese großen Fragen allerdings für lösbar, wenn die Politik nur ein wenig Mut aufbringen würde. Und es braucht wirklich nicht so viel davon. Die Politik ist derart in Misskredit geraten, dass schon geringe Angebote große Wirkung erzielen können. Die Menschen wollen sich nicht von der Politik abwenden. Sie gieren danach, dass eine vernünftige Politik gemacht und angeboten wird. Die Partei, die dazu bereit ist, der Politiker der dazu bereit ist und auch bereit ist, die vielleicht notwendigen schmerzhaften Einschnitte zu benennen und einzuführen, der Politiker, der dazu den ehrlichen Dialog mit den Menschen im Land sucht, hat eine gute Chance, die Nase vorne zu haben. Banal? Vielleicht. Und trotzdem trauen sich die Wenigsten? Ich spreche aus meiner eindringlichen Erfahrung nach der Volksabstimmung zu Stuttgart 21. Danach wurden Kommentare über Kommentare geschrieben, es gäbe zwei Gewinner: die Demokratie und Kretschmann. Dabei hat letzterer gerade die Abstimmung verloren. Mit Pauken und Trompeten! Warum ist er Gewinner? Weil er sich vor der Abstimmung schon hingestellt hat und gesagt hat, wenn ich nächsten Sonntag verliere, dann wird gebaut und ich werde das durchsetzen. Die eigene Fraktion ist vor Schreck vom Stuhl gefallen, alle anderen haben applaudiert. Und er hat das durchgehalten. Auf die Haltung kommt es an, auf eine Haltung, die auf einer fundierten Grundlage funktioniert, auf Werten, auf einer bestimmten Erzählung, mit dem Wissen über den Markenkern und einer großen Überzeugung davon, was die Aufgabe des Jahrhunderts ist. Mit all dem im Tornister lässt es sich frei und einigermaßen ordentlich agieren, dann kann man Sachen anbringen, von dem die meisten Taktiker meinen, vielleicht nicht die Strategen, das darfst du nicht sagen, das musst du anders machen. Es sind einige wenige, die das praktizieren und hinkriegen. Die Politiker, die so funktionieren und nicht blind nach Bild, BAMS und Glotze agieren, sondern gefestigt, geerdet sind, ausgestattet mit einer Orientierung, denkend in langen Linien und mit klaren Ansagen operieren, die werden gewinnen. 30 Angesichts der Tatsache, dass das Image der Bundesregierung nicht so wahnsinnig gut ist, sehe ich natürlich eine Chance, dass da eine Änderung stattfindet. Ich glaube, es wäre ein großer Gewinn, wenn sich mehr Politiker positionieren würden, mit etwas mehr Mut, Zuversicht und Bereitschaft, auch Unangenehmes auf den Tisch zu bringen. Es ist einfacher als man denkt. Das ist meine Erfahrung aus den ersten acht Monaten in BadenWürttemberg. Mirja Höge Ich will einige der diskutierten Aspekte aufgreifen. Meine Meinung ist auch, dass wir erst dann in der Lage sind, Wahlen zu gewinnen, wenn wir die Themen, über die wir gerade gesprochen haben, aus der Alltagsperspektive der Menschen verstehen lernen. Und damit meine ich nicht, dass wir uns einfach den Claim geben, „Nah am Menschen“, sondern dass wir Methoden wie zum Beispiel Fokusgruppen nutzen, um zu hören, wie Bürger und Bürgerinnen Themen wirklich wahrnehmen und bewerten. Ich glaube auch, dass die zentrale Aufgabe sein wird, Antworten zu finden, wie denn der soziale Friede in Deutschland, Stichwort: Neue Soziale Ordnung, aufrechtzuerhalten und letztendlich, welche Rolle „Es wäre hilfreich, politische Strategien wir auch in Europa spielen wollen. Zu dem und Kommunikation langfristig anzulegen. erscheint mir Europa in der nationalen Aber die Realität ist eine andere: Politik und internationalen Berichterstattung der und erst recht die politische Kommuniletzten Jahre zu reduziert auf die Frage von kation ist alltagsgetrieben.“ Wirtschaft und Wachstum. Die europäische Idee aber war und ist wohl auch noch heuMirja Höge te viel mehr als das: Ein Garant für Frieden Zwille von Kiesel auf unserem Kontinent. Und dies erscheint mir umso bedeutsamer zu kommunizieren, wenn ich daran denke, dass für eine ganze Generation heute Europa wohl eher dafür steht, dass man mit einem Billig-Flieger nach Barcelona kommt und dort praktischer Weise kein Geld wechseln muss. Es wurde davon gesprochen, dass plötzlich der Wunsch entstanden sei, nach mehr Bürgerbeteiligung in der Bevölkerung. Das muss ich aus meiner Erfahrung klar verneinen. Der Politik ist lediglich erst jetzt bewusst geworden, dass offenbar die Bürgerinnen und Bürger mehr mitsprechen wollen. Und sie - die Politik - hat erst jetzt die Courage, ein wenig die Tür zu öffnen, so dass die Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit haben, mitzugestalten. Ich glaube allerdings, dass die Politik noch weit davon entfernt ist, glaubwürdige Formate für diese direkte Bürgerbeteiligung anzubieten. Wir sehen das auch in der 31 Landesregierung im Südwesten, da gibt es eine ganze Reihe von Infrastrukturprojekten, die jetzt unter der Headline von „Politik des Gehörtwerdens“ mit Bürgerbeteiligung zu kämpfen haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Da muss sicher noch einiges passieren, dass die Politik Antworten darauf findet, wie wir denn die direkte Demokratie in Zukunft regeln wollen. Zu der Bemerkung, dass die Kanzlerin mit ihrem Verhalten der „nachträglichen Sinnstiftung“ wenig Strategiefähigkeit beweisen würde. Das sehe ich nicht so. Nachdem wir in den vergangenen Minuten alle dargelegt haben, dass es in der heutigen Zeit schwierig, ja unmöglich erscheint, heute schon zu wissen was morgen richtig sein wird, erscheint mir diese Herangehensweise als vielleicht sogar die einzige Strategie Vertrauen in Wirtschaft und Gesellschaft zu initiieren um zumindest zeitweilig der Finanz- und Verschuldungskrise Herr zu werden. Daran anschließend möchte ich die Aussagen über die aktuellen Krisenerscheinungen ergänzen und postulieren, dass es bei der heute viel beschworenen „Krise“ nicht nur um eine Finanz- oder Verschuldungskrise handelt. Wir leben in einem Zeitalter von einem Krisen-Konglomerat: Finanz-, Wirtschafts-, Ressourcen- und Klimakrise. Eine Antwort auf „die Krise“ wird es somit nicht geben können. Zum guten Schluss: Es wäre tatsächlich hilfreich, politische Strategien und Kommunikation langfristig anzulegen. Aber die Realität ist meiner Erfahrung nach eine Andere: Politik und erst recht die politische Kommunikation ist alltagsgetrieben. Ich bin oft schon froh, wenn ich mit meinen Kunden die jeweils nächste Woche planen kann. Thomas Steg Es ist in der Tat deutlich geworden, dass es jetzt, Anfang Dezember 2011, unendlich schwer fällt, Prognosen für das Jahr 2013 abzugeben. Und schon gar Prognosen darüber, wie sich ein Wahlkampf anfühlen mag, wie er thematisch zugespitzt werden soll. Dazu ist der aktuelle Eindruck der Krise einfach zu übermächtig. Deutlich geworden ist die Sondersituation, die wir in Deutschland haben, denn wir unterscheiden uns fundamental von allen anderen europäischen Staaten. Dann gibt es etwas, Eva Christiansen hat das mit dem Lob der Konsensdemokratie beschrieben, das ist durchaus für Parteien ambivalent. Was ich als außerordentlich positiv empfinde ist, dass keine politische Kraft auf die Idee gekommen ist, in dieser Krise so etwas wie eine Sonthofen-Strategie auszuprobieren. Den Wunsch nach Unterscheidbarkeit und Abgrenzung voneinander gibt es aber in der Tat in der Bevölkerung. Das heißt, die Schwierigkeit besteht hier für die Opposition unter Krisenbedingungen darin, wo und wie man eine Alternative deutlich machen kann, ohne die Krise instrumentell zu nutzen? Im Interesse der Menschen muss man die Krise gemeinsam überwinden. Trotzdem erwarten die Bürger auch im Umgang mit der Krise und ihren Folgen einen Differenznachweis. Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei weniger um einen großartigen gesellschaftspolitischen Entwurf, sondern die Alternative wird sich eher im Mikrobereich bewegen, wenn nicht im Nanobereich. Ich glaube, Haltung wird eine große Rolle spielen. Glaubwürdigkeit auch. Das muss programmatisch gedeckt sein. Bei der SPD bin ich völlig d’accord mit Ihnen, wenn es nicht gelingt, Solidarität, Bildung, Aufstieg wieder zu einem glaubwürdigen Gesamtansatz nach 32 der Agenda 2010 und allfälligen Sündenfällen zu machen, wird es schwierig, tatsächlich zu punkten. Wenn das aber konsistent ist, kann man mit so einer Haltung auch punkten. Aus meiner Sicht sind Sicherheit und Gerechtigkeit zwei Begriffe die eine ganz zentrale Rolle spielen werden. Und dazu kommt, das ist meine Prognose, die Handlungsfähigkeit des Staates. Wie man das thematisiert, weiß ich noch nicht. Das hat mit Gewährleistungsaufgaben des Staates zu tun, das hat mit anderen Aufgaben des Staates zu tun, Daseinsfürsorge, öffentlicher Sicherheit, aber auch anderen Formen von Sicherheit bis hin zum Abbau der Verschuldung. Es kann sein, dass 2013 eine Wahl wird, die den meisten als ziemlich merkwürdig in Erinnerung bleiben wird, unter den Zeichen einer Krise, wenn die Krise nicht überwunden wird. Ich glaube, die Deutschen sind im Moment gelassen, aber sie sind auch verunsichert, sie sind durchaus nicht unbesorgt. Und es sind Entwicklungen vorstellbar, dass das in Frage gestellt wird, was wir im Moment als gegeben und als konsensual erleben. Wenn die EZB massiv zu einer anderen Politik greifen wird, wenn der EFSF doch eine Banklizenz erhält oder wenn es plötzlich doch Eurobonds gibt oder wenn das, was wir bisher als Garantien gegeben haben, eingelöst werden muss. Im Zeichen der Krise sind noch manche Dynamiken und Eskalationen vorstellbar. Meine eigentliche Sorge ist aber eine andere: Wir haben einen Bedarf an intensiver gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung, doch das tritt in den Hintergrund. Das kann uns sehr schnell einholen nach 2013, als verpasste Modernisierung, als versäumte Erneuerung. Dabei liegen Themen wie Bildung, Wandel der Arbeitswelt, Demografie, Umbau der Industriegesellschaft, Zukunft der sozialen Sicherung, Integration oder Ausbau von Dienstleistungen auf der Hand. Nur jetzt wäre es eine Kopfgeburt zu sagen, wir wollen 2013 die Debatte über die gesellschaftspolitischen Entwürfe führen. Ob das möglich sein wird, lässt sich noch nicht sagen, dafür braucht es ein Gefühl, wie das „Aroma“ des Wahljahres beschaffen sein wird. 33 Karl-Rudolf Korte Ein Teil der Teilnehmer hier favorisiert offenbar in der Politik derzeit einen erklärungsarmen Pragmatismus von postheroischen Typen. Kretschmann ist offenbar so ein Typ. Erklärungen kann er nachliefern, Sinnstiftung kann man nachliefern, das ist erst mal pragmatisch und man sieht an seiner Haltung, dass er einen Kompass hat. Da kann man sich offenbar alles erlauben, man muss nur postheroisch in diesen Zeiten daherkommen. Ich will noch auf einen anderen Punkt hinaus. Die Robustheit in der Krise bezieht sich genauso auf das Parteiensystem. Es ist sehr vital. Die Parteien sind einer Herausforderung ausgesetzt, die sie elegant lösen. Es gibt sie noch. Gerade, wenn da Polarisierungen wie nach Fukushima sind, dann ziehen sie mehr Wähler an die Wahlurnen als vorher. Es gibt die originellsten Antworten der Parteien, mit Wählerwillen umzugehen. Die Minderheitsregierung in NRW bricht nicht zusammen, es geht irgendwie weiter. Und bunte Koalition, also die Antwort mit diesen Wählern und Bürgern umzugehen, sind entstanden. Neue Parteien wie die Piraten haben die Politik parlamentarisiert - auch dies ein Zeichen von Vitalisierung des Parteiensystems. Dahinter verbirgt sich eine Haltung von Onlinern. Aus diesem Blickwinkel beurteilen die den politischen Prozess anders als wir hier alle, das ist ein Transformationsprozess. Insofern ist das auch ein Beweis für ein Parteiensystem, wie vital es in der Krise ist und auf die Krise reagiert. Die alte Volksparteiendemokratie mit einem hohen Konzentrationsprozess von zwei Parteien in der Mitte wird nicht wiederkommen. Aber die Mitte hat sich völlig neu sortiert. Parteien wirken oft alt bei der Willensbildung. Sie sind aber im Hinblick auf Veränderungsprozesse sehr lernfähig. Der Parteienwettbewerb der letzten Monate zeigt dies ganz deutlich im Aufund Abstieg von Parteien, Koalitionen und Regierungsformaten. „Der deutliche Erfolg von Schwarz-Gelb 2009 war eine Erwartungshaltung, dass die ein Wohlstands-, Wachstums-, Wirtschaftsversprechen einlösen, deshalb ist die FDP auch sehr gut dabei rausgekommen. Das hat sie erkennbar nicht eingelöst, sonst wären die Umfragewerte nicht so, wie sie sind.“ Christoph Schmitz Leiter der Bundespressestelle Ver.di 34 Christoph Schmitz Ich würde dem zustimmen, was Rudi Hoogvliet gesagt hat, das aber anders pointieren. Es geht nicht so sehr darum, dass der Charakterkopf einfach etwas durchzieht, sondern es geht um eine Konsequenz in der Politik. Das ist das, was die Leute in ihrem Alltag tatsächlich erleben, ob politische Entscheidungen, Ziele, die man getroffen hat, auch umgesetzt werden. Insofern sind wir tatsächlich zum Teil bei dem Banalen, bei den pragmatischen Dingen, wie Menschen ihre Wahlentscheidung treffen. Der deutliche Erfolg von Schwarz-Gelb 2009 war eine Erwartungshaltung, dass die ein Wohlstands-, Wachstums-, Wirtschaftsversprechen einlösen, deshalb ist die FDP auch sehr gut dabei rausgekommen. Das hat sie erkennbar nicht eingelöst, sonst wären die Umfragewerte nicht so, wie sie sind. Christian Schoppik Wenn die These stimmt, Krisen stützen die Exekutive, gilt umgekehrt der Schluss, gute Zeiten schwächen die Exekutive. Da gibt es auch ein Beispiel, Bundeskanzler Schüssel in Österreich bei der Wahl 2006: erfolgreiche Rentenreform, Haushalt saniert, beste Bilanz, Erntedankfest ist ausgefallen. Er wurde krachend abgewählt. Auch eine These gegen die postheroischen Pragmatiker. Warum ist er gescheitert? Das wurde demoskopisch analysiert: Er hat aus Sicht der Bürger kein ausreichendes Zukunftsangebot gemacht, er hat nur über die Bilanz gesprochen. Es ist notwendig, gut zu regieren, aber eben nicht hinreichend. Wir haben die Grundthese, dass es nur noch um Personen geht, durch die Diskussion hier widerlegt. Die Personen müssen, siehe Hegel, einen Zeitgeist repräsentieren und den auch mit einer frischen Sprache formulieren können. Oliver Schmolke Ich teile die Meinungen am Tisch, die in unterschiedlichen Varianten gesagt haben, dass wir eine bemerkenswerte Rückkehr der Gerechtigkeitsfragen haben. Der Begriff der Solidarität klappert ein bisschen, das gebe ich zu. Er klingt zu bemüht und zu pflichtschuldig. Er ist für eine Kampagne schwierig. Heute aber ist die Gerechtigkeit wieder da. Gerechtigkeit geht über die Lippen, das ist ein alltagstaugliches Wort und es ist erfahrungsgesättigt. Denn es gibt Zeichen einer gespaltenen Gesellschaft. Das ist mein Blick auf 2013: Wir werden eine große gesellschaftliche Debatte um die Gerechtigkeitsfrage erleben. Und auch die europäische Problematik, wer beim Schuldenabbau welche Lasten zu tragen hat, wird auf der Folie dieser Frage durchgefochten. Das ist meine These. Ich glaube nun allerdings nicht an die Verheißung der Lösung aller Gerechtigkeitsprobleme durch den Staat. Die Gesellschaft hat große Vorbehalte gegen den Staat als Apparat. Als Instrument mag er nötig sein. Aber eine Verheißung ist der Staat für die Mehrheit der Menschen sicher nicht. Ich lese auch das Aufkommen der Piraten als Suche nach neuen Formen der Autonomie. Und eigentlich ist das bestimmende Thema, das die Piraten prägt, das Freiheitsthema: Welche Freiheitsspielräume kann ich erobern, wie bestimme ich selbst darüber, wie ich lebe und arbeite und mich politisch engagiere? Wie bringt man das große Gerechtigkeitsthema zusammen mit den wachsenden Autonomiebedürfnissen der Bürger? Das wird die Denkanstrengung der kommenden Jahre. Es ist eine Ironie der Geschichte Herr Gohl, dass die FDP die Freiheit hinter dem Markt verschwinden lassen hat. Freiheit wird für die Leute nicht eingelöst durch Steuersenkung, Deregulierung oder Privatisierung. Freiheit wird eingelöst durch Autonomieerlebnisse. Da sehe ich die Herausforderungen auch für meine Partei. Die SPD muss als Partei der Emanzipation und der Gerechtigkeit Antworten liefern. Ich bin deshalb dezidiert nicht der Meinung, dass die Trennungslinien verwischen, sondern dass wir eine Rückkehr der großen wertorientierten Debatten erleben. 35 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops Bernward Baule Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Leiter des Referats Bürgerangelegenheiten, Strategien - Corporate Social Responsibility, Corporate Citizenship – Engagementpolitik, nachhaltiger Konsum Dr. Knut Bergmann Fellow des Projekts „Zukunft der politischen Parteien“ der stiftung neue Verantwortung, Berlin Eva Christiansen Referatsleiterin „Politische Planung; Grundsatzfragen; Sonderaufgaben“ sowie Referatsleiterin „Medienberatung“ im Bundeskanzleramt Ulrich Deupmann war zum Zeitpunkt des Gesprächs Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und ist jetzt Partner der Brunswick Group Dr. Thomas Falkner Referent des Fraktionsvorstandes DIE LINKE im Landtag Brandenburg Dr. Chistopher Gohl Leiter der Abteilung Politische Planung, Programm und Analyse der Bundesgeschäftsstelle der FDP Mirja Höge Zwille von Kiesel Ansgar Hollah Leiter der Planungsgruppe der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Rudi Hoogvliet Sprecher der Landesregierung Baden-Württemberg Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte Direktor NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen Joachim Koschnicke Geschäftsführer Forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH Christoph Schmitz Leiter der Bundespressestelle Ver.di Oliver Schmolke Leiter der Planungsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag Christian Schoppik Abteilungsleiter Bayerische Staatskanzlei Grundsatzfragen, Planung und Kommunikation Dr. Thomas Steg Geschäftsführer der STEG Kommunikation und Beratung GmbH Michael Wedell METRO GROUP, Leiter Konzernrepräsentanz Berlin / Nationale Politik 36 37 Impressum Standortbestimmungen in Umbruchszeiten: Strategien für 2013 Dokumentation eines Workshops vom 1. Dezember 2011 mit Wahlkampfstrategen der Parteien, Wissenschaftlern sowie Politikberatern Herausgegeben von METRO GROUP, Konzernrepräsentanz Berlin / Nationale Politik Michael Wedell, Januar 2012 ISBN 978-3-00-037171-4 Das Vervielfältigen dieser Publikation – auch in Auszügen – ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung der METRO AG gestattet. Fotonachweis: Laurence Chaperon, Berlin Titelfoto: Dr. Ralf Wesendrup, Basel Gestaltung: Rüdiger Puntke, Berlin Druck: Grafische Werkstatt Pruckner, Berlin 38 39 Standortbestimmungen in Umbruchszeiten: Strategien für 2013 Die Atomkatastrophe von Fukushima, der dadurch ausgelöste Paradigmenwechsel der Bundesregierung hin zum Atomausstieg, der erste grüne Ministerpräsident regiert in Deutschland und die SPD wird Juniorpartner der Grünen, die sich verschärfende Verschuldung einiger EU-Länder und die dadurch ausgelöste Euro- und Wirtschaftskrise, staatliche Rettungsschirme in schwindelerregender Milliardenhöhe, lautstarke Partizipationsbestrebungen der Zivilgesellschaft, die Auflösungstendenzen in der FDP, das Auftreten einer neuen Partei auf der politischen Bühne. Solche Umbruchszeiten, wie wir sie aktuell erleben, erfordern von den politischen Akteuren aller Parteien neue Standortbestimmungen, um daraus erfolgreiche Strategien zu entwickeln. Wie können und müssen sich die Parteien in Zeiten von Krisen positionieren? Welche Antworten finden sie auf die drängenden Herausforderungen für unser Land und für Europa? Wie werden heute „konsistente Geschichten“ erzählt? Darüber diskutierten am 1. Dezember 2011 Strategen aus Partei- und Fraktionsspitzen sowie dem Bundeskanzleramt mit Wissenschaftlern und Politikberatern. Wichtige Teile der Diskussionen sind in dem vorliegenden Band dokumentiert. METRO GROUP Konzernrepräsentanz Berlin / Nationale Politik Charlottenstr. 46 10117 Berlin Tel.: 0049-30-2088943-42 Fax: 0049-30-2088943-43 40 [email protected] www.metrogroup.de/berlin