Gedächtnis-Transformationen DI S S E R T A TI O N der Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Internationale Beziehungen (HSG) zur Erlangung der Würde einer Doktorin der Sozialwissenschaften vorgelegt von Ulrike Gärtner aus Deutschland Genehmigt auf Antrag der Herren Prof. Dr. Vincent Kaufmann und Prof. Dr. Caspar Hirschi Dissertation Nr. 4458 Pinguin Druck Berlin, 2016 I Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Internationale Beziehungen (HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen Stellung zu nehmen. St. Gallen, den 13. Oktober 2015 Der Rektor: Prof. Dr. Thomas Bieger II Inhaltsverzeichnis 1 KURZ-ZUSAMMENFASSUNG / SHORT SUMMARY .............................. 1 2 AUFTAKT ......................................................................................................... 5 2.1 EINLEITUNG ............................................................................................. 5 2.1.1 Erinnerung an Erinnerungs- und Gedächtnisdebatten ....................... 11 2.1.2 Reflexionen der Gegenwart: Forschungsfelder und Ansätze ............ 16 2.2 PARCOURS .............................................................................................. 22 2.2.1 Vorhaben ............................................................................................ 22 2.2.2 Abgrenzungen und Spezifikationen................................................... 23 2.2.3 Kurs .................................................................................................... 27 2.3 ERSTE SETZUNGEN ................................................................................ 29 3 HYPOMNÉSIS ................................................................................................ 35 3.1 HYPOMNÉTISCHE GRUNDLAGEN: TECHNISCHE (R)EVOLUTIONEN ... 41 3.1.1 ~ 1900 ................................................................................................ 44 3.1.2 ~ 1950 ................................................................................................ 51 3.1.3 ~ 2000 ................................................................................................ 61 YPOMNÉTISCHE 3.2 H KONFIGURATIONEN DER GEGENWART .................. 69 3.2.1 Analog / 01100100 01101001 01100111 01101001 01110100 01100001 01101100 00001101 00001010 ........................................ 79 3.2.2 Hardware-Berichte ............................................................................. 91 3.2.3 Software-Berichte ............................................................................ 105 3.3 ZUSAMMENFASSENDE BETRACHTUNG ............................................... 117 4 ANAMNÉSIS ................................................................................................. 126 4.1 ANAMNÉTISCHE GRUNDLAGEN .......................................................... 128 4.1.1 Halbwachs‘ Modellierung des kollektiven Gedächtnisses .............. 128 4.1.2 Kollektive Weiterentwicklung: Das Modell des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses bei J. und A. Assmann ................. 133 4.1.3 Funktionen und Organisation des kollektiven Gedächtnisses ......... 143 4.2 KRITISCHE REFLEXION DES ASSMANN’SCHEN MODELLS................. 155 III 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 5 Raum- und Zeitperspektivierungen des Modells ............................. 156 Rolle und Darstellungsgrad der Gedächtnismedien im Modell ...... 161 Darstellung von Funktionen und Organisationsform des kollektiven Gedächtnisses................................................................................... 173 ZUSAMMENFASSENDE BETRACHTUNG ............................................... 176 ERINNERUNGSKULTUREN DER GEGENWART ............................... 185 5.1 TRANSFORMATIONEN DES KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNISSES ............. 186 5.1.1 Konzeptionelle Transformationen ................................................... 187 5.1.2 Funktionale Implikationen ............................................................... 208 5.1.3 Organisatorische Implikationen ....................................................... 229 5.2 ZUSAMMENFASSENDE ABSCHLUSSBETRACHTUNG ............................ 239 6 QUELLENGEDÄCHTNIS (BIBLIOGRAPHIE) ...................................... 252 IV 1 Kurz-Zusammenfassung / short summary Vergangenheitsreflexionen und damit einhergehende Prozesse der Erkenntnis, Identifikation und Wertstiftung sind wesentlich für individuelle und kollektive Verortungen, für die Schaffung von Sinnhaftigkeit und nicht zuletzt für die Herausbildung und den Zusammenhalt von Gemeinschaften selbst. Grundlage für diese Prozesse ist ein Zugang zu dieser Vergangenheit und damit verbunden zu Möglichkeiten der Speicherung. Gedächtnismedien sind daher ein zentraler Bestandteil bei der Betrachtung von Erinnerungsgemeinschaften. Signifikante Änderungen in diesen Gedächtnismedien haben potentiell Einfluss auf die Art und Weise, wie und was Gemeinschaften erinnern und wie sie sich als Erinnerungskulturen formieren. Die vorliegende Arbeit untersucht daher wesentliche technische Entwicklungen und deren etwaige Implikationen auf Erinnerungskultur anhand folgender Forschungsfragen: Welche Entwicklungen haben im letzten Jahrhundert zur technischen Gegenwart geführt und wie gestaltet sie sich heute? Wie muss ein erinnerungskulturelles Modell, in dieser Arbeit das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann, vor dem Hintergrund dieser technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen verwenden zu können? Die Beantwortung dieser Fragen gliedert sich in drei Abschnitte: In den ersten beiden Abschnitten erfolgt die Untersuchung entlang der „zwei Seiten“ des Gedächtnisses – Gedächtnis als hypomnésis (1) und anamnésis (2). Anschliessend werden die gewonnenen Erkenntnisse aus den beiden Analyseperspektiven aufgenommen, um ein auf Basis der Assmann’schen Konzeption überarbeitetes Modell zur Beschreibung von Erinnerungskulturen mit besonderen Fokus auf gegenwärtige Ausprägungen vorzulegen (3): (1) Gedächtnis als hypomnésis: Der erste Teil widmet sich der technischen Seite des Gedächtnisses und beantwortet die erste Forschungsfrage. Er dient zunächst der prinzipiellen Bestimmung des Verhältnisses zwischen anamnésis und hypomnésis. Darauf aufbauend werden mit der Untersuchung wesentlicher technischer Zäsuren seit ~1900 sowie ausgesuchter technikphilosophischer Reflexionen die Grundlagen für ein anschliessend zu erarbeitendes Technikverständnis der Gegenwart gelegt. Nachfolgend werden aktuelle, 1 technische Charakteristiken entlang im Vorfeld entwickelter Beschreibungskategorien analysiert. (2) Gedächtnis als anamnésis: Nachdem der erste Teil die technische Grundlage des Gedächtnisses bestimmt hat, widmet sich dieser Teil dem Gedächtnis aus der Perspektive der Erinnerung. Hierfür wird ein für die Ausprägung von Erinnerungskultur zentrales Grundlagenmodell hinsichtlich konzeptioneller, funktionaler und organisatorischer Aspekte analysiert und kritisch auf seine Anwendbarkeit für Ausprägungen von Erinnerungskulturen in der Gegenwart hinterfragt. Es handelt sich hierbei um das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann. (3) Erinnerungskulturen der Gegenwart: Die aus den ersten beiden Teilen gewonnenen Erkenntnisse werden abschliessend für die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage zusammengefügt: Vor dem Hintergrund der aufgezeigten technischen Konfigurationen sowie kritischer Anknüpfungspunkte im Modell bei J. und A. Assmann wird das Modell des kollektiven Gedächtnisses weiterentwickelt und eine darauf basierende Beschreibung von Erinnerungskulturen in der Gegenwart vorgenommen. 2 Reflections of the past and the processes of knowledge, identification and creation of values linked to them are essential for individual and collective contextualization, for creating meaning and last but not least for the development and cohesion of communities. The basis for these processes is access to this past, i.e. to possibilities of storage. Therefore memory-media is an essential element when analysing memory-based communities. Significant changes in memory-media have potential influences on the way how and what communities remember and how commemorative cultures are formed. Hence, this thesis analyses technical developments and their possible implications in commemorative culture on the basis of the following research questions: Which developments led to our technological presence and how is it designed? How has the model of collective memory by J. and A. Assmann to be revised for being used to describe current commemorative cultures? For answering this questions the thesis is divided in three parts: The first and second part of the analysis is based on Plato’s distinction of memory into hypomnésis (1) and anamnésis (2). The main findings of these two perspectives are used in the third part to provide a revised model for describing commemorative culture with a special focus on current characteristics (3): (1) hypomnésis: The first part of this thesis focuses on the technical perspective and hereby answers the first research question. Based on a principal determination of the relationship between anamnésis and hypomnésis, significant technical caesuras since ~1900 as well as selected technical-philosophical reflections are developed as a basis for understanding the technical presence. Subsequently current technical characteristics are analysed along predefined description-categories. (2) anamnésis: After having described the technical basis of memory, the second part of the thesis focuses on the perspective of remembrance. Therefore a well-established model – the model of collective memory by J. and A. Assmann – is analysed and critically reviewed regarding its adaptability to present commemorative cultures. This review covers conceptual, functional and organisational aspects. (3) Current commemorative cultures: Relevant findings from the first and second part are assembled in order to answer the second research question: In the light of the identified current technical configurations as well as of the 3 critical factors within the model by J. and A. Assmann the model of collective memory will be revised. Furthermore a description of commemorative culture in the present based on the revised model is provided. 4 2 Auftakt 2.1 Einleitung „Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“ Hier stock‘ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh‘ ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ Goethe: Faust (Goethe 1986: S.44) Mit den Anfängen ist es das so eine Sache. Sie hat, insbesondere im Falle von Goethes Ausführungen, zu unzähligen Überlegungen, Interpretationen und Kommentaren ganzer Germanisten- und Philosophengenerationen geführt, stellt sich aber beim Schreiben einer jeden Arbeit immer wieder neu. Versucht man es mit Goethe, gilt: Am Anfang war die Tat! Worin besteht dann diese Tat? Für das Verfassen heutiger Dissertationen besteht sie an einem bestimmten Punkt darin – neben einer ganzen Reihe vorgängiger Taten wie Lesen, Recherchieren, Denken und wieder alles Verwerfen – einen Buchstaben, einen Satz, einen Gedanken zu benennen. Im technischen Standard der Gegenwart gesprochen heisst das, erste Binärelemente über ein Peripheriegerät – in diesem Falle eine Tastatur – in eine Steuerungs- und Recheneinheit namens Computer zu übertragen, der diese Informationen mittels Betriebssystem und Anwendungsprogramm auf einem Bildschirm visualisiert. Soviel zur Technik. Was aber ist die geistige Tat und damit der erste Gedanke? Kein einfacher Gedanke in jedem Fall, 5 bestimmt er doch massgeblich die Struktur für den weiteren Verlauf der Arbeit. Folgende Möglichkeiten standen am Anfang dieser Arbeit zur Auswahl: Ein mythologischer Anfang, der seine argumentativen Ausgangspunkte bei Prometheus, Epimetheus und Hermes sucht; ein (technik)geschichtlicher Anfang, der den Text mit Feuersteinen und Höhlenmalereien beginnen lässt; ein philosophiegeschichtlicher Anfang, der, wie so oft in der Philosophie des Abendlandes, Platon den ersten Auftritt überlässt und eben diese – die Frage Goethes nach dem Anfang. Warum fiel die Wahl des Anfangs auf die Frage nach dem Anfang? Um es kurz vorwegzunehmen: Weil sie die beiden wesentlichsten Aspekte enthält, die sowohl den inhaltlichen als auch den strukturellen Rahmen dieser Arbeit begründen: Die Frage nach Anfängen als Frage nach erinnerbarer Vergangenheit, d.h. Gedächtnis (1. Aspekt) sowie die Frage nach dem einen Anfang als Frage der Selektion, d.h. Erinnern und Vergessen (2. Aspekt). Die Frage nach Anfängen als Frage nach der Vergangenheit (Gedächtnis) „Wer bin ich? Woher komme ich? Und wohin gehe ich?“ – drei einfache Fragen mit weniger einfachen Antworten und ein inhärentes Bedürfnis des Menschen, sich mit diesen Fragen nach seinen Anfängen und Enden auseinanderzusetzen. Bedingung für diese Auseinandersetzung ist zunächst ein Wissen über Vergangenheit – individuell erfahrene Vergangenheit und kollektive, nicht gelebte Vergangenheit. Vergangenheitsreflexionen und damit einhergehend Prozesse der Identifikation, Wertstiftung und Erkenntnis helfen dem Menschen, sich in seiner je spezifischen Lage verorten zu können und Sinnhaftigkeit für sich zu schaffen. Grundlage für diese Prozesse ist ein Zugang zu dieser Vergangenheit und damit verbunden Möglichkeiten der Konservierung und des Zugriffes. Sie finden sich in den Gedächtnismedien verwirklicht. Sie sind ein Fundament für individuelle und gesellschaftliche Erinnerung(skulturen) und damit wesentlich für Prozesse der Reflexion und Selbstbestimmung sowie für die Freisetzung zukunftsbestimmender Programme. Theorien des Gedächtnisses und der Erinnerung sind daher zentral in den abendländischen Debatten zu Kultur- und Technikfragen, zu Sinn- und Erkenntnisfragen, zur Bestimmung des Menschen allgemein. Die Begriffe Erinnerung(skultur) und Ge- 6 dächtnis(medien) haben so über die Zeit eine eigene (wissenschaftliche) Vergangenheit in den unterschiedlichsten Facetten ausgebildet. Sie zeugt von einer stetigen Auseinandersetzung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Ihren heute durch verschiedene Formen der Gedächtnismedien noch erinnerbaren Anfang findet sie im Abendland mit dem Ursprung der Philosophie. Die Aufspaltung dieser initial ganzheitlichen Wissenschaft in den heute gängigen Universitätsbetrieb mit unterschiedlichsten Disziplinen und Fakultäten führt gegenwärtig auch im Feld der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung zu einer Vielzahl an Zugängen, Perspektiven und Fragestellungen. Geschichtswissenschaftler, Religionswissenschaftler, Kultur-, Kunst- und Medienwissenschaftler, Psychologen, Informatiker, Archäologen etc. und nicht zuletzt Philosophen diskutieren aus ihren je eigenen Blickwinkeln. Vormals vorherrschende Disziplinengrenzen werden dabei zunehmend aufgelöst und Fragen zu Gedächtnis und Erinnerung in einem interdisziplinären Feld bearbeitet. Dass die Beschäftigung mit Fragen des Gedächtnisses und der Erinnerung nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive interessant, sondern auch immanenter Bestandteil der Alltagserfahrung ist, zeigt ein kurzer Blick auf einige technische Zustandskonfigurationen der Gegenwart, mit denen wir täglich konfrontiert werden: Gedächtnismedien haben sich in ihren Dimensionen, wie beispielsweise den Speicherstrukturen, Speicherkapazitäten, Transportier- und Verfügbarkeitsbedingungen1 etc. grundlegend verändert und prägen damit massgeblich unsere Alltagserfahrung in Bezug auf Gedächtnis- und Erinnerungsfähigkeit. Drei Beispiele sollen dies veranschaulichen: (1) Speicherkapazitäten, einst gemessen in der Anzahl von Gehirnen oder Büchern, drücken sich heute vornehmlich in Zettabytes aus und scheinen in ihrer Quantität den Horizont des individuell Überschaubaren zu sprengen.2 Ausdruck dieser exponentiell angestiegenen Speicherkapazitäten ist z.B. die Menge an digital gespeicherten Informationen: Für solche Informationen wurde der Datenzuwachs bereits 2011 auf ca. 1,8 Zettabytes benannt mit einem weiteren geschätzten Anstieg auf 35 Zettabytes bis 1 In Anlehnung an Völz – er unterscheidet für Speicher insbesondere folgende Kenngrössen / Dimensionen: Speicherkapazität, Datenrate und Blockstruktur, Gültigkeit, Lebensdauer, Zuverlässigkeit, Ausfallrate, Kosten. Vgl. Völz (2007b), S.VII. 2 Vgl. auch A. Assmann (2009), S.21. 7 2020.3 Hier stehen wir täglich vor der Frage, wie das verarbeitet und damit auch erinnert werden kann oder soll, … (2) … wenn uns nicht eine andere Dimension >zur Hilfe< kommt, die der Lesbarkeit und Haltbarkeit. Sie bestimmt den nachhaltigen Zugang zu den gespeicherten Inhalten und damit die Frage, was in 100, 200 etc. Jahren an Materialität der Gedächtnismedien noch übrig ist und demnach an gespeicherten Informationen noch zugänglich und bearbeitbar. Die Haltbarkeit des Speichermediums Papier beispielsweise ist nach heutigem Stand deutlich höher einzuschätzen als die Haltbarkeit magnetischer oder optischer Speichermedien. Neben der Haltbarkeit wird auch die Frage der Lesbarkeit immer interessanter, denn neben vergänglicher Materialität fehlen oft auch die dazu erforderlichen Erkennungstechnologien.4 Lesegeräte für Disketten finden sich heute in keinem handelsüblichen Computer. Stetige Migration digitaler Daten wird daher zwingend und ist wesentlicher Bestandteil unserer Alltagserfahrung geworden.5 Das führt mithin zu der paradoxen Situation, dass dem >Alles-kann-erinnert-werden< aufgrund hoher Speicherkapazitäten ein >Alles-wird-vergessen-werden< aufgrund abnehmender Haltbarkeit und Lesbarkeit der Speichermedien gegenübersteht. (3) Und schliesslich haben sich diese Gedächtnismedien heute auch noch transportunabhängig gemacht: Informationen moderner Gedächtnismedien sind im Sinne Virilios zu wesentlichen Teilen nur noch per Transmission, sozusagen per Anhalter durch die digitale Galaxis, unterwegs6 und gestatten uns Zugriff auf die Vergangenheit an jedem Ort zu jeder Zeit. Das bleibt nicht ohne Folgen, wie es sich am Beispiel des Archivs aufzeigen lässt: Ursprünglich als nationaler Aufbewahrungsort für eine langfristige Konservierung von Informationen auf verschiedenen Speichermedien zur Konstitution kollektiver Informations- und Wissensspeicher gedacht, muss das Archiv nun mit den Eigenschaften moderner Speichermedien zurechtkommen. Die Metamorphose des Archivs ist daher im vollen Gange: Stabilität, fest umrissene Räume mit klaren Regeln etc. werden abgelöst durch flexible, virtuelle, ephemere Zustände. 3 Kremp (2009); IDC (2010); IDC (2011); (1 Zettabyte = 1.000.000.000.000 Gigabyte). u.a. Kremp (2009); Ernst (2001); S.261; A. Assmann (2009), S.410; Sick (2004), S.7. 5 u.a. Kremp (2009); Sick (2004), S.7f.; Ernst (2007), S.306. 6 Virilio (1993), S. 17ff. 4 8 Langzeitarchivierung im Sinne einer möglichst dauerhaften Konservierung wird ersetzt durch kurzlebige, flexible, auf ständige Veränderung bedachte Speicherorte.7 Heinz von Förster nannte das Wolken8, wir nennen es >Cloud<. Zu diesen technischen Neu-Konfigurationen des Gedächtnisses gesellen sich politisch-soziale Veränderungen, die das, was wir Erinnerungskultur nennen, beeinflussen. Ein erster grober Überblick über verhandelte Fragestellungen zu Gedächtnis und Erinnerung im Kontext soziokultureller Änderungen liesse sich anhand einer Schlagwortliste abbilden. Sie enthielte Worte wie Kolonialisierung und Dekolonialisierung, Europäische Erinnerungsgemeinschaft, Holocaust, Migrationsbewegungen, kulturelle Hybridität, stratifikatorische vs. funktionale ausdifferenzierte Gesellschaftsformen, Gedächtnistourismus etc.9 Zusammen mit den technischen Veränderungen der Gegenwart führen sie zu einer erhöhten >Gedächtnis- und Erinnerungskomplexität< und der Notwendigkeit, neue Formen des Umgangs, der Auseinandersetzung und Modelle zu erarbeiten. Dass diese Veränderungen Einfluss haben auf die eigene oder kollektive Selbstbestimmung sowie auf die Art, wie wir Sinnhaftigkeit für uns schaffen, lässt sich an dieser Stelle vorerst vermuten. Die Frage nach dem Anfang als Frage der Selektivität (Erinnern und Vergessen) Neben dieser inhaltlichen Bestimmung der Frage nach den Anfängen und der damit einhergehenden ersten programmatischen Einordnung der folgenden Arbeit enthält die Frage nach den Anfängen des Weiteren das Problem der Selektion: Die >Geschichte<, die hier im Folgenden über Gedächtnis und Erinnerung(skulturen) erzählt wird, ist eine Geschichte. Viele andere wären auch möglich. Die Auswahl eines Anfanges für diese Geschichte steht daher stellvertretend für alle anderen Selektionen, die im Verlauf der Arbeit vorgenommen werden, wie z.B. die Auswahl der herangezogenen Disziplinen und ihrer Vertreter, die Auswahl zeitlicher Perspektiven oder auch die Auswahl des zugrundeliegenden Modells etc. Ein erster 7 u.a. Ernst (2007), insb. S.69ff.; A. Assmann (2009), z.B. S.21f. Im Rahmen seines kybernetischen Beschreibungsmodells von Gedächtnis(systemen), vgl. von Förster (1993), S.325. 9 Diese Liste enthält Themen, mit denen sich im Rahmen des Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses u.a. A. Assmann und Erll auseinandersetzen (u.a. A. Assmann (2012), S.62ff.; Erll (2011), S.57ff.). 8 9 grober Selektionsrahmen wird in der Beschreibung des Parcours für diese Arbeit im folgenden Abschnitt skizziert.10 Die Auswahl – und das kann im Rahmen von Gedächtnisdiskursen immer auch gleichgesetzt werden mit der Frage, was wird und kann für einen konkreten Fall erinnert und vergessen werden – basiert dabei stets auf subjektiven, den eigenen Interessen, Zielen und Argumentationspfaden dienlichen Kriterien. Das ist die inhaltliche Seite der Selektion, also die Beantwortung der Frage >Was wird erinnert bzw. vergessen<. Die Frage nach dem was kann erinnert und vergessen werden beschreibt hingegen die technisch bedingte Selektion und beruht auf dem, was als Informationen auf irgendeine Weise gespeichert wurde und im Nachgang zugänglich ist. Auf diese Weise wird – auch für diese Arbeit – ein immer schon dagewesener Ausgangszustand definiert (>Anfänge vor diesem Anfang<), auf dem aufgesetzt und selektiert werden kann. Die Frage, was erinnert werden kann, ist damit massgeblich eine Frage der Gedächtnismedien: Sie spielen eine zentrale Rolle für das, was erinnert, vergessen und damit (wieder) bearbeitet und weiterentwickelt wird und deren technische Entwicklung mindestens seit der Schrifterfindung zu steigender Komplexität und erweiterten Optionenräumen geführt hat. Die eigene Arbeit und ihr inhärenter Selektionsmechanismus folgt damit dem, was u.a. bei Schmidt als zunehmende Kontingenzerfahrung der Moderne bezeichnet wird: Bedingt durch die Ausweitung der technischen Medien erhöht sich die Beobachterfähigkeit einer Gesellschaft und führt zu „eine[r] generalisierte[n] Kontingenzerfahrung angesichts der Beobachtung, daß »alles auch anders sein könnte«“ (Schmidt 2000: S.193). Die Wahl der Frage nach den Anfängen als Anfang dieser Arbeit setzt damit erste Orientierungen: Es geht um eine Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung(skulturen) auf Basis ausgewählter Debatten im Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs und deren kritischer Reflexion. Eine Vielzahl solcher gegenwärtig geführten Debatten, ob wissenschaftlicher oder poplärer Natur, beziehen sich dabei (mal mehr, mal weniger) auf den ideengeschichtlichen Rahmen des Abendlandes11. Einige solcher, 10 11 Siehe Abschnitt 2.2. Im Rahmen dieser Arbeit wird vor allem auf Debatten des europäischen Kulturkreises referenziert. 10 nicht ganz zufällig ausgewählter Ideen sollen im Folgenden in ihren wesentlichen Aspekten erinnert werden.12 Als zentrale Denkfiguren der Gedächtnisforschung stecken sie mit ihren Inhalten zu weiten Teilen das Feld für heutige Diskussionen ab. 2.1.1 Erinnerung an Erinnerungs- und Gedächtnisdebatten Platon sucht und macht eine Unterscheidung Platon setzt als Anfang die Suche. Die Suche nach areté, dem Guten. Auf dieser Suche lässt Platon (427-347 v.Chr.) Menon und Sokrates zu der Frage gelangen, wie man etwas suchen soll, von dem man nicht weiss, was es ist. Für die Beantwortung dieser Frage greift Sokrates auf eine alte Priesterlehre zurück: Die Seele des Menschen ist unsterblich, und da sie unsterblich ist und alles kennen gelernt hat, gibt es nichts, was sie nicht weiss. Als unsterbliche Seele kann sie sich an die Dinge erinnern.13 Erinnern als Wiedererinnerung (anamnésis) an bereits Kennengelerntes. „Das Suchen und das Lernen sind also gänzlich Wiedererinnerung“ (Platon 2008: S.37) und Erinnerung damit im anamnésis-Modell Platons Kern des individuellen Erkenntnisprozesses, des Bewusstwerdens über die Dinge durch ein (wiederholtes) Zurückgreifen auf in der Seele bereits Vorhandenes. Mnemosyne hat der Seele zudem ein Geschenk gemacht – eine Wachstafel, in die sie alles, dessen sie sich erinnern möchte einschreiben kann.14 Erinnerung basiert also auf einem Speicher, hier die Wachstafel in der Seele des Menschen. Mit dem Übergang von einer mündlich tradierenden zu einer zunehmend schriftlich geprägten Gesellschaft vermittels der Einführung des Alphabets in das antike Griechenland setzt sich der bereits schreibende Platon auch mit einem anderen Speicher auseinander: Im Dialog Phaidros rühmt sich Theuth, eine Kunst, die Schrift, erfunden zu haben, die das Gedächtnis verbessern wird. Thamus aber erwidert ihm, nicht für 12 Hierbei handelt es sich um eine erste Kurzdarstellung historischer Debatten. Diese Kurzdarstellung umfasst lediglich einige zentrale Aspekte der ausgewählten Debatten für die Skizzierung des Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses in vergangenen Epochen. Eine ausführliche Analyse dieser Darstellungen wird daher nicht durchgeführt. Inhaltlich weiter gefasste Anthologien / historische Überblicke finden sich überdies beispielsweise bei Harth (1991), Fleckner (1995), Kreuzer (2007). 13 Platon (2008), S.35.f. 14 Platon (1940a), Abschnitt [633]. 11 das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung ein Mittel gefunden zu haben.15 Denn mit der Schrift tendiert das Gedächtnis im Vertrauen auf eine externe Datenspeicherung zur Vergesslichkeit. Die Erinnerungsfähigkeit auf Basis eines solchen Datenspeichers wird aber erhöht.16 Damit setzt Platon zum einem die fundamentale Differenz zwischen (Wieder)Erinnerung (anamnésis / mnéme) als innerlicher Erkenntnisprozess und Gedächtnis als technischer Speicher (hypomnésis, vorgeführt am Medium Schrift) und fragt zum anderen nach dem Verhältnis beider. Beide Aspekte sind wesentlicher Ausgangpunkt für alle nachfolgenden Debatten zu Erinnerungs- und Gedächtnisfragen. Für Platon ist indes klar, jede geschriebene Rede, d.h. jeder Gedächtnisspeicher, bedarf des „echtgeborenen Bruder[s]“ (Platon 1998: S.88), der lebendigen, beseelten, mündlichen Rede im Erkenntnisprozess.17 Augustinus findet sich selbst… …in der Erinnerung Auch Augustinus (354-430) orientiert sich an dieser Differenz und an der Vorstellung einer erinnerungsfähigen, unsterblichen Seele. Seine Beschreibung eröffnet weitere interessante Aspekte. In seinen Bekenntnissen wird das Gedächtnis zu einem weiten Raum mit geheimen, unfassbaren Winkeln, in dem sich alles Wahrgenommene und alle geistigen, wiedererkannten Dinge befinden. Dieses Gedächtnis bewahrt alles auf – Bilder des sinnlich Wahrgenommenen, sämtliches Wissen und Gelerntes sowie Gefühle.18 Mit der detaillierteren Beschreibung des Gefühlsgedächtnisses offeriert Augustinus das Bild des Gedächtnisses als Magen der Seele: Dem Gedächtnis übergebene Dinge werden dort verwahrt, können aber nicht >geschmeckt< werden. Erst beim >Wiederkäuen<, dem Erinnern, kommt der >Geschmack< der Dinge wieder hervor, allerdings anders als in der ursprünglichen Form.19 Erinnerung als Wiederkäuen heisst daher vor allem Verarbeitung und damit nicht identische Ein- und Ausgabe aus 15 Platon (1983), S.177. Einzelne Übertragungen des Phaidros-Dialoges übersetzen die Begriffe >Gedächtnis< und >Erinnerung< jeweils in umgekehrter Form. Bsp. „Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel.“ (Übersetzung aus Platon (1998): Phaidros, S.86) vs. „Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden.“ (Übersetzung aus Platon: Phaidros in http://www.zeno.org/Philosophie/M/Platon/Phaidros, gesehen am 23.11.2011). 17 Vgl. u.a. Böhme/ Matussek / Müller (2000), S.155ff.; Kreuzer (2007), S.9.; Pethes (2008), S.24. 18 Augustinus (1955), S.177ff. 19 Augustinus (1955), S.182ff. 16 12 dem nicht-schmeckenden Magen – dem Gedächtnis(speicher) der unbelebten Daten.20 Erinnerung ist aber nicht nur verarbeitendes Wiedergewinnen von gespeichertem Wissen, es ist bei Augustinus überhaupt die Voraussetzung für das eigene Bewusstsein, für ein eigenes Ich, denn „das bin ich selbst, ich bin mein Erinnern, ich bin meine Seele“ (Augustinus 1955: S.185). Fragen der Identität, der Selbstbestimmung durch Erinnerung und der produktiven Kraft der Erinnerung rücken hier in den Fokus der Debatte. Hegel setzt Zeichen Die von Böhme, Matussek und Müller aufgezeigte Gegenüberstellung von Gedächtnis und Erinnerung bei Hegel (1770-1831) stellt sich bei ihm auf folgende Weise dar: Erinnerung und produktives Gedächtnis als Zeichen erschaffende, entäussernde Tätigkeit vs. Gedächtnis im Sinne einer blossen Mnemotechnik.21, 22 Im Erinnern wird nach Hegel der Inhalt eines geschauten Bildes innerlich gesetzt und als abstraktes Einzelnes im „nächtlichen Schacht“ (Hegel 1830: S.446) des Bewusstseins aufbewahrt. Durch freie Verknüpfung der so erworbenen Bildervorräte generiert die Intelligenz Phantasie und dichterische Einbildungskraft. „Diese Zeichen erschaffende Thätigkeit kann das productive Gedächtniß […] vornehmlich genannt werden, indem das Gedächtniß […] es überhaupt nur mit Zeichen zu thun hat“ (Hegel 1830: S.452f.). Erinnerungen (abstrakte Einzelbilder) werden demnach über assoziative Verknüpfungen zu Zeichen. Diese sind Gegenstand des reproduzierenden Gedächtnisses. Es erkennt allein im Namen und ohne Anschauung und Bild das Ding an sich und ist auf diese Weise „der Uebergang in die Thätigkeit des Gedankens“ (Hegel 1830: S.462). Dieser produktiven Tätigkeit des Erinnerns steht die für Hegel minderwertige, seit vielen Jahrhunderten weit verbreitete Gedächtnistechnik, die >ars memoriae<, gegenüber. Die in ihrem Ursprung mit dem Dichter Simonides von Keos (ca. 556-468 v.Chr.) bezeugte Gedächtniskunst geht davon aus, durch räumlich angeordnete Bilder in der Vorstellung die Merkfähigkeit erhöhen zu können. Auf dieser Technik beruht 20 Kreuzer (2007), S.10.; vgl. auch A. Assmann (2009), S.167. Böhme / Matussek / Müller (2000), S.159. 22 Hegel (1830), S.452ff. 21 13 ein ganzes Subsystem der römischen Rhetorik, in der besonders wirksame Bilder, sogenannte >imagines agentes<, gleichsam als >Schrift< in das Gedächtnis eingeschrieben wurden, weil man in ihnen eine besondere gedächtnisstützende Funktion sah.23 Hegels Antwort auf diese Mnemotechnik: „Das mnemonisch eingeprägte wird nicht wie das im Gedächtniß behaltene auswendig, d.h. eigentlich von Innen heraus, aus dem tiefen Schachte des Ich hervorgebracht und so hergesagt, sondern es wird von dem Tableau der Einbildungskraft, so zu sagen, abgelesen. – die Mnemonik hängt mit den gewöhnlichen Vorurtheilen zusammen, die man von dem Gedächtniß im Verhältniß zur Einbildungskraft hat, als ob diese eine höhere, geistigere Thätigkeit wäre als das Gedächtniß. Vielmehr hat das Gedächtniß nicht mehr mit dem Bilde zu thun welches […] aus der Anschauung […] hergenommen ist, sondern mit einem Da¦seyn, welches das Product der Intelligenz selbst ist […].“ (Hegel 1830: S.460) Nietzsche will vergessen Zu viele Bilder, zu viele Zeichen, zu viel schulmässig betriebene Geschichte, manifestiert in Lehrplänen, ausufernden Museen etc. veranlassen im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Verschiebung der Debatte weg von der übermächtigen, krankhaft erscheinenden Erinnerungswut hin zu einem gesunden Vergessen. Nietzsche (18441900) hat diese Historismusdebatte in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben geführt. Darin plädiert er, Historie nur soweit zu betreiben, wie sie dem Leben dient. Es geht ihm dabei nicht um eine vollständige Abkehr von der Erinnerung an Vergangenheit, sondern um einen im besten Sinne dem griechischen Ideal des Masses folgenden Ausgleich zwischen Historischem und Unhistorischem: „das Unhistorische und das Historische ist gleichermaßen für die Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig“ (Nietzsche 1981: S.101). Die von ihm unterschiedenen drei Arten der Historie, die monumentalische, die antiquarische und kritische sollten einzig und allein dazu dienen, „daß die Kenntnis der Vergangenheit […] nur im Dienste der Zukunft und der Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft […]“ (Nietz- 23 A. Assmann (2009), S.221ff.; Böhme/ Matussek / Müller (2000), S.157ff. 14 sche 1981: S.120). Dient die Erinnerung dem Leben, dem zukunftsbestimmenden Programm einer Gesellschaft, so ist sie als produktive Kraft berechtigt. Ist sie blosse Ansammlung von Wissen ohne Bezug zum Lebendigen, macht sie starr, träge, unbeweglich und krank und ist ein „»Handbuch innerlicher Bildung für äußerliche Barbaren«“ (Nietzsche 1981: S.123). Das Gegenmittel für eine solche Historie ist neben dem Überhistorischen (d.h. die Fokussierung auf das Ewige in Kunst und Religion) vor allem das Unhistorische, d.h. die Kraft vergessen zu können.24, 25 Freud vergisst auch, aber nicht ganz Dass das Vergessen dabei nicht notwendigerweise die „Zerstörung der Gedächtnisspur“ (Freud 1997: S.35) bedeutet, hat Freud (1856-1939) u.a. in seinem Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur dargelegt. Das Vergessene wird darin als etwas aufgefasst, dass als kaum Bearbeitetes, Verdrängtes oder als zurückgedrängte Vorstufe einer Erinnerung erhalten bleiben kann und daher „dürfen [wir] daran festhalten, daß die Erhaltung des Vergangenen im Seelenleben eher Regel als befremdliche Ausnahme ist“ (Freud 1997: S.38). Vergessen wäre demnach eine Option des Bewusstseins, nicht aber des Unbewussten. Im Unbewussten bleibt die Gedächtnisspur erhalten26: Als Sammelort des Verdrängten ist das Unbewusste „der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich einschließt“ und damit „das eigentlich reale Psychische“ (Freud 1900: S.617), zu dem wir nur bedingt, beispielsweise über die Träume, Zugang haben. Im seelischen Apparat hinterlassene, auf Dauerhaftigkeit gestellte Gedächtnisspuren operieren demnach nicht im Bewusstsein, sondern im Unbewussten. Würden sie dies nicht tun, wäre das Bewusstsein, so Freud, in seiner Aufnahmekapazität für neue Eindrücke stark begrenzt.27 Erinnerung ist im Gegenzug ein bewusster Prozess, bei dem gezielt, zufällig oder durch bestimmte Ereignisse ausgelöst, bestimmte Gedächtnisspuren das Unbewusste verlassen und als Erinnerung in der Gegenwart des Bewusstseins prozessiert werden. Was dieses Unbewusste seinem Namen nach unbewusst 24 Nietzsche (1981), S.180. Vgl. u.a. auch A. Assmann (2009), S.130f.; Pethes (2008), S.33ff.; Gärtner (2013), S.154f. 26 Gärtner (2013), S.151f. 27 Freud (1920), S.24. und Freud (1925), S.401. 25 15 macht, bezweckt das Bewusstsein – der Mensch als kulturelles Wesen – mit der Materialisation seines Gedächtnisses vorsätzlich: Indem der Mensch sich im Laufe seiner evolutionären Entwicklung immer weiter durch seine technischen Werkzeuge vervollkommnet, ist er in der Lage, die Materialisation seines Gedächtnisses für sein Erinnerungsvermögen voranzutreiben. Er nähert sich darin seinem göttlichen Ideal und wird mit dem Anlegen all seiner Hilfsorgane zum Prothesengott.28 Eines dieser Hilfsorgane hat Freud bereits 1925 in seiner Notiz über den »Wunderblock« beschrieben. Dieser Wunderblock dient ihm als anschauliches Modell für die Aufnahme- und Dauerhaftigkeit des Gedächtnisses. Denn, so stellt er fest, es gibt zwei Optionen zur Verbesserung der Gedächtnisfunktion: Die „Notierung auf einem festen Gedächtnisspeicher zur Erzeugung dauerhafter Spuren bei gleichzeitig begrenzter Aufnahmekapazität (Option 1) und die Notierung auf einem ephemeren Gedächtnisspeicher mit den umgekehrten Vorzeichen zu Vor- und Nachteilen der ersten Option (Option 2)“ (Gärtner 2013: S.151). Der Wunderblock vereint nun die Vorteile beider Optionen (unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren), indem er die beiden Systeme koppelt29: Die in diesem Modell angesprochenen Aspekte der Gedächtnismedien in Bezug auf ihre >Haltbarkeit<, >Lesbarkeit<, >Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten< werfen ihren Schatten voraus und werden insbesondere ab Mitte des 20. Jahrhundert den Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs massgeblich bestimmen. Auf Wunderblock-Lösungen, wie von Freud angedacht, kann dabei in der von ihm beschriebenen Form nicht zurückgegriffen werden – vielmehr wird die technische Umsetzung des Wunsches nach möglichst hoher Langlebigkeit der gespeicherten Daten bei gleichzeitig unerschöpflichen Speicherkapazitäten nur zum Preis grundsätzlicher Änderungen in den Speicherprozessen realisiert werden können.30 2.1.2 Reflexionen der Gegenwart: Forschungsfelder und Ansätze Gedächtnis- und Erinnerungstheorien der Gegenwart reflektieren gleichermassen ihre eigene Vergangenheit und Entwicklungen der Gegenwart. Und so ist in der vorangegangenen Rückschau auf einige wenige, gleichwohl zentrale Ideen zu Gedächtnis und 28 Freud (1997), S.57. Gärtner (2013), S.150f. 30 Dies wird u.a. Gegenstand der Analyse im Kapitel 3 sein. 29 16 Erinnerung bereits Vieles enthalten, was als Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen und kritische Reflexionen in den gegenwärtigen Diskussionen dient. Zusammengefasst sind dies insbesondere die fundamentale Differenz zwischen (technischem) Gedächtnis und Erinnerung und der Frage nach dem Verhältnis beider. Eine Differenz, die sich in ein Aussen des Gedächtnisses und ein Innen der Erinnerung spaltet, in der Gedächtnis mithin als Aufbewahrungsort oder Speicher von Informationen aufgefasst wird und Erinnerung als nicht-identische Wiederbelebung dieser Informationen durch erneute Verarbeitung. Auf der Seite der Erinnerung kristallisierten sich in der Rückschau weitere Fragen, Abgrenzungen und Definitionen heraus: Die Einordnung der Erinnerung in den Erkenntnisprozess und ihre Rolle für Wirklichkeitskonstruktionen, Fragen zu Abgrenzungen zwischen Erinnerungen und Träumen, die Bestimmung von Erinnerung als Prozess des Bewusstseins etc. Auch auf der Seite des Gedächtnisses ergeben sich eine Reihe weiterer Fragen: Welche Gedächtnistypen gibt es? Welche Implikationen haben unterschiedliche Gedächtnisspeicher auf die Prozesse der Erinnerung? In welchem Zustand befindet sich der menschliche Prothesengott heute? Diese seit dem Aufkommen der Philosophie im Abendland geführten und hier exemplarisch aufgezeigten Debatten bilden das theoretische Fundament für die Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung. Neuauflagen und Diskussionen dieses Fundaments sind vielfältig und nach Pethes immer dann besonders en vogue, wenn es Krisenerfahrungen oder Bedrohungen von Kontinuitäten zu überwinden gilt31. Das 21. Jahrhundert hat davon einiges zu bieten: Eine fragmentarische Epoche, der es nach den Weltkriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Ende der Kolonialisierung zunehmend nicht mehr gelingt, gesellschaftliche Einheit zu schaffen und statt dessen in Vielheiten lebt. Komplexe Lebenswirklichkeiten, in denen sich bis dato geltende Einteilungen, Abgrenzungen und Institutionen auflösen aufgrund zunehmender Mobilität, neuartiger Formen der Interaktion sowie einer steigenden Ausdifferenzierung von Lebenswelten. Und nicht zuletzt die eingangs bereits skizzenhaft aufgezeigten Beispiele der technischen (R)Evolution, die eine Geschwindigkeit erreicht hat, die für kulturelle und gesellschaftliche Prozesse mindestens eine Herausforderung darstellt. 31 Pethes (2008), S.9ff. (siehe insbesondere S.12). 17 Gedächtnis- und Erinnerungstheorien der Gegenwart antizipieren diese Entwicklungen und fragen im Anschluss an ihre Vorgänger nach akzeptablen Erinnerungsmodellen für die Gegenwart. Sie tun dies in immer zahlreicherer Form. Berek spricht in diesem Zusammenhang von einem regelrechten Erinnerungsboom, der sich gegenwärtig in den Wissenschaften ausbreitet.32 Das spiegelt sich auch in der Vielzahl der Ansätze, die sich mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen. In Abhängigkeit des Disziplinhintergrunds reichen sie von neurobiologischen, medizinisch-psychologischen über informationstechnische bis hin zu geisteswissenschaftlichen Zugängen. Ein guter Überblick über Forschungsrichtungen und -stände findet sich bei Erll (2011).33 Sie zählt geschichts- und sozialwissenschaftliche Zugänge, philosophische, medienwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Konzepte sowie die psychologische Gedächtnisforschung zu denjenigen Disziplinen, die die Gedächtnisforschung heute am signifikantesten prägen.34 Diese Pluralität der Ansätze korreliert mit der Vielfalt der verwendeten Begrifflichkeiten in der Gedächtnisforschung und basiert auf einer je spezifischen Wissenschaftshistorie. Daraus resultiert eine beträchtliche und stetig ansteigende Menge an vorliegendem Forschungsmaterial. Trotz dieser Materialfülle haben einige Modelle besondere Bedeutung und hohe Anschlussfähigkeit im wissenschaftlichen Diskurs erfahren. Die skizzierten historischen Überlegungen im vorherigen Abschnitt >Erinnerung an Erinnerungs- und Gedächtnisdebatten< sind Beispiele für zentrale Anknüpfungspunkte aus vergangenen Epochen. Auch im gegenwärtigen Diskurs sind bestimmte Modelle bzw. Überlegungen immer wieder Gegenstand der Diskussionen. Dazu gehören beispielsweise Stieglers Arbeiten zu Gedächtnis und Technik35, Debrays mediologischer Gedächtnisbegriff36 oder auch Erlls kultursemiotisches Gedächtnismodell37,38. In ihnen werden je unter- 32 Berek (2009), S.10. Weitere Überblicke über den Stand des Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurses finden sich beispielsweise bei Pethes (2008); Zierold (2006); S.59ff.; Berek (2009), S.9ff. 34 Erll (2011), S.10. 35 Hier insbesondere Stiegler (2009a), (2009b), (2011b). 36 Debray (2003). 37 Erll (2011). 38 Diese Modelle dienen lediglich als Beispiele für Konzeptionen im Rahmen des Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurses der Gegenwart. Für eine umfassendere Darstellung wären eine Reihe weiterer Modelle zu nennen. Auch hier bietet beispielsweise Erll einen guten Überblick. (vgl. Erll 2011). 33 18 schiedliche Perspektiven insbesondere mit Blick auf die Herausforderungen und Problemstellungen der Gegenwart fokussiert. Im deutschsprachigen Raum ist im Rahmen der sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Gedächtnisforschung vor allem das Modell des kollektiven Gedächtnisses39 von J. und A. Assmann hervorzuheben. Angelegt als eine Art Grundlagenmodell der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung beschreibt es prinzipielle Funktionen und Verfahrensweisen von Erinnerungsprozessen und ist damit Ausgangspunkt und Reflexionsebene für vielfältige weiterführende Überlegungen geworden. Wesentlich für diese hohe Anschlussfähigkeit des Assmann’schen Modells im wissenschaftlichen Diskurs sind – ohne an dieser Stelle bereits eine ausführliche Analyse zu starten – insbesondere die Einführung eines erinnerungskulturellen Grundlagenmodells mit einer umfassend ausgearbeiteten Terminologie, die Beschreibung prinzipieller kultureller Prozesse auf Basis dieses Modells sowie die Unterfütterung des Modells mit Beispielen verschiedener Epochen. Das Assmann’sche Modell kann damit, wie viele andere Gedächtnismodelle auch, eingeordnet werden in allgemeine kulturtheoretische Konzeptionen: Aus der Perspektive des Gedächtnisses und der Erinnerung werden hier generelle kulturelle Prozesse und Zusammenhänge analysiert und aufgezeigt. Das Gedächtnismodell von J. und A. Assmann wird aufgrund seiner Ausgestaltung und Ausrichtung daher auch in dieser Arbeit ein zentraler Anknüpfungspunkt für die eigenen Überlegungen sein.40 Es ist einer der von Berek beschriebenen Katalysatoren für den Erinnerungsboom auf der theoretischen Ebene. Die inhaltlichen Auslöser für diesen Erinnerungsboom sind vielfältiger Natur. Sie reichen im Rahmen geisteswissenschaftlicher Auseinandersetzungen (insbesondere im deutschsprachigen Diskurs) vom Aussterben der Zeitzeugen des Holocausts über eine 39 Das kollektive Gedächtnis wird bei J. und A. Assmann weiter differenziert in ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis. Unter letzteren Bezeichnungen hat das Modell Karriere gemacht. Vereinfachend wird an dieser Stelle noch zusammenfassend vom kollektiven Gedächtnis gesprochen – ein Begriff, der vor allem auf Halbwachs zurückgeführt werden kann. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Terminologie erfolgt in Kapitel 4. 40 An dieser Stelle wird eine erste wesentliche (subjektive) Selektion vorgenommen: Neben dem Assmann’schen Modell wären auch andere Konzeptionen, wie beispielsweise die bereits genannten von Stiegler, Debray und Erll, als Grundlagenmodelle für die eigenen Überlegungen möglich. Mit Blick auf Art und Menge der Rezeption sowie der inhaltlichen Ausgestaltung des Modells wird hier die Assmann’sche Konzeption als Grundlagenmodell präferiert, wiewohl Überlegungen aus anderen Arbeiten berücksichtigt werden. 19 zunehmende, auch individuell erfahrbare Ökonomisierung und Zergliederung der Gesellschaft bis hin zu technischen Veränderungen.41 Insgesamt führen diese inhaltlichen Auslöser zusammen mit den benannten konzeptionellen Überlegungen zu einer intensiven Beschäftigung mit Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur – Begriffe, die so zu Leitthemen wissenschaftlicher und populärer Auseinandersetzung avancier(t)en. Vor allem Aspekte technischer Entwicklungen rücken dabei mehr und mehr in den Vordergrund der Betrachtungen. Sie bilden einen neuen Kristallisationspunkt im Gedächtnisdiskurs und führen zu der Frage, wie die (neuen) technischen Medien die Ausprägung von Erinnerung(skulturen) beeinflussen. Für die Beschäftigung mit dieser Frage können zwei Ebenen unterschieden werden: Allgemeine konzeptionelle Überlegungen in Form übergeordneter Modelle sowie spezifische Analysen anhand von Einzelstudien. Für Letztere liegt im medientechnisch orientierten Gedächtnisund Erinnerungsdiskurs eine Fülle an Material vor.42 In diesem Rahmen erstellte Einzelstudien widmen sich spezifischen Themen wie beispielsweise den Einflüssen von Videospielen auf das Geschichtsbewusstsein43 oder dem Vergleich realer und virtueller Erinnerungslandschaften am Beispiel des Vietnam Veterans Memorial Fund.44, 45 Medientechnisch orientierte Gedächtnis- und Erinnerungsbetrachtungen, die sich demgegenüber als übergeordnete Modellbeschreibungen verstehen, sind, wie auch Zierold betont, deutlich weniger vorhanden46 und methodisch und inhaltlich vor allem durch zwei Aspekte geprägt: Viel allgemeine, auf zentrale Unterschiede der >Medienepochen< fokussierte Mediengeschichte und weniger – insbesondere für gegenwärtige Entwicklungen – konkrete Technikanalysen (1) sowie eine gewisse Vorliebe für Krisen und Enden (2). 41 Insbesondere in Anlehnung an Berek (2009), S.11f. (Berek unterscheidet drei prinzipielle Kategorien von Auslösern: technische Entwicklungen, soziale und politische Umbrüche sowie das Verschwinden der Erlebnisgeneration.). 42 Zierold (2006), S.3. 43 Siehe Kansteiner (2009). 44 Siehe Sumner (2009). 45 Weitere interessante Einzelstudien zu diesem Thema finden sich in dem Sammelband „Erinnerungskultur 2.0“, herausgegeben durch Erik Meyer. 46 Zierold (2006), S.3. 20 (1) Modellhaft orientierte Forschungen der Gegenwart gehen mittels unterschiedlichster Fragestellungen (medien)technischen Aspekten im Zusammenhang mit Gedächtnis und / oder Erinnerungskulturen nach. Ein Grossteil der Arbeiten widmet sich dabei vor allem übergeordneten, mediengeschichtlichen Darstellungen. Gegenwartsbezogene Technikanalysen bzw. konkrete Beschreibungen im Sinne einer Untersuchung technischer Zustandskonfigurationen sind eher selten oder bleiben in Bezug auf die Implikation auf Erinnerung(skultur) im Vagen.47 Zu den aktuellen Arbeiten, die sich diesem Themenbereich intensiver widmen, gehören die bereits benannten Modelle von Erll, Stiegler etc. wie auch beispielsweise Ernsts medienarchäologischer Gedächtnisansatz48. (2) Des Weiteren zeigt sich in diesem Bereich eine Vorliebe für Krisen und Endzeitstimmungen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang A. Assmanns Ausdruck von der Krise des kulturellen Gedächtnisses: Medientechnologische Entwicklungen der Gegenwart führen nach A. Assmann ungeachtet ihrer Potentiale zu einem kritischen Auseinanderklaffen von Gedächtnisumfang und Erinnerungsbedarf, und die >ursprüngliche< Stabilität der Gedächtnisspeicher verschwindet im Digitalen und den sich kannibalisierenden Speichern.49 Eine weitere Beschreibung findet sich beispielsweise bei Stiegler, für den die „ökologische[…] Krise des Geistes“ (Stiegler 2009a: S.96) mit den gegenwärtigen Entwicklungen der Industrialisierung und Kommerzialisierung des technischen Gedächtnisses angezeigt wird. Diese und weitere Krisenbeschreibungen verweisen dabei fast immer auf eine allgemeine Digitalisierung der Kultur – wobei unter Digitalisierung ganz unterschiedliche Dinge subsumiert und leider auch missverstanden werden. Vor diesem Hintergrund bewegen sich eine Reihe der gegenwärtigen medientechnischen Einschätzungen im Rahmen des Gedächtniskurses. Vor allem in Bezug auf technisch-ökonomische Aspekte der Digitalisierung liesse sich diese Reihe an Beispielen erfolgreich fortsetzen. Sie knüpfen damit nicht selten an kulturkritische Traditionen im Sinne der Frankfurter Schule und ihrer Analyse der Kulturindustrie an.50 47 Zu diesem Schluss kommt auch Zierold in seiner Analyse zu gesellschaftlichen Erinnerungsmodellen (Vgl. auch Zierold (2006), S.3, S.76f.). 48 Ernst (2001), (2007). 49 A. Assmann (2009), u.a. S.411. 50 Vgl. z.B. Stiegler (2009a), S.78. 21 2.2 2.2.1 Parcours Vorhaben An diesen beiden Punkten knüpft die eigene Arbeit an: Allgemeine mediengeschichtliche Überlegungen werden mit Fokus auf den Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs in eine gegenwartsbezogene Technikanalyse überführt und darauf aufbauend eine Beschreibung für Erinnerungskulturen entwickelt, die den bereits vorliegenden Darstellungen eine neue Perspektive hinzufügt. Hierin liegt das Interesse und daraus abgeleitet der Ansatz dieser Arbeit: Für den Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs wesentliche technische Entwicklungen und Eigenschaften sollen aus einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive beschrieben und Implikationen für Erinnerungskultur bzw. erinnerungskulturelle Modelle analysiert werden. Ausdruck dieses Interesses ist die Formulierung folgender, im Rahmen dieser Arbeit zu beantwortender, konkreter Fragen: Welche Entwicklungen haben im letzten Jahrhundert zur technischen Gegenwart (hypomnésis) geführt und wie gestaltet sie sich heute? Wie muss ein erinnerungskulturelles Modell, in dieser Arbeit das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann, vor dem Hintergrund dieser technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen (anamnésis) verwenden zu können? Bewusst greift die Formulierung dieser Fragen auf Platons grundlegende Unterscheidung zwischen technischem Gedächtnis (hypomnésis) und Gedächtnis im Sinne von Erinnerung (anamnésis) zurück. Diese >zwei Seiten< des Gedächtnisses sollen als fundamentale, am Anfang der abendländischen Philosophiegeschichte gesetzte Perspektiven die Strukturierungsgrundlage für die Beantwortung der Fragen im Rahmen des folgenden Parcours bilden: Der erste Aspekt des Vorhabens, die Frage nach den Bedingungen und der Ausgestaltung hypomnétischer Gegenwart, stellt die Analyse der technischen Seite des Gedächtnisses in den Vordergrund. Diese Analyse impliziert zunächst eine grundlegende Bestimmung des Verhältnisses zwischen den >zwei Seiten< des Gedächtnisses. Auf dieser Verhältnisbestimmung aufsetzende Beschreibungen technischer Entwicklungslinien und zeitlich korrelierender philosophischer Reflexionen bilden die Folie für eine anschliessende Untersuchung (medien)technischer Gegenwartskonfigurationen und deren Auswirkungen auf Erinnerungskultur. Damit rückt der zweite Aspekt des Vorhabens in den Vordergrund und so die Frage, 22 wie die hypomnétische Gegenwart Erinnerungskultur (anamnésis) prägt aufgezeigt am Beispiel des Assmann’schen Modells. Dieser Ansatz resultiert aus der Auffassung, dass bisher im Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs weniger beachtete technikgeschichtliche Überlegungen und vor allem ein konkretes Aufzeigen gedächtnisrelevanter Eigenschaften der technischen Gegenwart eine neue Perspektive für den Anschluss an gegenwärtige Debatten bieten. Des Weiteren soll damit dem Umstand einer zunehmend erfahrbaren Technisierung (des Gedächtnisses) im Alltag Rechnung getragen werden: Seit dem Einsetzen der Industrialisierung mit all ihren Begleiterscheinungen wurde Technik zu einem signifikanten Teil unserer alltäglichen Lebenserfahrung – die Präsenzzeit der Technik stieg an. Die Technikentwicklung hat mit der letzten grossen Technikwelle, die gemeinhin unter dem Titel >Digitalisierung< greifbar gemacht wird, zu einer weiteren Intensivierung der Erfahrbarkeit und Wahrnehmung von Technik geführt51 und zeigt sich in den wissenschaftlichen Diskursen vermehrt im Ausdruck eines technischen Aprioris für gesellschaftliche Prozesse und damit auch für die Ausprägung von Erinnerungskultur. Bei einem derartigen Vorhaben wird auf einer Fülle von bereits vorliegendem Material als Diskussionsgrundlage aufgesetzt. Es wird dabei versucht, mit der Beantwortung der gestellten Fragen dem Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs neue Aspekte hinzuzufügen und damit im besten Falle wissenschaftliche Anschlussfähigkeit für diesen Diskurs zu schaffen. 2.2.2 Abgrenzungen und Spezifikationen Um dieses Vorhaben machbar zu gestalten und die Fokussierung auf die gestellten Fragen beizubehalten, sind noch einige Abgrenzungen und Spezifikationen notwendig. Sie betreffen die Auswahl des inhaltlichen und zeitlichen Rahmens dieser Arbeit. 51 Böhme spricht in diesem Zusammenhang von Technik als kommunikativen Wahrnehmungsdispositiv. Vgl. Böhme (2008). S.19. 23 Inhaltlicher Rahmen: Disziplinspezifische Zugänge Wie bereits aufgezeigt wurde, sind die Möglichkeiten, sich dieser Frage zu nähern, so vielfältig wie die am Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs beteiligten Disziplinen selbst. Vor dem Hintergrund des skizzierten Vorhabens scheint neben dem bereits gesetzten Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann die Verwendung von Überlegungen aus folgenden Ansätzen für die Bearbeitung sinnvoll: technikphilosophische (1), medienwissenschaftliche (2) sowie weitere sozial- bzw. kulturwissenschaftliche (3) Ansätze. (1) Technikphilosophische Ansätze setzen als Ursprung die grundsätzliche Frage nach der technischen Bedingtheit des Menschen, nach dem Verhältnis zwischen Mensch, Kultur und Technik. Im Rahmen der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung können diese Fragen als ein zentraler Aspekt zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen technischem Gedächtnis und menschlicher Erinnerung artikuliert werden. Darüber hinaus liefern technikphilosophische Überlegungen interessante Aspekte zur Beschreibung technischer Gedächtnisse, die in diesem Zusammenhang häufig als kulturtechnische Zustände bestimmt werden, welche sich im Zuge der Menschwerdung, und d.h. im Zuge eines technologischen Exteriorisierungsprozesses, verändern. (2) Medienwissenschaftliche Ansätze werden in Bezug auf technische Formen konkreter, indem sie sich mit der Herausbildung und Veränderung von bestimmten Medien „in Verzahnung mit kulturellen, wissenschaftlichen, ökonomischen, politischen und sozialen Prozessen“ (Weber 2008: S.12352) befassen. Nicht nur das prinzipielle Verhältnis von Technik, Kultur und Mensch wird hinterfragt, sondern Implikationen und Wandlungen konkreter medientechnischer Konfigurationen des Gedächtnisses aufgezeigt. Nach Grampp können Differenzierungen der medienwissenschaftlichen Forschung evolutionär in folgende Reihenfolge gebracht werden: Die in den 1940er Jahren entstandene generelle Medientheorie erklärt die Funktionen der Medien (des Gedächtnisses) aus einem gesellschaftlichen Kontext heraus. Die in den 1980er Jahren etablierte generelle Medienontologie begreift die Medien im Gegensatz zur ersten als Ursache für kulturelle Entwicklungen. Und schliesslich fokussiert die seit den 1990er 52 Zitiert nach Stauff. 24 Jahren einsetzende generelle Medialitätstheorie auf die Wechselwirkung von Kulturzuständen und Technikkonfigurationen sowie auf Übertragungsprozesse.53 Damit würden unter dem Label der Medienwissenschaften auch all jene wissenschaftlichen Strömungen verstanden werden, die sich heute Mediologie, Kulturtechnik oder auch Medienarchäologie nennen. Sie alle rücken konkrete technische Formen in den Fokus ihrer Betrachtung und fragen dann entweder nach Interdependenzen mit ihrem Milieu, nach der Genealogie der betrachteten Formen und / oder nach den technischen Eigenschaften. (3) Wenn nicht mehr ausschliesslich Entwicklungen und Veränderungen medientechnischer Ausprägungen, sondern ihre Auswirkungen auf Erinnerungskulturen im Vordergrund stehen, wenn also die Perspektive von hypomnésis auf anamnésis umgestellt wird, so befindet man sich im Feld der sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Erinnerungs- und Gedächtnisforschung. Sie zielt darauf ab, wie bereits anhand des Assmann’schen Modells zum kollektiven Gedächtnis skizziert, Erinnerungskulturen zu beschreiben und entsprechende Erinnerungsmodelle zu formulieren. Kultur- und gesellschaftsgenerierende Prozesse und damit einhergehend Prozesse der Sinn- und Wertstiftung, der machtpolitischen Einflussnahme etc. stehen hier im Vordergrund. Mit anderen Worten, Ansätze dieser Art berücksichtigen die technische Operationalität des Gedächtnisses (mehr oder weniger) nur im Hinblick auf mögliche Implikationen auf die Erinnerung bzw. die Ausprägung von Erinnerungskultur. In der Konsequenz heisst das, Überlegungen aus Technikphilosophie, Medien-, Sozial- und Kulturtheorie fruchtbar zu machen für eine Beschreibung gegenwärtiger Erinnerungskultur vor dem Hintergrund aktueller technischer Eigenschaften und Konfigurationen. Mit solchen Überlegungen sind vor allem modellhaft-theoretische Überlegungen gemeint. Exemplarische Studien zu spezifischen Themenfeldern geschichtlicher Epochen, bestimmten Techniken etc. sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. 53 Grampp (2008), S.44f. 25 Zeitlicher Rahmen: Gegenwart unter Berücksichtigung wesentlicher Entwicklungen des letzten Jahrhunderts Die zweite Abgrenzung bezieht sich auf den zu betrachtenden zeitlichen Rahmen. Hier kommen zwei Perspektiven zur Anwendung. Die erste präzisiert das Wort >Gegenwart< in der Fragestellung und meint damit zum einen die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Debatten rund um das Gedächtnis und Erinnerung. Hier wird sich mit Fokus auf das Assmann’sche Modell darüber hinaus auf diejenigen konzentriert, die um die Jahrhundertwende des 21. Jahrhunderts geführt wurden und werden. Konkret umfasst das die zeitliche Fokussierung auf wissenschaftliche Arbeiten der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bis hin zu den aktuellen Debatten des beginnenden 21. Jahrhunderts.54 Zum anderen wird mit dem Wort >Gegenwart< der Fokus auf Technologien des Hier und Jetzt gesetzt. Eine Mediengeschichte oder gar eine geschichtliche Betrachtung einzelner Medien (Buch, Radio, Fernsehen etc.) wird in dieser Arbeit nicht geleistet. Ausreichende Betrachtungen liegen hierzu umfangreich vor. Die medientechnische Lagebeschreibung in dieser Arbeit konzentriert sich demnach auf all das, was allgemein unter dem Schlagwort >Digitalisierung< und / oder >neue Medien< gefasst wird.55 Es wird also irgendwie um Computer und ihre Begleiterscheinungen gehen müssen. Die zweite Perspektive ist zeitlich etwas länger gefasst: Überlegungen zur Gegenwart machen es manchmal notwendig, nicht nur in die Geschichte zu schauen, sondern auch mit ihr zu argumentieren. Technikgeschichtliche und technikphilosophische Betrachtungen bilden für diese Arbeit – insbesondere für Herleitungen und Beschreibungen hypomnétischer Gegenwart – einen fruchtbaren Fundus für solche Argumentationen. Daher wird an dieser Stelle ein wenig weiter ausgeholt, der Rahmen fasst hier den Zeitraum ~1900 bis ~2000. 54 Bezüge zu älteren Theorien werden nur dort hergestellt, wo sie für ein besseres Verständnis sinnvoll erscheinen oder für die Argumentation notwendig sind. 55 Hierzu später ausführlich in Abschnitt 3.2. 26 2.2.3 Kurs Zur Umsetzung dieses Vorhabens wird folgender Kurs eingeschlagen: Die übergeordnete Struktur dieser Arbeit orientiert sich an der bereits dargestellten platonischen Unterscheidung56 in Gedächtnis als hypomnésis (technisches Gedächtnis) und Gedächtnis als anamnésis (Erinnerung). Die vorgängige Betrachtung von Gedächtnis als hypomnésis soll die zentralen Entwicklungsbedingungen und konkreten technischen Zustandskonfigurationen der Gegenwart aufzeigen, die massgeblich für die Ausprägung von Gedächtnis im Sinne von anamnésis und damit für Erinnerungskultur als solche sind. Übersetzt auf die Feinstruktur der Arbeit führt das zu folgendem Vorgehen: Nach ein paar notwendigen ersten Setzungen widmet sich Kapitel 3 dem technischen Gedächtnis. Eine solche Beschäftigung mit hypomnésis setzt zunächst eine detailliertere Beschreibung des Verhältnisses zwischen anamnésis und hypomnésis voraus. Sie dient der Bestimmung einer grundsätzlichen, dem weiteren Verlauf der Arbeit zugrundeliegenden Logik. Aufbauend auf dieser Bestimmung werden anschliessend historische Entwicklungen und Betrachtungen zu den technischen Grundlagen überblicksartig dargestellt, und das heisst im Falle dieser Arbeit: zu den zentralen (medien-)technischen Entwicklungen ab ~1900 und ihren korrespondierenden technikphilosophischen Einschätzungen. Hier gilt es, diejenigen Überlegungen herauszufiltern, die für den Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs relevant sind und als Beschreibungsgrundlage für aktuelle Zustandsbeschreibungen dienen können. Mit der Untersuchung dieser wesentlichen technischen Zäsuren seit ~1900 sowie einiger beispielhafter, gleichwohl prominenter technikphilosophischer Reflexionen soll also die Basis für ein nachfolgend zu erarbeitendes Technikverständnis der Gegenwart entwickelt werden. Darauf aufbauend werden anschliessend die konkreten technischen Konfigurationen und Merkmale dieser Gegenwart analysiert. Dazu werden gemäss dem gesetzten technischen Fokus auf Aspekte der >Digitalisierung< etc. zunächst weitere terminologische Setzungen für die in dieser Arbeit zentralen Begriffe wie beispielsweise >neue Medien< oder eben >digital< vorgenommen und im Anschluss daran die Eigenschaften 56 Diese Unterscheidung hat viele Nachfolger gefunden. Insbesondere Bernard Stiegler hat sie für den gegenwärtigen Gedächtnisdiskurs wieder prominent gemacht hat. Vgl. Stiegler (2009a), (2009b); detaillierte Ausführungen zu Stieglers Plantonanschluss werden am Anfang des Kapitels 3 vorgenommen. 27 technischer Gedächtnismedien entlang im Vorfeld entwickelter Beschreibungskategorien herausgearbeitet. Ziel dieses Kapitels ist es daher, die erste Frage >Welche Entwicklungen haben im letzten Jahrhundert zur technischen Gegenwart (hypomnésis) geführt und wie gestaltet sie sich heute?< zu beantworten und damit eine Analysegrundlage für das >anamnétische< Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann sowie für erinnerungskulturelle Ausprägungen der Gegenwart zu entwickeln. Nachdem Kapital 3 die technische Seite des Gedächtnisses und dessen Ausprägungen in der Gegenwart bestimmt hat, widmet sich Kapitel 4 der anderen Seite des Gedächtnisses, d.h. >anamnésis<. Analog zu Kapitel 3 sollen hier zunächst die Grundlagen beschrieben und analysiert werden. Im Falle der Betrachtung von anamnésis bedeutet das, sich mit den zentralen Modellen zur Ausprägung von Erinnerung(skultur) zu beschäftigen und diese im Anschluss daran kritisch in Bezug auf ihre Anwendbarkeit in der Gegenwart zu hinterfragen. Konkret heisst das, eine Analyse des für diese Arbeit als Grundlagenmodell dienende Konzept des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann vorzunehmen. Unter Beachtung ihrer eigenen konzeptionellen Anknüpfungspunkte, die sich vornehmlich in den Überlegungen bei Halbwachs finden, werden die Eckpunkte des Modells beschrieben und anschliessend die wesentlichen Aspekte zu Funktionen und Organisation dieses Erinnerungsmodells herausgearbeitet. Mit Hinblick auf die gewonnenen Erkenntnisse aus Kapitel 3 wird das Modell danach auf verschiedenen Ebenen einer kritischen Reflexion unterzogen. Ziel dieses Kapitels ist es daher, das Modell des kollektiven Gedächtnisses als zentrales Modell zur Ausprägung von Erinnerung(skultur) sowie seine funktionalen und organisatorischen Aspekte darzustellen, zu analysieren und mit Bezug auf aktuelle technische Eigenschaften kritisch auf die Anwendbarkeit für Ausprägungen von Erinnerungskulturen in der Gegenwart zu hinterfragen. Kapitel 3 und 4 fokussieren demnach auf die zwei grundlegenden Perspektiven im Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs. Für beide werden zunächst ihre Entstehungsbedingungen aufgezeigt, um anschliessend Ausprägungen bzw. Anwendbarkeit herausarbeiten zu können. Im Falle von hypomnésis bedeutet das, die wesentlichen Eigenschaften der technischen Gegenwart aufzuzeigen, im Falle von anamnésis, das Modell des kollektiven Gedächtnisses zu analysieren und insbesondere an dieser technischen 28 Gegenwart zu spiegeln sowie kritisch zu hinterfragen. Die Ergebnisse werden anschliessend in Kapitel 5 >Erinnerungskulturen der Gegenwart< zusammengeführt: Vor dem Hintergrund der Analysen in Kapitel 3 und 4 soll eine Weiterentwicklung des Modells des kollektiven Gedächtnisses entlang der Aspekte Modell, Funktionen und Organisation zur Beschreibung von erinnerungskulturellen Ausprägungen in der Gegenwart versucht werden. Ziel dieses Kapitels ist es, ein auf Basis der Arbeiten von J. und A. Assmann angepasstes Gedächtnis- bzw. Erinnerungsmodell vorzustellen, das die Implikationen technischer Eigenschaften der Gegenwart berücksichtigt. Damit soll die zweite Frage >Wie muss ein erinnerungskulturelles Modell, in dieser Arbeit das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann, vor dem Hintergrund der technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen (anamnésis) verwenden zu können?< beantwortet werden. Hierbei wird ausschliesslich auf das Gedächtnismodell und daraus ableitbare Merkmale erinnerungskultureller Ausprägungen der Gegenwart fokussiert – eine darauf aufbauende, weitergefasste, allgemeine kulturtheoretische Konzeption, wie sie im Assmann’schen Modell angelegt ist, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Die wesentlichen Ergebnisse und Thesen aller drei Kapitel werden jeweils am Kapitelende nochmals verdichtet zusammengefasst. Diese Schlussbetrachtungen dienen als inhaltliche Hilfestellungen für die darauf aufbauenden Kapitel und – insbesondere in Kapitel 5 – als Reflexion der Ergebnisse an den gestellten Forschungsfragen.57 2.3 Erste Setzungen In der Auseinandersetzung mit einem derartigen Vorhaben hantiert man mit allerlei Begrifflichkeiten. Begriffe wie >Gedächtnis< oder >neue Medien< generieren dabei entweder als einfache Schlagworte vage Vorstellungen über das Gemeinte oder werden je nach theoretischer Ausrichtung spezifisch, und das heisst auch jeweils anders, definiert. Es muss also ein terminologisches Rüstzeug her, das als Grundlage dienen kann. Dabei ergibt sich die Schwierigkeit, dass einige der für die Arbeit notwendigen Begriffe erst in der Argumentation in den einzelnen Kapiteln erläutert werden, also 57 Inhaltliche Wiederholungen bzgl. der zentralen Ergebnisse des jeweiligen Kapitels werden daher bewusst eingegangen. 29 Bestandteil der folgenden Erarbeitung sind. Daher gilt prinzipiell die Regel, dass Begriffe, die einer genaueren Erklärung bedürfen, an den entsprechenden Stellen aus der Argumentation heraus definiert werden. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel: Diese Ausnahme umfasst die für diese Arbeit zentralen Begriffe >Gedächtnis<, >Erinnerung< und >Kultur<. Für sie werden im Sinne einer prinzipiellen Verständnisgrundlage bereits an dieser Stelle erste terminologische Setzungen vorgenommen, die im Laufe der Arbeit verfeinert werden. Gedächtnis und Erinnerung Die von Platon artikulierte Differenz in ein technisches Gedächtnis und Erinnerung dient, wie aufgezeigt, als wesentliche Strukturierungsgrundlage für diese Arbeit. Ohne hier bereits auf das angesprochene Verhältnis zwischen den >beiden Seiten< des Gedächtnisses näher eingehen zu wollen58, sollen an dieser Stelle mittels einiger Beschreibungsmerkmale die grundlegenden Bedeutungsinhalte beider Perspektiven aufgezeigt werden. Gedächtnis als im weitesten Sinne technisches Gedächtnis hat im Laufe seiner Geschichte viele Namen bekommen: Es ist, neben der griechischen Bezeichnung als hypomnésis59, auch das Gedächtnis als ars60, als Gestell61, als das Aussen62, als das Supplement63 etc. Zentrale >Funktion< dieses Gedächtnisses ist das Aufbewahren von Erinnerungen, und das heisst zunächst das Speichern von Informationen als Basis für Rückgriffe auf die Vergangenheit. So betrachtet ist das technische Gedächtnis ein auf den Möglichkeiten des Speicherns beruhendes, über die Zeit aktualisierbares Gedächtnis. Ein kurzer Überblick über derzeitige Speichermöglichkeiten lässt die Vielfältigkeit dieses technischen Gedächtnisses bereits erkennen: Sie reichen von klassischen Informationsspeichern wie Photographie und Buchdruck über magnetische bis hin zu opto-elektronischen Speichermedien. Aber auch jedes Werkzeug ist bereits ein 58 Erfolgt einleitend in Kapitel 3. Platon (1983), S.177 und dessen Gefolge z.B. Stiegler (2009a),S.42. 60 A. Assmann (2009), u.a. S.28. 61 Z.B. Ernst (2007), S.43. 62 Hegel (1830), S.459ff. 63 Derrida (1968), z.B. S.121f. 59 30 technisches Gedächtnis, indem es in seiner Form und Materialität Anwendungsmöglichkeiten speichert und wieder abrufbar macht.64 Allgemeiner gilt es daher festzustellen, dass die Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten der zugrundeliegenden technischen Strukturen (unter denen die expliziten Speicherstrukturen eine besondere Bedeutung haben) demnach die Ausprägungen dieses technischen Gedächtnisses definieren. Im Anschluss an diese Auffassung von Gedächtnis als einer technischen Struktur handelt es sich bei der Erinnerung um das >Gedächtnis< im Sinne von anamnésis65 und damit verbunden um das Gedächtnis als vis66, als ein innerliches Verarbeiten67, als lebendiges und wissendes Gedächtnis68. Nicht die technischen Eigenschaften, sondern die Funktionen und Organisation von Erinnerung sowie Ausprägungen von Erinnerungskulturen insgesamt stehen bei dieser Perspektive im Vordergrund. Wesentlich für die Beschreibung von anamnésis ist der Gedanke, dass es sich bei Erinnerung um eine Art der (Wieder)Aneignung, der Verarbeitung von Vergangenheit handelt, wie es einige Beispiele im Abschnitt >Erinnerung an Erinnerungs- und Gedächtnisdebatten< bereits aufgezeigt haben. Erinnerung kann demnach als zeitliche Aneignung, als ein in der Gegenwart prozessuales Entstehen von Vergangenheit mit Auswirkungen auf die Gegenwart und Zukunft aufgefasst werden. Aus dieser terminologischen Verortung ergibt sich ein weiterer Aspekt für die Unterscheidung zwischen Gedächtnis als hypomnésis und anamnésis: Technik operiert vielfach im Hintergrund, während Erinnerung einen bewussten Prozess darstellt – ein Aspekt auf den bereits Freud hingewiesen hat. Der daraus resultierenden strikten Trennung zwischen unbewussten Gedächtnis(leistungen) und im Gegensatz dazu bewusster Erinnerung folgen viele der derzeitigen Debatten im Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs.69 64 U.a. Leroi-Gourhan (1988), S.273ff.; S.296ff. Platon (1983), S.177 in dessen Gefolge z.B. Stiegler (2009a), S.42 und S.60ff. 66 A. Assmann (2009), S.29. 67 Hegel (1830), S.446ff. 68 Derrida (1968), S.101. 69 Z.B. Schmidt (2000); Zierold (2006); Erll (2011). 65 31 Gedächtnis als technisches Gedächtnis und Gedächtnis im Sinne von Erinnerung bezeichnen demnach unterschiedliche Aspekte der Gedächtnisfrage und damit verbunden unterschiedliche Eigenschaften, Anwendungen, Funktionen und ein zu klärendes Verhältnis zwischen beiden. In seiner Gesamtheit beschreibt der Begriff >Gedächtnis< einen prägenden Teil kultureller Prozesse. Kultur (im Zusammenhang mit Gedächtnis und Erinnerung) Neben den Begriffen >Gedächtnis< und >Erinnerung< ist der Kulturbegriff für den Gedächtnisdiskurs von zentraler Bedeutung. Wie bereits erwähnt, können eine Vielzahl der vorliegenden Gedächtniskonzeptionen auch als allgemeine kulturtheoretische Modelle aufgefasst werden indem sie mittels der Analyse von Gedächtnis und Erinnerungsprozessen umfassende Aussagen zu kulturellen Prozessen machen. Wiewohl im Fokus dieser Arbeit ein Gedächtnismodell und daraus ableitbare erinnerungskulturelle Merkmale der Gegenwart stehen ohne dabei ein ganzheitliches kulturtheoretisches Konzept formulieren zu wollen, ist eine kurze Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Kultur und Gedächtnis bzw. Erinnerung aufgrund ihrer engen (terminologischen) Verknüpfung sinnvoll. Formulierungen wie >Erinnerungskultur< verweisen dabei bereits explizit auf den Zusammenhang zwischen Kultur, Gedächtnis und Erinnerung. Für Herleitungen und Beschreibungen dieses Zusammenhangs liegen analog zum Gedächtnisbegriff und korrespondierend mit den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen umfangreiche Arbeiten vor. Die Verbindung zwischen Kultur und Erinnerung wird dabei häufig in der Auffassung von Kultur als Kulturprogramm herausgestellt. Beispielhaft sei an dieser Stelle Schmidts konstruktivistischer Kulturbegriff und seine Verknüpfung mit Erinnerung aufgezeigt: Schmidt fasst darin Kultur als Programm „zur gesellschaftlich relevanten Produktion und Interpretation von Phänomenen“ (Schmidt 2000: S.34) auf, mittels dessen Sinn- und Identitätskonstruktionen auch von einer Generation auf die nächste übertragen werden.70 Eine derartige generationsübergreifende Übermittlung von Kulturprogrammen basiert 70 Schmidt (2000), S.37. Neben gesellschaftlicher Reproduktion benennt Schmidt folgende weitere wesentliche Beschreibungsmerkmale für Kulturprogramme (vgl. Schmidt (2000), S.36ff.): Interdependenz von Programm und Programmanwender: Kultur wird durch den Programmanwender (Mensch) generiert. Gleichzeitig steuert das bereits vorliegende Kulturprogramm den Menschen. 32 zwangsläufig auf einem irgendwie gearteten Gedächtnis und lässt das jeweils aktuelle Kulturprogramm immer auch als vorläufig letzte Ausprägungsstufe eines kulturellen Erinnerungsprogramms erscheinen. Auffassungen von Kultur als Kulturprogramm und damit als übermittelbare, kulturelle Einschreibungen führen dann beispielsweise in der systemtheoretisch geprägten Gedächtnistheorie Luhmanns dazu, Kultur gleich als Gedächtnis einer Gesellschaft zu definieren71. Ähnlich verfahren auch die Semiotiker – sie fassen Kultur als ein Zeichensystem auf, dass durch ein nicht-erbliches Gedächtnis eines menschlichen Kollektivs vermittelt wird. Hier ist die Basisoperation der Kultur demnach die Aufzeichnung von Ereignissen in einem Gedächtnistext. Dieser wird im kulturellen System verankert und bestimmt es dadurch.72 In der Konsequenz entstehen durch die gedächtnisbedingte Übermittlung von Kulturprogrammen Erinnerungskulturen in einem zweifachen Sinne. Zum einen handelt es sich um Erinnerungskulturen dadurch, dass das Kulturprogramm ein auf Basis von Gedächtnisleistungen erinnertes Kulturprogramm darstellt, das von einer Generation auf eine nächste übertragen wurde. Zum anderen erinnern sich die Individuen einer Gesellschaft bzw. die Gesellschaft als Ganzes im Rahmen des selektiv wirkenden Kulturprogramms nur an bestimmte Inhalte der Vergangenheit mit Folgen für die Gegenwart und Zukunft. Der Begriff Erinnerungskultur steht dabei immer für ein gesamt-gesellschaftlich relevantes Phänomen, nicht für ein individuelles. Er zeigt aber auch auf, dass individuelle Erinnerung immer in Abhängigkeit gesellschaftlicher Erinnerung und das heisst eben kulturprogrammspezifisch geprägt ist. Kulturprogramme als Selektions- und Identitätsmechanismus: Gesellschaftliche Komplexität wird mittels des jeweilig vorherrschenden Kulturprogramms qua Selektion reduziert. Was selektiert, d.h. akzeptiert oder negiert wird, wird durch das Programm definiert. Das Kulturprogramm wirkt damit identitätsstiftend. Ausdifferenzierung des Programms in Teilprogramme: In Abhängigkeit des Grades der Ausdifferenzierung einer Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme kommen auch unterschiedliche kulturelle Teilprogramme zur Anwendung. Sinkende Programmverbindlichkeit bei steigender (medialer) Reflexivität: Erhöhte Beobachterfähigkeit, insbesondere durch die Zunahme medialer Möglichkeiten, führt zu einer vermehrten Infragestellung kultureller Programme. Gesellschaften mit hoher Reflexivität haben daher typischerweise geringere Programmverbindlichkeit für ihre Anwender. 71 Kultur ist „der Filter von Vergessen/Erinnern und die Inanspruchnahme von Vergangenheit zur Bestimmung des Variationsrahmens der Zukunft“ (Luhmann 1998: S.588). 72 Lotman, Uspenskij (1971) S.853, 857. 33 Neben dem Begriff der >Erinnerungskultur< gibt es eine Vielzahl weiterer Begriffe, die diesen Zusammenhang von Kultur und Gedächtnis und / oder Erinnerung zum Ausdruck bringen. Von unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven und definitorischen Ausgestaltungen im Detail abgesehen ist es all diesen Begriffen jedoch gemeinsam, dass Abhängigkeiten und Überschneidungen zwischen Kultur und Gedächtnis bzw. Erinnerung aufgezeigt werden sollen und damit betont wird, dass Erinnerung, d.h. selektive, bewusste Rückgriffe auf Vergangenheit, wesentlich ist für kulturelle und damit gesellschaftliche Ausprägungen. 34 3 Hypomnésis „Betrachtet man die Dinge, so stößt man auf Menschen. Betrachtet man die Menschen, so wird gerade dadurch das Interesse für die Dinge geweckt. Richtet man seine Aufmerksamkeit auf die harten Dinge, schon werden sie weich, sanft und menschlich. Richtet man seine Aufmerksamkeit auf die Menschen, schon werden sie elektronisch, automatisch oder digital. Wir können noch nicht einmal genau definieren, was die einen menschlich und die anderen technisch macht, während wir ihre Modifikationen und Substitutionen, ihr Hin und Her und ihre Bündnisse, ihre Delegationen und Stellvertretungen genau dokumentieren können. Betreibt man Technologie, findet man sich als Soziologe wieder. Betreibt man Soziologie, wird man zwangsläufig zum Technologen. […] Dies ist in die Natur der Dinge eingeschrieben, jetzt und seit zwei bis drei Millionen Jahren.“ Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften (Latour 1996: S.50) Eine Beschäftigung mit den technischen Eigenschaften der Gegenwart als Reflexionsebene und wesentliche Bestimmungsgrundlage für Ausprägungen von anamnésis setzt eine Beschäftigung mit ihren Grundlagen voraus. Neben dem Blick auf wesentliche Aspekte vorgängiger technischer Entwicklungen und Entstehungsbedingungen gehört dazu im ersten Schritt eine grundsätzliche Bestimmung des Begriffes >hypomnésis< und damit verbunden eine generelle Bestimmung des Verhältnisses zwischen hypomnésis und anamnésis. Die Differenzierung von hypomnésis im Sinne eines technischen Gedächtnisspeichers und mnéme73 als Erkenntnis schaffende Erinnerung geht – das hat die einleitende >Erinnerung an Erinnerungs- und Gedächtnisdebatten< gezeigt – auf Platon zurück. Eine 73 Und damit verbunden: anamnésis. 35 genauere Analyse u.a. des Phaidros-Dialogs macht neben dieser fundamentalen Unterscheidung und der prinzipiellen Beschreibung von hypomnésis als Gedächtnistechnik weitere Aspekte für eine umfassendere Bestimmung sichtbar. Einen ersten Hinweis für eine derartige Bestimmung liefert die etymologische Annäherung. Hierbei kann folgendes festgehalten werden: Der griechische Begriff hypomnésis setzt sich zusammen aus dem griechischen Präfix >hypo<, im Deutschen mit >unter< oder >für< übersetzbar, und dem griechischen >mnémé<, d.h. >Erinnerung<. Dieser etymologischen Festsetzung folgend, handelt es sich bei hypomnésis also um etwas, was >unter der Erinnerung< liegt oder aber auch >für die Erinnerung< notwendig ist. Platons Auslegung im Dialog Phaidros folgt ersterer Übersetzungslinie. Für ihn ist hypomnésis lediglich ein technisches Hilfsmittel, etwas, was >unter< der erkenntnisreichen Erinnerung anzusiedeln ist. Hypomnésis wird damit nicht nur inhaltlich als Gedächtnistechnik bestimmt, sondern gleichzeitig auch in ein grundlegendes Hierarchieverhältnis eingeordnet, in welchem anamnésis als Erkenntnisprozess hypomnésis übergeordnet und damit überlegen ist. Diese hierarchische Einordnung von hypomnésis spiegelt sich auch auf einer anderen Ebene wider: Betrachtet man nicht nur den Begriff >hypomnésis<, sondern den ganzen, bei Platon aufgezeigten Kontext dieses Begriffes im Dialog Phaidros, zeigt sich eine weitere Beschreibungsebene für hypomnésis: Die Bewertung der hypomnése >Schrift< hat ihren eigentlichen Kristallisationspunkt in der Bedeutungsvielfalt eines anderen Wortes zur Beschreibung der Schrift – Schrift als >pharmakon<. Im Dialog Phaidros wird die Schrift von Theuth als >pharmakon< für das Gedächtnis gerühmt, von Thamus aber abgelehnt als Mittel zur Vernachlässigung des Gedächtnisses.74 Dieses >pharmakon<, in den meisten Platon-Übersetzungen als >Arznei< oder >(Heil)Mittel< bestimmt, umfasst nach Derrida jedoch noch eine andere Bedeutung. >Pharmakon< ist dann nicht nur das Heilmittel, es ist auch das Gift75: Theuth preist Thamus die Schrift als Heilmittel an, für Thamus ist es jedoch ein Gift, es „pflanzt […] durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele“ (Platon 1998: S.86) Für Platon aber – darauf hat Derrida ebenfalls verwiesen – ist die Schrift 74 75 Platon (1998), S.86. Derrida (1968), S.108ff. 36 als hypomnésis, auch ungeachtet ihrer Übersetzung als Heilmittel oder Gift, der mnémé prinzipiell unterlegen.76 Diese (mindestens) zweiwertige Einschätzung des pharmakons Schrift betrifft nachfolgend auch Platons Bewertung des Verhältnisses von Wahrheit (aletheia) und hypomnésis. Schrift als hypomnésis ist für ihn reine Nachahmung, mimetische Wahrheit, mimetisches Wissen. Die Wahrheit selber kann sich nur in der mnémé entfalten.77 Wenn also Schrift nur nachahmend wirkt, dann ist sie ihrem Wesen nach sophistisch.78 Ihre Gefahr liegt nach Platon darin, „daß hier die aktive Wiederbelebung des Wissens, seine gegenwärtige Reproduktion durch eine mechanische und passive „Auswendigkeit“ […] vertreten wird“ (Derrida 1968: S.121).79 Diese, bei Platon eingeführte, grundlegende Unterscheidung von hypomnésis und anamnésis und das damit verbundene Hierarchieverhältnis von >anamnésis über hypomnésis<, am Beispiel der sophistisch geprägten Schriftkritik herausgestellt, ist zentral für wesentliche Teile der >nach-platonischen< Auseinandersetzungen mit hypomnésis und damit einhergehend für ein Technikverständnis im Allgemeinen. Stiegler sieht in ihr überhaupt den Ursprung der Technikfrage in der Philosophie80: Die aus Platons Sicht sophistische Funktionalisierung der Sprache in Form einer manipulativen Rhetorik führt zu „einer Technisierung der Sprache und des Denkens […], die für sie [Platon und Sokrates, eig. Anm.] einer Zerstörung gleichkommt“ (Stiegler 2009a: 76 Derrida (1968), S.110f.; vgl. auch Derrida über Platon: „Es gibt kein harmloses Heilmittel. Das pharmakon kann niemals einfach wohltuend sein.“ (Derrida 1968: S.111). Derrida (1968), S.117. 78 Platon, vehementer Gegner der Sophisten, kritisiert die Sophisten vor allem deswegen, weil sie mit ihrer Nicht-Anerkennung allgemeiner Massstäbe die Wissenschaft zerstören und mit ihrer Rhetorik nur nachahmend und überredend wirken, nicht aber im wissenschaftlichen Sinne überzeugend. (Vgl. u.a. Störig (1999), S.177) Auch Derrida nimmt die Analyse von Platons >pharmakon< als Ausgangspunkt für eine Betrachtung des platonischen Verhältnisses zur Sophistik und kommt u.a. zu dem Schluss, dass die Schrift für Platon als Nachahmung des Gedächtnisses sophistischer Natur ist (von aussen aufgesetzt). Darauf bezieht sich im Weiteren der Teil von Platons Abhandlung, der als Schriftkritik in der Philosophie Karriere gemacht hat. (Vgl. Derrida (1968), S.118ff.). 79 Vgl. dazu auch Derrida: „Das „Draußen“ beginnt nicht an der Gelenkstelle dessen, was wir heute das Psychische und das Physische nennen, sondern an dem Punkt, wo die mnēmē, anstatt an sich in ihrem Leben als Bewegung der Wahrheit gegenwärtig zu sein, sich durch das Archiv ausstechen, sich von einem zur Re-Memorierung oder Kom-Memorierung dienenden Zeichen verdrängen läßt. Der Raum der Schrift, der Raum als Schrift eröffnet sich in der gewaltsamen Bewegung dieser Suppliierung […], in der Differenz zwischen mnēmē und hypomnésis. Das Draußen ist bereits in der Arbeit des Gedächtnisses. […] Das Gedächtnis läßt sich so von seinem ersten Draußen, von seinem ersten Suppliierenden kontaminieren: der hypomnēsis.“ (Derrida 1968: S.121). 80 Stiegler (2009a), S.39. 77 37 S.38). Die Kritik Platons an den Sophisten und ihrer Rhetorik entpuppt sich daher als grundsätzliche Technikkritik, die massgeblich das Verhältnis von Philosophie und Technik in der Folgezeit prägen wird. Bestimmendes Element für dieses Verhältnis ist die bereits aufgezeigte Abwertung der hypomnésis gegenüber anamnésis. Als ursächlich für diese Herabsetzung sieht Stiegler die griechische Gleichsetzung der Technik mit der Instabilität der Welt: Jegliche Technik läuft dem philosophischen Streben nach Kontinuität und Stabilität zuwider.81 Hypomnésis82 ist massgeblich an dieser Instabilität beteiligt – es fördert Vergessen und Manipulation. Dieser ursprünglichen Trennung von >tekhne< und >episteme< als Ursache für eine sich durch das gesamte Abendland durchziehende Herabstufung der Technik nachgehend, macht sich Stiegler auf die Suche nach einer Neubestimmung dieses Verhältnisses zwischen Technik und Mensch, Technik und Kultur. Das umfasst auch eine Neubestimmung des platonischen Verhältnisses von Gedächtnis als anamnésis und hypomnésis. Sie wird für Stiegler umso evidenter, als sich die lange Zeit gut funktionierende Technikverdrängung mindestens seit der Industrialisierung und der damit verbundenen evolutionären Technikbeschleunigung nicht mehr so leicht fortsetzen lässt. Die Technikfrage wird offensichtlich und damit eine Konfrontation der Philosophie mit ihren Ängsten sowie die Dekonstruktion der Zwillingspaare >anamnésis = Wahrheit< und >hypomnésis = Falschheit<.83 Wie sieht diese Neubestimmung bei Stiegler aus? Sie besagt – im Gegensatz zu Platon –, dass jede „anamnésis […] immer eine hypomnésis […][beinhaltet], von der sie getragen und beseelt wird“ (Stiegler 2009a: S.44) und Technik damit notwendige Bedingung für Kultur ist.84, 85 Mit Bezug auf die eingangs aufgezeigte Etymologie 81 Stiegler (2009a), S.42. Bei Stiegler wird hypomnésis als künstliches, technisches und prothetisches Gedächtnis gefasst. vgl. Stiegler (2009a), S.40, S.42. 83 Stiegler (2009a), S.42. 84 Siehe auch Stiegler (2009a), S.60. 85 Vgl. auch Stieglers Ausführungen zur Abgrenzung von Platon: „Platon veranschaulicht seinen Lehrsatz mit Hilfe eines Sklaven, weil er zeigen will, dass jeder Mensch ein potenziell philosophierendes Wesen ist […]. In diesem Punkt stimme ich mit ihm vollkommen überein. Im Unterschied zu Platon glaube ich allerdings, dass wir nur insofern und genau in dem Maße potenziell Philosophierende sind, als wir über ein künstliches Gedächtnis verfügen, das die Übertragung und Weitergabe der Fragen von Generation zu Generation unterstützt und ermöglicht. Das künstliche Gedächtnis gestattet die Materialisierung der Zeit, ihre Verräumlichung, ihre Speicherung, ihre Reaktivierung, ihre Retemporalisierung, ihre Retransmission oder ihre Rekonstruktion, die in der Regel auch ihre Reelaboration und ihre Transformation ist […].“ (Stiegler 2009a: S.44f.). 82 38 kommt bei Stiegler nun die zweite Interpretationslinie zum Tragen, in der hypomnésis bestimmt wird als etwas, das >für die Erinnerung< notwendig ist und damit in einen breiteren Kontext gestellt: die Auffassung einer wesentlichen Bestimmung kultureller Ausprägungen durch Technik. Hypomnésis als technisches Gedächtnis verkörpert damit auch die prinzipielle strukturelle Kopplung zwischen Mensch, Kultur und Technik, in der Technik basal ist für anamnésis, oder anders gesagt: „Die Möglichkeiten des Was sind konstitutiv für die Möglichkeit des Wer selber.“ (Stiegler 2009b: S.329f.). In der Herstellung dieses >Was< wird der Mensch zum homo faber, zum Erzeuger technischer Dinge, dessen mythologisches Pendant vor allem in der Figur des Prometheus verwirklicht ist.86 Als homo faber prägt er kulturelle Ausprägung und Fortschreibung, also gemäss Schmidt das Programm Kultur87. Das so erzeugte >Was< ist also wahrhaft programmatisch – es trägt zur Ausprägung eines kulturellen Programms und damit verbundenen Selektionsmechanismen, Programmverbindlichkeiten, Fortschreibungsmöglichkeiten etc. bei. Dieser These – Stieglers Bestimmung einer ursprünglichen technischen Verfasstheit kultureller Ausprägungen auf Basis der platonischen Unterscheidung zwischen hypomnésis und anamnésis – schliesse ich mich an und setze diese Bestimmung von hypomnésis und anamnésis als Grundlage für die in dieser Arbeit zu verfolgende Logik, dass (1) es eine prinzipielle technologische Bedingtheit88 für die Ausprägung von Erinnerung(skultur) (anamnésis) gibt, 86 Die zentralen Figuren dieser Technizität sind bei Stiegler Prometheus und Epimetheus: Letzterer hat durch sein Vergessen, den Menschen initial mit Eigenschaften auszustatten, Prometheus dazu gebracht, das Feuer zu stehlen und es den Menschen zu übergeben. (Vgl. Stiegler (2009b), S.155ff. und S.243ff.); Weitere Ausführungen zum homo faber und Prometheus-Mythos siehe auch Karafyllis (2011), insb. S.242f. (Vgl. auch Gärtner (2013), S.152). 87 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 2.3. 88 Den Begriff >technologische Bedingung< verwende ich in Anlehnung an den Titel der Aufsatzsammlung “Die technologische Bedingung“ (2011, Hrsg.: Hörl). Im Gegensatz zu Hörl verwende ich diesen Begriff nicht als Beschreibung für eine bestimmte – explizit technologisch bedingte – Epoche, sondern als Ausdruck für die Gesamtheit aller technologischen Ausprägungen in den je spezifisch ausgestalteten Epochen. Damit umfasst der Ausdruck >technologische Bedingung< jegliche Techniken und diesen Techniken innewohnende Logiken als Bedingung für kulturelle Ausprägungen. 39 (2) sich über die Zeit ändernde technologische Bedingungen (hypomnésis)89 damit andere Formen von anamnésis hervorrufen (3) und so zu Wandlungen in den Ausprägungen, den Funktionen und der Organisation von Erinnerungskultur führen. Der erste Teil der Forschungsfrage, die Frage nach dem technischen Gedächtnis der Gegenwart, wird damit zur Frage nach dem technischen Dispositiv: Welchen >Ermöglichungsgrund<90 für kulturelle Ausprägungen schafft dieses technische Dispositiv? Wie ist es um das heutige technische Gedächtnis bestellt und welche Auswirkungen hat das in der daran anschliessenden Betrachtung auf die Ausprägung von anamnésis: Führen die hypomnétischen Konfigurationen der Gegenwart zu einer Hypermnésie, zu gesteigerten Formen der Erinnerung, oder entsprechen sie eher dem pathologischen Aspekt einer Hypomnésie, d.h. einer Zerstörung von Gedächtniskultur, für die sich im gegenwärtigen Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs eine gewisse Vorliebe zeigte. Damit sind die grundlegenden Bestimmungen von hypomnésis sowie das Verhältnis von hypomnésis und anamnésis für diese Arbeit gesetzt. Für eine vollständige Bestimmung des Begriffes hypomnésis soll noch ein letzter Punkt betrachtet werden: Bis jetzt wurde in Bezug auf hypomnésis recht allgemein von Technik gesprochen. Doch Platons Beispiel der Schrift zeigte bereits, dass sich eine Auseinandersetzung mit hypomnésis nicht nur mit Technik im Allgemeinen, sondern vor allem mit technischen Medien beschäftigen muss. In Anlehnung an Leroi-Gourhan, Hayles91 etc. kann man sagen, dass jede Technik immer schon ein Gedächtnis ist, indem das technische Objekt eine spezifische Zeitlichkeit und ein spezifisches Programm speichert. In bestimmten Techniken wird das Vergangene jedoch explizit gemacht und mit der Speicherung von Ereignissen und Erfahrungen Vergangenheit für Zukünftige und deren Kulturprogramme zur Verfügung gestellt.92 Diese Aufgabe übernehmen technische 89 Z.B. in Form sich ändernder Eigenschaften des technischen Gedächtnisses. Böhme (2008), S.36. 91 Leroi-Gourhan (1988); Hayles (2011). Vgl. auch Simondon: „Die Maschine ist eine eingelagerte und verwahrte, fixierte menschliche Geste, die Stereotypie und Vermögen zur Wiederaufnahme geworden ist.“ (Simondon (2012), S.127). 92 Hayles (2011), S.199; Diesen Gedankengang übernehme ich auch aus meinem Artikel “Kleines Zerstörungsalphabet“ (Vgl. Gärtner (2013), S.152f.). 90 40 Medien. Sie haben im Laufe der Zeit – mindestens seit der Entwicklung der Schrift – eine enger werdende Kopplung an kulturelle Kommunikation93 und damit an die Ausprägung von Kulturprogrammen erfahren. Sie sind daher in den hoch industrialisierten Gesellschaften der Gegenwart zentrale Grundlage für Vergangenheitsarbeit und konstitutiv für Erinnerungskultur und bestimmen – um ein Wort Kittlers zu gebrauchen – unsere Lage und diese Lage ist heute dunkler94. Sie ist vor allem deswegen dunkler, weil sie eben zunehmend technisch und technisch komplex geworden sind. Ritenträger oder Geschichtenerzähler zählen ja heute eher zu den Auslaufmodellen. Abschliessend lässt sich als grundsätzliches Verständnis für hypomnésis und anamnésis in der hier vorliegenden Arbeit festhalten, dass das technische Gedächtnis (hypomnésis) als konstitutiv für anamnésis und damit für die Ausgestaltung von (Erinnerungs)Kultur aufgefasst wird. Hypomnésis definiert als technisches Dispositiv Bedingungen für kulturelle Ausgestaltung. Die dazu eingesetzten technischen Medien fungieren als kulturelle, zeitliche, räumliche etc. Vermittler. Sie erfüllen diese Funktion auf Basis unterschiedlichster Techniken95 – Platons Schrift markiert dabei eine erste und gleichermassen wesentliche Technik. Mit Blick auf den ersten Teil der Forschungsfrage und den gesetzten zeitlichen Rahmen liefert daher eine Untersuchung der zentralen technischen Entwicklungen und Zäsuren seit 1900 sowie der korrespondierenden technikphilosophischen Reflexionen die Grundlage für ein nachfolgend zu erarbeitendes Technikverständnis der Gegenwart und damit für aktuelle Ausprägungen von hypomnésis. 3.1 Hypomnétische Grundlagen: Technische (R)Evolutionen Die hierfür in Frage kommenden Technik(philosophie)geschichten sind dabei ähnlich vielfältig wie ihre Vertreter, lassen sich aber gut strukturieren anhand ihrer Beschreibungsziele. Böhme schlägt in diesem Zusammenhang vor, vier technikphilosophische 93 Schmidt (2000), S.94. Kittler (1986), S.3. 95 Vgl. u.a. Hartmann (2003), S.143. 94 41 Paradigmen zu unterscheiden: Das ontologische, das anthropologische, das geschichtsphilosophische und das epistemologische Paradigma.96, 97 Das ontologische Paradigma hat demnach zum Ziel, das Wesen der Technik zu ergründen. Das anthropologische Paradigma setzt als Kern die Auffassung, dass das Technische etwas Menschliches ist, indem der Mensch mit der Technik seine Umwelt schafft. Das geschichtsphilosophische Paradigma fragt, so Böhme, nach der historischen Entwicklung der Technik im Sinne zu unterscheidender technischer Epochen, denen je spezifische Beziehungen zwischen Technik und Mensch zugeordnet werden können. Im epistemologischen Paradigma steht schliesslich das Erkenntnismodell von Technik im Zentrum der Analyse. Diesen möglichen Erzählweisen können nun die einzelnen Vertreter der Technikphilosophie mehr oder weniger eineindeutig zugeordnet werden. Wenn es im Folgenden um einen >historischen Blick< auf Technik und technikphilosophische Reflexionen gehen soll, befindet man sich – Böhmes Einteilung zufolge – im geschichtsphilosophischen Paradigma. Anhand einer historisch orientierten Technik- und Technikphilosophiegenese sollen Änderungen und Übergänge in der Technik und Technikauffassung anhand exemplarischer Äusserungen aufgezeigt werden. Diese Äusserungen – und an dieser Stelle öffnet sich die geschichtsphilosophische Perspektive – entstammen je zeitgenössischen Reflexionen, die verschiedenen Paradigmen zugeordnet werden können. Die folgende Struktur orientiert sich also an technischen Entwicklungen und Verbreitungen über die Zeit und ihren korrespondierenden Einschätzungen und Vorstellungen. Dabei soll es nicht um die Darstellung von Fortschritts- oder Verfallsgeschichten gehen98, sondern vielmehr um die Abbildung zentraler technischer Entwicklungszäsuren und ihrer Einschätzungen. Hierfür anwendbare Strukturierungen und Beschreibungen technischer Epochen liegen vielfältig vor. Sie häufen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gründe für diese Intensivierung liegen insbesondere in einer zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgten Etablierung der Technikphilosophie im wissenschaftlichen Diskurs sowie in einer zunehmenden Technikwahrnehmung in der Alltagswelt, die ihre Auslöser 96 Böhme (2008), S.23ff. Auch andere Einteilungen sind denkbar. Böhmes Paradigmen werden bspw. von Nordmann überführt in vier Reflexionsbewegungen über die Technik. Sie nennen sich bei ihm anthropologische, geschichtsphilosophische, naturphilosophische und rationale Reflexion. (Vgl. Nordmann (2008), z.B. S.10f., S.150f.). 98 Zu Technik als Fortschrittsgeschichte vgl. auch Nordmann (2008), S.90ff. 97 42 vor allem in den signifikanten technischen Änderungen der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat. Zu den oft zitierten Darstellungen, die Technik mittels abgrenzbarer Entwicklungsstufen, d.h. epochal, kategorisieren und bestimmen wollen, zählen beispielsweise Wieners Einteilung in eine erste und zweite industrielle Revolution99, Moscovicis zeitliche Differenzierung dominanter Techniken in Handwerk, Mechanik und Regeltechnik100, Leroi-Gourhans Einteilung mittels der sich entwickelnden Aktionsmodi der Hand entlang der Kette Werkzeug (in direkter und indirekter Motorik der Hand), Motor und Programm101 oder auch Gehlens Prozess der Objektivation und Entlastung entlang der drei Stufen Werkzeug, Arbeits- und Kraftmaschine sowie Automaten102. All diesen Darstellungen103 liegt eine elementare Strukturierung entlang technischer Entwicklungszäsuren zugrunde, die sich in den drei folgenden Etappen wiederspiegeln: Handwerk und Werkzeug (1), mechanische und elektrische Maschinentechnik (2) und Kybernetik (3). Anthropologen und Paläanthropologen104 haben dabei den Nachweis geführt, dass es eine Koevolution zwischen Menschen und Gesellschaften mit diesen Abfolgen technischer Zustände gibt105. (1) Die Etappe des Handwerks und des Werkzeugs umfasst alle Arten vorindustrieller Techniken und ist geprägt durch den Einsatz menschlicher und tierischer Kraft. Menschliche Kraft wird dabei durch die menschliche Hand selbst oder mittels manuell bedienter Werkzeuge eingesetzt. (2) Mit dem Aufkommen der Maschinentechnik wird der Übergang vom Handwerk zur industriell geprägten Maschinentechnik vollzogen, die zunächst rein mechanisch und später elektrisch betrieben wird. Es handelt sich um die vor-kybernetische Zeit, die im Zeichen der industriellen Revolution steht. 99 Wiener (1958), S.136ff. Übernommen / zitiert nach Böhme (2008), S.25f. und Hörl (2011), S.23f. Leroi-Gourhan (1988), S.296ff. 102 Gehlen (2007), S.19 (Gehlen nimmt diese Einteilung auf Basis von Hermann Schmidts Abhandlung „Die Entwicklung der Technik als Phase der Wandlung des Menschen“ vor, vgl. Gehlen (2007), S.168, Anhang 17.18). 103 Hierzu zählen auch weitere Darstellungen, die hier nicht weiter beschrieben werden, wie beispielsweise die Beschreibungen technischer Entwicklungsstufen bei Gilbert Simondon oder Gotthard Günther. 104 Wie beispielsweise André Leroi-Gourhan. 105 Hayles (2011), S.199f. 100 101 43 (3) Die dritte Etappe zeichnet sich insbesondere durch den Übergang von mechanischen und / oder elektrischen Maschinen zu selbstregulierenden Maschinen aus. Sie kann in Anlehnung an Hörl weiter unterschieden werden in eine erste und zweite Phase der Kybernetik.106 Die erste Phase ist gekennzeichnet durch eine maschinentheoretische Fokussierung und kann um 1950 verortet werden. Die zweite Phase setzt mit Ende der 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts ein und ist nach Hörl die „eigentliche Phase des kybernetischen Naturzustands“ (Hörl 2011: S.26). Mit Blick auf das letzte Jahrhundert, das gemäss dem für diese Arbeit gesetzten Zeitrahmen Ausgangspunkt für die Betrachtung sein soll, wird im Folgenden ausschliesslich auf die zweite und dritte Etappe fokussiert. Mit einer beginnenden Untersuchung um 1900 ergibt sich damit folgende zeitliche Einteilung, die als Strukturierungsfolie dienen soll: Technik(philosophie) um 1900 (geprägt durch die zweite Etappe der mechanischen und elektrischen Maschinentechnik), Technik(philosophie) um 1950 (geprägt durch die erste Phase der Kybernetisierung) und Technik(philosophie) um 2000 (geprägt durch die zweite Phase der Kybernetisierung.) Anhand dieser drei Zeitpunkte sollen im Folgenden die wesentlichen Merkmale technischer Zäsuren, Standards und entsprechender philosophischer Reflexionen als Voraussetzungen für die Einordnung und das Verständnis technischer Konfigurationen der Gegenwart dargestellt werden. 3.1.1 ~ 1900 1900: Die Zeit um 1900 ist das Ergebnis eines Prozesses, der gemeinhin mit industrieller Revolution bezeichnet wird. Er zeichnet sich Mitte des 18. Jahrhunderts ab und findet seinen technischen Höhepunkt Ende des 19. Jahrhunderts mit einem – zumindest in weiten Teilen Europas und Nordamerikas – vollzogenen Übergang von handwerklich zu maschinell geprägter Produktion. Ursächlich für eine derartige Entwicklung waren eine ganze Reihe von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Folge technischen Entwicklungen, die hier nicht alle einzeln benannt und nachvollzogen werden können.107 Dennoch soll ein kurzer Einblick in die technische Struktur 106 Hörl (2011), S.25f. Hierfür liegt eine Vielzahl von Publikationen vor, z.B.: zur Geschichte der Elektrizität vgl. u.a. Kloss (1987) und Canby (1963); zur Geschichte der Telekommunikation vgl. u.a. Reuter (1990) und Schneider 107 44 verdeutlichen, welchen Gegebenheiten sich die Gesellschaft um 1900 gegenüber sah, die die Auseinandersetzungen mit Technik massgeblich prägten: Das sind vor allem die grossindustriell eingesetzten Maschinenverbünde der Arbeits- und Alltagswelt. Sie sind zunächst mechanisch und markieren insbesondere mit der massenhaften Ausbreitung der Dampfmaschine und ihren vielfältigen Einsätzen in Industrie und Transportwesen (Dampfschifffahrt, Dampfeisenbahn, Textilindustrie etc.) einen zentralen Punkt der Industriellen Revolution. Sie verändern ein zweites Mal das gesellschaftliche Gesicht, als die zunehmende Elektrifizierung zu einem weiteren Übergang von mechanischen zu elektrischen Maschinen(verbünden) führte.108 Die durchgängige Elektrifizierung der Gesellschaft zeigt sich in zwei Etappen: Die erste Etappe dient der Elektrifizierung >des Grossen< (Elektrifizierung der Eisenbahn, flächendeckende (Heim)-Beleuchtung etc.)109 und zeichnet sich durch zwei bahnbrechende Erfindungen, den Elektromotor und die Vakuum- oder Elektronenröhre, aus. Die zweite Etappe ab ca. 1870 macht sich die so entstandenen Erfindungen und Infrastrukturen zu Nutze und führt zu einem Ausbau der elektrischen und neuartigen Grossmaschinerie und zudem zu einer Elektrifizierung >im Kleinen< (elektrische Bügeleisen, elektrische Haushaltswerkzeuge etc.)110 – und d.h. zu einer Elektrifizierung der Alltagswelt. Grundlage für eine derartig durchgängige Elektrifizierung war der Ausbau technischer Infrastrukturen, allen voran der Ausbau der Elektrizitätsnetze. Neben diesen Elektrizitätsnetzen – und zum Teil auf deren Basis erst realisierbar – wurden auch andere infrastrukturelle Netze zunehmend ausgebaut und gesamtgesellschaftlich relevant: Das betrifft neben den Transportnetzen vor allem die Informations- und Kommunikationsnetze.111 Für letztere werden zu dieser Zeit Erde, Luft und Wasser erobert. Auf dem Land hatte man bereits im 17. Jahrhundert mit dem Bau optischer Telegrafenleitungen begonnen: Auf Basis von Fernrohren wurden an strategisch günstigen Orten kleine Stationshäuschen mit mechanisch regulierbaren Signalbrettern angelegt, deren (1999a); zur Geschichte der Medien vgl. u.a. Elsner, Gumbrecht, Müller, Spangenberg (1994), Kittler (2002) und Schmidt (2000) usw.). 108 Wiener (1958), S.136ff. 109 Canby (1963), S.55ff. 110 Canby (1963), S.80. 111 Mit dieser Strukturierung orientiere ich mich an Simondons Unterteilung in die vier infrastrukturellen Netze: Informationsnetze, Energieversorgungsnetze, Kommunikationsnetze und Transportnetze. Entgegen der Simondon‘schen Einteilung fasse ich Informations- und Kommunikationsnetze zusammen. (vgl. Simondon (2011), S.86ff.). 45 Signale vom jeweils nächst gelegenen Stationshaus per Fernrohr erst beobachtet, dann nachgebildet und so weiter übertragen werden konnten.112 Mit den Möglichkeiten von Elektrizität, Morse-Alphabet, Kupferdrähten, Relief- und später Fernschreibmaschinen im Gepäck konnte die optische Telegrafie im 19. Jahrhundert in eine immer effizientere elektrische Telegrafie umgewandelt werden. Erste elektrische Telegrafenlinien entstanden beispielsweise in Preussen bis Mitte des 19. Jahrhunderts, danach erfolgte die kommunikative Eroberung überregional und global.113 Für letzteres wurde mittels erster Seekabel Europa mit England und Amerika verbunden.114 Nachdem Land und Wasser auf diese Weise kommunikativ erobert waren, wurde auch noch die Luft nutzbar gemacht. Drahtlos sollte die Kommunikation werden und sie wurde es dank der Entwicklung der Funktechnologie auf Basis der Entdeckung elektromagnetischer Wellen von Heinrich Hertz 1888. Daraufhin sprühten auch die Telefunken115, die insbesondere für den ab 1900 beginnenden Seefunkverkehr eine bedeutende Rolle übernehmen sollten.116 Robert von Liebens Kathodenrelais und die auf dieser Basis entwickelte Elektronenröhre stellten die drahtlose Telefonie mit dem beginnenden 20. Jahrhundert auf eine neue Stufe.117 Um 1900 war damit die technische Welt im Vergleich zur vorindustriell geprägten Zeit sehr viel grösser und gleichzeitig sehr viel kleiner geworden. Kleiner wurde sie durch die einsetzenden Möglichkeiten zur Überwindung raum-zeitlicher Grenzen mittels Eisenbahn, Telefon und Co. Grösser und komplexer wurde sie durch die zunehmend wahrnehmbare Technisierung der Arbeits- und Alltagswelt und ihrer Folgen (veränderte Produktionsbedingungen, Standardisierung von Zeit etc.). Und mit all den kleinen und grossen elektrischen Gerätschaften, sei es im Arbeitsprozess oder in der 112 Reuter (1990), S.19ff. Reuter (1990), S.55ff. 114 1851: Verbindung zwischen England und dem europäischen Kontinent; 1858: Verbindung zwischen Europa und Amerika. (vgl. Reuter (1990), S.65f.). 115 Wirtschaftlich organisiert in Form der 1903 gegründeten „Gesellschaft für drahtlose Telegraphie, System Telefunken“. 116 Reuter (1990), S.136ff. 117 Massgeblich beteiligt an dieser Entwicklung der Informations- / Kommunikationsnetze war der Ausbau eines anderen Netzes, das Transportnetz, dessen bestimmendes Element der Ausbau des Eisenbahnnetzes war: Um damals in Teilen notwendige Eisenbahnübersetzungen von einem Schienennetz auf ein anderes effizient realisieren zu können, brauchte das Bahnpersonal entsprechende Kommunikationsmöglichkeiten. Hierfür wurden Anfang des 19. Jahrhunderts elektrische Telegrafenleitungen eingesetzt, womit sich die Eisenbahn als wesentlicher Treiber für den Ausbau der Kommunikationsnetze erwies. (vgl. Reuter (1990), S.54.). 113 46 Kommunikation, ging die Welt zunehmend ans Netz. Diese Netze waren im Vergleich zu den bisherigen Netzen (insbesondere den Transportnetzen) zwingende, invasive Netze: Sie drangen nicht nur in die Fabriken ein, sondern auch in jeden einzelnen Haushalt und stellten damit Gesellschaft erstmals flächendeckend auf (Netz)Anschlussfähigkeit um. Neben dieser gross angelegten gesellschaftlich-technischen Vernetzung markiert die Zeit um 1900 noch einen weiteren, für den Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs besonders folgenreichen Wandel: Es ist auch die von Kittler ausgerufene Mediengründerzeit118, in der nicht nur neue Übertragungstechnologien ihren Siegeszug antreten, sondern auch der Ursprung für einen elementaren Wandel der Gedächtnis explizit machenden Speichertechnologien anzusetzen ist. Die zunächst handwerklich und seit dem Buchdruck mechanisch geprägte Schrift- und Buchkultur wird durch neue technische Formen der Aufzeichnung und Speicherung konkurrenziert. Auch sie sind in ihren Anfängen vorerst mechanischer Natur und stellen für Optik, Akustik und Schrift neue Speichertechnologien bereit.119 (Stumm)Film, Phonograph, Grammophon und Schreibmaschine heissen diese neuen Techniken120 und haben einen entscheidenden Einfluss auf Gedächtnis und in der Folge Erinnerungskultur. >Entscheidend< ist dieser Einfluss zunächst nicht durch eine breite gesellschaftliche Anwendung dieser neuen Speichertechnologien – Schrift- und Buchkultur bleiben weiterhin die zentralen Gedächtnisspeicher dieser Zeit – , >entscheidend< ist er vielmehr deshalb, weil mit ihnen neue (technische) Eigenschaften für Gedächtnis und damit eine neue Richtung für Erinnerungsprozesse insgesamt angezeigt werden, die die nachfolgende Entwicklung massgeblich bestimmen werden. Dazu gehört einerseits die Möglichkeit, nun auch nicht-selektive Formen der Speicherung zur Verfügung zu haben: So zeichnen Phonographen, wie Kittler feststellt, alles auf – der Speicherung ist kein Bedeutungsfilter vorgeschaltet, der zwischen Sinn und Unsinn differenzieren und dementsprechend die Aufzeichnung steuern würde.121 Zum anderen erlauben diese Medien Speicherungen verschiedener Sinne über die bisherigen Möglichkeiten der Schrift- und 118 Kittler (1986), u.a. S.187. Kittler (1986), S.7ff. 120 Kittler (1986), u.a. S.9f., S.79. 121 Kittler (1986), S.133f. Vgl. auch Kittler: „Mit dem Phonographen verfügt die Wissenschaft erstmals über einen Apparat, der Geräusche ohne Ansehung sogenannter Bedeutungen speichern kann. Schriftliche Protokolle waren immer unabsichtliche Selektionen auf Sinn hin.“ (Kittler 1986: S.133). 119 47 Buchkultur hinaus: Sprache, Gesang, Geräusch – kurz Akustisches – können im Phonographen und später im Grammophon sowie optische Bilder im Stummfilm gespeichert werden. In Schrift- und Buchkultur bis dato vorhandene Schreibsignale und technisch begrenzte Formen optischer Informationen werden so durch akustische und neue Formen optischer Informationen bereichert.122 Um 1900 wird hiermit die Grundlage für neue Formen des Gedächtnisses gelegt, die die dominanten Schrift- und Buchtechniken zunächst aufgrund ihrer verhältnismässig geringen Ausbreitung lediglich erweitern, sie in der weiteren (technischen) Entwicklung jedoch massiv konkurrenzieren werden. Das Gedächtnis – so viel bleibt für die Zeit um 1900 festzuhalten – wird damit signaltechnisch mannigfaltiger, komplexer und in eine neue Entwicklungsära geführt. Zeitgenössische Philosophen, Ingenieure etc. reflektieren diese Entwicklungen zunächst und vor allem dadurch, dass sie eine neue wissenschaftliche Disziplin benennen, die diesen Entwicklungen Ausdruck verleihen soll: >Technikphilosophie< tritt auf den Plan, markiert durch Ernst Kapps 1877 erschienenen Werk Grundlinien einer Philosophie der Technik. Mit dieser ersten deutschsprachigen technikphilosophischen Abhandlung >begründet< Kapp nicht nur einen wissenschaftlichen Diskurs, sondern setzt mit seiner darin vorgestellten Organologie der Technik eine zentrale Perspektive für potentielle Technikbeschreibungen123. Kernelement seiner Überlegungen zur Organologie ist die Auffassung, dass die Technikentwicklung in ihrem Wesen lediglich die äusserliche Entwicklung des inneren, menschlichen Bewusstseins darstellt124, 125: Äusseres und Inneres sind Ausdruck eines bidirektionalen Verhältnisses des Menschen zu seiner Umgebung. Das Äussere, das – so wird von Kapp betont – nicht nur Natur ist, sondern alle vom Menschen geschaffenen Kulturmittel umfasst126, dient dem Menschen als Bestimmungsgrund für sich selbst. Ein sich derartig entwickelndes 122 Kittler (1986), u.a. S.9f. Kapp (1877), S.29ff. (Böhme verortet Kapp sowohl im geschichtsphilosophischen als auch im anthropologischen Paradigma. (Vgl. Böhme (2008), S.26f.)). 124 Vgl. Kapp: „Denn die Aussendinge, als Objecte des Bewusstseins, kehren, insoweit sich der Mensch in ihnen selbst erklärt vorfindet, in sein Inneres ein, werden zu einem Innerlichen, erlösen nicht minder aus dem Traume des Unbewussten, als vom dualistischen Bann eines Aeussern und Innern das Ich, in welchem Wissen und Gewusstes, Subject und Object, als Selbstbewusstsein Eins sind. Das Selbstbewusstsein erweist sich demnach als Resultat eines Processes, in welchem das Wissen von einem Aeusseren zu einem Wissen von einem Inneren umschlägt.“ (Kapp 1877: S.23). 125 Vgl. auch Böhme (2008), S.26f. 126 Kapp (1877), S.24. 123 48 Selbstbewusstsein wirkt dann umgekehrt gleichzeitig auf die Gestaltung des Äusseren ein. „Da aber das Selbst […] nur in einem Leibe „leibt und lebt“, so kann diese vom Menschen ausgehende äussere Welt […] auch nur als reale Fortsetzung des Organismus […] begriffen werden (Kapp 1877: S.26) – mit anderen Worten: Jegliches vom Menschen geschaffenes Äusseres, d.h. jegliche Technik ist reine Organprojektion. Mit dieser Bestimmung werden Werkzeuge und Maschinen nichts anderes als Fortsetzungen der Hand und der inneren Organe. Hand, Werkzeug, Maschine bilden in dieser Reihenfolge gleichsam die Entwicklung der Organprojektionen und damit den Prozess der Bewusstwerdung des Menschen ab.127 Das zu Kapps Zeiten aufkommende grosse Spektrum an Maschinen stellt „die reale Verherrlichung der Universalität der einen Handfertigkeit“ (Kapp 1877: S.206) dar. Eine solche Organprojektion, eine technische Realisierung des Selbstbewusstseins, ist für Kapp damit nichts anderes als die Bewusstwerdung des Selbst – ein Unbewusstes wird nach aussen hin technisch realisiert. Ähnliche prothetische bzw. organologische Ansätze finden sich auch bei weiteren Zeitgenossen: Otto Wiener spricht 1900 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Leipzig über Die Erweiterung unserer Sinne durch neue Instrumente und Techniken. Derartige Erweiterungen, wie er sie beispielhaft an der Waage oder am Mikroskop festmacht, stellen auch für ihn eine nach aussen gehende Weiterentwicklung der menschlichen Sinne dar. Erst durch sie ist der Mensch wahrhaft in der Lage, Erkenntnisgewinne zu realisieren, seine äusserliche Welt zu begreifen und zu gestalten.128 Wenn die dem Menschen umgebende technische Welt Ausdruck des menschlichen Bewusstseins, der menschlichen Erkenntnis ist, dann kann Technik nichts anderes sein als ein kultureller Prozess. Eberhard Zschimmer kommt 1914 in seiner Philosophie der Technik daher zu dem Schluss: „Wir werden die Technik betrachten als die organische Teilerscheinung eines größerem Phänomens, der Kulturentwicklung überhaupt.“ (Zschimmer 1914: S.28). Kultur beruht, so Zschimmer, auf der individuellen 127 Sprache stellt dabei für Kapp ein besonderes Werkzeug dar, da sie nicht ein bestimmtes Organ repräsentiert, sondern die Gesamtheit aller menschlichen Organe. Sprache als Werkzeug ist zwar nicht von der Hand gemacht, bedurfte aber der Hand, um sich als solche zu entwickeln. Ihr handwerklicher Charakter zeigt sich eigentlich erst in der Schrift, insbesondere in der Handschrift. Diese Analyse – die Entwicklung von Sprache und Werkzeug – wird vor allem durch Leroi-Gourhan ausführlich geführt (vgl. Kapp (1877), S.308f. und Leroi-Gourhan (1988)). 128 O. Wiener (1900), S.20ff. 49 Freiheit129, sich zu entäussern. Das technische Schaffen ist Ausdruck dieser Entäusserung. Es dient als freiheitliches Handeln der Entfaltung des Menschen130 und ist Bestandteil des kulturellen Prozesses. Technik wird so zum „Endziel der organischen Entwicklung“ (Zschimmer 1914: S.43). Ihre konkrete Ausgestaltung beschreibt dabei immer nur einen realisierten Fall unter vielen möglichen.131 Bewusstwerdung, Erkenntnis, Freiheit – das waren die Schlagworte, die bis hierin der Beschreibung von Technik dienten. Wo aber so viel Licht ist, da ist auch Schatten. Diesem Schatten verleihen nicht wenige Zeitgenossen von Kapp, Wiener und Co. Ausdruck. Walther Rathenaus Kritik der Zeit (1912) kann hier exemplarisch genannt werden. Für Rathenau setzt ab ca. 1850 eine neue Zeitepoche ein, die geprägt ist durch einen signifikant quantitativen technischen Wandel, Massenproduktion, veränderte Produktionsbedingungen etc.132 Doch während die zunehmende Technisierung bei den oben genannten Autoren für eine im positiven Sinne fortschrittliche Kulturleistung stand, ist sie für Rathenau ursächlich für eine Verarmung der Gesellschaft. >Mechanisierung< ist der Ausdruck, den Rathenau hier gebraucht – Mechanisierung der Produktion, Mechanisierung der Organisation, Mechanisierung der Gesellschaft. Sie steht für eine Kapitalisierung, Technisierung und in der Folge Homogenisierung und Armut der Gesellschaft. Technische Entäusserungen und ihre Folgeerscheinungen um 1900 sind – pharmakologisch gesehen – daher Gift für gesellschaftliche Prozesse und bedingen einen Zustand, den Rathenau durch die Einförmigkeit der Gedanken und die tötende Gleichförmigkeit der Gesellschaft charakterisiert sieht.133 Technik ist hier nicht Bewusstwerdung, sondern Verschleierung. Noch schärfer drückt es Victor Auburtin in Die Kunst stirbt (1911) aus: Technik ist bei ihm mehr noch als blosse Verschleierung des menschlichen Selbst – sie unterdrückt die Persönlichkeit.134 Bei der Betrachtung zentraler technischer Entwicklungen und zeitgenössischer Reflexionen um 1900 lässt sich daher an dieser Stelle festhalten, dass – beflügelt durch die 129 U.a. Zschimmer (1914), S.59. Zschimmer (1914), S.41f. 131 Zschimmer (1914), S.56. 132 Rathenau (1912), S.13, S.86f. 133 Rathenau (1912), S.13ff. 134 Auburtin (1911), S.10. 130 50 Möglichkeiten, Erfindungen und Entwicklungsgeschwindigkeiten dieser Zeit – Technik zum verschiedene Sinne umfassenden, intensiver erfahrbaren Bestandteil menschlicher Kulturleistungen wird, die, positiv bewertet, für Bewusstwerdung, Erkenntnis und Freiheit stehen; negativ bewertet, Entfremdung, gesellschaftlichen Zerfall und Verarmung darstellen. Ungeachtet der gegensätzlichen Bewertungen ist die verstärkte Auseinandersetzung mit Technik(philosophie)135 zunächst Ausdruck für eine beginnende neue Wahrnehmung und Haltung der Gesellschaft gegenüber ihren technischen Leistungen und Grundlage für die nachfolgenden Reflexionen. Wesentlich ist die Einordnung und / oder Gleichsetzung der Technik mit Kultur und die Erkenntnis, dass Technik massgeblich für die Ausprägung von Kultur verantwortlich ist. Das zeigt sich insbesondere an den technischen Medien und der technischen Infrastruktur dieser Zeit: Gesellschaftlich-technische Vernetzung auf Basis von Elektrizität und ihrer Folgeanwendungen sowie ein Aufbrechen des Schreibmonopols durch neue, sinnerweiternde Speichertechnologien markieren nicht nur den Anfang zu einer Mechanisierung der Gesellschaft, sondern auch eine neue Entwicklungsrichtung für (erinnerungs-)kulturelle Ausprägungen. 3.1.2 ~ 1950 1950: Zwei Weltkriege später hat sich nicht nur die gesellschaftliche Welt, sondern mit ihr auch die technische Welt ziemlich verändert. Zu den mechanischen und elektrischen Maschinenverbünden gesellt sich ein neuer Maschinentypus, dessen Unterschied vor allem darin liegt, dass zusätzlich zur Elektrik nun auch die Elektronik Einzug gehalten hat – zunächst auf Basis besagter Elektronenröhren, später als Transistoren: Schalt- und steuerbare Maschinen, die zunehmend untereinander kommunizieren, angeschlossene mechanische Maschinen dirigieren und mithin so die MenschMaschinenkopplung ganz auflösen bzw. reduzieren auf initiale Informationszufuhr mittels Programmierung. Gotthard Günther nennt diese Maschinen nicht-archimedische Maschinen, bei denen „[a]lle arbeitsleistende Bewegung […] durch Atome bzw. Elektronen und magnetische Felder [erfolgt]“ (Günther 1963: S.183). Und während 135 Das zeigt sich in einer Fülle von publizierten Abhandlungen zum Thema Technik in dieser Zeit: (Neben den erwähnten vgl. auch Max Eyth „Poesie und Technik“ (1904); Ulrich Wendt „Technik als Kulturmacht“ (1906) etc.). 51 bei der klassisch-archimedischen Maschine der menschliche Körper mit seinen Gliedmassen und Organen – also im Sinne Kapps – als organisches Vorbild gedient hat, wird nun das menschliche Gehirn zum technologischen Modell für technische Entwicklungen.136 Mit diesen Maschinen beginnt die erste Phase Kybernetik: „Die Idee der kybernetischen Maschine zielt also auf die konstruktive Verwirklichung eines Mechanismus, der Daten aus der Außenwelt aufnimmt, sie als Informationen verarbeitet und dieselbe in Steuerungsimpulsen dann an die klassische Maschine weitergibt.“ (Günther 1963: S.186) Datenaufnahme, Informationsverarbeitung und -weitergabe sowie Rückkopplung als wesentliche Elemente kybernetischer Maschinen erfordern zunächst entsprechende Möglichkeiten der Informationsübertragung: >Im Grossen< werden Ausbau und Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationsnetze zusätzlich durch die Unterhaltungsindustrie, kriegstechnische Erfindungen und gesellschaftliche Nachfrage vorangetrieben. Da Erde, Land und Luft kommunikations- und informationstechnisch bereits erobert waren, versuchte man nun auch den extraterrestrischen Informationsaustausch zu realisieren. 1945 beschrieb Arthur C. Clark einen Kommunikationsweg, bei dem mittels drei über dem Äquator verteilten Satelliten eine weltweite Funkkommunikation möglich sein sollte.137 Die politischen Nachkriegskonstellationen wollten es, dass sich die beiden herausbildenden Supermächte dieser Herausforderung annahmen und im gegenseitigen Wettkampf das Weltall eroberten. 1957 gelang einem Land, das damals noch unter dem Namen Sowjetunion firmierte, die erste extraterrestrische Funkverbindung mit dem Satelliten >Sputnik<. Kurz darauf folgten die USA mit >Explorer 1<.138 Von nun an stand dem weltweiten Kommunikationsaustausch nichts mehr im Wege. Die Satelliten-Übertragung markiert aber noch eine zweite Wende: „Fernseh-Live-Übertragungen von Kontinent zu Kontinent“ (Reuter 1990: S.196) wurden möglich und sollten im weiteren Verlauf massgeblich kulturelle Prozesse beeinflussen. Aber auch auf den anderen Kommunikations- und Informationswegen tat sich einiges: Nachdem die erste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa dem Wiederaufbau 136 Günther (1963), S.184. Reuter (1990), S.196. 138 Reuter (1990), S.196. 137 52 vormals bestehender technischer Infrastruktur gewidmet war, begannen mit den neuen politischen Konstellationen und kriegstechnischen Erfindungen die Weiterentwicklungen der terrestrischen Übertragungstechnologien. Im Bereich der Funkübertragung wurden neue Wellenbereiche erschlossen – die Ultrakurzwelle löste die Langwelle im Hörfunkbereich langsam ab. Erste Mobilfunknetze – zunächst für staatliche Aufgaben, später auch für den öffentlichen Bereich – wurden etabliert. Nicht ausreichende Frequenzkapazitäten, vor allem im Bereich der Fernsehübertragung führten zudem dazu, dass auch die Fernkabelnetze weiter ausgebaut wurden, die als Vorstufe für das sich in den 80iger Jahren entwickelnde Kabelfernsehen dienen sollten.139 Insgesamt lässt sich feststellen, dass das, was Gesellschaft durch die infrastrukturell flächendeckende Elektrifizierung bis 1900 erfuhr, nun durch die Informations- und Kommunikationsnetze ab den 1950iger Jahren nachvollzogen wurde: Eine zunehmende öffentliche kommunikative Vernetzung durch die unterschiedlichsten Übertragungswege über Land, Luft, Wasser und Weltall inklusive der dazugehörigen, nun bereits massenproduzierten Endgeräte Telefon, Fernseher, Radio. Zur Veranschaulichung hier zwei Zahlen am Beispiel der alten BRD: Mehr als eine Million Fernsehzuschauer 1957 mit bereits 14 Fernsehanstalten140 sowie rund 20 Millionen Telefonanschlüsse Mitte der 70iger Jahre141 im Vergleich zu 250.000 Anschlüssen um 1900142. Die mechanische Mediengründerzeit um 1900 hat sich diesen Entwicklungen um 1950 angepasst: Technische Medien wurden erst elektrisch, dann elektronisch und die gespeicherten Informationen zusehends schneller und umfangreicher übertragbar – aus Phonograph und Grammophon wurden Stereo-Schallplatten(abspielgeräte) und besagtes UKW-Radio, Stummfilm wurde zu zentral durchgeführten Kinoveranstaltungen und zu dezentraler Haushaltsfernsehtechnik, die Schreibmaschine zur einer Tastatur, um in ganz neuartige Rechenmaschinen und ihre inhärenten Speichermedien 139 Reuter (1990), S.173ff. Reuter (1990), S.178. 141 Dittberner (1995). 142 Schneider (1999a), S.170. 140 53 Informationen übertragen zu können. Doch bevor 1945 ENIAC als erster elektronischer Computer143 und Ende der 1940iger Jahre EDVAC als erster Computer mit der bis heute gültigen Von-Neumann-Architektur in den USA entstanden, waren eine ganze Menge Vorarbeiten für die aufkommenden nicht-archimedischen Maschinen, und im heutigen Sinne digitalen Computer, notwendig: Die Herstellung programmgesteuerter, elektronischer Computer um 1950, deren Ursprünge sich bis zu Leibniz nachvollziehen lassen144, basieren vor allem, wie u.a. Hartmann dargestellt hat, auf Turings mathematischen Beweis für die Zerlegung, Algorithmisierung und durch eine Maschine ausführbaren Rechenschritte von 1936, auf der Anwendung der Booleschen Algebra auf binäre Systeme sowie auf der Möglichkeit, diese Berechnungen mittels elektronischer Schaltkreise durchzuführen können.145 Im wahrsten Sinne des Wortes angefeuert wurden diese Entwicklungen durch den Bau und Einsatz der Chiffrier- und Dechiffriermaschinen des Zweiten Weltkrieges – Enigma, Turing-Bombe, Colossus bilden hier die zeitliche Entwicklung früher >Computer< ab. Die Erfindung der Transistoren und damit die Möglichkeit zur Ersetzung grosser und teurer Elektronenröhren ab 1947/48146 läutete dann endgültig die Ära der Computer ein und mit ihnen eine Fülle von neuen Speichertechnologien, wie Magnetbänder und Festplatten. Auf der wissenschaftstheoretischen Ebene stehen ziemlich am Anfang der Geschichte der Kybernetik zwei sonst eher unbeliebte Tiere: Motte und Wanze. Sie verkörpern zwei Eigenschaften – die Motte als lichtliebendes und die Wanze als lichtmeidendes Tier – mittels derer N. Wiener mit seinen Kollegen am M.I.T. in den 50iger Jahren eine kleine steuerbare, elektronische Rückkopplungsmaschine baut (in Form eines kleinen Wagens mit darauf angebrachten Fotozellen). Sie bewegt sich je nach initialer Informationseingabe entweder zur Lichtquelle hin oder weg von ihr147. Grundlage für derartige Maschinen, die auf Basis von äusseren Informationen einem >Programm<, 143 „ENIAC wog etwa 30 Tonnen und arbeitete mit 18000 Elektronenröhren. Sein Strombedarf entsprach etwa dem einer Elektrolokomotive. Die Herstellungskosten betrugen rund eine halbe Million Dollar.“ (Ratzke 1984: S.24). 144 Leibniz hatte bereits im 17. Jahrhundert einen Dualrechner erfunden, in dem das Dezimalsystem auf ein Binärsystem zur effizienteren Berechnung umgestellt wurde. (vgl. u.a. Hartmann (2003), S.123f., Ratzke (1984), S.24). Zur Vorgeschichte der Computer siehe u.a. auch Coy (1994). 145 Hartmann (2003), S.125f. 146 Ratzke (1984), S.24. 147 Woraus sich der Name für diese Maschine „Motte und Wanze“ ergab (N. Wiener 1958: S.161). 54 d.h. einer Steuerungsanweisung, folgend sich selbst regulieren können, sind N. Wieners prinzipielle Überlegungen zur Regelung auf Basis von Nachrichten, die er erstmals 1949 unter dem Titel Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine veröffentlichte. Damit war die Kybernetik als wissenschaftliche Disziplin der Nachrichten- und Regeltechnik begründet und mit ihr der Wunsch, Maschinen zu schaffen, die den Menschen nachahmen bzw. ganz ersetzen und damit – wiederum ganz im Sinne von Kapp – das menschliche Wesen erhellen148: „Das Ziel […] ist vielmehr, die Möglichkeiten der Maschine auf Gebieten aufzuzeigen, die bis jetzt als Domäne des Menschen galten, […].“ (Wiener 1958: S.7.) Und weiter: „Der Leitgedanke des vorliegenden Buches ist, daß Gesellschaft nur durch das Studium der Nachrichten und der zugehörigen Kommunikationsmöglichkeiten verstanden werden kann und daß Nachrichten von Mensch zu Maschine, von Maschine zu Mensch und von Maschine zu Maschine in der zukünftigen Entwicklung der Nachrichten und Kommunikationsmöglichkeiten eine immer größere Rolle zu spielen berufen sind.“ (Wiener 1958: S.14) Maschinen, die den Menschen ersetzen sollen, Gesellschaft, die sich als Kommunikationsgesellschaft begreifen soll, erscheinen vor dem Hintergrund globaler terrestrischer und extraterrestrischer Kommunikations- und Informationsnetzwerke, ENIAC, EDVAC etc. um 1950 als logische Schlussfolgerung, stellen aber einen entscheidenden Einschnitt im technischen Selbstverständnis dar: Was bei Kapp und O. Wiener noch als Entäusserung und damit als >einfache< Erweiterung des menschlichen Körpers und der Sinnesorgane aufgefasst wurde, wird nun den Maschinen selbst zugeschrieben. Körper und Sinne werden mittels Technik nicht nur erweitert, Körper und Sinne werden auf die Technik übertragen, womit zwangsläufig Kommunikation, d.h. bei N. Wiener Nachrichtentechnik, zentrales gesellschaftliches Element wird. Die einfacheren Maschinen dieses Typus besitzen Sinnesorgane, die als Empfänger für Nachrichten dienen und auf deren Basis sie ihre Arbeit verrichten. Die komplexeren prozessieren darüber hinaus ihre Ergebnisse aus Kombinationen der eingegebenen Daten, wofür eine Speicherung dieser Daten, d.h. ein maschinelles Gedächtnis notwendig 148 N. Wiener (1958), S.7. 55 ist.149 Diese Art von Maschinen wird in Computern verwirklicht. Sie stehen bei N. Wiener für den Anfang eines voll automatisierten Zeitalters, dass sich zukünftig – aus der Perspektive um 1950 – durch eine Stellung des Computers als Steuerungszentrale in sämtlichen Produktionsabläufen und damit verbundener Maschinen auszeichnen wird.150 Daher kommt N. Wiener zu dem Schluss: „Das Gesamtsystem kommt einem vollständigen Lebewesen mit Sinnesorganen, Effektoren und Propriozeptoren gleich und entspricht nicht, wie die Höchstgeschwindigkeitsrechenmaschine, einem isolierten Gehirn, das für seine Erfahrung und für seine Wirksamkeit von unserem Eingreifen abhängt.“ (Wiener 1958: S.154) Der künstliche Mensch ist damit fertigstellt. Er hat jetzt auch ein technisches Gehirn erhalten, dass die um 1900 noch >losen< technischen Organe steuern kann. Dieses Gehirn wird wiederum durch einen Menschen programmiert. Damit ist die Kommunikations- und Steuerungskette von Mensch zu Maschine erweitert worden – sie läuft um 1950 bereits als Mensch-Maschinen-Maschinen-Kette. Angesichts dieser mit der industriellen Revolution beginnenden und in der Kybernetik der 50iger Jahre mündenden Entwicklung konstatieren eine Reihe von Philosophen um 1950 ein „neues Verhältnis zwischen Mensch und Technik“ (Stiegler 2009b: S.36).151 Und ähnlich wie bei Kapp, Zschimmer, Rathenau und Auburtin fällt die Bewertung recht unterschiedlich aus. Gemeinsam ist allen jedoch die Feststellung einer grundlegenden kulturellen und technischen Zäsur, die N. Wiener mit der Kybernetik und dem neuen Maschinentypus beschrieben hat. 149 N. Wiener (1958), S.16. N. Wieners Einschätzung zum weiteren Verlauf der Entwicklung: „Wie und wann die neuen Geräte eingeführt werden, hängt natürlich weitgehend von wirtschaftlichen Bedingungen ab, für die ich kein Fachmann bin. Abgesehen von heftigen politischen Änderungen oder einem neuen großen Krieg möchte ich sagen, daß es grobgeschätzt etwa zehn bis zwanzig Jahre dauern wird, bis sich die neuen Geräte durchsetzen werden. […] Was können wir an wirtschaftlichen und sozialen Folgen von ihr erwarten? In erster Linie wird wohl die Nachfrage nach demjenigen Typ von Arbeitskräften, der rein repetitive Aufgaben erfüllt, plötzlich und endgültig aufhören. […] Freilich könnten dadurch auch ebenso oberflächliche und überflüssige kulturelle Begleiterscheinungen angebahnt werden, wie die bislang von Radio und Kino ausgelösten.“ (Wiener (1958), S.156f.). 151 Zu weiteren technikphilosophischen Auseinandersetzungen dieser Zeit, die im Folgenden nicht weiter besprochen werden, vgl. z.B. auch Gehlen (2007); Forsthoff (1965); Leroi-Gourhan (1988). 150 56 Simondon152 ist einer der Vertreter, die sich um 1950 mit dieser ersten kybernetischen Zäsur befassen. Als Grundlage für die Lageeinschätzung dient seine prinzipielle Technikauffassung, die in ihrem Kern technische Entwicklungen als einen Konkretisierungsprozess im Rahmen einer technischen Genese bestimmt: Bedingt durch einen immer stärker werdenden Austausch zwischen Technik und Wissenschaft konkretisiert sich das technische Objekt über die Zeit zu einer spezifischen technischen Form.153 Seine technische Genese ist dabei abhängig vom natürlichen Milieu, dass das technische Objekt umgibt. Das Milieu wiederum wird gleichzeitig vom technischen Objekt rückbestimmt, weswegen Simondon von einem assoziierten Milieu mit selbstregulierendem Charakter spricht.154 Drei Ebenen des technischen Objekts können in dieser Genese unterschieden werden: Das Element, das Individuum und das Ensemble. Elemente bezeichnen die kleinsten technischen Einheiten, wie beispielsweise ein singuläres Werkzeug. Technische Individuen155 integrieren und koordinieren diese Elemente, brauchen aber für ihr Funktionieren ein assoziiertes Milieu. Das Ensemble156 schliesslich integriert und koordiniert losgelöst vom assoziativen Milieu einzelne technische Individuen.157 Diese technischen Ensembles prägen nun auf besondere Weise das Bild um 1950 und stellen nach Simondon in ihrer Ausprägung eine neue Entwicklungsstufe in der technischen Genese dar. Für ihn wird damit eine kulturelle Entwicklung angezeigt, die sich auch als neue Stufe in einem fortlaufenden Mündigkeitsprozess beschreiben lässt. Dieser Prozess befindet sich um 1950 im Stadium des kybernetisch geprägten, technologischen Enzyklopädismus158,159. Wesentlich für dieses Stadium ist die neue Rolle des Menschen: Er ist im technologischen 152 Insbesondere in seinem Hauptwerk Die Existenzweise technischer Objekte (französische Erstausgabe 1958). 153 Simondon (2012), S.19ff. 154 Simondon (2012), S.52ff. 155 Beispielsweise eine einzelne Maschine, die verschiedene technische Elemente umfasst und koordiniert. 156 Simondon nennte hier ein Labor mit verschiedenen Maschinen und Instrumenten als Beispiel. 157 Simondon (2012), S58ff. 158 Vgl. auch Simondon: „Die Kybernetik verleiht dem Menschen eine neue Form der Mündigkeit […]: Wenn die Finalität Gegenstand der Technik wird, gibt es ein Jenseits der Finalität in der Ethik; in diesem Sinne befreit die Kybernetik den Menschen vom uneingeschränkten Ansehen der Finalitätsidee. Der Mensch hat sich durch die Technik vom sozialen Zwang befreit; durch die Informationstechnologie wird er der Schöpfer jener Organisation der Solidarität, deren Gefangener er einst war […].“ (Simondon 2012: S.96). 159 Zeitlich vorgelagerte Stufen des Enzyklopädismus sind bei Simondon der ethische Enzyklopädismus der Renaissance geprägt durch die Befreiung des wissenschaftlichen Denkens und der technische Enzyklopädismus der Aufklärung geprägt durch die Befreiung des technischen Denkens. (Vgl. Simondon (2012), S.87ff.). 57 Enzyklopädismus nicht mehr technisches Individuum160, sondern entweder Element oder Leiter in einem technischen Ensemble. Als Leiter des technischen Ensembles bedient er die mit N. Wiener argumentierte Kette Mensch-Maschine-Maschine161, er wird zum Steuermann eines voll ausgebildeten selbstregulierenden Systems. Als Element kann der Mensch auch „von gleich zu gleich […] an die Maschine gekoppelt sein“ (Simondon 2012: S.111). Eine solche gleichberechtigte Mensch-Maschinenkopplung tritt nach Simondon immer dann ein, wenn die Aufgaben in dieser Konstellation besser erfüllt werden können als durch einen Akteur allein.162 Deutlich zeigt sich dies am Beispiel des Gedächtnisses: Das maschinelle Gedächtnis, als Computer gedacht, kann sehr komplexe und umfangreiche Informationen speichern. Diese Speicherung erfolgt aber im Gegensatz zum menschlichen Gedächtnis ohne Struktur, und das heisst für Simondon vor allem ohne Form. Während das menschliche Gedächtnis erinnerungsfähige Formen einlagern kann, die als bestimmendes Programm für Gegenwart und Zukunft dienen können, ist das maschinelle Gedächtnis eine reine Aufzeichnungsmaschine ohne Möglichkeit Formen, und d.h. in letzter Konsequenz ohne Sinn, zu selektieren. Es zeichnet nicht Formen, sondern lediglich Übersetzungen von Formen auf Basis von Kodierung auf. Dazu benötigt die Maschine kein vorgängiges Gedächtnis. Das menschliche Gedächtnis ist mehr als blosse Aufzeichnungsmaschine. Neben der Speicherung bedeutungsvoller Formen, kann es diese Formen als Erinnerungen in entsprechenden Situationen wieder wachrufen. Diese Eigenschaften bestimmen auch die Schwächen des menschlichen Gedächtnisses: Begrenzte Aufnahmekapazität und die Tatsache, dass >Nicht-Formen< eben auch nicht gespeichert werden können – ein Selektionsfilter namens Bedeutung ist dem menschlichen Gedächtnis immer schon vorgeschaltet. Die beiden Gedächtnisse – Mensch und Maschine – stellen sich damit komplementär zueinander.163 Not- 160 Der Konflikt zwischen Technik und Mensch rührt für Simondon vor allem daher, dass der Mensch sich als technisches Individuum verstand und mit den, seit der industriellen Revolution aufkommenden, überlegenden, rein technischen Individuen zunehmend in Konkurrenz stand und sich durch diese verdrängt fühlte, „während es im Gegenteil der Mensch ist, der vorläufig die Maschine ersetzte“ (Simondon (2012), S.74). 161 Es handelt sich bei diesen Maschinen um zunehmend offene Maschinen mit hohen Freiheitsgraden, die durch diese Unbestimmtheit eine höhere Stufe des Automatismus definieren. (vgl. Simondon (2012), S.11 und S.128ff). 162 Simondon (2012), S.111. 163 Simondon (2012), S.111ff. 58 wendige Bedingung für eine Kopplung beider Gedächtnisse ist eine gemeinsame Kodierung und damit die Möglichkeit der Übersetzung menschlicher Formen in maschinelle Codes und umgekehrt.164, 165 Simondons Einschätzung der ersten kybernetischen Zäsur ist daher Ausdruck einer neu erreichten Mündigkeit des Menschen, ermöglicht durch eine besondere Bedeutung und neue Ausstattungen technischer Ensembles mit neuen Rollenangeboten für die menschliche Teilhabe. Sie basiert auf Simondons Technikverständnis, das die prominente Gegenüberstellung von Kultur und Technik und in ihrer Folge die Ausschliessung des Technischen aus der Kultur aufzuheben versucht.166 Die Entfremdung des Menschen zu der ihn umgebenden Welt beruht, so Simondon, nicht auf Technik als solcher, sondern auf dem Ausschluss des Technischen in der Kultur. Bewusstwerdung, Erkenntnis, Freiheit sind daher auch für Simondon die entscheidenden Schlagworte für die Beschreibung von Technik. Anders zeigt sich die kybernetisch-technische Zäsur für Heidegger: Wenn er sie zunächst auch zeitlich gröber fasst – indem er lediglich zwischen einer vormodernen und modernen Technik unterscheidet167 – basieren seine Beschreibungen der modernen Technik auf den Erfahrungen einer beginnenden kybernetischen Zeitrechnung. Ausgangspunkt für seine Analyse ist eine grundlegende Bestimmung des Wesens der Technik in dem 1955 gehaltenen Vortrag Die Frage nach der Technik: Von Zwecken und Mitteln befreit wird die Technik hierin als „eine Weise des Entbergens“ (Heidegger 2007: S.12) verortet. Was heisst Entbergen? Es ist für Heidegger zunächst ein Hervorbringen. Ein Hervorbringen, das sich im technischen Handwerk als eine Entäusserung des Menschen und damit als eine wesenhafte Bewusstwerdung des Menschen zeigte.168 Dieses Wesen hat sich mit der modernen Technik verändert. Es 164 Simondon (2012), S.114. Vgl. auch Simondon: „Das Gedächtnis der Maschine triumphiert in der Vielheit und der Unordnung; das menschliche Gedächtnis triumphiert in der Einheit der Formen und in der Ordnung. […] Das storage der Rechenmaschine oder der Übersetzungsmaschine […] unterscheidet sich sehr stark von der Gegenwartsfunktion, durch welche das Gedächtnis im Menschen auf der gleichen Ebene wie die Wahrnehmung und durch die Wahrnehmung hindurch existiert, […]. Beim Menschen und allgemeiner bei den Lebewesen wird der Inhalt Kodierung, während in der Maschine Kodierung und Inhalt als Bedingung und Bedingtes getrennt bleiben.“ (Simondon 2012: S.113f.). 166 Simondon (2012), S.13f. 167 Heidegger (2007), u.a. S.13f. (Die >vormoderne Technik< wird bei Heidegger als >handwerkliche Technik< eingeführt). 168 Heidegger (2007), S.14. 165 59 ist nun nicht mehr ein Entbergen als Hervorbringen, sondern ein Entbergen als Herausfordern. Herausgefordert wird dabei der Mensch: Indem die Technik nicht mehr als wesenhafte Entäusserung, als Prozess der Bewusstwerdung dienen kann, wird sie zum den Menschen herausfordernden Gestell.169 Das (technische) Gestell negiert nicht nur das hervorbringende Entbergen der vormodernen Technik, sondern macht dem Menschen selbst zum (technischen) Bestand, suggeriert ihm aber, alles sei nur durch ihn: „Indessen begegnet der Mensch heute in Wahrheit gerade nirgends mehr sich selber, d.h. seinem Wesen“ (Heidegger 2007: S.27). In eine Kurzformel gebracht, wird die >moderne< Technik bei Heidegger zu einer >mordenden< Technik, indem sie zu einer wesenhaften Entfremdung des Menschen führt. Die Beziehung von Technik und Mensch hat sich – dafür steht der Begriff des Gestells bei Heidegger, – geändert.170 Beispielhaft zeigt Heidegger diese Veränderungen an der Schreibmaschine auf: „Die Schreibmaschine entreißt die Schrift dem Wesensbereich der Hand und d.h. des Wortes“ (Heidegger 1942/43: S.119). Als technisches Objekt verändert sie das Verhältnis zwischen Mensch und Wort, führt zu einer Mechanisierung des Wortes und letztlich zu Wesensänderungen des Menschen selbst.171 Aber noch etwas anderes schwingt in dem Wort Gestell mit: Es ist auch etwas – darauf hat u.a. Stiegler verwiesen –, dass mit dem Begriff des Dispositivs zusammengedacht werden kann, womit sich „[d]ie moderne Technik konkretisiert […] als Dispositiv des »Gestells« aller Ressourcen“ (Stiegler 2009b: S.38). Wenn der Mensch selbst Bestandteil dieser Ressourcen172 ist, dann ist er abhängig vom technischen Dispositiv. Technik als technisches Dispositiv ist dann nicht mehr im neutralen Sinne einfacher >Ermöglichungsgrund<173, sondern ein Macht-Dispositiv, dass nicht der Befreiung, Bewusstwerdung etc. dient, sondern für Entfremdung und Mechanisierung steht. Wie die beiden Beispiele zeigen, bleibt das Verhältnis zur Technik auch um 1950 ambivalent. Wesentlich ist für diese Zeit ist eine weitere zentrale technische Zäsur: Der Mechanisierung und Elektrifizierung der Gesellschaft um 1900 folgte eine erste 169 Heidegger (2007), S.19f. Stiegler (2009b), S.37. 171 Heidegger (1942/43), S.126. 172 Bei Heidegger: „Bestand“. 173 Vgl. Böhmes Definition zu >Dispositiv<; Böhme (2008), S.19. 170 60 Kybernetisierungswelle, die sich in Form neuartiger technischer Objekte – insbesondere den aufkommenden Computern – und einer flächendeckenden kommunikativen Vernetzung zeigt. Das Verhältnis des Menschen zur Technik stand ein weiteres Mal auf dem Prüfstand und stellt ihn, je nach Interpretation der Lage, als >Bestellten< oder >Bestellenden< dar. Damit wird einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Technik und damit einhergehend hypomnésis als pharmakon im Sinne eines Heilmittels oder eines Giftes wirkt. Unabhängig von der gewählten Interpretation werden mit den neuartigen, selbstregulierenden Maschinen die vormals mechanischen Einzelorgane erweitert um eine zentrale Rechen- und Steuerungseinheit, deren Vorbild nun das menschliche Gehirn selbst ist. Damit wird Technikphilosophie umgestellt von einer Betrachtung der (mechanischen) Technik, wie z.B. in einer Organologie im Sinne Kapps, auf die Betrachtung einer (kybernetischen) Technologie. Die Logik des Technischen wird nun grundlegend durch diese kybernetischen Maschinen und ihr Verhältnis zum Menschen bestimmt. Mit diesen neuen Maschinen und Techniken wird die Kommunikations- und Steuerungskette erweitert auf eine Mensch-Maschine-Maschine-Kette. Als >Bestellender< nimmt der Mensch in dieser Kette eine leitende, steuernde Funktion ein. Technik als technisches Dispositiv dient ihm zur schöpferischen Freiheit. Als >Bestellter< unterliegt er den Anforderungen des technischen Dispositivs. Die technischen Medien folgen diesen Entwicklungen und mit ihnen das technische Gedächtnis: Es wird gleichermassen von Mechanisierung auf Kybernetisierung umgestellt und erfährt mittels Hochgeschwindigkeitsrechenmaschinen eine zunehmende Kopplung zwischen Mensch und Maschine. 3.1.3 ~ 2000 2000: Ein zweites Millennium n.Chr., an dessen technischem Millennium sicherlich auch der Namensvater dieser Zeiteinteilung ein wenig Freude gehabt hätte. Denn Übertragung mit Lichtgeschwindigkeit, Digitalisierung von Literatur (und damit ja auch Digitalisierung des Urtypus aller Longseller: Altes und Neues Testament) etc. stellen aus damaliger Perspektive wahrscheinlich ebenso ein Wunder dar, wie die seit 61 dem nie wieder geglückte >Wasser-zu-Wein-Verwandlung< heute. Die von Hörl bestimmte zweite kybernetische Phase174, einsetzend ab Ende der 80iger Jahre, überwand jedenfalls mit der Millenniumsschwelle auch eine ganze Reihe technischer Optimierungsschwellen, die gesellschaftlich-kulturelle Prozesse grundlegend verändert haben und damit für die Ausprägung hypomnétischer Gegenwart verantwortlich sind. Eine detaillierte Analyse dieser technischen Gegenwart ist Gegenstand des nächsten Abschnittes.175 Nur so viel schon vorweg: Der neue Maschinentypus hat in Form von Computern die (technische) Welt neu aufgestellt. Sie sind als personalisierte Rechenmaschinen mit aufwendiger Visualisierungstechnik, fast grenzenlosen Anwendungsmöglichkeiten und unterschiedlichsten Erscheinungsformen (Smart Phone, Tablet, PC etc.) in nahezu jeden Bereich individuellen und gesellschaftlichen Lebens eingedrungen. Nichts ist mehr übrig geblieben von der tonnenschweren >HochleistungsRechenmaschine< eines ENIAC. Solche Rechenmaschinen sind heute entweder deutlich leistungsstärkere personalisierte Rechenmaschinen oder haben ganz andere Rechensphären in Form sogenannter Super-Computer erreicht: Der Supercomputer TITAN beispielsweise hat seinem mythologischen Vorgänger der goldenen Ära alle Ehre gemacht. Er hat eine Rechengeschwindigkeit von ca. 27 Peta-Flops – das entspricht 27 Billionen Berechnungen pro Sekunde176 – und soll, so die Hoffnungen, naturwissenschaftliche Modellierungen auf eine neue Stufe stellen. Auf Basis solcher Maschinen ist das von N. Wiener vorausgesagte voll automatisierte Zeitalter zu grossen Teilen bereits Wirklichkeit geworden. Grundlage dieser Automatisierung sind zum einen die Weiterentwicklungen dieser Maschinen auf Basis verbesserter elektronischer Halbleitertechnik in Richtung Mikroelektronik.177 Dadurch konnte die Maschine namens Computer in all ihren Erscheinungsformen – in Analogie des Fernsehers um 1950 – zum Massenmedium um 2000 avancieren. Zum anderen ist dieses weitestgehend automatisierte Zeitalter durch anhaltend steigerungsfähige Kommunikations- / Informationsnetzwerke für Mensch und Maschine geprägt. 174 Hörl (2011), S.26. Vgl. Abschnitt 3.2. 176 Oak Ridge National Laboratory (Internetseite). 177 Und damit verbunden: Miniaturisierung, Leistungs- und Wirtschaftlichkeitssteigerung (Ratzke 1984, S.35). 175 62 Da die zur Verfügung stehenden Wege der Übertragung – Land, Luft, Wasser, Weltall – ja bereits um 1950 für den Informations- / Kommunikationsaustausch nutzbar gemacht werden konnten, steht die zweite Phase der Kybernetisierung auch hier im Zeichen der Optimierung. Optimierung heisst nun vor allem Steigerung der Geschwindigkeit, Zunahme der Versorgungsdichte und damit verbunden Steigerung der Effizienz sowie der Versorgungssicherheit. Dazu beigetragen haben neben einer ganzen Reihe anderer technischer Entwicklungen vor allem die Entwicklung von Mehrträgerverfahren (>Multiplex-Verfahren<) im Bereich der Fernkabelnetze und des (Mobil)Funks (1), die zunehmende Umstellung von analoger auf digitale Signalübertragung und damit einhergehende Möglichkeiten eines Universalnetzes (2) sowie ein neuer Kabeltyp namens Glasfaser (3). (1) Im Unterschied zu Einträgerverfahren können mit Mehrträgerverfahren oder sogenannten Multiplex-Verfahren mehrere Signale gebündelt über ein und denselben Kanal (Kabel- oder Funkverbindung) übertragen werden, womit die Übertragungskapazitäten und damit die Wirtschaftlichkeit einer solchen Übertragung radikal gesteigert werden konnten. Die Übertragung erfolgte zunächst auf analogem Wege und wurde ab Ende der 1970iger konsequent auf digitale Signalübertragung umgestellt.178 (2) Dieser Umstellung von analoger auf digitale Signalübertragung ging eine ganze Reihe von nationalen Rechtsentscheiden voraus. In Deutschland beispielweise stellte die Deutsche Bundespost ab 1979 Fernsprechnetze auf digitale Übertragungstechnik um, wie bei Reuter zu lesen ist.179, 180 Eine solche Digitalisierung, heisst es bei ihm weiter, „bietet neben seiner überlegenen Wirtschaftlichkeit die Basis für eine revolutionäre technische Innovation: Die Vereinigung aller Fernmeldedienste in einem universalen Netz“ (Reuter 1990: S.194). Es handelt sich hierbei um das Integrated Services Digital Network, kurz ISDN genannt. Als Universalnetz vereint es alle möglichen Informations- und Kommunikationsdienste wie Sprach- und Bilddienste auf Digitalbasis.181 Die anfängliche Trennung im Sinne eines >Ein-Dienst-Angebotes< je 178 Reuter (1990), S.187. Reuter (1990), S.187f. 180 Zur rechtlich-technischen Entwicklung in anderen Staaten vgl. Schneider (1999b). 181 Reuter (1990), S.194. 179 63 Netz löst(e) sich in den Möglichkeiten des ISDN-Netzes als Verbundnetz vollkommen auf. (3) Zusätzlich zur Digitalisierung und Vereinigung der Informationsströme im Verbundnetz ISDN gewinnt ab den 80iger Jahren ein neuer Übertragungskanal an Bedeutung: Zu den kupferbasierten Koaxialkabeln gesellen sich nun zunehmend auch Glasfasernetze. Damit wird nicht nur technisch auf opto-elektronische Übertragung erweitert, sondern vor allem Übertragungskapazität, -geschwindigkeit, -qualität und -wirtschaftlichkeit des Informationsaustausches signifikant gesteigert.182 Weitere Vorteile der Lichtwellenleiter gegenüber Kupferkabeln liegen in ihrer geringeren Störanfälligkeit (keine Störung durch elektromagnetische Felder etc.), in einem geringeren Gewicht und Durchmesser sowie einer höheren Abhörsicherheit.183, 184 Mit dieser umfassenden Umstellung auf digitale Signalübertragung und dem Ausbau bzw. der Weiterentwicklung zugrundeliegender Infrastrukturen hat auch die Kommunikation zwischen den Maschinen über ein ganz anderes Netz die zweite Millenniumsgrenze überschritten: Internet heisst dieses Netz, Web 2.0 die überwundene Grenze und zusammen bezeichnen sie den vorläufigen Stand einer Entwicklung, die in 1950iger Jahren ihren Anfang nahm: Während es der Sowjetunion vorbehalten war, extraterrestrische Kommunikation mittels des Satelliten Sputnik 1957 einzuleiten, konnte die andere Seite des damals noch eisernen und nunmehr glasfaseroptimierten Vorhangs die Initialzündung für Computerkommunikation für sich verbuchen. Keimzelle dieses neuen Informations- und Kommunikationsnetzwerkes war die durch die US-Regierung 1958 gegründete Advanced Research Project Agency, mit der der offensichtliche und nun ins Weltall gebrachte sowjetische Technologievorsprung durch eine Reihe von (technischen) Forschungsprojekten beseitigt werden sollte.185 Der Austausch zwischen den an diesen Projekten beteiligten Universitäten (UCLA, Stanford, Santa Barbara, Utah) sollte über ein dezentrales Netzwerk stattfinden. 1969 182 Reuter (1990), S.189. Ratzke (1984), S.64ff.; Reuter (1990), S.189. 184 Was Kittler zu folgender Schlussfolgerung führte: „Vor allem der optoelektronische Kanal wird gegen Störungen immun sein, […]. Immun […] gegen die Bombe. Denn bekanntlich streuen Nuklearexplosionen in die Induktivität üblicher Kupferkabel einen elektromagnetischen Puls (EMP) ein, der fatalerweise auch angeschlossene Computer verseuchen würde. Das Pentagon plant weitsichtig: Erst die Ablösung von Metallkabeln durch Glasfasern macht die immensen Bitraten und Bitmengen möglich, die der elektronische Krieg voraussetzt, ausgibt und feiert.“ (Kittler 1986: S.7). 185 Banks (2008), S.2f. 183 64 wurde die erste Nachricht über ein solches Netzwerk zwischen der UCLA und Standford übermittelt: >LO< hiess die Nachricht, >ARPANET< das Netz. Für eine sinnvolle Nachricht der Form >LOG< hatte es nicht gereicht – der Computer stürzte ab.186 Aus ARPANET wurde im weiteren Verlauf DARPANET, wurde NSFNET usw., aus anfänglicher Leitungsvermittlung in der Übertragung wurde Paketvermittlung und weitere Entwicklungen wie Hypertext-Systematik und Web Browser-Anwendungen (insbesondere der Web Browser Mosaic 1993)187 – um nur einige markante Wegweiser zum Web 2.0 zu nennen – führten schliesslich zu einem Netzwerk, in dem Maschinen nun auch ganz ungestört vom Menschen miteinander kommunizieren und agieren können.188 Kybernetisierte Maschinen, mediale Verbundsysteme, totale technische Vernetzung verschiedener Dimensionen, Kommunikationen nicht mehr nur zwischen Menschen, Menschen und Maschinen, sondern vor allem zwischen Maschinen und Maschinen – all diese Entwicklungen steigern die um 1950 bereits eingeführte kybernetische Zäsur. Für Hörl wird diese Zäsur nicht nur gesteigert, sie wird mit der Deklaration einer zweiten kybernetischen Phase noch einmal neu gedacht: Neben die technische Zäsur um 1950 tritt um 2000 eine zweite, viel einschneidendere, da sinngeschichtliche Zäsur. Diese zweite Phase der Kybernetisierung führt, so Hörl, zu einer Verschiebung und Neuordnung der bisherigen subjektzentrierten Sinnkultur hin zu einer technologischen Sinnkultur, in der der Sinn als ursprünglich technisch herausgestellt wird.189,190 Bedingung für eine derartige technologische Sinnverschiebung sind neuartige Objektkulturen in der Form kybernetischer Maschinen: Aktive, intelligente technische Objekte, die auch ganz unter Ausschluss des, bis dahin zwar an (Medien)Technologien gekoppelten, sich aber stets darüber bewussten, Subjekts agieren.191 186 Banks (2008), S.5f. Banks (2008), S.157ff. 188 (Ausführliche) Überblicke zur Geschichte des Internets sind vielfältig vorhanden. Vgl. u.a. Banks (2008), Coy (1994). 189 Hörl (2011), S.11ff., S.15. 190 Vgl. dazu auch Hörl: „Der neue Grund und Boden, den wir seit dem Eingang in die Kybernetik betreten haben […], lässt sich langsam deutlicher bestimmen, und zwar gerade in seiner ganz spezifischen Grundund Bodenlosigkeit: als ein Sinnregime, das die originäre Technizität des Sinns exponiert, stets humane und nicht-humane Handlungsmächte zusammenfügt, das vor der Differenz von Subjekt und Objekt operiert, das ohne Ende prothetisch und supplementär, eher immanent als transzendental und in unerhörtem Maße distribuiert, ja ökotechnologisch ist.“ (Hörl 2011: S.10). 191 Hörl (2011), S.12. 187 65 Kybernetische Sinnverschiebung steht daher im Kern für einen technologisch bestimmten Sinn, der auch jenseits des Subjekts generierbar ist. Eine auf diesen Grundlagen entstehende Kultur kann nicht mehr, so Hörl, mit den Beschreibungskategorien eines vor-kybernetischen Zeitalters beschrieben werden.192 Eine zentrale Kategorie für die Neubeschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik ist die einleitend mit Stiegler bereits angesprochene Kompetenzverteilung zwischen dem >Wer< und dem >Was<193: Hörls deklarierte >technologische Sinnverschiebung< kann in dieser Perspektive bei Stiegler auch als >technologische Kompetenzverschiebung< gelesen werden. Sie umfasst dann eine zunehmend wahrnehmbare Bewegung vom >Wer< (das Subjekt) auf das >Was< (die Technik)194, und damit nichts anderes als die vermehrte Übertragung von Zuständigkeiten auf die Technik. Für Stiegler ergeben sich daraus eine ganze Reihe negativer Aspekte, die bei ihm in einer derzeitigen „Krise des Geistes“ (Stiegler 2009a: S.96), insbesondere geprägt durch die Industrialisierung des Gedächtnisses195, münden. Als ein zentrales Element dieser Krise macht Stiegler den Funktionswandel der Schrift aus196: Die Digitalisierung der Schrift ist „in jeglicher Form zur Hauptfunktion industrieller Technik geworden“ (Stiegler 2011b: S.121). In ihrer digitalisierten Form hat sie vorerst den Höhepunkt eines technischen Grammatisierungsprozesses erreicht und unterliegt nun – da sie als elektronisches Dispositiv automatisierbar geworden ist197 – wirtschaftlichen Zwängen und verändert Sprache und Gesellschaft. Der Mechanisierungs- und Entfremdungsprozess, den Heidegger noch durch die Schreibmaschine bestimmt sah, zeigt sich bei Stiegler als Zeitgenosse des technischen Millenniums um 2000 in der Tastatur für eine digitalisierte Schrift.198 192 Hörl (2011), S.15. Vgl. Ausführungen in Einleitung zu Kapitel 3. 194 Stiegler (2009c), S.176 (in Anlehnung an Simondon). 195 Stiegler (2009c), S.97ff. 196 U.a. Stiegler (2011b), S.121. 197 Stiegler (2011b), S.123. 198 Eingebettet wird diese Entwicklung auch bei Stiegler in eine technische Organologie: Technik ist zunächst, ähnlich wie bei Kapp, prothetische Entäusserung eines unvollkommenen Menschen. Diese Technik konstituiert aber – und damit geht Stiegler weit über Kapp hinaus – ein neues Gedächtnis, das Gesellschaft insbesondere unter Bedingungen globalisierter technischer Systeme grundsätzlich verändert (Stiegler 2011b: S.126f.). Dieses neue, das epiphylogenetische Gedächtnis arbeitet auf Basis tertiärer, orthothetischer Retentionen (Stiegler 2009a: S.77) und „verändert […] die Evolutionsbedingungen von Organismen, Organen und Organisationen“ (Stiegler 2011b: S.127). (Anmerkung 1: Stiegler unterscheidet in Anlehnung an 193 66 Zusammenfassend zeigt sich, dass die um 1900 entäusserten technischen Organe, welche um 1950 – nun ausgestattet mit eigener Rechen- und Steuerungslogik – zu einem vollumfänglich exteriorisierten Körper wurden, sich um 2000 als netzwerkanschlussfähige und netzwerkkonforme technische Objekte unabhängiger vom Menschen gemacht und das Verhältnis zwischen Mensch und Technik ein weiteres Mal verändert haben. Damit wird zum einen die Rückwirkung des Technischen auf gesellschaftliche Prozesse deutlicher und das Technische mehr und mehr invasiv erfahrbar199, zum anderen findet eine zunehmend wahrnehmbare Kompetenzübertragung vom Menschen auf die Technik statt. Negativer formuliert das Sick: Für sie bezeugen diese Kompetenzverschiebungen Amputationen; Amputationen durch technische Folgeerscheinungen wie die abnehmende Dauerhaftigkeit der Speichermedien, Amputationen durch – ähnlich wie bei Stiegler – die Digitalisierung der Schrift und Amputationen durch eine zunehmende Abhängigkeit des Gedächtnisses und damit der Erinnerung von Computern.200 Damit schlägt diese Kurzgeschichte technischer (R)Evolutionen einen Bogen von einer Organologie Kapps, in der einzelne Maschinen organische Entäusserungen darstellen und die mit der ersten Phase der Kybernetisierung intelligent genug gemacht werden, diese einzelnen technischen Organe selbstständig zu steuern, hin zu einer Leroi-Gourhan drei Arten des Gedächtnisses: Das Artgedächtnis, das Individualgedächtnis und das epiphylogenetische Gedächtnis: „Ich nenne es so, weil das dritte Gedächtnis das Produkt individueller Erfahrung, die man epigenetisch nennt, und zugleich ein phylogenetischer Träger ist.“ (Stiegler 2009a: S.53); Anmerkung 2: In Anlehnung an Husserls Begriff der Retention bezeichnet Stiegler technische Gedächtnismedien als tertiäre, orthothetische Retentionen. Sie umfassen das Aufzeichnen, Speichern etc. von Information in ein technisches Medium und damit das was in dieser Arbeit unter >hypomnésis< verstanden wird. Tertiäre Retentionen können, müssen aber nicht orthothetisch sein (Stiegler 2009a: S.77). Das gilt prinzipiell für alle Ausprägungsformen des technischen, epiphylogenetischen Gedächtnisses über die Zeit und untermauert damit den bereits einleitend gesetzten konstitutiven Charakter von hypomnésis für anamnésis. Die besonderen technischen Ausprägungsformen um 2000, geprägt durch eine globale Ausbreitung und eine technische Genese in Richtung Kybernetisierung, Digitalisierung etc. führen, so Stiegler, zu einer Verschärfung der gegenwärtigen Krise und d.h. zu einer Industrialisierung des Gedächtnisses, zu einer Ausbeutung der tertiären Retentionen (Stiegler 2009a: S.102) und in der Folge zu Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse in Richtung >Entmeinschaftung< und Entpolitisierung (Stiegler u.a. 2009c: S.130f.). Indem die Technik in Form eines nun exzessiv industrialisierten technischen Gedächtnisses massiv auf individuelle und kollektive Prozesse einwirkt, kann sie für Stiegler nicht mehr nur als Entäusserung des Menschen in seine Umwelt gesehen werden, sondern muss als eine „Re-Interiorisierung der technischen Exteriorisierung des Menschen“ (Stiegler 2009c: S.99, eigene Übersetzung) betrachtet werden. 199 Ausführungen zur invasiven Technik siehe auch Böhme (2008). 200 Sick (2004), S.7, S.14, S.24. 67 grundlegenden Entäusserung des Menschlichen ins Technische, die bisher dem Menschen zugedachte Kompetenzen nun zunehmend auf Maschinen übertragen: Die Kette reicht also von Exteriorisierungen einer positiven Organologie um 1900 bis hin zu Interiorisierungen und Amputationen um 2000. Technisch zeigt sich diese Welt um 2000 als voll ausgeprägte Netzwerkgesellschaft, die in den unterschiedlichsten infrastrukturellen Dimensionen auf Verbundenheit abzielt. Gesellschaft und ihre technischen Objekte werden mithin erst möglich durch ein >Angeschlossen-Sein< an die infrastrukturellen Netze. >Angeschlossen sein< ist dann nicht nur eine Entscheidung, es ist überhaupt die Bedingung des Seins.201 Die Maschinen dieser Netzwerklogik heissen im weitesten Sinne auf Digitalbasis funktionierende Computer und verleihen der massiven Ausbreitung technischer Objekte ein einprägsames Gesicht. Verbunden werden damit aber nicht nur Menschen und Maschinen unter- und miteinander, verbunden werden zunehmend auch die um 1900 noch streng separierten Datenflüsse von Optik, Akustik und Schrift202. Ein Integrated Services Digital Network macht Fernsehen, Telefonieren und Radiohören aus einer Hand möglich und damit die dafür bisher vorgesehenen, singulären Endgeräte Fernseher, Telefon, Radio obsolet. Die technischen Grundlagen dafür liegen u.a. in der nun zur Verfügung stehenden Lichtgeschwindigkeit für Übertragungen sowie in einer wirtschaftlich und technisch attraktiv gewordenen Mikroelektronik, die nach ihrem Credo – >small is beautifull< – >largescale-integration< von >very< bis >giant<203 laufen lässt und so Hochleistungsrechenmaschinen in Hosentaschenformat die Welt erobern können. Vor und hinter diesen Maschinen sitzen (bisweilen) auch Menschen. Sie geben Steuerungsanweisungen oder erhalten solche, Kommunikation und Steuerung hat sich daher um 2000 signifikant verändert. Sie läuft nun nicht mehr als Abfolge im Sinne einer Mensch-Maschine-Maschine-Kette, sondern als multidirektionales Kommunikations- und Steuerungsnetzwerk, an das sich der Mensch ankoppelt und im selben Masse Rückkopplung wiederfährt. 201 Vgl. auch Böhme: „[D]ie Zugehörigkeit des Einzelnen zum Ganzen [ist heute] auch durch sein Teilnehmer- oder Anschlusssein im System der technischen Infrastruktur bestimmt.“ (Böhme 2008: S.205). 202 Kittler (1986), S.8. 203 Large-Scale-Integration steht in der Mikroelektronik für die Anzahl von Transistoren auf einem Schaltkreis / Chip und damit für die Rechen- / Leistungsstärke. Die unterschiedlichen Stufen der Transistorenintegration werden mit „very“, „ultra“ etc. beschrieben. (u.a. Ratzke (1984), S.24.). 68 Das hat Folgen für hypomnésis insgesamt: Eine derartige technische Zäsur um 2000 führt mit den hier vorerst nur skizzierten Änderungen zu radikal geänderten Anforderungen und Möglichkeiten des Gedächtnisses und der Erinnerung. Für das zunächst mechanisierte (um 1900), dann kybernetisierte (um 1950) und schliesslich um die Möglichkeiten vollkommener Vernetzung und Digitalisierung erweiterte technische Gedächtnis gilt das gleiche wie für die Technik im Allgemeinen: Je nach Interpretation der Lage steht hypomnésis um 2000 für Gedächtniszäsur, Gedächtnisamputation oder Gedächtnisindustrialisierung204, in jedem Falle aber für einen technologischen und sinngeschichtlichen Entwicklungsstand jenseits vormalig dominanter Mechanismen der Schreib- und Buchkultur. 3.2 Hypomnétische Konfigurationen der Gegenwart Die skizzierten technologischen Entwicklungen seit ~1900 und damit die Bedingungen für die Herausbildung eines neuen technologischen Horizonts um 2000 haben bereits erste Aspekte für neue Beschreibungselemente aufgezeigt. Die folgende detaillierte Darstellung technischer Konfigurationen setzt darauf auf und stellt die Analyse gegenwärtiger (Gedächtnis-)Medien, insbesondere das Gedächtnismedium namens Computer, in den Fokus. Mindestens der erste Begriff birgt dabei einiges an Unklarheiten und auch das Verhältnis von Computern zu technischen Medien ist damit noch nicht bestimmt. Weitere in diesem Zusammenhang bereits verwendete Begriffe wie >Digitalität< sind nicht minder schwierig in ihrer Anwendung. Für das Aufzeigen aktueller technischer Eigenschaften sollten daher zunächst die Begriffe ein wenig geordnet werden. Die Beschreibung der technischen Gegenwart umfasst daher im Folgenden die begriffliche Einordnung >neuer Medien< sowie der Begriffe >analog< und >digital<, um anschliessend auf dieser Grundlage hypomnésis entlang der nachfolgend einzuführenden Beschreibungskategorien >Hardware< und >Software< zu analysieren. Ziel ist es, mit dieser Darstellung eine Beschreibungs- und Reflexionsgrundlage für das Erinnerungsmodell von J. und A. Assmann und für mögliche Ausprägungen von Erinnerungskulturen zu generieren. 204 Wie gesehen bei Sick, Stiegler etc. (vgl. vorgängige Beschreibungen in diesem Abschnitt). 69 Verständnisgrundlage: Neue (?) Medien (?) Grundsätzlich – das wurde bereits einleitend gesetzt205 – soll sich also im Folgenden auf diejenigen technischen Medien konzentriert werden, die ihren Gegenwartbezug gern unter dem Begriff der >neuen Medien< herausstellen. Was ist damit gemeint? Das Attribut >neu< verweist zunächst auf den zeitlichen Aspekt und meint die Fokussierung auf technische „Verfahren und Mittel (Medien), die mit Hilfe neuer oder erneuerter Technologien neuartige […] Formen von Informationserfassung und Informationsbearbeitung, Informationsspeicherung, Informationsübermittlung und Informationsabruf ermöglichen […]“ (Ratzke 1984: S.16). Das Zeitattribut >neu< steht also prinzipiell für aktuelle technische Standards einer jeweiligen technischen Gegenwart, bezieht sich aber im heutigen Sprachgebrauch mehrheitlich auf Standards und Ausprägungen um 2000, von denen einige bereits in Begriffen wie >digitale Speicherung<, >digitale Übertragungstechnik< oder >Hypermedia< benannt worden sind. Damit ist grob umfasst, wofür das >neu< im Begriff der >neuen Medien< steht – es bleibt dann noch der Begriff >Medium<. Die Zahl der theoretischen Modellierungen und Publikationen rund um den Begriff >Medien< bzw. >Medium< ist mindestens ebenso reichhaltig wie die in der Einleitung bereits erwähnte Publikationsfülle zum Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs. Neutral betrachtet gibt das zumindest einen ersten Hinweis auf die Relevanz dieser Begriffe für die Ausprägung von Gegenwartskultur, in der Medien als „Signatur des gegenwärtigen Zeitalters“ (Schanze zitiert nach Roesler / Stiegler 2005: S.153) betrachtet werden. Für eine erste Annäherung an den Begriff kann wieder die Etymologie des Wortes hilfreich sein: Das Medium bezeichnet demnach etwas in der Mitte liegendes, etwas als Vermittler fungierendes.206 Für den Medientheoretiker Hartmann sind Medien daher „Übersetzungsinstanzen für Erfahrungsformen und Weltbilder. Ihre Technologie ist variabel, vom Wort über die Schrift bis zu den Apparaten und den Programmelementen, aus denen diese zusammengesetzt sind.“ (Hartmann 2003: S.143) In der Kombination dieser Art von Mediendefinition und dem Zeitattribut >neu< ergeben sich für Hartmann dann auch neue Anforderungen für ein Denken, das neue Formen der Rezeptionshaltung, der Darstellungsform, der Erkenntnistheorie etc. 205 206 Siehe Abschnitt 2.2. Roesler / Stiegler (2005), S.150. 70 betrifft.207 Obwohl Hartmann hier explizit von >Medien< spricht, hat er doch einen Unterschied eingeführt – einen Unterschied zwischen dem Begriff >Medium< als prinzipielle Übersetzungsinstanz im Sinne eines Vermittlers und >Medien< als konkrete (technische) Realisationsformen, die als je spezifische Übersetzungsinstanzen fungieren. Medien bezeichnen demnach immer schon bestimmte Konkretisationen medialer Vermittlung, während das Medium eine noch nicht näher bestimmte, allgemeine Vermittlungsinstanz darstellt. Übersichten zu weiteren (auch historischen) Definitionen finden sich u.a. in Roeslers und Stieglers Grundbegriffe der Medientheorie.208, 209 Sie differieren je nach theoretischem Ansatz zur Medienforschung über die Zeit. Die von Grampp vorgeschlagene evolutionäre Reihenfolge der medienwissenschaftlichen Forschung – von der Medientheorie der 1940er Jahre über die Medienontologie der 1980er Jahre hin zu den Medialitätstheorien der Gegenwart – spiegelt die unterschiedlichen Ansätze und ihre inhärenten Begriffsbestimmungen für das 20. Jahrhundert anschaulich wider.210 Roesler und Stiegler konstatieren aber, dass trotz der Vielschichtigkeit und Bedeutungsdifferenzen in den einzelnen Ansätzen ein gemeinsamer definitorischer Kern für die Begriffe >Medium< und >Medien< bestimmt werden kann211: „Nimmt man […] einige zentrale Definitionen, so zeigt sich, daß die „grundlegendste Definition des Mediums“ die des „Dazwischen“ […] ist: Zeichen und Medien eröffnen 207 Hartmann (2003), S.146. Roesler / Stiegler (2005), S.150ff. Für den Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs hervorzuheben wäre in diesem Zusammengang auch der von Schmidt konzipierte Medienbegriff, der insbesondere verschiedene Aspekte der Konkretisation medialer Vermittlung klarer zu benennen versucht. Sein Medienbegriff, der im deutschsprachigen Diskurs häufige Anwendung findet, leitet sich aus der Vorstellung ab, dass es sich bei Medien um einen Kompaktbegriff handelt, der vier Dimensionen umfasst. Zu diesen Dimensionen gehören alle semiosefähigen Kommunikationsinstrumente (1), also Sprache, Bilder, Töne etc., die dauerhaft Sinn produzieren können, technischmediale Dispositive (2), gesellschaftliche Institutionalisierungsformen zur Durchsetzung und Herausbildung einer Medientechnologie (3) sowie die aus den ersten drei Dimensionen resultierenden Medienangebote (4). (vgl. Schmidt (2000), S.93ff.). Anwendung findet dieser Medienbegriff beispielsweise bei Erll: Sie erweitert Schmidts Medienbegriff auf einen (erinnerungs-)politischen Kompaktbegriff, bei dem sie zusätzlich zwischen einer materialen und sozialen Dimension der einzelnen Aspekte des Medienkompaktbegriffes bei Schmidt unterscheidet (vgl. Erll (2011), Kapitel V „Medien und Gedächtnis“, insbesondere S.144ff.). Zierold wiederum übernimmt Schmidts und Erlls Ausführungen, um daraus eine weitere erinnerungsorientierte Perspektive auf den Begriff Medium abzuleiten (vgl. Zierold (2006), Kapitel „Medien und gesellschaftliche Erinnerung“, insbesondere S.161ff.). 210 Grampp (2008), S.44f., vergleiche auch Abschnitt 2.2.2. 211 Roesler / Stiegler (2005), S.153. 208 209 71 ein Spektrum von Differenzen: Medien sind Unterscheidungen, die einen Unterschied machen. Wo es Medien gibt, muß es Distanz gegeben haben. Medien stellen einen Spielraum von möglichen Formbildungen dar.“ (Roesler / Stiegler 2005: S.153) An diesen terminologischen Grundfesten setzt auch Debrays Definition des Mediums an, das bei ihm zunächst und vor allem ein Mittler ist: „Das Medium ist weder eine Sache noch eine zählbare Kategorie von Objekten, die von weitem und mit bloßem Auge mit einer Etikette versehen werden könnten. Es ist ein Platz und eine Funktion in einem Beförderungsdispositiv. […]. A dient B als Medium, wenn A durch B geschieht, und es entwickelt seine Wirkungen durch seine Mittlerposition.“ (Debray 2003: S.149) Dieses als Mittler fungierende Medium besteht aus zwei Dimensionen – Debray nennt es den Doppelkörper des Mediums212. Die erste Dimension definiert das Medium in seinen materiellen, d.h. insbesondere technischen Aspekten. Dazu gehören beispielsweise Art und Weise des physischen Speichermediums oder die verwendeten semiosefähigen Kommunikationsinstrumente (Sprache, Bilder, Töne etc.213). In Summe entspricht diese technisch artikulierte, nach aussen sichtbare Seite des Mediums der >organisierten Materie< eines Mediums. Sie erzeugt die Speicherapparatur des Übermittlungsprozesses.214 Die zweite Dimension spiegelt die >materialisierte Organisation< des Mediums wider. Hierbei handelt es sich um die Möglichkeiten zur Verwendung und Durchsetzung eines Mediums auf Basis organisatorischer, institutioneller und strategischer Gegebenheiten bzw. vorhandener und / oder zu entwickelnder Infrastrukturen.215, 216 Jedwede Konkretisation, Funktionalisierung und Durchsetzung einer Technik als Medium und das heisst als Träger eines Symbols, einer kulturellen Nachricht etc. wird immer erst durch die Analyse beider Dimensionen vollständig beschrieben. Es sind 212 Debray (2003), S.149. Definition >semiosefähiger Kommunikationsinstrumente< nach Schmidt, vgl. Schmidt (2000), S.94f. Debray (2003), S.150. Damit umfasst diese Dimension ungefähr die bei Schmidt definierten Dimensionen (1) Semiosefähige Kommunikationsinstrumente und (2) technisch-mediale Dispositive. 215 Debray (2003), S.149f. Hiermit ist sicher auch die dritte Dimension bei Schmidt (gesellschaftliche Institutionalisierungsformen) bei Debray integriert. 216 Vgl. auch Debray: „Der Doppelkörper des Mediums entspricht den beiden Seiten eines Übermittlungsprozesses: der logistischen und der strategischen. […] Technê und praxis bedingen sich gegenseitig. Ihre Kombination macht aus einem Sinn, der sein Ziel erreicht, das Amalgam einer toten Arbeit – des materiellen Trägers – und einer lebendigen Arbeit – der institutionellen Adressierung.“ (Debray 2003: S.150f.). 213 214 72 diese zwei Hälften des Programms217 – techné und praxis –, die programmatisch für kulturelle Ausprägungen sind, Spannungen mit inbegriffen. Hypomnésis und anamnésis nenne ich die gedächtnisdiskursiven Spiegelbilder dieses zweidimensionalen Programms: Hypomnésis übersetzt allgemein gefasste techné des Mediums in die Möglichkeiten und Ausprägungen eines technischen Gedächtnisses und d.h. in eine technisch exteriorisierte Materie. Sie ist, wie einleitend in Anlehnung an Stiegler bestimmt, die Grundlage für die materialisierte Organisation und damit – bezogen auf den Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs – für anamnésis.218 Das heisst jedoch nicht, dass hypomnésis und techné bzw. technisches Medium im Begriff der organisierten Materie zusammenfallen, vielmehr sind Technik und technisches Medium die Grundlage für hypomnésis und damit für eine Ver- bzw. Übermittlung kultureller Symbolik. Wenn im Folgenden daher von neuen oder technischen Medien gesprochen wird, wird in Anschluss an Debrays Begriffsdefinition von >Medium< also zunächst nur eine Dimension des Mediums in ihrer gegenwärtigen Ausprägung betrachtet: Die Dimension der organisierten Materie und damit bezogen auf den Gedächtnisdiskurs technische Medien der Gegenwart.219, 220 Derart definierte Medien prägen unterschiedliche Medienepochen, die die im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigte, allgemeine technische Entwicklung als Technogenese221 in eine explizite Mediengenese übersetzen und im medienwissenschaftlichen Umfeld nicht mehr unbedingt Mechanisierung, Kybernetisierung etc. genannt werden, sondern sich in der Namensgebung an den dominanten Medientechniken orientieren. Debray unterteilt daher folgende vier Mediensphären: Ur-Mnemosphäre 217 Debray (2003), S.157. Hierzu bei Debray: „[W]eil die soziale Beziehung selbst (ohne ihr Wissen) von einem bestimmten Träger induziert wird.“ (Debray 2003: S.156). 219 Im anschliessenden Kapitel 4 wird sich mit der >praxis<, der >materialisierten Organisation< und d.h. bezogen auf den Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs mit anamnésis als kultureller Erinnerungspraxis anhand des Modells von J. und A. Assmann befasst. 220 Damit würde zunächst die „amerikanische Linie“ (Debray 2003: S.156) im Vordergrund stehen, bevor sich im nächsten Kapitel der europäischen Linie gewidmet wird. Denn nach Debray gibt es derzeit kontinental zurechenbare Präferenzen für den Doppelkörper des Mediums, nach denen Amerika der technischen Dimension zugewandt ist und Europa kulturelle Praxis vor allem unter dem manipulativen Charakter technischer Medien bewertet. Eine Aussage, die mit der eingangs erwähnten Vorliebe für technisch-medial bedingte Krisen im europäischen Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs korrespondiert, nicht jedoch mit dem spezifisch materiell-technisch fokussierten Mediendeterminismus insbesondere europäischer Medienontologen. (Vgl. auch Debray (2003), S.156). 221 Ich übernehme den Begriff von Hayles (2011), u.a. S.195. 218 73 (ausschliesslich mündlich tradierende Gesellschaften), Logosphäre (Dominanz des Wortes, bei gleichzeitiger Herausbildung der Schriftkultur), Grafosphäre (Dominanz der Bücher) und Videosphäre (Aufhebung des Schriftmonopols und Dominanz von Bild- und Tontechniken)222, durch Merzeau ergänzt um die aktuell vorherrschende Hypersphäre (Dominanz des Digitalen)223. Bezogen auf die gesetzte zeitliche Fokussierung ist das letzte Jahrhundert dann geprägt durch einen Übergang von der Grafobis zur Hypersphäre, wobei eine genauere zeitliche Zuordnung der Zeit um 1900 bis 1950 den Übergang von der Grafo- zur Videosphäre und der Zeit von um 1950 bis 2000 den Übergang von der Videosphäre zur Hypersphäre zuordnen würde. Strukturierungsgrundlage: Beschreibungskategorien für hypomnésis Je nach Perspektive – allgemein technisch oder spezifisch medientechnisch – können die Entwicklungen demnach in verschiedene Epochen, Sphären, Brüche etc. eingeteilt werden, die letztlich jedoch alle gleichermassen auf signifikante Veränderungen technisch-medialer Dispositive hinweisen und Relevanz für kulturell-gesellschaftliche Ausprägungen haben. Die Beschreibung technischer Medien für hypomnésis der Gegenwart soll daher einer Strukturierung und Terminologie folgen, die den aktuellen Beschreibungskategorien gerecht wird und gleichzeitig integrativ für technische Medien vergangener Epochen wirkt. Hierfür schlage ich eine Unterscheidung in die Beschreibungskategorien >Hardware< und >Software< vor, wobei ich beide Begriffe deutlich weiter fasse als damit verbundene heutige Bedeutungsvorstellungen.224 Vielmehr verstehe ich beide Begriffe als Integrationsfolie, vor deren Hintergrund eben nicht nur gegenwärtige und d.h. vor allem computerbezogene Speicherelemente oder Anwendungsprogramme, sondern auch zeitlich vorgelagerte Medientechniken eingeordnet werden können. Abbildung 1 zeigt die hier vorgeschlagene Strukturierung mit beispielhafter Zuordnung verschiedener (Medien-)Techniken über die Zeit. 222 Debray (2003), S.57ff. Merzeau (2008), S.111ff.; insb. S.115. 224 Diese Strukturierung findet sich zumindest in der engeren Bedeutungsvorstellung, und d.h. für Beschreibungen gegenwärtiger Technologien, insbesondere auch bei Vertretern der Medientheorie und Informatik. (U.a. Kittler (1998), Sick (2004)). 223 74 Der Begriff >Hardware< verweist schon mit seiner ursprünglichen Bestimmung als >Eisenware< auf den physischen Aspekt und „verdeutlicht, dass es sich bei der Hardware um die physikalisch materiellen Teile und damit um unveränderbare Komponenten […] handelt“ (Claus / Schwill 2006: S.289). Damit können unter einem weiter gefassten Begriff >Hardware<, der sich nicht nur auf moderne Computertechnologie bezieht, alle diejenigen Aspekte technischer Medien subsumiert werden, die sich als materielle Erscheinungsformen in technischen Objekten exteriorisiert und sichtbar gemacht haben.225 Abbildung 1: Strukturierungselemente für hypomnésis und beispielhafter Überblick epochaler Entwicklungen (Quelle: eigene Darstellung) In Anlehnung an die (in Abstufungen) für Computer bis heute gültige Von-NeumannArchitektur schlage ich für eine weitergehende Betrachtung vor, die – nun allgemeiner gefasste – Hardware-Seite nachgelagert in Verarbeitungs- und Peripherieelemente zu differenzieren (Abbildung 1, linke und mittlere Spalte). Die von Von-Neumann übernommene Terminologie wird gleichermassen derart erweitert, dass sie auf die Hard- 225 Gärtner (2013), S.157. 75 ware aller Medien- und damit Gedächtnisepochen angewendet werden kann. Ein kleiner Exkurs zum Aufbau der Von-Neumann-Architektur soll diese Erweiterung veranschaulichen: Von-Neumann hatte bereits in seinem ersten EDVAC-Entwurf 1945 (First Draft of a Report on the EDVAC226) ein Konzept zur grundlegenden Realisierung universeller Rechenmaschinen formuliert. Darin unterschied er fünf Funktionseinheiten von Computern: Rechenwerk, Steuerwerk, Speicher, Ein- und Ausgabewerk.227 Der Von-Neumann-Logik zur Folge erhält das Rechenwerk aus dem Steuerwerk alle notwendigen, einer externen Programmierung folgenden Inputparameter für arithmetische und logische Operationen, die es auszuführen hat.228 Das Steuerwerk dient vor allem dem Laden, Decodieren und Interpretieren der aus dem Speicher kommenden Befehle zur Weitergabe an das Rechenwerk.229 In heutigen Computern werden Rechen- und Steuerwerk in der Zentraleinheit230 abgebildet. Der Speicher umfasst schliesslich alle Befehle und Daten, die vom Steuer- und Rechenwerk zum Prozessieren des gewünschten Outputs notwendig sind. In dieser Von-Neumann-Terminologie sind mit einem derartigen Speicher jedoch keine Speicher im Sinne von Festplatten, CD-ROMs etc. gemeint, es handelt sich lediglich um Speicher mit direkten Zugriffsmöglichkeiten auf die aktuell benötigten Programme etc. im Sinne eines Arbeitsspeichers (z.B. RAM). Alle weiteren Speicherarten (eben jene besagten Festplatten etc.) zählen zur Speicherperipherie und stellen damit technische Elemente der gesamten Ein- und Ausgabeperipherie dar.231 Sie sind die >Organe<, mit deren Hilfe die Mensch-Maschinen-Kopplung aufrecht erhalten bleibt, während Steuer- / Rechenwerk und (Arbeits-)Speicher zwar von aussen über Programme steuerbare Gehirne darstellen, um dann sogleich unabhängig zu prozessieren.232 226 Vgl. Neumann (1945). Neumann (1945), S.1ff.; Claus / Schwill (2006), S.732. (Funktionseinheiten bei Neumann: Rechenwerk = CA: central artithmetical part; Steuerwerk = CC: central control; Speicher = M: memory; Ein- und Ausgabewerk = I/O: input / output). 228 Claus / Schwill (2006), S.557. 229 Claus / Schwill (2006), S.655. 230 Zentraleinheit = CPU: Central Processing Unit. 231 Neumann (1945), S.3.; Claus / Schwill (2006), S.496. 232 Vgl. auch Neumann: „The three specific parts CA, CC (together C) und M correspond the associative neurons in the human nervous system. It remains to discuss the equivalents of the sensory or afferent and the motor or efferent neurons. These are the input and the output organs of the device […].” (von Neumann 1945: S.3). 227 76 Abstrahiert man diese Von-Neumann’sche funktionale Einteilung mit Hinblick auf eine alle Medientechnikepochen umfassende Anwendung, so lassen sich Steuer- / Rechenwerk und (Arbeits-)Speicher zusammenfassen als hardwareseitige Verarbeitungselemente, die ergänzt werden durch verschiedene Arten von Peripherieelementen, zu denen dann auch die für die diachrone Übermittlung wesentlichen Permanentspeicher zur Ausprägung von Erinnerungskultur zu zählen sind (Abbildung 1, linke und mittlere Spalte). Zu den hardwareseitigen Verarbeitungselementen zählen in dieser weiter gefassten Bedeutung somit auch menschliche Gehirne oder mechanische Maschinen. Menschliche Hände, Federkiele oder Lochkarten sind in dieser Perspektive Beispiele für Peripherieelemente. Damit sind die Beschreibungskategorien für die Hardware-Seite definiert – jede Hardware braucht jedoch auch Software: Der Term >Software< wurde, so nachzulesen bei Buchholz, in seinem heutigen Sinne erstmals von John W. Tukey eingeführt.233 In seinem 1958 publizierten Artikel The Teaching of Concrete Mathematics schreibt er: „Today the “software” comprising the carefully planned interpretive routines, compilers, and other aspects of automotive programming are at least as important to the modern electronic calculators as its “hardware” of tubes, transistors, wires, tapes, and the like.” (Tukey, zitiert nach Buchholz 2000: S.69). Als Kontrastierung zum bereits etablierten Hardware-Begriff sucht und findet Tukey einen Terminus (>Software<), der auf die nicht-materiellen, deswegen aber nicht minder wichtigen Aspekte von Computertechnologie abzielt. Er wird sich durchsetzen und bezeichnet im gegenwärtigen Sprachgebrauch allgemein alle Arten von Programmen und Prozeduren, die für die Inbetriebnahme eines Computers notwendig sind und mit deren Hilfe der gewünschte Output erzeugt werden kann. Software wird dabei heute typischerweise weiter differenziert in Systemsoftware, d.h. insbesondere alle Arten von Betriebssystemen, und Anwendungssoftware, die die gewünschten Funktionalitäten zur Verfügung stellt.234 Computersoftware nimmt im Rahmen der Technogenese einen zentralen Platz ein und ist heute bisweilen vor allem wirtschaftlich interessanter geworden als die damit arbeitenden Hardwarekomponenten, womit sich 233 234 Buchholz (2000), S.69. Claus / Schwill (2006), S.620. 77 Tukey‘s 1958 formulierte Einschätzung zum Stellenwert der Software als richtig erwiesen hat. Aufsetzend auf dieser durch Tukey initiierten Begriffsbestimmung soll Software daher als Gegenbegriff zur Hardware im Folgenden die nicht-materielle Ausprägungsform technischer Medien umfassen, die jegliche Art von Programmen und verwendeten semiosefähigen Kommunikationsinstrumenten einschliesst (Abbildung 1, rechte Spalte). Eine derartige Strukturierung von hypomnésis in weiter gefasste Hardware- und Software-Begriffe lässt sich inhaltlich auf unterscheidbare Medien- und damit auch Gedächtnis- und Erinnerungsepochen anwenden. In Abbildung 1 sind beispielhaft einige Hard- und Softwareentwicklungen dargestellt. Sie reichen von >integrativer< Hardund Software in Form menschlicher Ritenträger, über mechanische Verarbeitungsmaschinerien zur Herstellung kulturell übertragbarer Signifikanten in Form von Büchern bis hin zu digitalisiert speicherbaren Schriften, Bildern, Tönen. Sie reicht weiterhin vom Gramma235 zum Programm, von natürlichen zu künstlichen Sprachen, von der Analog- zur Digitalschrift etc. Anhand solcher Entwicklungen können im Anschluss verschiedene Epochen abgetragen werden, wie sie beispielsweise von Debray in Form der bereits benannten Logo-, Grafo- und Videosphäre definiert wurden. Es sind die jeweils dominanten Techniken, die sich in ihnen widerspiegeln, ohne dabei die vorangegangenen Medientechniken verschwinden zu lassen. Sie bleiben erhalten, werden aber gemäss Debray in neue Verhältnisse unter der Vorherrschaft des nun dominierenden Mediums gesetzt.236 Das dominante und im Sinne Debray’s leistungsfähigste technische Medium der Gegenwart, das die anderen technischen Medien orientiert, ist der seit den 1950iger Jahren vermehrt aufkommende Maschinentypus namens Computer. Er ist damit sowohl Modell für die vorgenommene Strukturierung von hypomnésis in Hardware und Software, als auch Träger hypomnétischer Hard- und Software der Gegenwart. Die von Merzeau in Fortführung von Debray’s Mediensphären formulierte Hypersphäre manifestiert sich in der binären Rechenlogik digitaler Computer und der netzwerkbasier- 235 236 In Anlehnung an Derrida (1983). Debray (2003), S.60. 78 ten Kommunikation zwischen ihnen. Die folgende Betrachtung über die Konfigurationen hypomnétischer Gegenwart konzentriert sich daher auf digitale Computertechnik als zentrales technisches Medium der Gegenwart. 3.2.1 Analog / 01100100 01101001 01100111 01101001 01110100 01100001 01101100 00001101 00001010237 Digitale Computertechnik markiert wiederum eine Unterscheidung. Sie zieht die Grenze zwischen etwas, was digital arbeitet und – als Gegenbegriff dazu – analog prozessiert. Ersteres ist im Begriff derzeitigen Signifikantenaustausch zunehmend zu realisieren. Das führt nicht nur zu einem inflationären Gebrauch der damit zusammenhängenden Begriffe wie >das Digitale<, >Digitalität< etc., sondern auch zu vielfältigen Verwendungsweisen, die das Digitale, ähnlich wie den Medienbegriff, zunehmend schwieriger erscheinen lassen, wenngleich es sich technisch um eine eindeutig bestimmbare Terminologie handelt. Denn heute reichen die Begriffe des Digitalen weit über eben jene technischen Beschreibungsebenen hinaus und stehen mittlerweile für ein viel umfassenderes, allgemeines Kulturphänomen, wie Hartmann aufzeigt.238 Das führt zu begrifflichen Unsicherheiten und insbesondere im Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs auch zu Fehleinschätzungen: Fehleinschätzungen zu Ausprägungen der Erinnerungskultur und daraus resultierenden Krisenszenarien, die aus begrifflichen Unschärfen oder fehlerhaften begrifflichen Gleichsetzungen folgen, wie etwa die synonyme Verwendung der Begriffe Digitalität und Internet oder Digitalität und Elektronik bzw. Elektrik.239 237 01100100 01101001 01100111 01101001 01110100 01100001 01101100 00001101 00001010 entspricht einem möglichen Binärcode für das Wort >digital< im ASCII-Code (Windows Applikation). 238 Hartmann (2003), S.129. 239 Es finden sich u.a. bei A. Assmann derartige Gleichsetzungen z.B. für Elektronik und Digitalität (vgl. u.a. Assmann (2001)). Auf derartige Unschärfen, gerade auch im deutschsprachigen Diskurs rund um das kulturelle Gedächtnis und spezifisch bei A. Assmann haben u.a. Sick und Zierold hingewiesen. (Vgl. Sick (2004), S.4ff. und Zierold (2006), S.93). Sick schreibt mit Bezug auf A. Assmann beispielsweise: „Sie führt das Risiko des Gedächtnisverlusts auf die Vergänglichkeit des elektrischen Signals zurück. Was aber hat ein hoch komplexes Gerät wie ein Computer mit planer Physik zu tun? Die Systemkomponenten, die im Computer funktional auf der physikalischen Eigenschaft des Elektrischen aufsetzen, sind durchgängig solche der Datenverarbeitung und -übermittlung, nicht jedoch solche der Datenspeicherung, und das heißt des Gedächtnisses.“ Sick 2004: S.4). 79 Zu sagen, was das Digitale synonym verwendet nicht ist – Elektronik, Internet etc. –, ist das eine, was dann noch fehlt, ist die Benennung dessen, was es ist, um das Adjektiv >digital< im Begriff digitale Computertechnik als zentrales technisches Medium hypomnétischer Gegenwart bestimmen zu können. Sick stellt in diesem Zusammenhang klar, „[w]enn wir über das Digitale reden, reden wir über Computersysteme“ (Sick 2004: S.3.). Das ist sicher richtig, wenngleich Hartmann präzisiert, dass eine Umkehrung dieser Aussage nicht möglich ist: „Computer müssen nicht notwendig digital sein“ (Hartmann 2003: S.124). Das zeigten bereits die Vorgänger heutiger digitaler Computertechnik wie z.B. der Leibniz’sche Dualrechner und Konrad Zuses 1937 entwickelter Binärrechner Z1240, die noch mechanisch rechneten, wenn auch schon unter Verwendung von Binärzeichen. Das Digitale ist demnach mehr als blosse Reduktion beispielsweise des Dezimalsystems auf ein Dual- / Binärsystem. Es muss noch ein bisschen mehr hinzukommen, um vom digital operierenden Computer im heutigen Sinne sprechen zu können. Dieses >bisschen< hat u.a. Hartmann vor dem Hintergrund seiner geschichtlichen Entwicklung benannt: Die Realisierung und Funktionalisierung gegenwärtiger Digitaltechnik wurde erreicht durch die Verknüpfung binärer Arithmetik mit Turings 1936 geführten mathematischen Beweis für die Zerlegung, Algorithmisierung und durch eine Maschine ausführbaren Rechenschritte, weiterhin mit der Anwendung der Booleschen Algebra auf binäre Systeme sowie mit der Möglichkeit, Berechnungen mittels elektronischer Schaltkreise durchzuführen.241 In der terminologischen Konsequenz heisst das, dass man vom Digitalen erst dann sprechen kann, „wenn binäre Arithmetik elektronisch geschaltet wird“ (Hartmann 2003: S.124). Damit werden von Hartmann gleichzeitig die zwei Ebenen benannt, auf denen das Digitale angesiedelt ist: Auf der Darstellungsebene bedeutet Digitalität, Sinn in ein für die Informationsverarbeitung und -übertragung äusserst effizientes System von Nullen und Einsen – die zwei Zeichen des Binärsystems – zu übersetzen. Die daraus resultierende Masseinheit dieses Informationssystems – Bit (binary digit) –, verweist 240 241 Hartmann (2003), S.123f. Hartmann (2003), S.124ff. 80 dann gleichzeitig auf die zweite, die physikalische Ebene.242 Auf dieser bedeutet Digitalität beispielsweise einen Wechsel zwischen gehaltenen Spannungszuständen, die die Binärziffern repräsentieren, wie etwa 0 bis 0,4 Volt als physikalische Repräsentation der Null und 2,4 bis 5,0 Volt als physikalische Repräsentation der Eins. Digitales Arbeiten auf der physikalischen Ebene heisst dann Aneinanderreihung verschiedener Schaltzustände (z.B. niedrigere und höhere Spannung) oder präziser, das Springen von einem Schaltzustand zum nächsten, womit man bei diskreter Informationsverarbeitung angelangt wäre. Grundlage dieser diskreten Informationsverarbeitung – auch darauf hat u.a. Hartmann verwiesen – ist jedoch eigentlich wieder eine analoge Arbeitsweise: Eine Ziffer wird durch ein stetige Spannung repräsentiert. Erst das Springen zwischen diesen Schaltzuständen und vor allem die Codierung von Sinn in Binärzeichen auf der Darstellungsebene definieren das eigentlich Digitale.243 Aus dem derart gefassten Begriff des Digitalen lässt sich nun auch die Abgrenzung zwischen dem Analogen und Digitalen bestimmen: Die Herausbildung der terminologischen Unterscheidung zwischen beiden Begriffen zeigt sich bereits in deren ursprünglichen Bedeutungen: Während >analog< von seinem griechisch-lateinischen Ursprung her für >das Ähnliche< steht und damit auf die Kontinuität des darauf basierenden technischen Signals verweist, bedeutet das lateinische >digitalis< eine mittels Fingerzählung durchführbare Berechnung.244 Eine derartige Berechnung steht bei Vollbesitz aller organischen Fingerextremitäten für Rechenoperationen im dekadischen System, wobei von einem Finger zum nächsten springend gezählt wird.245 Und wo gesprungen wird, da wird auch übersprungen, d.h. zeit- und wertdiskret vorgegangen und Zwischenräume ausgelassen. Wenngleich also eine spezifisch technische Begriffsbestimmung des Digitalen in Abgrenzung zum Analogen erst mit der ersten Phase der Kybernetisierung beginnt246, zeigt sich bereits in sprachlichen Verwendung und digital-logischen Anwendungen die durchaus lange Historie des Digitalen. 242 Hartmann (2003), S.124, Fussnote 5 und S.127. Hartmann (2003), S.124, Fussnote 5 und S.128; hierzu Hartmann: „Digital im Sinn der Darstellung heißt einfach in Ziffern codiert […] statt in Impulsen oder Verhältnissen. Wer aber ein digitales Gerät öffnet, wird im Inneren keine Ziffern finden. Gespeichert wird die Ziffer z.B. durch einen gehaltenen Schaltzustand […].“ (Hartmann 2003: S.124, Fussnote 5). 244 Roesler / Stiegler (2005), S.9. 245 U.a. Hartmann (2003), S.128. 246 Roesler / Stiegler (2005), S.12. 243 81 Übersetzt auf die analogen und digitalen Techniken der Gegenwart und damit auf die bereits benannte physikalische Ebene steht analoge Signalübertragung für ein stetig veränderbares, unterbrechungsfreies Signal, das in der Elektronik zumeist durch kontinuierliche, elektrische Spannungsveränderungen, Lichtwellen oder Magnetisierungen übermittelt wird.247 Dem gegenüber bezeichnet digital bzw. digitale Signalübertragung ein diskretes, also nicht-stetiges, im Vorfeld wert- und zeitdefiniertes Signal. Inhaltlich wird im Digitalen damit Sinn auf eine binäre Ziffernlogik reduziert. Sollen heutige Digitalcomputer analoge Signale verarbeiten können, müssen sie daher zunächst in digitale Signale übersetzt werden. Das geschieht durch Quantisierung und Abtastung des zugrundeliegenden Analogsignals, also durch eine Reduktion wertund zeitkontinuierlich vorliegender Messwerte in wert- und zeitdiskrete Daten.248 Elektrisch wird damit das Digitale erst im „Schaltparadigma Halbleitertechnik, bei dem elektrische Impulse in diskrete/digitale Signale umgesetzt werden“ (Sick 2004: S.5, Fussnote 8). Erst hier kommen Elektrizität (z.B. als elektrische Spannung), Elektronik (schaltbare Bauelemente) und digitale Signalübertragung in Form moderner Computertechnologie zusammen. Mit einer derartigen Umstellung auf binary digits in elektronischen Schaltkreisen ergeben sich einige, nicht ganz unwesentliche Eigenschaften digitaler (Übertragungs-)Technik: Insbesondere Rauschminimierung, zunehmende Signalschärfe und Verarbeitungsgeschwindigkeit zeichnen diese Technik aus. Warum? Weil Nullen und Einsen und ihre physikalischen Äquivalente ziemlich trennscharf und schaltungsfreundlich agieren und zudem den Möglichkeiten nachträglicher Bereinigungsberechnungen unterstehen. Denn Codierungen im binären System von Nullen und Einsen bedeuten nicht nur höchst mögliche Reduktion zu übertragender Information und das heisst Einfachheit, sondern in Form der ihnen zugeordneten wertund zeitdiskreten Schaltzustände auch hohe Datenexaktheit in der Verarbeitung.249 Zusätzlich kann all jenes, was vom an die Maschinen angeschlossenen Menschen und seinen natürlichen Wahrnehmungsorganen an Informationen sowieso nicht erfasst werden kann oder soll, nachträglich heraus gerechnet werden. Die Kosten der Rauschminimierung oder gar Rauschfreiheit sind aber mindestens beachtenswert. Denn hinter ihnen steht die bereits bei Shannon aufgeworfene Frage, wie viel Rauschen zur 247 Claus / Schwill (2006), S.43. U.a. Hartmann (2003), S.128. 249 U.a. Sick (2004), S.6.; Hartmann (2003), S.127. 248 82 >Authentizität< des Mediums erhalten bleiben sollte. Die Reduktion sämtlicher durch das Medium selbst verursachten Informationen in Richtung einer Signalin- und outputgleichwertigkeit nimmt eben auch Information weg, die wesentlich für die Generierung medialer Ästhetik ist250: „Wer den Schritt vom analogen Fernsehen zum digitalen vollzogen hat, kennt den Effekt. Man hat ein gestochen scharfes Bild oder keines. Solange die Verrauschung der Datenübertragung korrigierbar ist, ist das Bild scharf. Wenn die Verrauschung zu groß wird, bricht das Kalkül des Programms zusammen und mit ihm das Bild.“ (Sick 2004: S.6) Was dazu führt, ganz im Sinne der Digitallogik wert- und zeitdiskret zwischen >all i hear is noise<251 oder >high definition television< zu springen. Nullen und Einsen, niedrige und höhere Spannung, wert- und zeitdiskrete Zuordnungen etc., also all das, was technisch unter dem Schlagwort Digitalität vermittelt wird, bestimmen – um noch einmal Kittlers Ausdruck zu gebrauchen252 – unsere Lage. Das Digitale und seine Verarbeitungslogik in der Hard- und Software moderner Computertechnologie sind die technischen Zäsuren der zweiten kybernetischen Phase, die mit gedächtnisgeschichtlichen Zäsuren korrespondieren. Sie resultieren, wie ich im Folgenden zeigen werde, aus den Konsequenzen des Digitalen: Etwas verschwindet (>digitale Lücken< (1)) und etwas kommt hinzu (>analog-digitale Differenzierung und Fusionierung< (2)). (1) Digitale Lücken Im Paradigma des Digitalen zeigt sich (Gedächtnis-)Schwund auf zweifacher Ebene – auf der Ebene der übertragbaren Informationen und auf der Ebene des Subjekts. Auf der Ebene von Informationen und Daten verursachen Quantisierung und Abtastung analoger Signale zur Transformation in wert- und zeitdiskrete Daten den Wegfall von Informationen. Zusätzliche Rauschminderung verringert weiterhin – wie eben be- 250 Hartmann (2003), S.136f. Empire of the Sun, Song: Standing on the Shore. 252 Kittler (1986), S.3. 251 83 schrieben – den Informationsgehalt. Er wird reduziert auf bestimmte diskrete Zustände, die kein >Dazwischen< kontinuierlicher Analogsignale und auch keine dem analogen Trägermaterial inhärenten >Umgebungsinformationen< mehr dulden. Datenmanipulation ist negativer Ausdruck dieser Vorgehensweise, Übertragungs- und Verarbeitungseffizienz seine positive Wendung.253 Beispielhaft seien hierfür die informatorischen Unterschiede bei der Lektüre desselben Textes auf Basis analoger oder digitaler Speicherung angeführt: Obwohl der Informationsgehalt des Textes von der Speicherart unberührt bleibt, zeigt sich der Informationsschwund bei der Lektüre der digitalen Textvariante im Wegfall der >Umgebungsinformation< des analogen Trägermaterials, wie es zum Beispiel in Form von Papier oder eines Buches vorliegt. Alle mit diesem analogen Trägermaterial verbundenen optischen, taktilen etc. Informationen wie Alter, Gebrauchshäufigkeit oder auch Standort des Textes kommen (ohne zusätzliche Speicherung eben jener Informationen) im digitalen Speichermodus abhanden.254 Technisch bedingter Gedächtnisschwund zeigt sich aber nicht nur im Verlust analoger Trägermaterialien für Schreibsignale, sondern auch bei akustischen und optischen Signalen: Ein >Remastering< und damit einhergehend eine Digitalisierung alter Filmaufnahmen beispielsweise, lässt mögliche Kratzer, Farbeigenschaften oder -fehler etc. verschwinden. Verschwinden heisst jedoch auch hier wieder Verlust von Informationen – Informationen zum Alter, zu einer bestimmten, zeitspezifischen Ästhetik etc. Derartige informatorische Auslassungen erzeugen (technisch gewollte) Lücken, womit digitale Signalverarbeitung und -übertragung permanenten Selektionsmechanismen ausgesetzt ist. In Anschluss an die bereits ausgeführten Überlegungen zu Kosten der Rauschfreiheit stellt sich dann auch die Frage nach dem optimalen Verhältnis zwischen Datenselektion für Eindeutigkeit der Signale, Geschwindigkeit etc. und Datenerhalt für (emotionales, ästhetisches) informatorisches Rauschen. Das mag beim digitalen Fernsehen beispielsweise noch eine Frage individueller ästhetischer Präferenzen sein, nimmt aber mit Bezug auf Gedächtnis und Erinnerung von Gesellschaften durchaus andere Dimensionen an. Denn diese technisch motivierte Selektion führt zu der Frage, wie rauschfrei ein Gedächtnis sein soll, wie viele – an dieser Stelle technisch motivierte – Lücken es geben soll oder geben darf? Soll hypomnésis etwas von den Kanalarbeiten (der Speichermedien) bewahren oder wollen wir 253 254 Vgl. auch Hartmann (2003), S.128. Vgl. auch Ernst (2007), S.306. 84 >reine<, unter digitalen Bedingungen wahrnehmungsoptimierte bzw. -angepasste Informationen speichern? Das >Wesen< der Digitalität bedingt eine immer schon technisch vorbestimmte Lücke, ein Auslassen an Informationen, eine Reduktion und damit einen Teil des Gedächtnisschwunds, der noch ganz ohne inhaltliche Selektion oder Selektion durch (Nicht-)Übertragung auf andere Speicher auskommt. Soviel zur technischen Lücke. Das Digitale hält noch eine andere Lücke parat: Denn von Bedeutung befreite Nullen und Einsen ermöglichen Datenverarbeitung und Datenkommunikation ganz unter Ausschluss eines Subjektes. Dass der Mensch ausgeschlossen werden kann, heisst jedoch nicht, dass er es auch grundlegend wird. Vielmehr handelt es sich um partielle Ausschlüsse von auf Aktualität und automatisch generierbaren Bedeutungskontexten hin prozessierenden Maschinenhintergründen, an deren sichtbaren Enden dann eben auch Menschen sitzen und zusammen mit ihren Maschinen analog-digitale Verbundnetze generieren. Hierarchien der Art >Subjekt über Objekt< werden damit jedoch zunehmend aufgehoben.255 Menschen und Maschinen sind kommunikative Kugelwesen256 geworden, in denen ein Teil der Datenverwaltung und -generierung auf die Kugelhälfte der Maschine übertragen wurde und in verstärktem Mass weiter wird. Das Subjekt steht also in Teilen ausserhalb von Datenverarbeitung und -kommunikation, wird aber über die Mensch-Maschinen-Schnittstellen mitbestimmt. Damit haben sich die Signifikanten im Dialog der Maschinen mittels physikalischer und symbolischer Repräsentationen in Form von Spannungszuständen und Nullen und Einsen nicht nur von ihrer Bedeutung befreit257, sondern in Teilen auch vom Kommunikationsmedium Mensch. Aus Sicht des Subjektes ist das Bewusstsein damit freilich noch ein bisschen mehr eingeschränkt worden – Freud hatte ja bereits darauf hingewiesen, dass das Bewusste nur ein kleiner Teil des Unbewussten ist258. Das Subjekt mitbestimmende Unbewusste ist im Gegenzug erweitert worden um den Binärcode des Di- 255 Hartmann (2003), S.135. und S.144. Im Sinne Platons (vgl. Platon (1952)). 257 Vgl. Tholen (1994): „Fernab der anthropologischen Illusion, der Mensch sei völlig im Menschen, […] lautet die paradoxe Botschaft der Kybernetik: Die Artikulation einer Zeichenfolge, insofern sie rückführbar wird auf den Bestand von 0 und 1, Absenz und Präsenz, funktioniert ohne Bedeutung.“ (Tholen 1994: S.131). 258 Siehe Abschnitt 2.1.1. 256 85 gitalen, nachdem ein Teil der Sprach-, Kommunikations- und Verarbeitungskompetenzen auf die Technik übertragen wurde. Von Bedeutung befreite Nullen und Einsen verlangen aber für ein Überleben des Kugelwesens >Mensch-Maschine< Übersetzungsinstanzen. Den Binärcode vor Augen können Menschen diese Übersetzungen selbst leisten, bei proprietären Programmen und Programmiersprachen sind damit Schwierigkeiten verbunden, wie sich später zeigen wird. Auf Digitalbasis veränderte Kommunikations- und Übertragungsverhältnisse in der Form informatorischer und subjektiver Lücken lassen sich mit Hartmann als nicht-hierarchische Kommunikationsbeziehungen beschreiben259 und ordnen das Kugelwesen >Mensch-Maschine< darüber hinaus in eine neue Art von Kollektiv ein. Ein Kollektiv, das beispielsweise Latour beschrieben hat, als „Assoziierung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen“ (Latour 2008: S.11), als ein Netz zwischen (technischen) Objekten und Subjekten, die zunehmend als hybride Wesen agieren.260 (2) Analog-digitale Differenzierung und Fusionierung Dinge und Menschen verschwinden im Digitalen nicht ohne den Verlust zu kompensieren. Denn das Aufkommen digitaler Machenschaften markiert ja zunächst die bereits einleitend aufgezeigte Abgrenzung zum Analogen, was auch eine Erweiterung der Möglichkeiten bedeutet: Die Potenz des Technischen wird mit der Unterscheidungsmöglichkeit analog / digital erhöht.261 Neben die Möglichkeiten analoger Speicherung und Übertragung kulturellen Sinns treten nun die Möglichkeiten digitaler Speicherung und Übertragung kulturellen Sinns. Und auch wenn heute das Digitale en vogue ist und analoge Speichertechniken ein wenig im Schatten ihrer prominenten 259 Hartmann (2003), S.135. Latour (2008). Darin besteht ja für Latour bekanntlich der Misserfolg der Moderne: Sie konnte die Trennung zwischen Objekten und Subjekten nicht mehr aufrecht erhalten – zu viele Mischwesen tauchten auf: „Solange sie nur in Form von ein paar Luftpumpen auftauchten, ließen sich die Mischwesen noch getrennt in zwei Dossiers unterbringen, klassifiziert nach Naturgesetzen und politischen Repräsentationen. Wenn aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmeßgeräten,etc. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf die Seite der Objekte noch auf der Seite der Subjekte, noch in der Mitte zu Hause fühlen, muß wohl oder übel irgendetwas geschehen.“ (Latour 2008: S.67f.). 261 Vgl. Baecker (2011). (Darin: „Die Frage nach der Technik ist die Frage nach dem Unterschied, den sie macht.“ (Baecker 2011: S.183). 260 86 Unterscheidung stehen, sind sie dennoch da und weiterhin fähig, kulturellen Sinn zu transportieren. Ein vorausgesagter Anstieg digital gespeicherter Informationen von derzeit ca. 1,8 Zettabytes (2011) auf 35 Zettabytes in 2020262, sagt noch nichts aus über die Menge nicht-digitalisiert gespeicherter kultureller Symbolik. Ein Grossteil kulturellen Sinns, der diesseits der Digitalisierungswelle verfasst, gespeichert, aufbewahrt wurde, bleibt als solcher erhalten und wird aus verschiedenen Gründen (finanzielle, technische etc. Kapazitäten) den Digitalisierungsschritt nicht vollziehen. Bis auf unbestimmte Zeit werden also zumindest für Fragen des Gedächtnisses und der Erinnerung technische Parallelwelten zu beachten sein. Das hat Konsequenzen, wie sie in Form analog-digitaler Signalumwandlung bereits beschrieben worden sind: Jede Übersetzung in eine andere Technologie fordert seinen Tribut – verlustfreie Übersetzung gelingt Technik ebenso wenig wie natürlichen Sprachen. Das ist die eine Konsequenz. Die andere liegt in der zunehmenden Notwendigkeit der Übersetzung: Ein kollektives Alltagsleben263, das mehr und mehr auf Digitalbasis umstellt, braucht technische Übersetzungen, um analoge Vergangenheit eben auch im besagten Alltagsleben präsent zu halten. Die Differenzierung und infolge dessen Potenzierung des Technischen als analog-digitaler Kosmos bedingt daher, wie ich zeigen werde, auch neue Formen von Fusionierungen. Zwei Arten möchte ich hierbei unterscheiden – zwischenweltliche, d.h. analog-digitale Fusionierung und innerweltliche Fusionierung im Digitalen. Erstere steht für besagte Übersetzungen und damit verbundener Fusionierung zwischen analoger und digitaler Welt. Übersetzungen sind dem Wort nach möglichst verlustfreie Übertragungen von einem Zustand in einen anderen. Daraus ergeben sich wiederum zwei Richtungen für Übersetzungen. Die eine – Übersetzungen vom Analogen ins Digitale – ist die gegenwärtig augenscheinlichere. Sie entspricht dem, was unter dem Schlagwort >Digitalisierungswelle< benannt wird: Zumeist wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Kriterien folgend werden Teile analog gespeicherter Informationen digitalisiert, um beispielsweise originär digital vorliegende Daten zu bereichern, diese Daten in einen grösseren Kontext einzubetten, Informationen besser verfügbar zu machen oder ganz einfach Geschäftsmodelle realisieren zu können. 262 263 IDC (2010); IDC (2011). Kollektiv im Sinne Latours. 87 Der Aufbau digitaler Bibliotheken, Archive etc. sind ein weit verbreitetes Beispiel für solche Prozesse: Ursprünglich analog gespeicherte Daten werden digitalisiert, zusammen mit originär digital vorliegenden Informationen strukturiert und >katalogisiert< und damit nachfolgend verwendbar für wirtschaftlich orientierte Vernutzbarungen (Verkauf von Zugangsrechten etc.) gemacht. Die Namensgebung solcher Datenbanken verweist dabei bereits auf ihre physischen, auf analogen Speichertechniken beruhenden Vorgänger. Mit der technischen Übersetzung analoger in digitale Informationen erfolgt hier häufig auch eine Übersetzung >analoger Strukturierungs- bzw. Organisationslogiken< in digitale Speichertechniken. Derartige Fusionierungen analog-digitaler Welten stellen daher zwar vermeintlich auf eine neue Technologie um, verbleiben aber in ihrer Logik vielfach im vor-kybernetischen Zeitalter: Analoge Inhalte werden lediglich technisch ins Digitale übersetzt, ohne dabei auch >strukturell< und d.h. in die Gesetzmässigkeiten bzw. in das >Kulturprogramm< des Digitalen transformiert zu werden264: Analog-Digital-Wandler übersetzen technische Signale (mit den bereits beschriebenen inhärenten Veränderungen bzw. Verlusten) und ermöglichen damit Informationsaustausch, erzeugen aber, wie Hartmann anführt, noch keine Synthese unterschiedlicher Informationen im Sinne neu generierter kultureller Symbolik.265 Auch der Übergang zu neuen Formen digitaler Organisationsstrukturen wird zumeist nur selten vollzogen.266 Die Übersetzung müsste, um vollständig zu sein, eine >Digitallogik< adaptieren, und das heisst insbesondere, sich in den rekursiven Schleifen digitaler, vernetzter Maschinen von der Art Computer neu zu (er)finden und mit anderen Informationen zu kombinieren. Dennoch, auch >unvollständige< Übersetzungen sind Übersetzungen und zeigen die Richtung an, die analog-digitale Fusionierungen einschlagen. Zunehmende Verfügbarkeit ehemals analoger Daten im Digitalen spiegelt die potenzierte Technik wider 264 Hartmann (2003), S.149f. („Die gegenwärtige Digitalisierungswelle jedenfalls erfüllt eher ein Programm der alten, nicht der Neuen Medien […]. […] Diskursive Kommunikationsformen verteilen verfügbare Informationen, um sie vor der entropischen Wirkung der Natur zu bewahren; der Diskurs ist immer auch ein Speicher. Dialogische Kommunikationsformen synthetisieren neue Informationen im Austausch. […] Digitalkultur heißt derzeit offensichtlich nicht, mit neuen Technologien neue Kulturen zu synthetisieren, sondern lediglich, die traditionellen Speicher des Wissens in digitale Technik zu übersetzen.“ (Hartmann 2003: S.149f.).) 265 Hartmann (2003), S.150. 266 Wie eine solche Organisationsstrukturen im Digitalen aussehen (könnten), wird in Abschnitt 5.1.3 näher erläutert. 88 und führen zu einem Mehr an digitalen Informationen. Mit dem Wort >Information< wird gleichzeitig eine weitere Eigenschaft von Übersetzungen in Richtung des Digitalen angezeigt: Derartige Übertragungen enden immer im Immateriellen der Information.267 Mit der Übertragung gehen sowohl besagte >Kanalarbeiten< als auch das zugrundeliegende (analoge) Speichermedium selbst verloren. Digitale Information entbehrt jeglicher Haptik, Schwere, Grösse etc. (gemessen in den analogen Masseinheiten wie kg und m3) – darin liegt die Effizienz, die extreme Verfügbarkeit, Ausbreitung und vielleicht auch die Schönheit des Digitalen, aber eben auch das reduzierte Moment. Materialität bzw. physikalische Repräsentation auf der einen Seite und Immaterialität bzw. symbolische Repräsentation auf der anderen Seite bleiben die sichtbaren Aussengrenzen beider Welten, die nicht fusionierbar, sondern nur übersetzbar sind. Mit Hinblick auf hypomnésis ergeben sich hieraus beachtenswerte Aspekte: Zum einen basiert hypomnésis der Gegenwart auf zwei verschiedenen Basistechnologien – analoge und digitale Speicherung, Verarbeitung etc. – und damit auf zwei parallel laufenden Welten mit unterschiedlichen Eigenschaften und Mechanismen. Eine Übersetzung ist bedingt möglich. Die unterschiedlichen Technologien arbeiten mit Übersetzungsverlusten und das heisst zunächst mit technologisch bedingtem Gedächtnisschwund. Ihm steht ein Gedächtnisgewinn in Form der beschriebenen zwei Basistechnologien gegenüber. Sie bedürfen technischer und dialogischer Schnittstellen, um als hypomnésis ihr kulturelles Programm voll entfalten zu können. Der bei Debray definierte >Doppelkörper des Mediums< erfährt auf der Seite der organisierten Materie, der hypomnésis, eine weitere technologisch bedingte Doppelung, die an ihren sichtbaren, aber nur einseitig fühlbaren Enden ein materielles und immaterielles Gedächtnis unterscheiden lässt. Die Eigenschaften materieller hypomnésis für Durchsetzungsmöglichkeiten kultureller Programmatik – geringere Mobilität, begrenzte Verfügbarkeit, relativ stabile Speicher etc. – werden um ihre umgekehrten Vorzeichen – dynamische, ephemere Speicher, hohe Verfügbarkeit, globale Ausbreitung etc. – in der immateriell prozessierenden hypomnésis erweitert. Hier setzt die andere, noch fehlende Art der Übersetzung an: Die hardware- und softwareimmanen- 267 Vgl. auch Ernst (2007), u.a.S.307. 89 ten Eigenschaften digitaler Technik erfordern dann auch eine Übersetzung digital produzierten kulturellen Sinns in analoge Speicherformate, um langfristig fixiert und damit verfügbar gemacht werden zu können. Nicht alles kann durch stetige Migration digitaler Daten dauerhaft präsent gehalten werden. 268, 269 Einer derart beschriebenen zwischenweltlichen Fusionierung folgt die innerweltliche: Was im analogen Medien(verbünden) noch als spezifische Datenströme unterscheidbar ist, löst sich im Digitalen auf bzw. fusioniert zu einem digitalen Meta-Medienverbund.270 Dieser Logik folgen auch die digitalen Endgeräte, von denen es zwar eine unüberschaubare Vielzahl gibt, die sich in einem Punkt dennoch alle gleichen: Sie können sprechen, hören und sehen. Auf Digitalbasis funktionierende Geräte, die sich nur auf einen Sinn verstehen, geraten zunehmend an die Ränder – entweder als hoch spezialisierte oder aber extrem billige Geräte. Das Digitale als Logik, Basistechnologie, Paradigma und Kulturprogramm zeigt damit bereits erste Konsequenzen für die Ausprägung hypomnétischer Gegenwart auf. Zusammengefasst handelt es sich bei diesen Konsequenzen um die Ausprägung hypomnétischer Parallelwelten und ihren Übersetzungsverlusten auf informatorischer und subjektiver Ebene, um die Etablierung nicht-hierarchischer Kommunikationsverhältnisse zwischen Menschen und Maschinen auf Basis binärer Sprachcodierung im Digitalen und die damit verbundene Entstehung eines im diesen Sinne >technologischen Unbewussten<271 268 Hoskins (2009); Ernst (2007). Hierauf wird am Ende von Abschnitt 3.2.2 (Hardware) noch näher eingegangen. 270 Vgl. dazu auch Kittler: „In der allgemeinen Digitalisierung von Nachrichten und Kanälen verschwinden die Unterschiede zwischen einzelnen Medien. Nur noch als Oberflächeneffekt, wie er unterm schönen Namen Interface bei Konsumenten ankommt, gibt es Ton und Bild, Stimme und Text.“ (Kittler 1986: S.7). 271 Diesen Begriff benutze ich in Anlehnung an Thrift’s Terminus >the technological unconscious<: Thrift sieht die Gegenwart durch eine technische Infrastruktur bestimmt, die sich über die Zeit zu einem umfassenden Hintergrund des menschlichen Lebens entwickelt hat. Diese Infrastruktur kann, so Thrift, als ein technologisches Unbewusstes bestimmt werden, das auf einer neuen Qualität von zeitlichen und räumlichen Standardisierungen der Welt aufsetzt. Der Begriff des technologischen Unbewussten steht bei ihm insgesamt für „technische Formen der Verortung und des Zueinander-in-Beziehung-Setzens, die die atomare Struktur des gegenwärtigen euro-amerikanischen Lebens bestimmen“ (Thrift 2002, S.2, eigene Übersetzung). Das technologische Unbewusste beruht damit auf hoch komplexen technischen Systemen, die unser Leben adaptiv strukturieren. (vgl. Thrift 2002). In diesem Sinne können die beschriebenen Kompetenzübertragungen auf das Technische bzw. auf die technische Hälfte des Kugelwesens >Mensch-Maschine< 269 90 sowie um die Herausbildung komplexer Mensch-Maschinen-Kollektive. All das zeigt: „Digitale Rechner, […] befinden bereits über die Verfügbarkeit jahrhundertealten Kulturwissens“ (Ernst 2007: S.13). Und es zeigt auch, dass man noch ein wenig tiefer hinein gehen sollte und die Kiste namens Computer aufschraubt: Hardware schaut heraus. 3.2.2 Hardware-Berichte Verarbeitungselemente (Steuer-, Rechen-, Speicherwerk) In Anlehnung an die Von-Neumann-Architektur wurde einleitend Hardware grundsätzlich unterschieden in Verarbeitungselemente und Peripherieelemente. Verarbeitungselemente umfassen in heutigen Computern das Rechen- und Steuerwerk sowie den zur Ausführung der je aktuellen Programme notwendigen Speicher – also diejenigen Komponenten, die in den Hauptprozessoren und Arbeitsspeichern abgebildet werden, und d.h. wiederum in der Zentraleinheit des Computers. Zu den wesentlichen Aufgaben dieser Zentraleinheit gehören die Interpretation und Ausführung von Befehlen für die aktuell auszuführenden Steuerungsanweisungen.272 Die Verarbeitungselemente beschreiben demnach jenen Teil der Hardware, der prinzipiell für die Datenverarbeitung, nicht aber für die permanente Datenspeicherung verantwortlich ist.273 Dennoch erfordern auch die Prozesse der Zentraleinheit Möglichkeiten der (Zwischen-)Speicherung. Sie werden im Haupt- bzw. Arbeitsspeicher realisiert, der Daten und Programme für die aktuellen Abläufe und Aufgaben des Steuer- und Rechenwerkes zur Verfügung stellt.274 In heutigen Computern finden sich solche Arbeitsspeicher meistens in unterschiedlichen RAM-Formaten verwirklicht. Dabei handelt es sich im Gegensatz zu Festwertspeichern um „Schreib-Lese-Speicher, bei dem jede Speicherzelle einzeln adressierbar und inhaltlich veränderbar ist.“ (Claus / Schwill 2006: S.553). Häufig wird hierfür als eine Erweiterung des im Hintergrund auch selbstständig prozessierenden Technischen und d.h. als eine Erweiterung des technologischen Unbewussten verstanden werden. 272 Claus / Schwill (2006), S.745. 273 Vgl. auch Sick (2004), S.4f. 274 Claus / Schwill (2006), S.293. 91 eine elektronische Speicherung in Form von Halbleiterspeichern genutzt. Funktionell steht >Random Access Memory< (RAM) daher für ein Speichern von aktuell benötigten Daten und Programmen (d.h.: >memory<) sowie für einen wahlfreien Zugriff mit schnellen Zugriffszeiten auf diese gespeicherten Informationen (d.h.: >random access<). Der Aufzeichnungsvorgang selbst kann dabei beliebig oft wiederholt werden – >memory< ist daher nur temporär bis zum nächsten Lösch- und Schreibvorgang vorhanden. Neben elektronischen Arbeitsspeichern können RAMs auch über andere Speichertechniken realisiert werden, beispielsweise als magnetische Speicher.275 Variable, permanent wiederbeschreibbare Arbeitsspeicher, wie der hier beispielhaft vorgestellte RAM-Speicher, sind wesentliches Element in der Zentraleinheit des Rechners. Sie unterscheiden sich signifikant von den im Folgenden zu beschreibenden Peripheriespeichern: Indem sie notwendige Speicherprozesse für aktuelle Berechnungsprozesse durchführen, agieren sie als blosser (dynamischer oder statischer) Zwischenspeicher. Die für hypomnétische Vergangenheiten wesentlichen PermanentSpeicher, die Übertragungen kulturellen Sinns unabhängig von dauerhafter Energiezufuhr über einen Zeithorizont, der Geschichtlichkeit, Kultur etc. etabliert, ermöglichen, sind technisch anders aufgestellt. Arbeitsspeicher stellen demnach keine >klassische<, auf Dauerhaftigkeit angelegte Grundlage für die Ausprägung von Erinnerungskultur dar, aber sie verdeutlichen auf sehr präzise Art eine Arbeitsweise, die auch für die hypomnétische Gegenwart der Permanent-Speicher gilt: Die Verdopplung technischer Speicherarten in der Maschine namens Computer exponiert auf der Ebene der Arbeitsspeicher das Prinzip der steten Überschreibung, und d.h. der permanenten Übertragung.276 Neben der Frage, welche Daten-Verarbeitungselemente in der Hardware auftauchen, welche Aufgaben sie erfüllen und nach welchen Prinzipien sie arbeiten, stellt sich auch die – heute vielleicht banale – Frage, wo diese Verarbeitungselemente in CPU- 275 Die konkret zugrundeliegende Speichertechnik hat dann insbesondere Einfluss auf den Grad der Flüchtigkeit des Speichers: RAM-Speicher der Form sRAM (>static RAM<) oder dRAM (>dynamic RAM<) sind flüchtige Arbeitsspeicher, d.h. sie verlieren alle auf ihnen gespeicherten Informationen sobald die Energiezufuhr ausbleibt. Im Gegensatz dazu behalten nicht-flüchtige Arbeitsspeicher, wie beispielsweis der MRAM (>magnetoresistive RAM<), auch nach Abschalten der Energieversorgung die auf ihnen gespeicherten Informationen. Vgl. Völz (2007b), S.178f, S.190ff. und S.204ff. 276 Ernst (2007), u.a. S.12. 92 Form denn stehen. Hier zeigten sich in den letzten Jahrzehnten deutliche Veränderungen: Während in den 1950iger und 1960iger Jahren >Mainframes< dominierten, d.h. Zentralrechner, an die n-beliebige Endgeräte angeschlossen waren, zeichnete sich ab den 1970iger Jahren eine neue Entwicklung in Richtung dezentralisierter Rechenleistung ab, deren prominenteste Ausprägung der Personal Computer darstellt. Die zentrale Steuer- und Recheneinheit, die hierarchisch per Time-Sharing-Prinzip die angeschlossenen Endgeräte >berechnete<, konnte auf Basis neuer, kostengünstigerer, technologischer Entwicklungen, wie der Herstellung von Mikroprozessoren, für individuelle Anwendungen überführt werden in dezentral positionierte Zentraleinheiten.277 Sie standen dann auch nicht mehr in abgedunkelten Hochsicherheitsräumen, sondern (wiederum zunehmend zentral) in den Wohneinheiten dieser Welt. Zusätzliche Dienste, die beispielsweise aus Kapazitätsgründen nicht auf diesen dezentralen häuslichen Zentraleinheiten durchgeführt werden können, werden dann von externen Servern (>hosts<) bereitgestellt, woraus sich die heute weit verbreiteten Client-Server-Architekturen herausgebildet haben. Mainframe-Anwendungen finden sich gegenwärtig hauptsächlich in kommerziellen Bereichen mit grossen zu verarbeitenden Datenmassen. Sie gewinnen aber auch für den individuellen Bereich im Rahmen von Cloud-Computing wieder an Bedeutung. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sowohl mit anderen Zentraleinheiten kommunizierende Mainframes als auch Client-ServerArchitekturen immer auf eine Infrastruktur-Hardware namens Netzwerk angewiesen sind. Peripherieelemente (Fokus Speicherperipherie) Parallel zu den Verarbeitungselementen haben sich im Zuge der Computer-Technogenese seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Speicherperipherien herausgebildet, die, angetrieben durch politische, wirtschaftliche und / oder technische Problemstellungen, ganz unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden müssen. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner liegt in der Speicherung von Sprach-, Ton-, Bild-, Zahl-Informationen, die über einen irgendwie gearteten Aufzeichnungsvorgang in ei- 277 Coy (1994), S.26ff., S.30ff.; Claus / Schwill (2006), S.135. 93 nem Medium gespeichert und von diesem zu einem späteren Zeitpunkt wiedergegeben werden können.278 Entsprechend der konkret angewendeten Verfahren resultieren daraus diverse Speichermedien mit unterschiedlichen Eigenschaften, insbesondere in Bezug auf die Höhe der Speicherkapazität (Wie viele Daten können gespeichert werden?), Zugriffszeit (Wie schnell können die Daten ausgelesen werden?), Sicherheit (Wie lange können die Informationen verlustfrei auf dem Speichermedium ausgelesen werden?) und Preis (Welche Kosten verursacht das Speichermedium?).279 Aus den zugrundeliegenden Herstellungs- und Speichertechnologien lassen sich drei Hauptarten von Speicherperipherien ableiten, die im Folgenden anhand ihrer wesentlichen Eigenschaften beschrieben werden sollen: Hierzu zählen magnetische (1), elektronische (2) und opto-elektronische Speicher (3).280 (1) Gute Übersetzungsmöglichkeiten zwischen Magnetismus und Elektrik sowie die Möglichkeit „ohne Hilfsenergie gespeicherte Werte über nahezu beliebig lange Zeit aufzuheben“ (Völz 2007b: S.261) sind für Völz die beiden wesentlichen Gründe für eine (immer noch) hohe Verwendungsrate magnetischer Speicher im Zusammenhang mit Computertechnologie.281 Entsprechend der konkret zugrundeliegenden Speicherverfahren finden in magnetischen Speichern magnetooptische, magnetostatische und magnetomotorische Speicherprozesse Anwendung. Letztere erfreuen sich besonderer Beliebtheit. Der Speicherprozess basiert hier auf „lineare[n] und / oder rotatorische[n] Bewegungen vom Magnetkopf und / oder Medium“ (Völz 2007b: S.334). Die Art dieser Bewegung – linear oder rotierend – bestimmt im Weiteren dann auch die spezifische Ausprägungsform des magnetomotorischen Speichers. Prominentester Vertreter für rotatorische Magnetspeicher sind Festplatten, linear bewegte Speicherprozesse befinden sich u.a. in Magnetbändern oder Filmen.282 Beide magnetomotorischen Speicherverfahren können sowohl analog als auch digital erfolgen. Mit Hinblick auf digitale Speichertechniken können rotierende Speicher weiterhin in Bezug auf ihre 278 Völz (2007b), S.6. Völz (2007b), S.15ff., vgl. auch Bild S.16. 280 Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Speichermedien, die entweder im Bereich der Spezialanwendung anzusiedeln sind oder sich noch im Entwicklungsprozess für zukünftige Anwendungen befinden. (vgl. Völz 2007b). 281 Völz (2007b), S.261. 282 Völz (2007b), S.366; (Zur Geschichte der magnetomotorischen Speicherung siehe auch S.367f.). 279 94 Flexibilität unterschieden werden. Starre Medien, wie die Festplatte, stehen hier flexiblen Medien, wie der Diskette, gegenüber283: Während der Fokus der Disketten von Anfang an darauf lag, einen schnellen und einfachen und d.h. flexiblen Informationsaustausch zwischen Rechnern zu ermöglichen, zeigt die Entwicklungsgeschichte der Festplatten, dass sie zunächst als im Computer >fest installierte Platten< an eben diesen dauerhaft gebunden waren.284 Erst in der jüngeren Entwicklungsgeschichte konnten sie sich als externe Festplatten mobil machen. Wie alle Speichermedien ist die Geschichte der magnetomotorischen Speicher aber nicht nur eine Geschichte raumzeitlicher Grenzüberschreitungen, sondern vor allem eine Geschichte exponentiell steigender Speicherdichten bei gleichzeitigem Preisverfall: „Für die üblichen PCs waren 1992 etwa 100 MByte Speicherkapazität üblich. Doch bereits 1996 wird die „magische“ 1 GByte-Grenze erreicht. Auch die Preisentwicklung lässt einen extremen Verfall erkennen. So kostet 1 MByte 1980 noch umgerechnet 150€, 1990 noch 5 und 2000 bereits nur noch 0,07€.“ (Völz 2007b: S.522). (2) Gegenwärtig im Vergleich zu magnetomotorisch arbeitenden Festplatten noch teurer, dafür aber mit anderen vorteilhaften Eigenschaften ausgestattet, sind heute chipbasierte (externe) Festplatten und ihre hybriden Zwischenvarianten dabei, die >klassischen< Festplatten zu konkurrenzieren. Solche >Solid State Drives< (SSD) finden mehr und mehr Anwendung, weil sie im Vergleich zu herkömmlichen >Hard Disk Drives< (Festplatten) deutlich schnellere Zugriffzeiten ermöglichen, durch den Wegfall mechanischer Bauteile eine höhere Robustheit aufweisen und zudem einen geringen Stromverbrauch haben. Höhere Preise und eine geringere Lebensdauer aufgrund einer im Vergleich zu Festplatten reduzierten Anzahl von Schreibzugriffen sind derzeit (noch) die signifikantesten Nachteile. Diese Nachteile dürften sich aber unter der Annahme einer ähnlichen technischen und wirtschaftlichen Entwicklung wie bei Festplatten etc. über die Zeit nivellieren. Die den SSDs zugrundeliegende Speichertechnik basiert auf nicht-flüchtigen Flash-Speichern, womit die zweite grosse Kategorie von Speichermedien – die elektronischen Speicher – angesprochen ist: 283 284 Völz (2007b), S.489f. Völz (2007b), S.500. 95 „Elektronische Speicher sind […] Bauelemente, Baugruppen oder mikroelektronische Schaltkreise, bei denen funktionell die Steuerung und das dauerhafte Fixieren von Ladungsträgern wesentlich sind.“ (Völz 2007b: S.147). Derartige elektronische Speicher zeigen sich heute analog zu den magnetischen Speichern in vielfältigen Formen, von denen der Flash-Speicher sowie die elektronischen RAM-Arbeitsspeicher nur einige unter vielen darstellen. Allen elektronischen Speichermedien ist jedoch gemeinsam, dass ihre >organologisch< kleinste Einheit einzelne Speicherzellen sind, aus denen dann mittels Verschaltung vielfältige elektronische Speicher aufgebaut werden.285 Elektronische Speicherung kann dabei ebenso wie magnetische Speicherung prinzipiell analog oder digital erfolgen, wobei letzteres bei Weitem überwiegt.286 Mit Fokus auf die digitalen elektronischen Speichermedien lässt sich – wie bereits bei den RAM-Speichern gesehen – eine grundsätzliche Unterscheidung elektronischer Speichermedien in flüchtige und nicht-flüchtige Speicher vornehmen. Nicht-flüchtige Speicher behalten, wie bereits aufgezeigt, ihre Informationen auch dann, wenn sie nicht an den Computer angeschlossen bzw. ohne Stromversorgung sind. Solche dauerhaft speichernden elektronischen Medien können dann im Weiteren in Bezug auf ihre Wiederbeschreibbarkeit bzw. Programmierbarkeit unterschieden werden. Bereits benannte Flash-Speicher sind demnach nicht-flüchtige Speicher, die mehrfach beschreibbar sind. Andere elektronische Speicher mit diesen Eigenschaften sind beispielsweise EPROM- oder EEPROM-Speicher sowie eine neue Garde nicht-flüchtiger Arbeitsspeicher (z.B. FRAM)287. Im Gegensatz dazu bezeichnet ROM einen digitalen elektronischen Festwertspeicher, der zwar nicht-flüchtig, aber nur einmal beschreibbar ist. ROM – d.h. >read only memory< – stellt die darauf gespeicherten Informationen dauerhaft zur Verfügung, diese werden jedoch bereits bei der Herstellung in den Speicher eingeschrieben und können danach nicht mehr verändert werden.288 Neben diesen grundsätzlichen Eigenschaften elektronischer Speichermedien mit Bezug auf die Dauerhaftigkeit und Wiederbeschreibbarkeit von Informationen ist die Mobilität der elektronischen Speichermedien von Bedeutung. Das Beispiel SSD zeigte ja bereits, dass dieses Speichermedium sowohl intern als 285 Völz (2007b), S.147. Völz (2007b), S.176. 287 EPROM: erasable programmable read only memory; EEPROM: electrically erasable programmable read only memory; FRAM: Ferroelectric Random Access Memory. 288 Völz (2007b), S.191f. und S.198f. 286 96 extern und damit für den (mobilen) Datenaustausch genutzt werden kann. Andere Formen mobiler elektronischer Speichermedien sind aus dem gegenwärtigen Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. Dazu gehören beispielsweise Smartcards, Memory- oder USB-Sticks. Sie basieren auf den unterschiedlichen Technologien nicht-flüchtiger elektronischer Speicher, zumeist sind in ihnen jedoch Flash-Speicher verarbeitet. (3) Die dritte grosse Gruppe der computerbezogenen Speichermedien bilden die optoelektronischen Speicher. Die Speicherung bzw. das Auslesen der Informationen erfolgt hier durch optische Verfahren. Auch hier zeigen sich eine Vielzahl von optischen Speichertechnologien und in der Folge unterschiedliche opto-elektronische Speichermedien. Ihre Entwicklungsgeschichte setzt im Vergleich zu den magnetischen und elektronischen Speichermedien ein wenig später ein. Den >Vorsprung< der anderen Speichermedien haben sie jedoch durch enorm schnelle Entwicklungszyklen bei gleichzeitiger hoher Verbreitungsdichte in Form der >compact discs< (CD) ab Mitte der 1980iger Jahre oder der >digital versatile discs< (DVD) ab Mitte der 1990iger Jahre aufgeholt.289 An diesen opto-elektronischen Speichermedien zeigt sich einmal mehr sehr deutlich, was auch in den anderen Speichermedien vollzogen wurde: Die Zerlegung des Subjekts in seine Einzelsinne zum Zwecke streng separierter Aufzeichnung und Speicherung um 1900 mündet um 2000 in Speichermedien, die Töne, (bewegte) Bilder, Sprache und Zahlen zusammen für eine spätere Wiedergabe fixieren. Die >sinn-getrennten< Informationen in Schellack-Platten, Farbfilmen oder Schreibmaschinenpapier von einst können rein äusserlich in CD, DVD oder Blue-Ray nicht mehr unterschieden werden. Nur die ursprünglich geplanten Einsatzgebiete einiger opto-elektronischer Speichermedien zeugen noch von dem anfänglichen Wunsch einer Aufteilung: So waren CDs initial auf die Speicherung von Audiosignalen ausgelegt – und hiessen daher compact disc digital audio – und DVDs auf die Speicherung von Filmen – was sich im anfänglich gebräuchlichen Namen digital video disc ausdrückt.290 Die weiterführende Differenzierung der verschiedenen opto-elektronischen Speichermedien erfolgt nicht wie bei den anderen Speichermedien nach der Flüchtigkeit des Speichers oder nach der Art der Auslesebewegung, sondern vielmehr nach 289 290 Völz (2007b), S.52, S.525 und S.545. Völz (2007b), u.a. S.554 und S.559. 97 der Speicherdichte auf Basis der Wellenlänge des eingesetzten Lasers. Daraus resultiert u.a. eine Dreiteilung der opto-elektronischen Speichermedien in CDs (780nm, roter Laser), DVDs (~650nm, roter Laser) und Speichermedien auf Basis von blauen Lasern (wie BD (blue-ray disc) oder HD DVD (high definition DVD), ~400nm). Hieraus ergibt sich eine Speicherkapazität von bis zu 700 Megabyte für CDs, 4,7 Gigabyte für DVDs und 25 Gigabyte für BDs.291 Neben der Speicherdichte ist wie bei den elektronischen Speichermedien die Frage der Wiederbeschreibbarkeit zentral. In Abhängigkeit des Herstellungsverfahrens werden daher nicht wiederbeschreibbare optoelektronische Speichermedien wie die CD-ROM, DVD oder Blue-Ray von den mehrfach beschreibbaren Varianten der Form CD-R, CD-RW etc. geschieden. In erstere werden die zu speichernden Informationen in Form von Pits gepresst. Wiederbeschreibbare opto-elektronische Speichermedien erhalten ihre Informationen im Gegenzug über das Einbrennen von pit-ähnlichen Löchern in ihre Oberflächenbeschichtung.292 Damit steht ein langsames, hohe technische Anforderungen stellendes, aber verhältnismässig robustes optisches Speicherverfahren einem schnellen, individuell anwendbaren, weniger dauerhaften optischen Speicherverfahren gegenüber. Auch für die Aufnahmekapazität im Sinne von Wiederbeschreibbarkeit und Dauerhaftigkeit opto-elektronischer Speichermedien des 21. Jahrhunderts stehen demnach keine Freud’schen Wunderblock-Lösungen zur Verfügung. So unterschiedlich diese drei dargestellten Speichermedientypen auch sind, so lassen sich doch im zeitlichen Überblick gemeinsame Entwicklungstendenzen in Hinblick auf ihre Eigenschaften feststellen, die zentral für Betrachtungen von hypomnésis der Gegenwart sind. Zum einen zeigt sich, dass die Kapazitäten der einzelnen Speichermedien über die Zeit stark zugenommen haben: Bis in die 1980iger Jahre wurden Festplatten noch in Megabytes abgerechnet – heute hantieren schon handelsübliche Notebooks bereits mit dreistelligen Gigabytes, ganz zu schweigen von den Terabyteschweren Speichereinheiten in Desktop-Computern oder externen Festplatten. Und während im Innern der Maschinen die Speicherkapazitäten stiegen, purzelten draussen die Preise. >Memory is cheap< ist daher der Schlachtruf der Hardware-Her- 291 292 Völz (2007b), S.546 und S.571. Völz (2007b), S.551 und S.578ff. 98 steller. Und diesmal haben sie Recht: Die beiden grössten Begrenzungen der Computertechnologie in ihren Anfängen – geringer Speicherplatz zu hohen Kosten – haben sich in den heute zur Verfügung stehenden magnetischen, elektronischen und optoelektronischen Speichermedien aufgelöst, so „dass seit 2000 weltweit so viel Speicherkapazität zur Verfügung steht, dass im Prinzip alles, was elektronisch geschieht, vollständig zu speichern ist“ (Völz 2007b: S.661). Und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Versuche wie die >holographic versatile disc<, die bereits 2005 eine Speicherkapazität von 300 Gigabyte erzielte, werden wahrscheinlich mit anderen Laserwellen auch die opto-elektronischen Speichermedien in den Terabyte-Bereich bringen und das zu zunehmend adäquaten Preisen.293 Zusammen mit den Preisen minimierte sich auch die Grösse dieser Speichermedien – z.B. von 8-Zoll- über 5¼-Zollzu 3½-Zoll-Disketten – oder die gleiche Grösse beherbergt signifikant mehr Speicherkapazität. Damit wird physischer, hardware-basierter Datenaustausch zunehmend einfacher und mobiler. Ein Teil der Folgen dieser Entwicklung in Richtung steigender und billigerer Speicherkapazitäten ist unschwer zu erkennen: Realisierbare Suggestionen unendlicher Speicherkapazitäten haben Einfluss auf das Speicherverhalten. Je schneller, einfacher und billiger Informationen für den Abruf zu späteren Zeitpunkten (d.h. nicht-flüchtig) fixiert werden können, desto mehr wird individuell und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gespeichert und desto weniger scharf treten Selektionsprozesse auf.294 Diesen enorm gestiegenen und gleichzeitig billigeren Speicherkapazitäten der Hypersphäre stehen jedoch deutlich geringere Haltbarkeiten im Vergleich zu den Speichermedien der Grafosphäre gegenüber. Haltbarkeit meint hier vor allem die Lebensdauer dieser Speichermedien und damit die Frage, wie lange die darauf gespeicherten digitalen Informationen verlustfrei ausgelesen werden können. Natürlich variieren diese Haltbarkeiten in Abhängigkeit bestimmter externer Einflüsse wie z.B. Temperaturen, etwaige Erschütterungen oder Häufigkeit der Anwendung, vor allem aber variieren sie entlang der konkret angewandten Speichertechnik: Im Bereich der magnetischen 293 Völz (2007b), S.575 und S.614. Oder wie A. Assmann formuliert: „Je knapper die Speicherkapazität bemessen ist, desto entscheidender die Auswahl und desto wertvoller der Inhalt.” (A. Assmann 2009: S.123); weitere Ausführungen zu den Folgen dieser hypomnétischen Gegenwart auf die Ausprägung von anamnésis in Kapitel 4. 294 99 Speichermedien wird heute von den Hardwareherstellern beispielsweise für Festplatten eine (garantierte) Lebensdauer von ca. 5 bis 7 Jahren angegeben.295 Für elektronische Speichermedien wie den Flash-Speichern in SSDs werden derzeit noch geringere Angaben zwischen 3 und 5 Jahren gemacht.296 Die genaue Lebensdauer ist abhängig von der durchgeführten Anzahl der Lese- und Schreibvorgänge sowie diverser – eben bereits beispielhaft benannter – externer Einflüsse. Bei den opto-elektronischen Speichermedien wie CD-DA und CD-ROM hingegen können Lebensdauern von mehr als 50 Jahren angenommen werden. Diese Zahl sinkt jedoch auch hier dramatisch, wenn man vom gepressten opto-elektronischen Speichermedium auf wiederbeschreibbare umstellt. Für CD-Rs, CD-RWs etc. beträgt die Haltbarkeit dann nur noch 5 bis 10 Jahre.297 Und selbst wenn man bereits heute spezielle Speichermedien für vergleichsweise langfristige Zeiträume entwickelt hat, wie die Century-CD, deren Lebensdauer auf mindestens 100 Jahre angegeben wird298, so zeigt sich doch, dass die hier angegeben Zeiträume von ca. 3 bis 100 Jahren die Speichermedien der Vergangenheit in Bezug auf Haltbarkeit nicht ernsthaft konkurrenzieren können.299 Die Haltbarkeit der Speichermedien ist jedoch nur eine Seite der Medaille, die andere ist die der Lesbarkeit. Was zwar physisch in Form von Speichermedien an Informationen vorhanden ist, aber nicht mehr verarbeitet werden kann aufgrund fehlender Basistechnik, ist ebenso für die Prozesse der Erinnerung verloren, wie die Informationen auf zerkratzten CDs. (Speicher-) Hardware braucht demnach (Lese-)Hardware, um als technisches Gedächtnis für Prozesse der anamnésis zur Verfügung zu stehen. Mit anderen Worten: In der hypomnétischen Gegenwart brauchen Maschinen zunächst Maschinen, bevor an der sich daran anschliessenden Mensch-Maschinen-Schnittstelle kultureller Sinn für die Ausprägung von Erinnerungskultur übertragen werden kann. 295 Völz (2007b), S.512. Bayer (2008). 297 Völz (2007b), S.619. 298 Völz (2007b), S.619; Eine Century-CD kann mitunter die gespeicherten Informationen auch über deutlich längere Zeiträume sicher verwahren – 1000 Jahre werden hier von Völz genannt. Allein, es fehlt bis jetzt die Überprüfbarkeit. 299 Vgl. auch Völz: „Inzwischen sind viele optische Medien langfristig in Klimaschränken unter extremer Temperatur und Feuchte zur beschleunigten künstlichen Alterung getestet. Sie belegen genauso wie die Tests mit lang anhaltendem, hellem Licht die große Stabilität der Daten. Natürlich sind 50 oder gar 100 Jahre, verglichen mit der Haltbarkeit von guten Drucken, Mikrofilmen oder gar Steindokumenten, eine recht kurze Zeit. Doch sie ist bestimmt länger, als es CD-Wiedergabegeräte geben dürfte.“ (Völz 2007b: S.619). 296 100 Hiermit befinden wir uns in einer neuen Situation, die Teil der zweiten kybernetischen Zäsur ist und je nach Interpretation als zusätzliche Amputation oder (organologische) Erweiterung angesehen wird.300 Unabhängig von den spezifischen Einschätzungen zeigt sich das von Simondon als charakteristisch für das kybernetische Zeitalter angegebene technische Ensemble hier für den Gedächtnisdiskurs auf besondere Weise ausgeprägt: Der Mensch ist als Koordinator oder blosses Element in diesem technischen Ensemble auf die Interaktion und Kommunikation zwischen den Maschinen angewiesen. Störungen in diesem technischen Ensemble bedingen Störungen an der MenschMaschinen-Schnittstelle, woraus sich der Schluss ziehen lässt, dass in der Epoche des Digitalen der (Schnittstellen-)Defekt von zentraler Bedeutung ist. Die Folgen eines derart komplexen technischen Ensembles, in dem eine direkte Kommunikation zwischen Mensch und Maschine nicht mehr in allen Bereichen möglich ist, zeigen sich insbesondere für die Erinnerungsfähigkeit der jüngeren (Kultur-)Geschichte. Die schnellen technischen Zyklen nicht nur auf Seiten der Speicher-Hardware, sondern auch auf Seiten der Lese-Hardware haben dazu geführt, dass ein Grossteil der erforderlichen Basistechnologie nicht mehr oder nur teilweise zur Verfügung steht. Geräte zum Auslesen von Videokassetten, Disketten oder Kassetten beispielsweise haben die meisten Haushalte und Gedächtnisinstitutionen verlassen. Die Konsequenzen lassen sich an den folgenden Beispielen ablesen301: „Mein Versuch, in der Mediathek der Kunsthochschule für Medien in Köln die 5-ZollDiskette als Anlage zur Publikation von Alan Turing, Intelligence Service, einzulesen, scheiterte am Imperium von Macintosh und an der Unmöglichkeit, unter den wenigen, in der Verwaltung verbliebenen PCs noch Maschinen mit entsprechenden Laufwerken zu finden.“ (Ernst 2001: S.261) Und Gschwind und Rosenthal konstatieren in einem Gespräch mit Holl in Bezug auf die Video- und Fernsehkultur des vergangenen Jahrhunderts: „L.R.: Bei den Videoformaten ist die Situation schlicht dramatisch. Alle alten Formate bis hin zu U-matic können nicht mehr gerettet werden. U.H.: Das umfasst ca. 10 Jahre Fernsehzeit… 300 Vgl. Abschnitt 3.1.3. Diesen Gedankengang inkl. der folgenden Zitate übernehme ich aus meinem Artikel “Kleines Zerstörungsalphabet” (Vgl. Gärtner (2013), S.159f.). 301 101 L.R.: Mehr! Das geht von den 2-Zoll-Bändern der frühen 50er Jahren bis zum U-matic der 70er Jahre. Alles eigentlich verloren! […] Das Problem ist, dass die Datenträger, die Bänder, zwar zum Teil noch brauchbar sind, aber die Geräte nicht mehr. Diese Geräte können heute nicht mehr gebaut werden, weil die gesamte Technologie ringsherum fehlt.“ (Gschwind / Rosenthaler 2010: S.109) Das Fehlen der Lese-Hardware reicht also aus, um einen signifikanten Teil der jüngeren (Kultur-)Geschichte irreversibel zu vernichten. Schlichtes Nichts-Tun ist damit eine der grössten Gefahren für anamnésis in der hypomnétischen Gegenwart. Die Strategien zum Erhalt bzw. zum langfristigen Gebrauch von hypomnésis setzen daher auf beiden Seiten der Hardware an: Zum einen müssen die auf der Speicher-Hardware fixierten Informationen entsprechend ihrer prognostizierten Haltbarkeit stetig auf neue Speichermedien übertragen werden und zum anderen muss die erforderliche Lese-Hardware für nicht übertragene Informationen archiviert werden. Für letzteres werden verschiedene Umsetzungsoptionen diskutiert: Es finden sich u.a. bei Ernst und Sick Überlegungen zu einem Technikmuseum, in dem parallel zur veränderten Speicher-Hardware auch die Lese-Hardware aufbewahrt wird. Des Weiteren werden Möglichkeiten in Betracht gezogen, die entweder auf die „Nachahmung veralteter Hardund Software auf Computern der jeweils aktuellen Generation“ (Ernst 2007: S.307) abzielen oder die Umwandlung digital vorliegender Informationen auf analoge Speichermedien propagieren, die dann bisweilen technische Lese-Hardware auf menschliche Lese-Hardware in Form von Augen zurückführen.302 Eine grössere Unabhängigkeit vom Zuhandensein veralteter Lesegeräte durch permanente Datenmigration auf stets neue Speicher-Hardware nach dem Modell permanenter Übertragungen des Arbeitsspeichers birgt indes auch eine Risiken: Ähnlich wie sich ein gewisser Gedächtnisschwund bei der Umwandlung analoger in digitale Informationen zeigte, ergeben sich auch Verluste bei der Migration der Daten von einem auf den anderen digital operierenden Speicher. Verluste, die entweder banaler Weise durch das Bedienungselement Mensch verursacht werden303 oder auf der von Ernst 302 Vgl. u.a Ernst (2007), S.307 und Sick (2004), S.8. Völz rechnet ca. 50% der Datenverluste menschlichem Fehlverhalten zu. Die restlichen 50% teilen sich wie folgt auf: 20% Hardware-Ausfälle, 15% Softwarefehler, 7% Naturkatastrophen, 8% böswillige Attacken. (vgl. Völz (2007b), S.460). 303 102 gestellten Frage beruhen: „Wie unabhängig sind Daten von der Physik ihres Speichers?“ (Ernst 2007: S.306). Während sich für diese Frage in Bezug auf die SpeicherHardware vorangegangener Epochen eindeutigere Positionen finden lassen – beispielhaft sei hier auf den ästhetisch-emotionalen, aber auch kulturgeschichtlichen Informationswert der Hardware namens Papier und Buch hingewiesen –, ist der Fall für Speicher-Hardware der hypomnétischen Gegenwart noch nicht so sicher. Es bleibt aber nicht auszuschliessen, dass der Anblick einer gut erhaltenen 8-Zoll-Diskette in Zukunft ähnliche Verzückung und gleichzeitig kulturellen Informationswert liefern wird, wie ein gut erhaltenes Buch aus dem 15. Jahrhundert. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Speicher-Hardware der Gegenwart ihre Beliebigkeit gegenüber der Information weiter ausgebaut hat: Wenn der Speicher der Information zunehmend in den Hintergrund rückt, dann haben sich die Signifikanten in der binärcodierten Sprache des Digitalen nicht nur von der Bedeutung befreit, sondern auch von ihrem Trägermaterial. Wichtig ist dann allein, dass sie irgendwie erhalten und ausgelesen werden. Sie unterstehen damit dem Paradigma stetiger Übertragung und / oder dauerhaften Erhalt der Basistechnologie. Ein derartiger Fluss der Informationen, die auch jenen Teil umfassen, den wir kulturellen Sinn nennen, gleicht im Momentum der steten Übertragung der hypomnésis mündlich tradierender Kulturen – die Informationen auf der Hardware namens Gehirn mussten aus Endlichkeitsgründen des Menschlichen für die Weitergabe kulturellen Sinns gleichermassen stetig übertragen werden.304 Persistente und transiente Speichertechniken bezeichnen auch die beiden Pole, zwischen denen hypomnésis in der Gegenwart oszilliert.305 Für Computer-Hardware als zentrale Ausprägungsform heutiger Gedächtnis-Hardware lassen sich aus dem bisher Aufgezeigten folgende, wesentliche Aspekte mit Hinblick auf die Analyse hypomnétischer Gegenwart zusammenfassen: Während sich die Verarbeitungshardware dem Namen nach auf die Verarbeitung aktuell ablaufender Prozesse konzentriert und daher Speicherung (über die Zeit) nur für eine gewisse, meist nur sehr kurze Zeit notwendig ist, setzt Speicherperipherie-Hardware auf die nicht-flüchtige, d.h. permanente Fixierung der Informationen. Permanent ist indessen mit anderen Zeiträumen korreliert: Die unterschiedlichen Speichertechniken decken 304 305 u.a. Sick (2004), S.8f. Vgl. auch Merzeau (2008), S.117f. 103 verlustfreie Speicherungen zumeist nur über mehrere Jahre bis maximal mehrere Jahrzehnte ab und erfordern zudem gespiegelte Maschinen, die die gespeicherten Informationen lesen können. Im Gegensatz zu den Speichermedien der Grafosphäre kann Persistenz kulturellen Sinns aufgrund der transienten Eigenschaften auch der nichtflüchtigen Speichermedien daher nur mit den Mitteln steter Migration und d.h. Übertragung sichergestellt werden. Hierfür bilden die flüchtigen Arbeitsspeicher der Verarbeitungs-Hardware das Modell: Stete Überschreibung mit den aktuell benötigten Daten und Befehlen wird zur Erzeugung von Daten-Persistenz übersetzt in beständige Datenmigration. Vom „ROM zum RAM“ (Ernst 2007: S.305) lautet die Kurzformel bei Ernst für diese Veränderung. Als Denkmodell für hypomnétische Gegenwart verstanden, steht diese Losung für die hardwareseitige Zäsur der zweiten kybernetischen Phase. Prozessual-technisch betrachtet müsste sie jedoch präziser formuliert werden als >ROM wie RAM<: Denn zunächst gibt es nicht-flüchtige Speicher wie elektronische Festwertspeicher der Form ROM, opto-magnetische Speicher der Form CDROM oder magnetische Speicher ja auch weiterhin. Ihre technisch bedingten Haltbarkeiten erfordern jedoch eine Arbeitsweise, die derjenigen der flüchtigen RAM-Speicher ähnelt. Hardwarebasierte hypomnésis der Gegenwart nähert sich damit den Prozessen der anamnésis: Konkrete Ausprägungsformen von Erinnerungskultur basieren u.a. auf einem selektiven Übertragen306 – Selektionen, die aus anamnétischer Perspektive inhaltlich, also dem Sinn nach geprägt sind. Beim hardwareseitigen Übertragen von Informationen kommen gleichermassen Selektionsprozesse zur Geltung. Diese setzen jedoch bereits vor dem Sinn an und sind daher technikimmanente Selektionen. Denn wo technisch übertragen wird, da wird auch ausgelassen und vergessen, also selektiert. Wie jede Übersetzung, gibt es auch bei dem Übersetzen der Daten von einem Speichermedium auf das andere – wie schon bei den Analog-Digital-Übersetzungen gesehen – Übersetzungsverluste, d.h. >Gedächtnisschwund auf RAM- / ROMBasis<. 306 Ausführliche Beschreibungen zur (Ausprägung von) Erinnerungskultur s. Kapitel 4. 104 3.2.3 Software-Berichte Für die Beschreibung hypomnétischer Gegenwart und ihrer Implikationen auf Erinnerungskultur gilt aber auch: Keine Hardware ohne Software. Die hier artikulierten Hardware-Ausprägungen bezeichnen nur eine Seite hypomnétischer Gegenwart, weitere Konsequenzen finden sich auf der Seite der Software. Beide Seiten stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Mit Blick auf gegenwärtige Computertechnologien kann diese Beziehung präziser definiert werden als stetige Rückkopplung zwischen den Möglichkeiten der Hardware und den Möglichkeiten der Software.307 Einzig die Entwicklungsgeschwindigkeiten zwischen beiden differieren manchmal.308 Prinzipiell sind es aber Hardware und Software, die zusammen erinnerungskulturelle Prozesse auf signifikante Weise bestimmen. Und ähnlich wie der Hardware-Begriff eingangs weiter gefasst wurde als materielle Erscheinungsform des technischen Gedächtnisses, so umfasst auch der Software-Begriff hier prinzipiell alle Programme und die in ihnen ausdrückbaren semiosefähigen Kommunikationsinstrumente – Sprache, Bilder, Töne –, die dauerhaft Sinn produzieren können.309 Gramma, Programm, Programmierung Programme sind exakt-formelle Vorschriften, die in einer der Anwendung bzw. dem Anwender adäquaten, spezifischen Sprache formuliert werden.310 Technische Grundlage zur Definition der AusführungsvorSCHRIFTen ist das Schreiben eines Pro- 307 Kittler (1998), insbesondere S.6. Vgl. dazu auch Kittler: „Im Unterschied zu aller Hardware der Geschichte hat die programmierbare Hardware in den fünfzig Jahren ihrer Existenz bislang ein Entwicklungstempo vorgelegt, das ihre Leistungsfähigkeit – so Gordon Moores Gesetz – aller achtzehn Monate schlicht verdoppelte. Aber gerade die ungeheure Beschleunigung gegenüber den Evolutionsraten natürlicher wie auch kultureller Systeme […] hat Probleme aufgeworfen, die schließlich die NATO höchstselbst auf den denkwürdigen Namen Softwarekrise taufte. Programme scheinen, anders gesagt, außerstande, mit der Hardware-Evolution noch mitzuhalten, einfach weil Programmierer nicht aller achtzehn Monate doppelt so gut programmieren.“ (Kittler 1998: S.7). 309 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2.; insbesondere auch Fussnote 209; Fokussiert auf die Computertechnologie umfasst der Begriff „Software alle Programme, Prozeduren und Objekte, die ein Rechnersystem lauffähig machen […], zusammen mit zugehörigen Daten und der Dokumentation […]“ (Claus / Schwill 2006: S.620). 310 Claus / Schwill (2006), S.521. 308 105 gramms und Programmierung im heutigen Sinne damit nur die technische Antizipation eines Grammatisierungsprozesses311, der mit der Schrift einige tausend Jahre früher eingesetzt hat. Programme und Software im weiteren Sinne basieren demnach auf Techniken zur Verschriftlichung einer Reihe von künstlichen oder natürlichen Sprachen, die ihren je eigenen Grammatisierungsprozess aufweisen und durch diesen direkt oder indirekt den Menschen rückkoppelnd >grammatisieren<: Grammatologie hat Derrida diese Wissenschaft von der Schrift genannt. Sie basiert auf dem zentralen Gedanken, dass die traditionellen Vorstellungen der Metaphysik, wonach die Schrift im platonischen Sinne nur zweitrangig, „Technik im Dienst der Sprache“ ist (Derrida 1983: S.19), aufgehoben werden müssen zugunsten einer >différance<, in der es keine Hierarchie >Signifikat über Signifikant< gibt.312 Die in dieser Hierarchie geäusserte Oppositionen des Draussen (Signifikant) und Drinnen (Signifikat) und damit alle sophistischen Assoziationen von Schrift als blosser Nachahmung, Nicht-Wahrheit etc. lösen sich bei Derrida auf in „Das Draußen ist das Drinnen“ (Derrida 1983: S.77). Derrida stellt aber nicht nur die Priorisierung des Signifikats in Frage, er ordnet die Schrift darüber hinaus in die grundlegende „Geschichte des gramma“ ein (Derrida 1983: S.149), in der die Schrift lediglich eine Etappe unter vielen anderen technischen Programmen darstellt.313 Mit dem so angewandten Begriff des Programms setzt Derrida auf den Überlegungen von Leroi-Gourhan auf: Jegliche Exteriorisierungen, vom einfachsten Werkzeug bis hin zu den modernen Operationsketten der Maschinen, stellen ein (technisches) Gedächtnis dar, in welchem (Verhaltens-)Programme gespeichert sind.314 Derartige Programme, die der Technik auf unterschiedliche Weise eingeschrieben sind, bestimmen die Mensch-Maschinen-Kette und mithin den Menschen selbst – hier zeigt sich der Grammatisierungsprozess, durch den das Subjekt im Rahmen zirkulärer 311 Der Begriff >Grammatisierung< steht bei Stiegler für den Exteriorisierungsprozess des Gedächtnisses und den damit einhergehenden konstitutiven technologischen Bedingungen für den Menschen. Der Begriff basiert auf den Ausführungen bei Sylvain Auroux (vgl. Stiegler (2009a), S.93f., Fussnote 27 (Anmerkung des Hrsg.)). 312 Derrida (1983), S.77ff. 313 Derrida (1983), S.149. 314 Leroi-Gourhan (1988), insbesondere Kapitel VII und S.296ff., vgl. dazu Derrida (1983), S.149f. und Stiegler (2009a), S.128. (Leroi-Gourhan hat mit der Rekonstruktion einzelner Entwicklungsstadien des Menschen die diversen Stadien der technischen Exteriorisierung aufgezeigt und so das Menschliche durch das Technische bestimmt.). 106 Feedbackschleifen grammatisiert wird. Schrift als Grammatisierung natürlicher Sprachen ist hierbei eine Technik und die Programmierung von Maschinen dann eine andere. Beide stellen jedoch im Gegensatz zu den implizit eingeschriebenen Programmen, wie sie in Werkzeugen etc. anzufinden sind, explizite Programme dar.315 Allen Grammatisierungsprozessen ist darüber hinaus gemeinsam, dass sie eine „exakte Formalisierung des Gedächtnisses“ (Stiegler 2009c: S.110, eig. Übersetzung) aufzeigen. Die den expliziten und impliziten Programmen jeweils zugrundliegenden spezifischen Grammatiken produzieren demnach auch, so Stiegler, unterschiedliche Regeln für die Formalisierung des Gedächtnisses.316 Nun zeigen sich heute mit Blick auf die expliziten Programme einige Änderungen, wie es sich in der unterschiedlichen Anwendung des Begriffes Programm bereits angedeutet hat: Zu den Schriften der natürlichen Sprachen sind seit einigen Jahrzehnten eine ganze Reihe künstlicher Sprachen hinzugetreten – Programmiersprachen, die erstmals schon ihrem Namen nach verdeutlichen, was sie gedenken zu tun: Nämlich Steuerungsanweisungen zu geben, nach denen die Maschinen rechnen und d.h. am Ende subjektiv erfassbaren Sinn erzeugen sollen. Diese Programmiersprachen und die darauf basierenden Programme haben in den letzten Jahrzehnten eine ähnliche rasante Entwicklung durchgemacht wie die Hardwarekomponenten von hypomnésis. Eine neue Sprachvielfalt auf Basis künstlicher Sprachen ist entstanden317, die neue Grammatisierungen parat hält und das beobachtbare Aussterben natürlicher Sprachen vielleicht nicht kompensiert, aber zumindest doch neue Formalisierungsregeln für hypomnésis bereitstellt.318 Ihre Namen richten sich nicht mehr ethnischen, nationalen etc. und d.h. auch raum-zeitlich zuordenbaren Entitäten, sondern nach ihren Erfindern, ihrem Einsatzgebiet (z.B. COBOL: >common business orientated language<) oder auch spezifischen Funktionen (z.B. SIMULA). Solche Programme, im heutigen d.h. computertechnologischen Sinne, unterscheiden sie sich von den Schriften natürlicher Sprachen zunächst und vor allem dadurch, dass sie Menschen und Sinnerzeugung an neue Grammatisierungsregeln binden. 315 Woraus sich bereits die einleitend vorgenommene Differenzierung in Technik und technische Medien ergeben hat. (vgl. Abschnitt 3.2). 316 Stiegler (2009c), S.110. 317 Vgl. auch Lyotard (2009), S.110 (Sprachvielfalt der Postmoderne im Rahmen von Wissenschaft). 318 Sick (2004), S.14. 107 So wie die Hardware hypomnétischer Gegenwart ihre (parallel mitlaufenden) Vorgänger in Steinen, Pergament, Papier etc. findet, so setzt auch die Software auf den Techniken und Grammatisierungsprozessen des Schreibens natürlicher Sprachen auf, um sie dann zugleich zu überführen in neue Grammatisierungsprozesse der computerbezogenen Programmiersprachen und ihrer Anwendungsprogramme. Damit erlangt hypomnétische Gegenwart neue Software-Eigenschaften und d.h. Gedächtnisformalisierungen. Eigenschaften digitaler Programmierung Analog zur dominanten Software der Grafosphäre – dem Schreiben natürlicher Sprachen – finden sich auch in den Programmiersprachen verschiedene Sprachfamilien mit ihren je spezifischen Sub-Grammatiken. Die Ausgestaltung dieser Sub-Grammatiken war und ist getrieben durch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie Computer-Software der Video- und Hypersphäre funktionieren und aufgebaut werden soll. Pflüger macht für die Zeit ab ~1950 drei Etappen zur Beschreibung der unterschiedlichen Programmiersprachen-Grammatiken aus, die er – in Anlehnung an Brooks – unter den Schlagworten „writing, building, growing“ (Pflüger 1994: S.178) subsumiert: 319 320 >Writing< steht bei ihm für eine erste Phase der Programmierung, in der sich Software ganz den Möglichkeiten der Hardware anpassen muss, und d.h. insbesondere den Hardware-Bedingungen der sich etablierenden VonNeumann-Architektur mit geringen und sehr teuren Speicherkapazitäten. Vor diesem Hintergrund heisst Programmierung in der kybernetischen Anfangszeit vor allem maschinennahe, möglichst einfache Codierung unter dem Diktat der Hardware.319 Programmierungen sind zu diesem Zeitpunkt vor allem Antworten auf spezifische Problemstellungen – systematische, gesamtheitliche Programmierungen sind für diese Zeit noch nicht charakteristisch.320 Pflüger (1994), S.162f., S.178. Pflüger (1994), S.164. 108 >Building< steht für eine zweite Phase der Programmierung, in der sich Vorstellungen und Umsetzungen von Programmierungen von den hardwarebasierten Einschränkungen lösen können und die Entwicklung von Programmiersprachen daher vermehrt nach bestimmten strukturellen Überlegungen verläuft. Die vormals stark individuell geprägten, durch singuläre Problemstellungen getriebenen >Grammatiken< sollten in >echte Grammatiken< und d.h. in strukturierte Programmiersprachen überführt werden. Zielsetzung war es, so ist bei Pflüger zu lesen, eine höhere Zuverlässigkeit, Anpassungsfähigkeit und Wiederverwendbarkeit für Programmiersprachen zu etablieren.321 Als Grammatisierungsstrukturen wurden dafür Prozesse, Funktionen oder Regeln zugrunde gelegt. Entsprechend dieser Strukturierungsansätze entwickelten sich daraus prozedurale, funktionale oder logische Programmiersprachen. Derartige Strukturierungen arbeiten mit definitiven Platzzuweisungen, was in geschlossenen Systemen geeignet scheint, in den offenen Systemen der Hypersphäre, spätestens mit der zweiten kybernetischen Zäsur aber zu grösseren Nachteilen führt. >Growing< steht daher für eine dritte Phase der Programmierung, in der von statischer Programmierung auf dynamische Programmierung umgestellt wird.322 Konkret bedeutet das, „eher eine Entwurfstechnik als eine Programmiersprache im Blick“ (Pflüger 1994: S.173) zu haben, in der die Selbstorganisation der Objekte im Vordergrund steht. Hohe Anpassungsfähigkeit und Wiederverwendbarkeit sind die Folge. Die im vorigen Abschnitt (3.2.2) aufgezeigten Veränderungen in den Eigenschaften der Hardware spiegeln sich damit auch in den Programmiersprachen wider: Die Dynamisierung der Hardware, wie sie sich insbesondere in den Prozessen der stetigen Datenübertragung in den Speicher(peripherie)n zeigt, wird auf der Software-Seite als Entwicklung von statischen Maschinencodes hin zu dynamischen, objektorientierten Programmierungen nachvollzogen. Software-Programmierung folgt damit ebenso der Dynamisierungstendenz des kybernetischen Zeitalters. 321 322 Pflüger (1994), S.166f. Pflüger (1994), S.179. 109 Neben den Unterschieden in den einzelnen Entwicklungsetappen der Programmierung gibt es jedoch auch eine Reihe von übergeordneten Grammatik-Eigenschaften, die diese Programmiersprachen und ihre Anwendungsprogramme der Hypersphäre wesentlich von der Software der Grafosphäre unterscheiden: Dazu zähle ich insbesondere Unterschiede in der Haltbarkeit und Lesbarkeit (1), den Grad der Alphabetisierung (2) sowie den Umfang der Funktionalisierung (3). (1) Wirft man einen Blick auf Saussure, dessen bevorzugtes Forschungsfeld die natürlichen Sprachen waren, erfährt man über Sprache Folgendes: „Sie ist […] ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen.“ (Saussure 2001: S.11) Und weiter: „Sie ist der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom Einzelnen, welcher für sich allein sie weder schaffen und umgestalten kann; sie besteht nur kraft einer Art Kontakt zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft.“ (Saussure 2001: S.17) Kollektive Entwicklung über die Zeit und damit Sprache als Produkt einer Gemeinschaft und ihrer Konventionen werden hier bei Saussure als zwei zentrale Eigenschaften natürlicher Sprachen benannt. Diese Eigenschaften führen zu einer hohen synchronen und diachronen Sprachstabilität.323 Haltbarkeit und Lesbarkeit der natürlichen Sprachen sind so auch über sehr lange Zeiträume gegeben. Die Entwicklung von Programmiersprachen und ihren Anwendungsprogrammen folgt dagegen anderen Gesetzen: Nicht mehr das Kollektiv entwickelt Sprache gemeinschaftlich (weiter), sondern ein Einzelner (Programmierer) oder eine verhältnismässig kleine Gruppe verantwortet die Entstehung und Anwendung neuer Programmiersprachen. Konventionen, die für diese Sprachentwicklung gelten, gehorchen nicht gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen, sondern konsequenterweise den Motivationen der Entwickler. Solche Motivationen folgen trotz einer breiten Open-Source-Bewegung in der Mehrheit der Fälle wirtschaftlichen Überlegungen. Das hat Konsequenzen für die Haltbarkeit und 323 Sick (2004), S.14f. 110 Lesbarkeit von Software: Die Haltbarkeit von Programmiersprachen kann insbesondere den diachronen Zeiträumen natürlicher Sprachen nicht mehr folgen. Unterschiedliche Vorstellungen über Funktion, Aufbau etc. der Programmiersprachen – wie aus den vorgestellten Etappen ersichtlich wurde – führen zu stetigen Sprachänderungen, -verwerfungen und -neuheiten. Sie werden vorrangig getrieben durch dahinter stehende wirtschaftliche Anforderungen. Dynamische Programmiersprachen der Art objektbezogener Programmierung lassen zudem vergleichsweise schnell neue SubGrammatiken entstehen – hohe Sprachflexibilität steht hier den Anforderungen der Sprachstabilität gegenüber. Analog den Hardware-Eigenschaften ist die Haltbarkeit der Programmiersprachen wiederum nur eine Seite der Medaille. Auch die Lesbarkeit dieser künstlichen Sprachen stellt anamnésis vor grosse, wenn nicht gar grössere Herausforderungen. Denn so wie Speicher-Hardware Lese-Hardware braucht, um gespeicherten Sinn für Subjekte freisetzen zu können, so brauchen Programmiersprachen und deren Programme umgekehrt nun Übersetzungen für die Maschinen. (Inkrementelle) Compiler oder Interpreter bieten Übersetzungsmöglichkeiten an und erzeugen damit eine weitere Abhängigkeit – diesmal als Software-Software-Schnittstelle –, die die Lesbarkeit heutiger Programme schon in einigen Jahrzehnten ungewiss erscheinen lässt.324 Ein Technikmuseum sollte daher um eine Software-Abteilung erweitert werden. Haltbarkeit und Lesbarkeit von Software unterliegen aber nicht nur ihren eigenen technikimmanenten Gesetzmässigkeiten, sie werden zudem durch aktive Formen der Zerstörung deutlich begrenzt: Programme der Art Computerviren, Würmer oder Trojaner haben zum Ziel, Software zu manipulieren oder ganz ausser Kraft zu setzen. Insbesondere die Lesbarkeit von Software und damit die Ausführbarkeit von Programmen sind damit abhängig von gleichzeitiger, permanenter Softwareüberwachung in der Form von Anti-Viren-Programmen. Denn was bisweilen auf der HardwareSeite sogar erwünscht ist – z.B. in Form von Einweg-DVDs, die sich binnen 8 bis 48 Stunden mittels chemischer Reaktion selbst unbrauchbar machen325 – soll auf der Software nicht unkontrolliert durch Schadprogramme geschehen. 324 325 Claus / Schwill (2006), S.704ff; Sick (2004), S.7. Völz (2007b), S.566. 111 (2) Wo Sprache und Schrift nicht mehr dem Kollektiv unterstehen, da ist auch zu vermuten, dass nicht mehr alle lesen und schreiben können. Programmiersprachen-Analphabetismus ist eine weit verbreitete Sache und führt dazu, dass sich ähnlich wie in den Anfängen literaler Kulturen eine neue Schreib-Elite herausgebildet hat, die mit Programmierartistik, Spaghetti-Codes und schwarzer Kunst326 umzugehen weiss. Folglich sind die Partizipationsmöglichkeiten in der Rolle als aktiver Gestalter, d.h. als Produzent, an den softwarebasierten Grundlagen für anamnésis für die meisten stark eingeschränkt bis nicht vorhanden: „Wo Gutenberg-Galaxis und die neue Medienwelt aufeinandertreffen, scheiden sich [daher] die Geister konkret in Software-Designer und „Anwender“.“ (Bolz 1994: S.9) Wobei die Anwender der künstlichen Sprachen im Gegensatz zu denen der natürlichen Sprachen weder schreiben noch >sprechen<327 können – es handelt sich also um einen Analphabetismus zweiten Grades, für dessen Beseitigung wenig getan wird. (3) Software-Umstellung vom Kollektiv auf Individuum heisst im Falle gegenwärtiger Programmierungen auch Umstellung von Gemeingut auf Privatgut und d.h., wie Sick aufgezeigt hat, eine Umstellung auf >Sprachpatente<328. Patente sind entgegen dem lateinischen Ursprung des Wortes, etwas offen zu legen, nicht offen für alle. Der Sesam der einzelnen Programmiersprachen und Programme öffnet sich für die meisten erst bei ausreichender Liquidität zur Bezahlung der Nutzungsrechte und für einige wenige durch ausreichende Hacker-Kenntnisse. Programme und ihre zugrundeliegenden Sprachen werden so zu Funktionen von Wirtschaftlichkeit. Prinzipiell ist das nichts Neues, denn hypomnétische Hardware, wie Bücher und Computer, unterstehen schon sehr lange, ggf. schon immer, wirtschaftlicher Rationalität. Für Software in der Form programmbasierten Schreibens und Sprechens ist damit indes ein Novum eingeführt worden. Und weil die Software (metaphysisch-)traditionell dem subjektiven Geist näher steht als die Hardware, sind die Aufregungen über kostenpflichtige Programmangebote grösser als über zu bezahlende Computer-Hardware. Wahrscheinlich auch deshalb, weil Geist und Technik im Schreiben (von Programmen) eine besondere Symbiose eingehen, die >intuitiv< als frei zugänglich und nicht proprietär betrachtet 326 Bezeichnungen für unorthodoxe Entstehungsprozesse von Programmen (insbesondere in den ersten Jahrzehnten der Programmierung); Hagen (1994), S.150. 327 >Sprechen< im Sinne der Anwendung von Programmiersprachen. 328 Sick (2004), S.15. 112 werden. Die Radikalität der wirtschaftlichen Funktionalisierung des Schreibens der künstlichen Sprachen verstärkt das Erstaunen des Anwenders, wenn er hinter die Benutzeroberfläche des digitalisierten Alphabets schaut. Das Wort >Nutzungsrecht< beinhaltet zudem die Möglichkeiten, Software-Rechte zeitlich und anwenderspezifisch zu begrenzen. Individuelle und manchmal auch kollektive Partizipation an Software als Grundlage für anamnésis wird damit an eine permanente Kaufkraft gebunden. Daraus zieht Sick den Schluss, dass wir „uns heute am Übergang von einem Zeitalter des Copyright in ein Zeitalter des Nutzungsrechts [befinden]“ (Sick 2004: S.16), in denen die zu nutzenden Programme und ihre Sprachen abhängig sind vom wirtschaftlichen Angebot-Nachfrage-Spiel. >Digital Rights Management< ist der Ausdruck für die wirtschaftliche Ausgestaltung der Software-Nutzungsrechte, dem ein signifikanter Teil von Software untersteht.329 Die Kompetenzen des Programmierens liegen bei einigen wenigen und manchmal bei den Maschinen selbst, die sich fortlaufend selbst adjustieren, während die Kompetenz der meisten einzig in ihrer Kaufkraft besteht.330 Das ist – neben den wirtschaftlichen Zielen bzw. Zwängen auf der Hardware-Seite – der zweite Akt wirtschaftlicher Funktionalisierung hypomnétischer Gegenwart, die Stiegler unter dem Ausruf >Industrialisierung des Gedächtnisses< zusammenfasst.331 Aus diesen technisch-wirtschaftlichen Konstellationen resultieren wiederum Folgen für den Inhalt. Die weitaus signifikanteste Folge betrifft die inhaltlichen Selektionsmechanismen: Dort, wo das wirtschaftliche System Priorität geniesst, werden Inhalte nicht nach ihrer gesamtgesellschaftlichen Relevanz bewertet, sondern schlichtweg danach, ob sie profitabel sind. Für die Betrachtungen hypomnétischer Grundlagen bedeutet das an dieser Stelle, auf die wirtschaftliche Abhängigkeit von Hard- und Software des technischen Gedächtnisses hinzuweisen. Software-spezifisch bleibt dann festzuhalten, dass die Selektionen analog zur Hardware auch hier zunächst technischer Natur sind, bevor sie inhaltlich geprägt sind: Diese software-spezifischen Selektionen basieren schlichtweg auf dem Zugang zur Technik, der durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt wird. Hypomnésis der Gegenwart untersteht damit auf eine sehr explizite und konsequente Weise den Zielsetzungen ökonomischen Mehrwerts332. 329 Sick (2004), S.15ff. Vgl. Stiegler (2009c), S.130. 331 Stiegler (2009c), Kapitel 3 „The Industrialization of Memory“. (siehe auch Ausführungen in Abschnitt 3.1.3) 332 Stiegler (2009c), S.116. 330 113 Vom Text zum Hypertext Gegenwärtige technische Entwicklungen in der Geschichte des gramma spiegeln sich auch auf der Ebene ihrer Produkte wider: Änderungen in der Software, d.h. Änderungen in den Schreibtechniken – von den Schriften der natürlichen Sprachen zu den Programmen und Programmiersprachen der Gegenwart –, führen zu Änderungen auf der Ebene des Textes. Die wesentlichen Änderungen in der Phase der zweiten kybernetischen Zäsur basieren auf der Entwicklung des Internets und den damit verbundenen (technischen) Möglichkeiten zur Strukturierung und Darstellung von Informationen. Grundlage für derartige Darstellungen von Texten, Verweisen und anderen Inhalten sind Programmierungen auf HTML-Basis (>hypertext markup language<), „mit der man Texte, die Querverweise enthalten […], mithilfe eingestreuter Markierungssymbole (markups) in Seiten aufteilen und die Einzelteile des Textes genau spezifizieren kann“ (Claus / Schwill 2006: S.298). Webbrowser, HTML-Sprache und einige andere technische Voraussetzungen, wie beispielsweise Hypertext Transfer Protokolle (>http<), bilden die technisch weitverbreitete Grundlage für eine Schreibtechnik, die im Ergebnis die Texte der Grafosphäre überführen wird in die Texte der Hypersphäre: Hypertexte weisen in der Folge andere Eigenschaften auf als ihre >traditionellen< Vorgänger. Die Geschichte dieser Hypertexte wird zwar massgeblich durch die Entwicklung und Verbreitung des Internets bestimmt, findet ihre Ursprünge aber bereits in den Vorstellungen Vannevar Bushs zum Memex-System von 1945 sowie in dessen Weiterentwicklungen in Form des Xanadu Hypertext-Systems von Ted Nelson (1972). As We May Think (V. Bush) und As We Will Think (T. Nelson) heissen denn auch die beiden Aufsätze, die die Schreib- und Texttechniken der Hypersphäre in ihren Grundzügen aufzeigen mit dem nicht unwesentlichen Verweis – oder ersten >Hyperlink< – einer damit verbundenen neuen Denktechnik. Memex – „The Human Brain Files By Association“ (Bush 1945: S.101) – sollte ein System zur Gedächtnisorganisation und über die assoziative Art der Organisation gleichzeitig auch ein System zu Sinngenerierung darstellen: „A memex is a device in which an individual stores all his books, records, and communications, and which is mechanized so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility. It is an enlarged intimate supplement to his memory. […] It affords an immediate step […] to associative indexing, the basic idea of which is a provision 114 whereby any item may caused at will to select immediately and automatically another. This is the essential feature of the memex.“ (Bush 1945: S.102f.) Die zugrundliegende (Speicher-)Technik war 1945 noch analog ausgelegt und sollte die assoziativ verknüpfbaren Inhalte (Bücher, Bilder, Zeitungen etc.) auf Mikrofilmen speichern.333 Die Maschine selbst war wie ein Schreibtisch aufgebaut, an dem der Anwender mittels Tastatur die gewünschten und zuvor gespeicherten Inhalte abrufen und selbstständig mit sogenannten >trails< verknüpfen konnte.334 In der von Bush konzipierten Weise wurde Memex nie realisiert. Das Prinzip der assoziativen Verknüpfung von Inhalten per Pfadzuweisung ging aber nicht verloren und wurde schliesslich von Ted Nelson in Form von Hypertexten in seinem Xanadu-System335 verwirklicht. Die Verknüpfungen, die bei Bush noch >trails< hiessen, nannte Nelson >links< und aus den assoziativen Textstrukturen wurden >hypertexts<336: „In Bush’s trails, the user had no choices to make as he moved through the sequences of items, except at an intersection of trails. With computer storage, however, no sequence need be imposed on the material; and, instead of simply storing materials in their order of arrival or of being noticed, it will be possible to create overall structures of greater useful complexity. These may have, for instance, pattern of branches in various directions. Such non-sequential or complex text structures we may call “hypertexts.” […] The best current definition of hypertext […] is “text structure that cannot be conveniently printed.” This is not very specific or profound, but fits best.” (Nelson 1972: S.253) Mit der Durchsetzung eines “Transmission Network” (Nelson 1972: S.255) mit dem Namen Internet und den damit verbunden Techniken in der bereits benannten Form von Webbrowsern, HTML-Dokumenten etc. sind nicht-sequentielle, multidimensional verknüpfbare, komplexe Textstrukturen Gegenstand alltäglicher hypomnétischer Gegenwart geworden. Obwohl schon Nelson betonte, dass „wir Hypertexte unser gesamtes Leben lang gesprochen haben, ohne es zu wissen“ (Nelson 1972; S.254, eig. Übersetzung), gelang ihre Realisierung erst mit den Techniken des kybernetischen Zeitalters. Die durch die Drucktechniken der Grafosphäre erzwungene Linearität der 333 Bush (1945), S.102ff. Vgl. Memex-Abbildung bei Bush (1945): S.109. 335 Die technische Grundlage bildete hier bereits Hardware auf Digitalbasis (Computer). 336 Nelson (1972), S.249, S.252; Endres (2004), S.34ff. 334 115 Texte konnte so überwunden337 und der Software zu grösseren Freiheitsgraden verholfen werden: Texte mit Netzwerkstrukturen und assoziativen intra- und intertextuellen Verknüpfungen sind entstanden, die das technische Diktat der Linearität bezwingen und mit ihren Verknüpfungen Textstrukturen auf neue Weise explizit machen.338 Im Rahmen der allgemeinen technischen Entwicklung in Richtung medialer Verbundsysteme sind auch Hypertextstrukturen nunmehr offen für andere Datenflüsse ausserhalb der Schrift. Akustische und optische Informationen können heute gleichermassen in ihnen aufgenommen werden. Aus den Hypertexten werden auf diese Weise Hypermedien, wenngleich sie strukturell betrachtet nichts anderes als Hypertexte mit multimedialen Inhalten sind.339 Hypertexte (oder Hypermedien) sind demnach Textstrukturen, die assoziativ generierbaren, multimedialen und multidimensionalen (kulturellen) Sinn erzeugen und damit neue Formen der Sinnproduktion und -übertragung ermöglichen. Hypertexte spiegeln als Möglichkeit für vielfältige Realisierungen von Hyperdokumenten340 eine >neue< Offenheit von Texten wider.341 Sie entspricht softwareseitig der bereits bei Simondon proklamierten Umstellung von geschlossenen auf offene Maschinen in der zweiten kybernetischen Phase. Hardware-Entwicklungen in Richtung flüchtiger Speicher finden ihr Pendant so auf der Schreib- und Anwendungsebene des Hypertextes wieder: Flüchtige Texte entstehen, die je nach aktuellem Bedarf durch die Realisierung von Verlinkungen neu geschrieben werden und damit die Entwicklung hypomnétischer Gegenwart von statischen hin zu dynamischen Ausprägungen auch auf der Software-Seite nachzeichnen. 337 Nelson (1972), S.254. u.a. Streitz (1990), S.13, S.17. 339 Streitz (1990), S.14. 340 Ein Hyperdokument beschreibt genau eine mögliche Textrealisierung unter vielen anderen auf Basis individueller oder kollektiver Selektionen. vgl. Endres (2004), S.41f. 341 Offene Text- und damit Sinnstrukturen sind keine originäre Erfindung von Digitaltechnik in der Form von Hypertexten / Hypermedien: Auf analogen Speichermedien realisierte Fussnotenuniversen, Zettelkästen oder nicht-lineare Buchstrukturen wie etwa die rhizomatischen Strukturen bei Deleuze und Guattari oder die >adaptierte< Multimedialität in Buchform wie in Hofstadters Werk Gödel, Escher, Bach sind Beispiele für nicht-lineare und multimediale Hypertexte ausserhalb der Hypersphäre. Die massenhafte Durchsetzung dieser Strukturen gelingt aber erst mit den Techniken der Hypersphäre, und damit mit Hypertext und Hypermedia. (Vgl. u.a. Deleuze / Guattari (1992); Hofstadter (1985)). 338 116 3.3 Zusammenfassende Betrachtung So wie Gedächtnis Vergangenheit für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft verfügbar macht, so werden auch die technischen Konfigurationen der Gegenwart durch ihre eigene Vergangenheit bestimmt. Hypomnétische Vergangenheit ist dabei vordergründig eine Frage technischer Entwicklungslinien, aus denen jeweils andere Formen des technischen Gedächtnisses resultieren. Die bis hierhin aufgezeigte Technogenese, ihre Reflexionen anhand ausgewählter philosophischer Vertreter zu drei exemplarischen Zeitpunkten, die jeweils zentrale Wendepunkte in dieser Genese darstellen, bildet die Grundlage für die Ausprägungen von hypomnésis der Gegenwart und in der Folge für die Ausprägung von Erinnerungskultur. Die hiermit zur Anwendung kommende Logik einer technischen Bedingtheit erinnerungskultureller Prozesse ist ein zentraler Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit: Spätestens mit dem Beginn der Industrialisierung, und d.h. in diesem Zusammenhang mit einer steigenden Technikwahrnehmung, werden die Fragen der Technik und ihrer Beziehung zu Kultur, Mensch und Gesellschaft insgesamt neu verhandelt. Hypomnésis wird nunmehr als notwendige Grundlage für anamnésis bestimmt und die Weichen für den Gedächtnisund Erinnerungsdiskurs so präzise in Richtung Technik und Technikphilosophie gestellt. Will man also etwas über hypomnétische Gegenwart sagen, muss man etwas über deren Bedingung, und also über ihre eigene technische Vergangenheit wissen. Mit Fokus auf das letzte Jahrhundert wurde diese Vergangenheit in drei Etappen eingeteilt, die jeweils für signifikante technische Zäsuren stehen und dabei unterschiedliche Bewertungen durch ihre Zeitgenossen hervorgerufen haben: Die erste Etappe, um 1900, markiert technisch eine noch auf mechanischer und elektrischer Maschinentechnik fussende (Industrie-)Gesellschaft, die sich mehr und mehr aufmacht, sich wahrhaft zu >zergliedern<, um sich dann wieder industrie- und wirtschaftsgerecht zusammenzusetzen. Der menschliche Körper dient hierfür als Vorbild. Einzelorgane und -sinne werden studiert, durch die aufkommende Ingenieursgilde dieser Zeit technisch nachgebaut, zu Maschinenverbünden zusammengesetzt und schliesslich mittels technisch nachgebauter Sinne wahrnehmungsfähig gemacht. Das Innerste des Menschen wird technisch entäussert, und das wiederum äussert sich in den Vorstellungen von positiv gesetzten technischen Organologien im Sinne eines Kapps oder O. Wieners. Dem gegenüber stehen die Einschätzungen negativer Folgeerscheinungen von Mensch-Maschinen-Zerlegungen, wie sie am Beispiel von Rathenau und Auburtin 117 aufgezeigt wurden und in der Kurzformel >Bewusstwerdung, Erkenntnis, Freiheit vs. Entfremdung, gesellschaftlicher Verfall und Verarmung< zum Ausdruck gebracht werden können. Die zweite Etappe um 1950 markiert eine weitere technische Zäsur, die in Anlehnung an Hörl als erste Phase der Kybernetisierung bezeichnet wurde.342 Sie steht nicht mehr nur im Zeichen der Zergliederung und technischen Entäusserung einzelner Organe und Sinne, sondern stattet diese maschinellen Organe und Sinne mit einer Steuerungslogik aus, deren Vorbild das menschliche Gehirn selbst wird. Kybernetik nennt N. Wiener diese neue Wissenschaft. Sie steht für den Wunsch, den Menschen nun ganz und nicht nur in seinen Einzelorganen technisch nachzuahmen – totale Entäusserung des Menschen in die Technik. Zu den Prototypen dieser Wissenschaft werden um 1950 Hochleistungsrechenmaschinen, die unter dem Namen Computer Karriere machen. Auf Basis der Entwicklungen ihrer kriegstechnisch forcierten Vorgänger sowie ausgestattet mit Elektronenröhren und Transistoren avancieren sie schnell zur zentralen Technik eines beginnenden voll automatisierten Zeitalters. Begleitet wird dieser neue Maschinentypus durch neue Möglichkeiten kommunikativer Vernetzung: Nachdem die Gesellschaft in weiten Teilen Europas und Nordamerikas um 1900 per flächendeckender Elektrifizierung, Verdichtung des Transportnetzes etc. auf Netzanschlussfähigkeit umgestellt hatte, wird um 1950 die flächendeckende kommunikative Vernetzung in allen >Verkehrsdimensionen< (Luft, Wasser, Erde, Weltall) erreicht und damit infrastrukturelle Netzwerkgesellschaft auf Kommunikationsgesellschaft erweitert. Vor diesem Hintergrund werden auch die Medientechniken dieser Zeit umgestellt auf Kybernetik, Elektronik, kommunikative Vernetzung. Diese technischen Zäsuren korrespondieren mit einer Änderung des Technikverständnisses, die ähnlich wie um 1900 zu unterschiedlichen Bewertungen führen. Zentral wird die Einschätzung, dass sich mit diesen neuen Maschinen das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine geändert hat. Die Kopplung von Mensch und Maschine wird auf eine neue Stufe gestellt. Zum einen dadurch, dass der Mensch, nachdem er sich technisch vollumfänglich in seine Maschinen exteriorisiert hat, bisweilen nur noch als externes, steuerndes Organ eines ansonsten selbstregulierenden Systems fungiert und zum anderen, weil er selbst durch diese Maschinen Rückkopplung widerfährt. Für Heidegger 342 Hörl (2011), S.25f. 118 steht diese Technologie für eine Entfremdung des Menschen von sich selbst, für Simondon für Möglichkeiten der Freiheit und Bewusstwerdung. In der zweiten Phase der Kybernetisierung wirken die Steuerungsprogramme kollektiv: Mit einer umfassenden Verschiebung von Kompetenzen in die Maschinen und ihre Netzumgebung werden Gesellschaften und ihre Mitglieder durch eben diese rückgekoppelt. In Teilen selbstständig agierende, miteinander vernetzte, mobile technische Formen erzeugen einen >Hintergrund<, der den gesellschaftlichen >Vordergrund< wesentlich bestimmt. Die infrastrukturellen Bedingungen dafür sind mit einer auf totale und optimierte Vernetzung zum Austausch von Daten umgestellten Gesellschaft und enorm leistungsstarken, vielfältige Applikationen umfassenden Endgeräten erfüllt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Eine derart eingebundene und agierende Technikkultur führt zu Übertragungen von Verantwortlichkeiten343 – oder negativer formuliert, zu Amputationen344 – vom Menschen auf die Technik, zu Kommunikation zwischen Maschinen unter Ausschluss des Menschen345, zu einem neuen Verständnis von Objekten und Subjekten und ihrem Verhältnis zueinander. Die Art und Weise wie das geschieht, insbesondere in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen, lässt vielfältige Möglichkeiten zu Krisenbeschreibungen zu. Die Zerlegung der menschlichen Sinne und deren technische Entäusserung um 1900 mündet um 2000 so vorerst in partiellen, aber global agierenden Technik- und Medienverbünden346, in ein erweitertes technologisches Unbewusstes347, das Gesellschaft als Ganzes prägt und somit in ein Kulturprogramm, in dem Technik explizit programmatisch agiert. Derartige technische Entwicklungen und ihre Reflexionen sind bestimmend für hypomnésis der Gegenwart und gemäss der hier verfolgten Logik damit auch für die Ausprägung von Erinnerungskultur. Die drei aufgezeigten Etappen skizzieren daher auch eine Mediengenese, in denen vor dem Hintergrund technischer Entwicklungen und ihrer Einschätzungen auf jeweils andere technische Medien fokussiert wird: Sie 343 In Anlehnung an Stiegler (Stiegler (2009c), S.176). Sick (2004). 345 Vgl. Bolz: „In der technischen Wirklichkeit der neuen Medien ist der Mensch nicht mehr Souverän der Daten, sondern wird selbst in Feedback-Schleifen eingebaut. Stetig wächst der Anteil der Kommunikation, der an Maschinen statt an Menschen gerichtet wird. […] Der Mensch ist nicht mehr Werkzeugbenutzer sondern Schaltmoment im Medienverbund.“ (Bolz 1994: S.13). 346 Kittler (1986), u.a. S.8. 347 Thrift (2002). 344 119 beginnt um 1900, wie Kittler aufgezeigt hat, mit einer Erweiterung der Schrift- und Buchkultur in Richtung Mechanisierung und Speicherung verschiedenster Sinne, die bis dahin nur als Schriftcodierung möglich waren. Grafosphäre wird hier auf Videosphäre umgestellt: Phonographen zeichnen Stimmen auf, Stummfilme bewegte Bilder. Das technische Gedächtnis wird informatorisch erweitert und damit die Möglichkeiten des Vergangenheitsbezugs technisch von monomedial auf multimedial umgestellt. Notwendige Bedingung für Speicherung und Vergangenheitsbezug, d.h. Datenübertragung, ist aber immer noch der Mensch selbst. Dies wird sich ändern mit der beginnenden Kybernetisierung des Gedächtnisses um 1950 und der sich damit bereits ankündigenden Hypersphäre. Technisch gesehen bedeutet Kybernetisierung des Gedächtnisses den Einbezug aufkommender Computertechnologien und daraus resultierende neuartige Mensch-Maschinen-Netzwerk-Kopplungen. Diese Kopplungen können komplementär sein, wie mit Simondon am Beispiel menschlicher und technischer Gedächtnisse aufgezeigt wurde, und führen dann zu erweiterten Möglichkeiten des Signifikantenaustauschs und also auch zu erweiterten Möglichkeiten des Vergangenheitsbezuges. Sinnaustausch kann mit der Kybernetisierung des Gedächtnisses aber auch zunehmend unter Ausschluss des Menschen stattfinden. Maschinen kommunizieren untereinander und zeigen dann – eingebunden in die Kommunikationsnetzwerke – Rückwirkungen auf die Ausprägung von Erinnerungskultur auf individueller und kollektiver Ebene. Eine solche Umstellung von geschlossenen auf offene Maschinen348 mit Rückkopplungswirkung auf Gesellschaft, stellt auch hypomnésis zunehmend auf offene und neu strukturierte Gedächtnisse um. Mit den technischen Entwicklungen der zweiten kybernetischen Phase, der Erweiterung von multimedialen auf hypermediale Gedächtnismedien, werden diese Veränderungen nochmals deutlicher. Diese Entwicklungen der zweiten kybernetischen Phase finden ihren Ausdruck in den dominanten technischen Medien der Gegenwart – d.h. in digital operierenden Computern und Computernetzwerken, deren Hard- und Software andere Eigenschaften aufweisen, als ihre analogen Vorgänger der Grafo- und Videosphäre. Das Digitale selbst umfasst bereits die erste prägende Metamorphose: Es führt zu hypomnétischen Parallelwelten, in der technisch analog funktionierende Gedächtnisse zunehmend von 348 Simondon u.a. (2012), S.11; (2011), S.90. 120 digital operierenden Gedächtnissen begleitet und / oder konkurrenziert werden. Sie bilden keine für sich genommenen autarken Gedächtnisse, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig.349 Schnittstellen in der Form von analog-digital-Wandlern etc. bilden die technische Grundlage für den (permanenten) Austausch und die gegenseitige Durchdringung. Diese Übersetzungen führen sowohl auf informatorischer als auch subjektiver Ebene zu Übersetzungsverlusten: Informatorisch basieren solche Verluste nicht nur auf Gedächtnisschwund bei Übergängen zwischen analogen und digitalen Gedächtnismedien, sondern auch auf Übersetzungsverlusten zwischen unterschiedlichen Formen digital operierender Hardware selbst. Nicht-ausreichende Persistenz nicht-flüchtiger Speichermedien der Hypersphäre bedingt eine stetige Migration der Daten von einem Speicher auf den nächsten. Wie jede Übersetzung führen auch diese Migrationen zu Verlusten. Subjektiv bedeuten Übersetzungsverluste schlicht die partielle Umgehung des Menschen. Übermittlung von sinnbefreiten Binärcodes von einem elektronischen Schaltkreis zum nächsten können unter Ausschluss von Subjekten stattfinden. Spätestens seit der nunmehr auch vollständigen kommunikativen Vernetzung der Computer untereinander sind solche Maschinenkommunikationen signifikanter Bestandteil gesellschaftlicher Ausgestaltung geworden. Technischer Gedächtnis-Parallelismus und daraus resultierende inter- wie intraweltliche Schnittstellen werden in den digital operierenden Hard-und Software-Komponenten der hypomnétischen Gegenwart ein weiteres Mal potenziert durch zusätzliche Kompetenzübertragungen auf die Technik. Darunter wird in diesem Zusammenhang verstanden, dass für Übertragungen kulturellen Sinns Hardware zunächst Hardware und Software zunächst Software braucht, um von den Subjekten vor den Maschinen als Sinn erfahrbar zu werden, und d.h. um kommunikative Anschlussfähigkeit bei Menschen und Gesellschaften zu schaffen: Es wurde gezeigt, dass Speicher-Hardware an Lese-Hardware gekoppelt ist, sollen Nullen und Einsen in (kulturellen) Sinn zurück übersetzt werden. Dafür wird anders als in der Grafosphäre eine Lese-Hardware benötigt, die nicht mehr allein auf menschlichen Augen beruht, sondern zunächst auf einer weiteren, nicht-menschlichen Hardware in der Form von Lesegeräten für CDs, DVDs, Disketten etc. Gleiches zeigte sich auf der Seite der Software – Compiler und 349 Vgl. auch Ernst (2007), S.267f.; Hoskins (2009), S.103. 121 Interpreter müssen Programmiersprachen und deren Programme erst in einen maschinenlesbaren Code übersetzen, um der Steuerungsanweisung computertechnologische Taten folgen zu lassen. Notwendige Maschinen-Maschinen-Schnittstellen sind daher ein weiterer fundamentaler Bestandteil hypomnétischer Gegenwart. Unter derartige Bedingungen gestellt, weist hypomnésis der Gegenwart nicht nur technische Veränderungen in Richtung medialer Verbünde auf, sondern unterscheidet sich von den hypomnétischen Etappen jenseits der Hypersphäre durch eine Reihe von (technischen) Eigenschaften, die ich auf folgende Weise thesenhaft zusammenfasse: Zunehmende Kompetenzverschiebungen und technische Parallelwelten: Die aufgezeigten Kompetenzverschiebungen – Verschiebungen weg von menschlicher in Richtung technische Verantwortung – setzen in der hypomnétischen Gegenwart auf verschiedenen Ebenen an. Zum einen wurden die Kompetenzen des technischen Gedächtnisses erweitert, indem Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben in Form vorgeschalteter Lese-Hardware und Schreib-Software zu einem Teil vom Menschen auf Maschinen übertragen wurden. Zum anderen hat die Ausbreitung vernetzter, digitaler Basistechnologie auf weite Lebensbereiche zu Kommunikationsmöglichkeiten unter Ausschluss von Subjekten geführt, womit Kommunikation nicht mehr ein Privileg des Menschen ist. Mit derartigen Verschiebungen werden MenschMaschinen-Abhängigkeiten ausgebaut und erlangt hypomnésis eine grössere technische Autorität, ohne als solche dauerhaft explizit aufzutreten. Vielmehr agiert Technik zu grossen Teilen als eine im Hintergrund prozessierende, aktive Infrastruktur, als ein technologisches Unbewusstes, das bisweilen unabhängig von Subjekten kommuniziert und sie dadurch rückbestimmt: Kybernetische Mensch-Maschinen-Rückkopplungen sind damit allgegenwärtiger Bestandteil der Gegenwart. Neben diesen Übertragungen von vormals menschlichen Kompetenzen auf technische Objekte ist hypomnétische Gegenwart durch weitere Kompetenzverschiebungen innerhalb der Technik selbst geprägt: Analoge Basistechnologien des Gedächtnisses werden spätestens mit der zweiten kybernetischen Phase vollständig durch digitale Basistechnologien begleitet, komplementiert und bisweilen ersetzt. Eine technologische Doppelung des Gedächtnisses ist eingetreten, die zu einer bimodalen Ausprägung von hypomnésis führt. 122 Komplexe, multiple Selektionen bereits auf technischer Ebene: Hohe Technisierungsgrade und Kompetenzverschiebungen, die als zunächst exteriorisierte Technik invasive Rückwirkungen auf Gesellschaft zeigen, führen zu komplexen technischen Ensembles, in denen nicht nur dem Funktionieren dazugehöriger Komponenten hohe Bedeutung zukommt, sondern insbesondere auch den technischen Schnittstellen zwischen ihnen. Derartige Schnittstellen fungieren zumeist als Übersetzungsstellen zwischen verschiedenen Hardware- und / oder Softwarekomponenten und arbeiten – wie in den letzten Abschnitten an verschiedenen Stellen aufgezeigt wurde – nicht verlustfrei. Arbeiten mit bewussten oder unbewussten Verlusten heisst selektives Arbeiten. Hypomnétische Gegenwart basiert auf mehrstufigen Schnittstellen und generiert daher technisch bedingte Selektionen, die bereits vor den inhaltlichen Selektionen der Prozesse von anamnésis ansetzen. SchnittstellenDefekte sind daher wesentlicher Bestandteil hypomnétischer Gegenwart. Änderungen in der technischen Performanz: Kompetenzverschiebungen hin zum Technischen stehen zunächst nur für geänderte Verantwortlichkeiten, nicht aber für Aussagen zur Performanz der eingesetzten Technik. Hypomnétische Gegenwart unterscheidet sich auch in diesem Punkt von den technischen Gedächtnismedien jenseits der Hypersphäre. Zu den signifikantesten Leistungsänderungen auf der Hardware-Seite gehören radikal gestiegene Speicherkapazitäten bei gleichzeitig hohem Preisverfall. Dem gegenüber stehen eine deutlich geringere Haltbarkeit der eingesetzten Peripheriespeicher und bedingt durch technisch-wirtschaftliche Innovationszyklen eingeschränkte Möglichkeiten zum langfristigen Auslesen der gespeicherten Daten. Daraus ergibt sich insbesondere für die jüngere Kulturgeschichte des letzten Jahrhunderts die paradoxe Situation, dass grosse Mengen kulturellen Sinns gespeichert wurden, diese aber aus Haltbarkeits- und / oder Lesbarkeitsgründen nicht mehr zugänglich und damit für die Ausprägung von Erinnerungskultur verloren sind. Leistungsänderungen auf der Software-Seite zeigen sich in den geänderten Grammatisierungsregeln der künstlichen Sprachen (Programmiersprachen) und ihrer Programme, die neue Formalisie- 123 rungsregeln des Gedächtnisses generieren, sowie im Aufbrechen des Schriftmonopols und d.h. in einer umfassenden Umstellung von Monomedialität auf Multimedialität des technischen Gedächtnisses. 350 Ausprägung nicht-hierarchischer und nicht-linearer Strukturen: Derartige Änderungen in Kompetenz und Performanz der Technik führen zu Änderungen in den hypomnétischen Strukturen insgesamt. Auf der Seite der Kompetenzverschiebungen führen die erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Menschen und Maschinen zu nicht-hierarchischen Kommunikationsverhältnissen.350 Nicht-hierarchische Kommunikation hypomnétischer Gegenwart beschreibt aber nicht nur das Verhältnis zwischen Menschen und Maschinen, sondern auch eine (in Teilen) vollzogene Änderung der Kommunikationsverhältnisse zwischen den Maschinen, die Computer genannt werden. Verlagerungen von zentralen Mainframe-Architekturen hin zu dezentralen Client-Server-Architekturen zeichnen auch hier nicht-hierarchische Kommunikationsverhältnisse nach. Wesentliche technische Grundlage für die Herausbildung solcher dezentralen, nicht-hierarchischen Strukturen sind Möglichkeiten der kommunikativen Vernetzung, wie sie erfolgreich in der Netzwerkstruktur namens Internet umgesetzt wurde. Änderungen in der Performanz des technischen Gedächtnisses, insbesondere der Performanz der Software, führen ausserdem zur Überwindung linearer Zwänge: Die Möglichkeiten der Programmiersprachen und ihrer Programme sowie die Möglichkeiten zur totalen kommunikativen Vernetzung von Computer-Individuen haben zu neuen Strukturen und Darstellungen von Informationen geführt, die als Hypertext oder Hypermedia die linearen Kulturprogramme der Grafosphäre auf die nicht-linearen Programme der Hypersphäre umstellen. Zusammen ergibt sich daraus eine technologische Grundlage für hypomnétische Gegenwart, die auf nicht-hierarchischen und nicht-linearen Strukturen aufsetzt, in der Menschen und Maschinen agieren. Änderungen in den Partizipationsmöglichkeiten: Eine weitere, und an dieser Stelle abschliessend zu nennende, technisch bedingte Eigenschaft hypo- U.a. Hartmann (2003), S.135. 124 mnétischer Gegenwart liegt in den geänderten Partizipationsmöglichkeiten. Auch in diesem Zusammenhang kann von Kompetenzverschiebung gesprochen werden: Kompetenzverschiebungen von vielen auf einige wenige und Kompetenzverschiebungen von politischen, religiösen etc. Systemen auf das wirtschaftliche System. Erstere umschreibt eine Entwicklung, bei der von einer gesamtgesellschaftlichen Alphabetisierung im Reich der Programmiersprachen abgesehen wird und ein Partizipieren an den softwarebasierten Grundlagen für anamnésis demnach nur in der Funktion des konsumierenden Anwenders, nicht aber in der Funktion des Produzenten vorgesehen ist. Daraus resultieren zwei gegenläufige Richtungen für die Partizipationsmöglichkeiten an den hypomnétischen Grundlagen: Die Ausübung der Produzentenfunktion konzentriert sich auf verhältnismässig wenige Akteure, da sie auf Kompetenzen beruht, die nur bestimmte Teile der Gesellschaft besitzen. Der Zugang zu den hypomnétischen Grundlagen ist hier aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet daher stark eingeschränkt. In der Funktion des Anwenders jedoch wird die Partizipation zentrales Element für die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess. Anwender werden so zugleich in grossem Umfang abhängig von einer >Hard- und Software-Elite<, die aufgrund spezifischer Kompetenzen als Produzenten agieren können. Die zweite Kompetenzverschiebung, die vielleicht besser als Kompetenzverstärkung zu verstehen ist, funktionalisiert technisches Gedächtnis in der Gegenwart auf bisweilen radikale Weise im Dienste wirtschaftlicher Interessen, womit Partizipationsmöglichkeiten an hypomnésis an die Kaufkraft von Einzelnen und Gesellschaft gebunden werden. Diese Hauptmerkmale gegenwärtiger hypomnétischer Ausprägungen bilden die Analysegrundlage für das Aufzeigen etwaiger Implikationen technischer Eigenschaften auf erinnerungskulturelle Modelle und mögliche Ausprägungen von Erinnerungskultur. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss zunächst das hierfür in dieser Arbeit zur Anwendung kommende Modell von J. und A. Assmann beschrieben und diskutiert werden. Dies ist Gegenstand des nächsten Kapitels. 125 4 Anamnésis „[Sokrates] Und wenn immer schon die Wahrheit über die Wirklichkeit in der Seele ist, ist die Seele unsterblich. Deshalb mußt du Mut haben und dich bemühen, auf das, was du zufällig jetzt nicht weißt – es ist nur etwas, an das du dich nicht erinnerst -, die Suche zu richten und dich zu erinnern. [Menon] Das hast du aber irgendwie schön gesagt.“ Platon: Menon (Platon 2008: S.54f.) Mit Fragen nach Erinnerungsmodellen und erinnerungskulturellen Ausprägungen wird Gedächtnis im Folgenden auf die Perspektive von anamnésis umgestellt und damit eine weitere wesentliche Grundlage zur Beantwortung der zweiten Frage >Wie muss ein erinnerungskulturelles Modell, in dieser Arbeit das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann, vor dem Hintergrund der technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen (anamnésis) verwenden zu können?< im sich anschliessenden Kapitel 5 gelegt. Platons andere Seite der Unterscheidung steht nun im Vordergrund – dies allerdings im Verlauf der Untersuchung unter weniger platonischen Vorstellungen durch die hier verfolgte Logik des bestimmenden Charakters von hypomnésis für anamnésis. Dennoch lieferte bereits das anamnésis-Modell Platons mittels der Verknüpfung von Erinnerung mit individuellen und kollektiven Erkenntnis- und Bewusstwerdungsprozessen über die Zeit erste wichtige Eckpunkte zu Vorstellungen und Beschreibungsaspekten von Erinnerungskultur und ihren theoretischen Modellierungen.351 Auch wenn Platon selbst nicht explizit von Erinnerungskultur spricht, so stecken doch in seinen Ausführungen zur (Wieder)Erinnerung eine Reihe von Attributen, die für kulturelle Beschreibungen angewendet werden, Kultur in wesentlichen Teilen als Erinnerungskultur bestimmen und zahlreichen Niederschlag in historischen und aktuellen Modellen zur Ausprägung von Erinnerungskultur finden. So auch in der einleitend dargestellten Auffassung von Kultur als Programm, deren definitorischer Kern 351 Vgl. Ausführungen zu Platons anamnésis-Modell in Abschnitt 2.1.1 und einleitend in Kapitel 3. 126 unter anderem die generationsübergreifende Übermittlung von Sinn- und Identitätskonstruktionen ist.352 Eine solche Übermittlung beruht neben der zugrundeliegenden hypomnésis auf bewussten Prozessen der Erinnerung, in denen Sinninhalte und Sinnstrukturen der Vergangenheit unter den jeweiligen aktuellen Programmanforderungen plausibilisiert und legitimiert werden. In der Folge prägt sich eine Erinnerungskultur aus, die Strukturen, Regeln etc. für ihre Mitglieder vorgibt. Anamnésis steht daher im Folgenden nicht nur im eigentlichen Wortsinne für >Wiedererinnerung< und das damit verbundene Erkenntnismodell Platons, sondern im weiteren Sinne für (die Ausprägung von) Erinnerungskultur und die in diesem Zusammenhang vorliegenden Theorien für die Entstehung, Merkmale, Funktionen etc. von Erinnerungskultur.353 Um der eingangs gestellten Frage nachzugehen, sollen – analog zum vorangegangenen Kapitel – auch hier zunächst die Grundlagen beschrieben werden. Für ein vollständiges Bild des Modells von J. und A. Assmann soll dazu im ersten Schritt ihr konzeptioneller Ausgangspunkt – die Theorie des kollektiven Gedächtnisses bei Halbwachs – in den wesentlichen Grundzügen dargestellt werden. Somit werden im Folgenden Halbwachs’ sowie die darauf aufbauenden grundlegenden Modellannahmen von J. und A. Assmanns beschrieben, analysiert, zueinander in Beziehung gesetzt sowie in die technikphilosophischen Vorstellungen ihrer Zeit eingeordnet. Anschliessend wird diese Darstellung um eine Analyse der im Assmann’schen Modell inhärenten Funktionen und Organisationsformen erweitert. Alle drei Aspekte – Modell, Funktionen und Organisationsform – sind abschliessend in diesem Kapitel Gegenstand einer kritischen Reflexion in Bezug auf die Anwendbarkeit des Modells für Erinnerungskulturen in der hypomnétischen Gegenwart. 352 Schmidt (2000), S.37; vgl. Ausführungen zu Kultur und Gedächtnis / Erinnerung in Abschnitt 2.3. Damit beinhaltet diese Perspektive auch die bei Debray angezeigte zweite Dimension seines Medienbegriffes, die >materialisierte Organisation< (Medium als kulturelle >praxis<) (Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2). 353 127 4.1 4.1.1 Anamnétische Grundlagen Halbwachs‘ Modellierung des kollektiven Gedächtnisses Modelle zur (kulturellen) Selbstbestimmung durch Erinnerung setzen im europäischen Diskurs zu weiten Teilen auf der kollektiven Bestimmung des Gedächtnisses durch Halbwachs auf.354 In seinem 1925 erstmals erschienenen Werk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen entwickelt er ausgehend von Überlegungen zu Differenzen und Gemeinsamkeiten von Träumen und Erinnerungen355 und den Theorien Bergsons die Idee des kollektiven Gedächtnisses, die massgeblichen Einfluss auf den nachfolgenden Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs haben sollte. Entgegen der Auffassung Bergsons356 sind Träume und Erinnerungen für Halbwachs verschiedene Prozesse, da Erinnerungen auf rationalen und konstruktiven Tätigkeiten des Geistes beruhen, die im Schlaf nicht möglich sind357 und Träume und Erinnerungen daher in verschiedenen Bezugsrahmen entwickelt werden358. Hierin sieht sich Halbwachs durch die Ausführungen von Freud bestätigt, der Träume als vielschichtig interpretierbare Symbole deutet, die Auskunft über das Unbewusste des Subjekts geben können, darin aber anderen Gesetzmässigkeiten gehorchen als den bewussten Prozessen 354 Überblicke über weitere bzw. frühere gesellschaftsorientierte Gedächtnisforschung finden sich u.a. bei Zierold (2006), S. 59ff.; Fleckner (1995). 355 Halbwachs setzt seine Untersuchung zur Erinnerung hier an, da Träume ähnlich wie Erinnerungen häufig auf vergangene Ereignisse zurückgreifen. (Vgl. Halbwachs 1985: S.25f.). 356 In Materie und Gedächtnis unterschied Bergson in Abgrenzung zum Begriff der Wahrnehmung zwei Arten des individuellen Gedächtnisses: Die mémoire-souvenir steht für die Speicherung der Vergangenheit in persönlichen Erinnerungsbildern. In ihnen werden alle Ereignisse unseres täglichen Lebens aufgenommen und mit Ort und Datum indexiert abgelegt. Im Gegensatz dazu ist die mémoire-habitude ein „auf Tätigkeit gestellt[es]“ (Bergson 1919: S.71) Gedächtnis. In ihm erfolgt die Speicherung der Vergangenheit in motorischen Mechanismen und dient der Vernutzbarung in der Gegenwart. Das erstere dient dem zweiten, in dem es Bilder zur Verfügung stellt, die der aktuellen Situation des Individuums entsprechen. Per Analogieschluss können so Entscheidungen in der Gegenwart, die sich an Erinnerungsbildern der Vergangenheit orientieren, getroffen werden. Das Vermögen, vergangene Wahrnehmungen zu erinnern und in ein Handeln der Gegenwart einzuspielen, ist dann die >Macht des Gedächtnisses< (Bergson 1919: S.227). „In dem Augenblicke allerdings, in dem die Erinnerung so in Wirksamkeit aktualisiert, hört sie auf, Erinnerung zu sein und wird wieder Wahrnehmung“ (Bergson 1919: S.240). Für das Erinnern solcher Bilder der Vergangenheit muss das Individuum von seinem gegenwärtigen Tun abstrahieren können, es muss „dem Nutzlosen einen Wert geben können, muß […] träumen wollen“ (Bergson 1919: S.72). Hierin liegt der kritische Anknüpfungspunkt für Halbwachs. Übergänge von Träumen zu Erinnerungen gibt es für ihn nicht. Beide sind ihrem Wesen nach unvereinbar, denn das Gedächtnis und damit die Erinnerung basieren auf rationalen und konstruktiven Tätigkeiten des Geistes, die im Schlaf nicht möglich sind. (Vgl.: Bergson (1919), S.70ff. und 235ff.). 357 Halbwachs (1985), S.71. 358 Halbwachs (1985), S.44. 128 der Erinnerung.359 Freuds Zerlegung des Subjekts in Bewusstsein und Unbewusstsein und seine Zuordnung der Erinnerungsprozesse in das Bewusstsein markiert die erste Bestimmung des Halbwachs’schen Erinnerungsmodells. Die zweite geht über die individuellen Betrachtungen Freuds und damit über ein biologisch-psychisches Verständnis von Gedächtnis hinaus360 – Erinnerungen sind nach Halbwachs eingebunden in einen kollektiven Rahmen: „Der Traum beruht nur auf sich selber, während unsere Erinnerungen sich auf die aller anderen und auf die großen Bezugsrahmen des Gesellschaftsgedächtnisses stützen“ (Halbwachs 1985: S.72). Erinnerungen sind demnach in den jeweiligen gesellschaftlichen Bezugsrahmen stattfindende Prozesse.361 Diese Bezugsrahmen stellen mithin die eigentliche Grundlage für individuelle Erinnerung dar, womit (individuelle) Erinnerung prinzipiell kollektiv vermittelt ist: „Die Rahmen, von denen wir sprechen und die uns die Rekonstruktion unserer Erinnerungen nach ihrem Verschwinden erlauben, sind nicht rein individuell; sie sind […] den Menschen der gleichen Gruppe gemeinsam“ (Halbwachs 1985: S.182f.). Das ist die zentrale Aussage bei Halbwachs: Das individuelle Gedächtnis ist zwar die physiologische Grundlage für Erinnerungsprozesse, die Erinnerungen selbst aber Gegenstand kollektiver und d.h. sozialer Prozesse.362 Ein derart kollektives Gedächtnis wird über die Sprache der Kollektivmitglieder fortlaufend rekonstruiert und an die Kollektivmitglieder vermittelt: „Man muß also die Vorstellung aufgeben, die Vergangenheit erhielte sich als solche in den individuellen Gedächtnissen, als ob es davon ebenso viele verschiedene Abzüge gäbe, wie es Individuen gibt. Die gesellschaftlich lebenden Menschen gebrauchen Wörter, deren Bedeutung sie verstehen: das ist die Bedingung des kollektiven Denkens. Jedes (verstandene) Wort wird aber von Erinnerungen begleitet, und es gibt keine Erinnerungen, denen wir nicht Worte entsprechen lassen könnten. Wir kleiden unsere Erinnerungen in Worte, bevor wir sie beschwören; es ist die Sprache und das ganze System der damit verbundenen gesellschaftlichen Konventionen, die uns jederzeit die Rekonstruktion unserer Vergangenheit gestattet.“ (Halbwachs 1985: S.368f.) 359 Halbwachs (1985), S.44f.; vgl. Ausführungen zu Freud in Abschnitt 2.1.1. Pethes (2008), S.51. 361 Halbwachs (1985), u.a. S.21f. 362 Vgl. dazu auch J. Assmann zu Halbwachs: „Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozeß seiner Sozialisation zu.“ (J. Assmann 2000: S.35). 360 129 Mit der Konstruktion der Vergangenheit erarbeitet sich eine Gesellschaft ihre eigene Identität, definiert sich überhaupt erst als solche mit all ihren dazugehörigen Werten, Normen, Strukturierungen etc. Die konkrete Rekonstruktion der Vergangenheit ist dabei den Bezugsrahmen der jeweiligen Epoche einer Gesellschaft unterworfen. Vergessen beruht dann auf Änderungen oder dem Verschwinden solcher Bezugsrahmen. Auf der diachronen Ebene rufen Änderungen der Bezugsrahmen demnach unterschiedliche kulturelle Programme hervor, auf der synchronen Ebene zeigt sich darüber hinaus eine Parallelität verschiedener Kollektivgedächtnisse: Erinnerungen und Individuen können verschiedenen Kollektivgedächtnissen gleichzeitig anhängig sein.363 Die Bestimmung von Erinnerungen als Rekonstruktionen der Vergangenheit innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Bezugsrahmen verweist zudem auf den konstruktiven Charakter von Erinnerungskultur364: Selektionen bezüglich der Frage, ob und wenn ja wie Erinnerungen im kulturellen Programm einer Gesellschaft Platz finden, konstruieren Vergangenheit und ihre Repräsentationen in der Gegenwart.365 Obwohl Halbwachs‘ Modell des kollektiven Gedächtnisses vordergründig aus einer soziologischen Perspektive heraus gedacht ist366, verweist auch er auf Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses, die – wiewohl er sie nicht explizit benennt – im Sinne dieser Arbeit als (medien)technologische Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden können: Wie Erll und Rigney aus einer Passage in Halbwachs La mémoire collective zu seinen Erinnerungen über London ableiten, denkt Halbwachs in seinen Modellierungen zum kollektiven Gedächtnis nicht nur die gesellschaftlichen Rahmungen, sondern auch die (medien)technischen Rahmen für die Ausprägung von Erinnerungskultur mit.367 Es lässt sich jedoch aufzeigen, dass diese technologischen Bedingungen, neben den von Erll und Rigney benannten Halbwachs’schen Ausführungen über Gedächtnismedien, darüber hinaus in seinem ganzen Verständnis zum Zusammenhang zwischen Erinnerung und Sprache mitschwingen. Auch wenn Halbwachs ausschliesslich von natürlichen Sprachen und d.h. von mündlicher Kommunikation zum Erhalt und zur Weitergabe kollektiver Gedächtnisse spricht und auf ihr 363 Halbwachs (1985), S.200. U.a. Zierold (2006), S.67f. 365 Weitere Ausführungen zu Halbwachs siehe u.a. Erll (2011), S.16ff.; J. Assmann (2000), S.34ff.; Pethes (2008), S.51ff. 366 Erll (2011), S.115f. 367 Erll / Rigney (2009), S.1. 364 130 spezifisch technisches Korrelat, die Schrift, nicht weiter eingeht, zeigt sich in diesen Überlegungen zur Sprache das technische Formalisierungsprinzip von hypomnésis als Grundlage für anamnésis: Sprache wird von ihm in Anlehnung an Meillet und Durkheim als stimmorganische Entäusserung bestimmt, mittels derer die Individuen eines Kollektivs kommunikativen Austausch und in der Folge Ausprägung von Erinnerungskultur generieren können.368 Das gemeinsame Verständnis über die Sprache innerhalb einer Gruppe, d.h. die gemeinsame Erinnerung an Wort- und Begriffsdefinitionen369 und das damit verbundene gemeinsame Verständnis über Gebrauch, Regeln etc. der Sprache stellt Kommunikation sicher. Sprache wird darin zur „kollektive[n] Funktion des Denkens par excellence“ (Halbwachs 1985: S.107) und bezogen auf Erinnerungskultur bilden „[d]ie verbalen Konventionen […] den zugleich elementarsten wie dauerhaftesten Rahmen des kollektiven Gedächtnisses […].“ (Halbwachs 1985: S.124) Man kann das platonisch als Priorisierung der Rede gegenüber der Schrift deuten, man kann es aber auch – und diese Interpretation möchte ich vorschlagen – als einen ersten grundsätzlichen (medien)technischen Rahmen deuten, der implizit im anamnésis-Modell von Halbwachs zur Anwendung kommt. Sprache und die in diesem Zusammenhang in einem Kollektiv verabredeten Konventionen zu Wort- und Begriffserinnerungen – also die in Anlehnung an Stiegler zu nennenden Grammatisierungsregeln – stellen softwareseitige, technische Formalisierungen dar, die bereits vor den gesellschaftlichen, und d.h. den sozialen Rahmen zur Anwendung kommen. Halbwachs‘ Verständnis von Sprache als kollektiv geprägte und individuell realisierte Entäusserung zur Ausübung von im Bewusstsein stattfindenden Erinnerungsprozessen spiegelt ein Technikverständnis seiner Zeit um 1900 wider, wie es beispielsweise bei Kapp formuliert wurde: Technikentwicklung wurde bei ihm als organische Entäusserung definiert, die die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins repräsentiert370, und in der ein subjektives Innen und ein materielles Aussen sich gegenseitig bedingen.371 Auch Kapp hatte dabei die Sprache als besonderes Werkzeug begriffen, da sie nicht ein Organ, sondern die Gesamtheit aller menschlicher Organe dar- 368 Halbwachs (1985), S.108. Halbwachs (1985), S.363. 370 Bei Halbwachs ist diese Technik die Sprache. 371 Halbwachs (1985), u.a. S.362f.; vgl. Ausführungen zu Kapp in Abschnitt 3.1.1. 369 131 stellt, mit deren Hilfe subjektive Entäusserung eben als sprachliche Äusserung stattfinden kann. Sprache als Werkzeug untersteht nach Halbwachs im zweiten Schritt kollektiv geprägten Konventionen, den Wort- und Begriffserinnerungen, wodurch Kommunikation zwischen Individuen sprachtechnisch >programmiert< wird und die es den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglicht, „sich über die Dinge zu verständigen“ (Halbwachs 1985: S.363). In diesem kollektiven Rahmen der Sprache werden dann kollektive Erinnerungen generiert, deren spezifische Inhalte von den sozialen Rahmenbedingungen abhängen. Eine so entstehende Erinnerungskultur kann gemäss einem weiteren Zeitgenossen – Eberhard Zschimmer – als kultureller Entäusserungsprozess aufgefasst werden.372 Damit finden sich auch bei Halbwachs Hinweise auf die Bedeutung zugrundeliegender (Medien)Techniken für das kollektive Gedächtnis, wie sie bei Warburg etwa zur gleichen Zeit bereits fokussiert betrachtet wurden: Warburg, ein weiterer Zeitgenosse, hatte unabhängig von den Überlegungen Halbwachs‘ in seiner Beschäftigung mit kunsthistorischen Forschungen ein eigenes Modell des kollektiven Gedächtnisses – das kollektive Bildgedächtnis – entwickelt. In diesem kollektiven Bildgedächtnis fungieren visuell dargestellte und fixierte Symbole als kulturelle Energiereserven einer Gemeinschaft. Sprachtechnik zur Überlieferung kulturellen Sinns wird bei Warburg in Bildtechnik übersetzt und kollektives Gedächtnis hier bereits explizit an seine technischen Grundlagen gebunden.373 Mit den Theorien von Halbwachs und Warburg zeigt sich zugleich, dass analog zur getrennten Aufzeichnung von Schrift, Bild und Ton um 1900 auch die Vorstellungen eines kollektiven Gedächtnisses und die damit verbundenen Vorstellungen zur Ausprägung von Erinnerungskultur noch keine ganzheitlichen Betrachtungen zugrundeliegender (Medien)Techniken umfassen. Vielmehr beziehen sich diese Vorstellungen zielgerichtet oder eher beiläufig auf einzelne mediale Bereiche zur Übertragung kulturellen Sinns. Wenn auch diese Konstruktionen des kollektiven Gedächtnisses bei Halbwachs und Warburg unterschiedliche Perspektivierungen aufzeigen – mit Halbwachs‘ sozialwissenschaftlichen Fokus und Warburgs kunsthistorischen Fokus – so haben sie doch, wie Erll aufgezeigt hat, die fundamentale Übereinstimmung, Kultur 372 373 Vgl. Ausführungen zu Zschimmer in Abschnitt 3.1.1. Erll (2011), S.21ff.; A. Assmann (2009), S.224ff.; Pethes (2008), S.45ff. 132 als gemeinschaftlichen Verständigungs- und Verhandlungsprozess zu bestimmen.374 Vormals vorherrschende biologische Vorstellungen, die die Ausprägung und Übertragung von Erinnerungskultur als genetisch bedingt auffassten, wurden mit den Ansätzen Halbwachs‘ und Warburgs konkurrenziert und sollten sich nicht im Gedächtnisund Erinnerungsdiskurs durchsetzen.375 Die Etablierung der Vorstellung eines sprachlich oder bildhaft bedingten kollektiven Gedächtnisses, in dem Erinnerungen in den gesellschaftlichen Bezugsrahmen ihrer jeweiligen Zeit Vergangenheit rekonstruieren und damit Energien für ein Jetzt und zukünftige Kulturprogramme freisetzen, wurde zentral für nachfolgende Erinnerungsmodelle. 4.1.2 Kollektive Weiterentwicklung: Das Modell des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses bei J. und A. Assmann Die prominenteste Adaption der Theorie des kollektiven Gedächtnisses insbesondere im deutschsprachigen Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs findet sich bei J. und A. Assmann. Sie griffen die Überlegungen von Halbwachs auf und entwickelten sie Ende der 90iger Jahre des letzten Jahrhunderts in den Begriffen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses weiter. Sie führen seitdem massgeblich den Diskurs zu kulturellen Erinnerungsformen und Ausprägung von Erinnerungskultur im Rahmen von gesellschaftlichen und medientechnischen Entwicklungen an. Aufsetzend auf der grundlegenden Bestimmung des Verhältnisses zwischen individuellen und kollektiven Gedächtnis durch Halbwachs geht J. Assmann in seinem Werk Das kulturelle Gedächtnis (1992376) der übergeordneten Frage nach, welche Beziehung prinzipiell zwischen Erinnerung und Kultur besteht und welche Parameter diese Beziehung signifikant bestimmen. Ausgangspunkt für diese Betrachtung ist die Formulierung einer konnektiven Struktur, die durch alle Kulturen ausgebildet wird: Konnektive Strukturen sind die Basis für die Entstehung kultureller Identität sowie Bedingung für Einheit und (relative) Stabilität von Gesellschaften. Sie wirken in zwei 374 Erll (2011). S.23. U.a. Erll (2011), S.23f.; Zierold (2006), S.66. 376 Zeitpunkt der deutschen Erstausgabe. 375 133 Dimensionen. In ihrer Sozialdimension schaffen konnektive Strukturen mittels symbolischer Sinnwelten menschliche Gemeinschaften, die „einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum bilde[n]“ (J. Assmann 2000: S.16), in ihrer Zeitdimension verbinden sie Vergangenheit, d.h. Vergangenheit rekonstruierende Erinnerungen, mit der je spezifischen Gegenwart.377 Konnektive Strukturen einer Kultur gleichen damit in den wesentlichen Eckpunkten der bereits dargestellten Auffassung von Kultur als Programm, in der kollektive Wirklichkeitsmodelle mittels kognitiver und kommunikativer Sinnstrukturen mit Bezug auf Vergangenheit reproduziert und durchgesetzt werden.378 J. Assmann geht anschliessend der Frage nach, wie es zu Wandlungen in den konnektiven Strukturen einer Kultur kommen kann: Welche Parameter bedingen Wandlungen des Kulturprogramms bzw. der konnektiven Struktur einer Kultur. Die hierfür bei J. Assmann zur Anwendung kommenden wissenschaftlichen Disziplinen vereinen – analog zum Stand der Techno- bzw. Mediengenese um 2000 – die von Halbwachs und Warburg noch separat fokussierten Ansätze: Geistesgeschichtliche und medientheoretische Ansätze werden von ihm in den Analysen seiner Fallstudien zu den Wandlungen konnektiver Strukturen von Kulturen einbezogen.379 Eingebettet werden diese Fallstudien in einen – für die eigene Arbeit relevanten – theoretischen Überbau, der die Funktionsweise der konnektiven Strukturen beschreibt und darin das übergeordnete Modell des kollektiven Gedächtnisses durch Halbwachs weiter ausdifferenziert in die bereits eingangs benannten >Sub-Formen< kommunikatives und kulturelles Gedächtnis. „Das kollektive Gedächtnis funktioniert bimodal: im Modus der fundierenden Erinnerung, die sich auf Ursprünge bezieht, und im Modus der biographischen Erinnerung, die sich auf eigene Erfahrungen und deren Rahmenbedingungen […] bezieht.“ (J. Assmann 2000: S.51f.) Letzteres meint ein sich auf die jüngste Vergangenheit beziehendes und von Menschen abhängiges kommunikatives Gedächtnis. Wenn Erinnerung nicht mehr über menschliche Träger funktioniert, sondern technische Speicher braucht, geht dieses kommunikative Gedächtnis in 377 J. Assmann (2000), S.16. Schmidt (2000), S.41; vgl. Ausführungen zu Kultur und Gedächtnis / Erinnerung in Abschnitt 2.3. 379 J. Assmann (2000), S.24f.; Seine Fallstudien zu den Wandlungen konnektiver Strukturen umfassen Babylonien und Ägypten als Beispiele für kulturellen Verfall und Untergang sowie Israel und Griechenland als Beispiele für kulturelle Resistenz und Permanenz. 378 134 den anderen Modus, das kulturelle Gedächtnis, über. Das kulturelle Gedächtnis verkörpert als trägerunabhängiges Gedächtnis die durch externe Speichertechniken gestützte Erinnerung. Änderungen des kulturellen Gedächtnisses, beispielsweise hervorgerufen durch Änderungen in den Speichertechniken, rufen Änderungen in der konnektiven Struktur einer Kultur hervor und damit einhergehend Möglichkeiten der Identifizierung, der Generierung und Reflexion von Selbstbildern sowie der Definition von Wertperspektiven. Kultur(ausprägungen) und Vergangenheit rekonstruierende Erinnerungen vor dem Hintergrund ihrer (technischen) Träger münden so im Begriff der Erinnerungskultur, in der je spezifische soziale Sinn- und Zeithorizonte herausgebildet werden380: „Erinnerungskultur hat es mit „Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet“, zu tun. […] Es lässt sich schlechterdings keine soziale Gruppierung denken, in der sich nicht – in wie abgeschwächter Form auch immer – Formen von Erinnerungskultur nachweisen ließen. […] Erinnerungskultur beruht weitgehend, wenn auch keineswegs ausschließlich, auf Formen des Bezugs auf die Vergangenheit.“ (J. Assmann: S.30f.) Eine solche Differenzierung des kollektiven Gedächtnisses in ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis postuliert damit nach J. Assmann zwei Gegensätze: Zum einen spiegelt diese Unterscheidung eine zeitliche Strukturierung des kollektiven Gedächtnisses wider, in der zwei „Vergangenheitsregister“ zwei verschiedenen „Gedächtnis-Rahmen“ (J. Assmann 2000: S.50) zugeordnet werden. Während kulturelles Gedächtnis sich auf die Seite der gesellschaftlich fundierenden Geschichten stellt, mit verbindlichem Charakter für weite Teile von Gesellschaft, ist das kommunikative Gedächtnis nach J. Assmann eher mit einem Alltagsgedächtnis gleichzusetzen.381 Der Bedeutungsgehalt der Erinnerungen für gesellschaftliche Prozesse ist damit im kulturellen Gedächtnis deutlich höher einzuschätzen. Zum anderen sind mit dieser Differenzierung unterschiedliche Möglichkeiten der Partizipation an dem jeweiligen Gedächtnis verbunden: „Im Gegensatz zur diffusen Teilhabe […] am kommunikativen Gedächtnis“ (J. Assmann 2000: S.53), an dem jedoch prinzipiell alle Zeitgenossen partizipieren können, ist das kulturelle Gedächtnis nicht für alle gleichermassen offen 380 381 J. Assmann (2000), S.31. J. Assmann (2000), S.52f.; Erll (2011), S.131. 135 – die Gebundenheit an spezifische Träger und die notwendige Einweisung in ein solches kulturelles Gedächtnis reglementieren die Partizipationsmöglichkeiten.382 Für das Kulturausprägungen bestimmende kulturelle Gedächtnis werden von J. Assmann in kritischer Anlehnung an Lévi-Strauss zudem zwei Arten von Erinnerungsstrategien bestimmt: Heisse Erinnerungsstrategien stehen für Vergangenheitsrekonstruktionen, die auf einen wie auch immer gearteten Wandel abzielen. Kalte Erinnerungsstrategien hingegen setzen auf Kontinuität und Permanenz von Vergangenheitsrekonstruktionen.383 Die Wandlung(sfähigkeit) konnektiver Strukturen von Kultur unterliegt diesen Erinnerungsstrategien und ihrem gesellschaftlichen Einsatz. Bedingung für die Anwendung solcher Erinnerungsstrategien, insbesondere wenn sie auf kulturelle Wandlungen abzielen, sind Möglichkeiten, die institutionell geformten, selektiven Inhalte des je spezifischen kulturellen Gedächtnisses einer Gruppe abzuändern, d.h. ihnen neue Erinnerungsinhalte hinzuzufügen und andere wieder auszuschliessen. Ein solcher Prozess schliesst ein, dass andere Vergangenheits(re)konstruktionen machbar sind und entsprechende Zugriffsmöglichkeiten auf diese Vergangenheiten bestehen. A. Assmann differenziert daher im Anschluss an die Arbeiten von Halbwachs und J. Assmann das kulturelle Gedächtnis in ihrem Werk Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1999384) weiter in ein bewohntes Funktions- und in ein unbewohntes Speichergedächtnis385: Als selektives, gruppenindividuelles Gedächtnis beinhaltet das Funktionengedächtnis immer nur einen Teil der prinzipiell abrufbaren Vergangenheitsinformationen.386 Es ist „ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeß der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstitution […] hervorgeht“ (A. Assmann 2009: S.137) und das eigentlich identitätsstiftende Gedächtnis einer Gruppe. Das Speichergedächtnis hingegen bildet den >Hintergrund< für eine Vielzahl möglicher Funktionsgedächtnisse, indem es alle weiteren Optionen, also die gesamte Menge an gespeicherten und wieder abrufbaren Informationen enthält. Es umfasst das Angebot, aus dem das Funktionengedächtnis 382 J. Assmann (2000), S.53f. J. Assmann (2000), S.68ff. 384 Zeitpunkt der deutschen Erstausgabe. 385 A. Assmann (2009), S.134. 386 A. Assmann (2009), S.135. 383 136 schöpft.387 Als Beispiel für das Speichergedächtnis nennt A. Assmann die historische Wissenschaft388, da sie alles „aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat. […] Unter dem weiten Dach der historischen Wissenschaften können solche unbewohnten Relikte und besitzerlos gewordenen Bestände aufbewahrt, aber auch wieder so aufbereitet werden, daß sie neue Anschlußmöglichkeiten zum Funktionsgedächtnis bieten.“ (A. Assmann 2009: S.134). Die Auswahl, Interpretierung, Verbindlichkeit etc. dieser historischen Informationen obliegt dann den darauf zurückgreifenden Gemeinschaften, die damit ihr je spezifisches Funktionsgedächtnis etablieren. Die jeweils aktuellen Inhalte des kulturellen Gedächtnisses basieren damit auf einer stetigen Auseinandersetzung und einem permanenten Austausch zwischen Speicher- und Funktionengedächtnis.389, 390 Das Speichergedächtnis dient so dem Funktionsgedächtnis als Fundus, auf den bei Bedarf und entsprechend der eingesetzten Erinnerungsstrategien für die Aushandlung neuer Inhalte des kulturellen Gedächtnisses zurückgegriffen werden kann. Im Umkehrschluss heisst das, dass ein aktuell vorherrschendes Funktionsgedächtnis nur eine konkrete Realisation aus den vielfältigen Möglichkeiten des kulturellen Speichergedächtnisses darstellt.391 387 A. Assmann (2009), S.136f. und S.140ff. Darüber hinaus bilden alle Arten von nicht inhaltlich selektieren Informations- / Datensammlungen ein Speichergedächtnis, wie Datenbanken, Archive etc. 389 Hierzu A: Assmann: „Dieses Gedächtnis setzt sich nicht einfach fort, es muß immer neu ausgehandelt […] werden.“ (A. Assmann 2009: S.19). 390 Eine derartige weiterführende Unterscheidung des kulturellen Gedächtnisses in ein Funktions- und ein Speichergedächtnis nivelliert damit gleichermassen Vorstellungen, die eine scharfe Gegenüberstellung von Geschichte und Erinnerung (bzw. Gedächtnis im Sinne des hier angesprochenen kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses) beinhalten: Halbwachs beispielsweise ordnete den Begriffen Geschichte und Erinnerung noch grundsätzlich andere Bedeutungskontexte zu. Während das kollektive Gedächtnis auf Kontinuitäten fokussiert und wesentlich identitätssichernd wirkt, zielt Geschichte insbesondere auf Diskontinuitäten. Oder anders gesagt, für Halbwachs beginnt Geschichte dort, wo Erinnerung aufhört. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich später auch bei Nora: Erinnerung ist für ihn eine kulturelle, lebendige Praxis, durch die sich Gesellschaften selbst definieren und die der Veränderung unterworfen ist, während Geschichte intellektuelle Arbeit auf Basis des Studiums empirischer Realitäten ist. Mit der Etablierung eines Speicher- und Funktionsgedächtnisses wird diese Gegenüberstellung von Geschichte und Gedächtnis aufgehoben: „Geschichte und Gedächtnis [sind] zwei Modi der Erinnerung […], „die sich nicht gegenseitig ausschließen und verdrängen müssen“ (A. Assmann 2009: S.133f.). (Halbwachs nach J. Assmann (2000), S.44; A. Assmann (2009), S.131; Nora (1996), S.3). 391 Ein Überblick über weitere zentrale Debatten zum Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis findet sich u.a. bei Erll (2011), S.41ff. 388 137 Die Ausprägung dieser beiden Modi des kulturellen Gedächtnisses ist allerdings an eine Bedingung gebunden. Die Bedingung lautet: Es braucht Hard- und Software jenseits menschlicher Gehirne und Sprachorgane, um unbewohnte Speichergedächtnisse als aktualisierbare Hintergründe für mannigfaltige Funktionsgedächtnisse entstehen zu lassen. Während der Begriff des kulturellen Gedächtnisses bei J. Assmann als trägerunabhängiges Gedächtnis auch für orale Kulturen Anwendung finden kann – die >Speicher< dieser Gesellschaften sind dann beispielsweise Riten, Tätowierungen, Landschaften392 – ist die bei A. Assmann nachfolgende Differenzierung in Funktionsund Speichergedächtnis ausdrücklich auf menschlich entäusserte (Speicher-)Technik angewiesen.393 Beide Begriffsmodellierungen betrachten jedoch die bei Halbwachs noch impliziten Äusserungen zur technischen Bedingtheit von anamnésis nun sehr explizit für die Entwicklung von Erinnerungskultur.394 Entsprechend ihrer wissenschaftlichen Ausrichtungen stehen dabei unterschiedliche (Medien)Techniken im Vordergrund der Betrachtung: Während J. Assmann auf die Einflüsse der Schrifttechnik – dem Übergang von ritueller zu textueller Kohärenz – fokussiert, werden bei A. Assmann darüber hinaus zumindest skizzenhaft die technischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts thematisiert. Ihre395 zentralen Überlegungen zum Zusammenhang von hypomnésis und anamnésis möchte ich im Folgenden am Beispiel der Schrift(entwicklung) – „die zweieinhalbtausendjährige Leitmetapher des Gedächtnisses“ (A. Assmann 2009: S.20) – und den damit korrespondierenden Medienbrüchen aufzeigen: Oralität / Literalität396 (1) und Literalität / Digitalität (2).397 (1) Mit der Entwicklung der Schrift, zumal mit der alphabetischen Schrift, wird für das kulturelle Gedächtnis ein raum-zeitlicher Strukturwandel initiiert, der in den nachfolgenden Jahrhunderten die Ausprägung von Erinnerungskultur wesentlich bestim- 392 J. Assmann (2000), S.52. A. Assmann (2009), S.137. 394 A. Assmann schreibt u.a. dazu: „Das Verhältnis einer Epoche zur Vergangenheit beruht zu einem wesentlichen Bestandteil auf ihrem Verhältnis zu den Medien des kulturellen Gedächtnisses.“ (A. Assmann 2009: S.204). 395 Umfasst hier Jan und Aleida Assmann. 396 Mit Fokus auf alphabetische Schriften (hier keine Betrachtung von Hieroglyphenschriften, Keilschriften etc.). 397 Auch andere Formen von hypomnésis werden von A. Assmann betrachtet: Bild, Körper und Orte werden als Medientechniken der Erinnerung untersucht. (vgl. A. Assmann (2009), Kapitel I, II, III, IV, V des zweiten Teils). 393 138 men wird. Möglichkeiten der Verschriftlichung kulturellen Sinns auf externer, mobiler Speicherhardware, wie die früh gebräuchlichen Speicher Pergament oder Papyrus, erlauben eine kulturelle Übertragung jenseits individueller Wirkungsbereiche: Kultureller Sinn kann nun ganz andere Räume erschliessen, er ist nicht mehr an die Enge der eigenen Gruppe gebunden und ist folglich in der Lage, andere Wirkungsbereiche zu erschliessen. Gleichzeitig führt die Ausbreitung der Schriftkultur zu der Herausbildung einer stetig wachsenden Menge an Texten, die über den anfänglichen Gebrauch für Alltagskommunikationen herausreichen und an normativer Bedeutung gewinnen. Unter diesen Texten mit normativen Charakter für die Ausprägung von Kultur gewinnen wiederum einige an besonderer Bedeutung und weisen, so J. Assmann, eine hohe kulturelle Anschlussfähigkeit auf.398 Mit der Herausbildung derartiger Klassiker „verändert sich [auch] die Zeitform der Kultur. Neben die festliche Unterscheidung von Urzeit und Gegenwart tritt nun eine andere: die von Vergangenheit und Gegenwart, Altertum und Neuzeit“ (J. Assmann 2000: S.93). Schrift (und die damit einhergehenden Möglichkeiten der räumlichen Verbreitung und zeitlichen Differenzierung) stellt damit Kultur von der von J. Assmann deklarierten rituellen Kohärenz auf textuelle Kohärenz um. Eine derartige Umstellung steht aber nicht nur für raum-zeitliche Strukturänderungen des kulturellen Gedächtnisses, sondern auch für gänzlich unterschiedliche Prinzipien kultureller Gedächtnisarbeit: Während identitätsstiftende Prozesse kultureller Übertragungen im Rahmen von Riten auf dem Prinzip der beständigen und vor allem absolut invarianten Wiederholung beruhen, ist das dominante Prinzip textueller Kohärenz das der variantenreichen bzw. der Varianz herausfordernden Interpretation – literale Gesellschaften befreien sich, so J. Assmann, vom Wiederholungszwang oraler Kulturen.399 Diesen höheren Freiheitsgraden in den Dimensionen Raum, Zeit und Sinn(variation) der Schriftkulturen stehen jedoch auch grössere Risiken gegenüber. Die mit der Schrift entstehenden Speichergedächtnisse werden zu >Orten< für all jene Texte, die von einer Gesellschaft auch aufgrund der schieren Textmenge nicht mehr erinnert werden können.400 Das Verhältnis von Erinnern und Vergessen tritt mit dem Gedächtnismedium Schrift in ein neues Stadium ein: Prinzipiell erinnerbarer kultureller Sinn, der 398 J. Assmann (2000), S.91ff. (J. Assmann zeigt diese Entwicklung am Beispiel Mesopotamiens auf). J. Assmann (2000), S.89f. 400 J. Assmann (2000), S.96. 399 139 aus dem gruppenspezifischen, >bewohnten< Funktionsgedächtnis herausfällt, wird (zunächst) vergessen. Der Umgang mit den Begleiterscheinungen einer sich ausbreitenden Schrifttechnik fällt indes epochen- und gesellschaftsspezifisch unterschiedlich aus.401, 402 Ungeachtet dieser Unterschiede hat textuelle Kohärenz auf Basis der hypomnése Schrift jedoch zu einem grundsätzlichen Wandel von anamnésis geführt, so dass J. Assmann zu folgenden Schluss kommt: „Es liegt auf der Hand, daß in der Geschichte der konnektiven Struktur von Gesellschaft die Erfindung der Schrift den tiefsten Einschnitt bedeutet.“ (J. Assmann 2000: S.96) (2) Ein zweiter tiefer Einschnitt wird im Anschluss daran von A. Assmann durch die Einführung der elektronischen Schrifttechnik konstatiert. Schon im Vorfeld dieser technischen Zäsur macht A. Assmann Änderungen im 18. und 19. Jahrhundert in der Einstellung zur Schrift aus, die in gewisser Hinsicht ihren Schatten auf die technischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert voraus werfen.403 Solche Einstellungsänderungen 401 Zwei von J. und A. Assmann angeführte Beispiele sollen einige dieser Aspekte beleuchten: Als prominentes Beispiel für die Entstehung und Folgen von Schriftkultur dient J. Assmann die Einführung der Alphabetschrift im antiken Griechenland. Diese Schriftkultur ist durch drei Charakteristika geprägt: Sie sieht die orale Kultur nicht in Opposition zur literalen Kultur – ein Aspekt, der sich beispielsweise in dialogartigen Texten Platons widerspiegelt –, sie wird nicht für die Herausbildung und Weitergabe heiliger Texte funktionalisiert und sie ist von Anfang an liberal eingestellt. Die besonderen Folgen einer derartigen Schriftkultur liegen in einem durchaus kritischen, widerspruchsreichen Umgang mit Texten und einer im Rahmen sich herausbildender Intertextualität (=Hypolepse - Hypolepse bedeutet nach J. Assmann „das Prinzip, nicht von vorn anzufangen, sondern sich in anknüpfender Aufnahme an Vorangegangenes anzuschließen und in ein laufendes Kommunikationsgeschehen einzuschalten. Dieses Kommunikationsgeschehen bildet, was man den „hypoleptischen Horizont“ nennen könnte“ (J. Assmann 2000: S.282f.)) Griechische Schriftkultur spiegelt daher im hohen Masse die mit Schrifttechnik verbundenen Freiheitsgrade von Raum, Zeit und vor allem Sinnvariation für die Ausprägung von Erinnerungskultur wider, wiewohl sie gerade in ihrem Wechselbezug zur weiterhin prominenten und vielfach auch priorisierten Mündlichkeit nicht den Status eines exklusiven Gedächtnismediums erhalten hat. A. Assmann zeigt dann am Beispiel der Schriftkultur der Renaissance, dass diese Einstellung gegenüber der Schrift eine deutliche Veränderung erfahren hat: Den Dichtern der Renaissance war nicht nur die Vorstellung gemein, sich über ihre Inhalte in selige Ewigkeit zu begeben, sondern auch über die ihnen dafür zur Verfügung stehende Schrifttechnik und zugehöriger Speicher-Hardware. Erst mit der Schrift kann die Überwindung des eigenen, Vergessenheit bringenden Todes gelingen. Die noch bei Platon vorgenommene Priorisierung der Rede gegenüber der Schrift ist in der Renaissance einem Denken gewichen, dass in der Schrift nicht nur die Möglichkeit zur (Selbst)Verewigung sieht, sondern sie auch als hervorragende Gedächtnistechnik für anamnésis schätzt. (J. Assmann (2000), S.267; S.270f.; S.280f. und A. Assmann (2009), S.181; S.186). 402 Weitere Beispiele u.a. bei J. Assmann (2000); A. Assmann (2009); Goody/Watt (1991). 403 Mehrere Akteure werden hier von A. Assmann benannt, wie zum Beispiel Jonathan Swift, über dessen Einschätzung der Schrift Folgendes zu lesen ist: „Swifts Beschreibung des Buchmarkts macht sarkastisch deutlich, daß Schriftspuren aus sich heraus keine immanente Widerstandskraft gegen Verfall und Vergessen enthalten, sondern für ihren Fortbestand auf soziale Verabredungen angewiesen sind. Der Ewigkeitsanspruch und das Ewigkeitsversprechen der Schrift beruhten aus zwei Grundannahmen: daß erstens der materielle Bestand und zweitens die Lesbarkeit der Texte gesichert ist. Swift zeigt, daß beide Annahmen um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr selbstverständlich sind.“ (A. Assmann 2009: S.203) Oder ein 140 gegenüber der Schrift bestimmen für A. Assmann einen „tiefgreifende[n] Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses“ (A. Assmann 2009: S.208): Nicht mehr die Möglichkeiten des Erinnerns auf Basis von Schrift stehen im Fokus der Betrachtung, sondern das Vergessen all dessen, was entweder nicht geschrieben wurde oder aus Materialitäts- oder Lesbarkeitsgründen nicht mehr zugänglich ist.404 Diese Entwicklungen sind gleichermassen die Vorboten für eine deutliche stärkere Zäsur, die mit der Etablierung der elektronischen Schrift seit dem 20. Jahrhundert einhergeht. Die benannten Änderungen in der Schriftbewertung werden technisch bedingt potenziert. Insbesondere folgende grundlegenden Wandlungen werden im Zuge des Aufkommens der elektronischen Schrift von A. Assmann identifiziert: Steigerung des Abstraktionsgrades: Die Entwicklung der Schrift ist vor allem eine Entwicklung hin zu höherer Abstraktheit. Umstellungen von Bilderschriften auf Alphabetschriften bezeichnen eine erste Steigerung des Abstraktionsgrades, die Umstellung auf Nullen und Einsen eine zweite Steigerung.405 Elektronische Schrift als Verbundmedium: Im Gegensatz zu allen früheren Schriftformen ist die elektronische Schrift in der Lage, neben Schreibsignalen auch akustische und optische Signale zu kodieren. Die allgemeine technische Entwicklung in Richtung medialer Verbundsysteme, wie sie in Kapitel 3 aufgezeigt wurde, sieht auch A. Assmann in der elektronischen Schrift verwirklicht: „War die Alphabetschrift translinguistisch, so ist die Digitalschrift transmedial“ (A. Assmann 2009: S.211). Änderung in der Funktionalisierung der Schrift: Der fundierende Charakter der Schrift, der für eine dauerhafte Einschreibung in eine Speicher-Hardware stand, hat sich mit der elektronischen Schrift aufgelöst. Analog der Analyse hypomnétischer Konfigurationen der Gegenwart, sieht auch A. Assmann im wenig später zu Zeiten William Wordsworth: „Im 19. Jahrhundert war es vorbei mit dem ungebrochenen Vertrauen in die Beständigkeit und Reproduktionskraft der Buchstaben. […] Bücher sind bei Wordsworth demselben Schicksal der Vernichtung in der Zeit ausgesetzt, während das Privileg der Zeitenthobenheit bei ihm auf die Natur übergeht. […] Schrift ist bei Wordsworth keine Wunderwaffe mehr gegen die Erosion der Zeit, sondern ein besonders zerbrechlicher Schrein.“ (A. Assmann 2009: S.205f.). 404 A. Assmann (2009), S.204ff. 405 A. Assmann (2009), S.211. 141 Zusammenspiel gegenwärtiger elektronischer Soft- und Hardware weniger das Prinzip der permanenten Einschreibung als vielmehr der steten Übertragung realisiert406: „Die Allianz von Schrift und Gedächtnis […] wird von der elektronischen Schrift aufgelöst.“ (A. Assmann 2009: S.211f.) Änderungen der Kommunikationsverhältnisse: Und schliesslich werden im Zusammenspiel von Digitalschrift und kulturellem Gedächtnis von A. Assmann geänderte Kommunikationsverhältnisse festgestellt: Im Sinne von Sicks Amputationen ist auch für A. Assmann der „Bezug der Schrift zum menschlichen Körper und Gedächtnis unterbrochen worden“ (A. Assmann 2009: S.212). Hard- und Software braucht zunächst eben technische Hardund Software, um kulturellen Sinn im Anschluss daran an Menschen weitergeben zu können.407 Derartige Änderungen (medien)technischer Software – wie sie hier am Beispiel der Schrift aufgezeigt wurden – werden von A. Assmann auf der Hardware-Seite punktuell im Rahmen ihrer Abhandlung über die Wandlungen des Archivs gespiegelt. Fragen der Halt- und Lesbarkeit technischer Speicher werden hier u.a. angesprochen und führen im Zeitalter digitaler Speichermedien auch bei A. Assmann zu folgender Antwort: „Die Suche nach dem dauerhaften Datenträger, der einen gewissen Fortbestand garantiert, mußte ebenso aufgegeben werden wie die Hoffnung auf ein garantiert zeitbeständiges Zeichensystem“ (A. Assmann 2009: S.354). Das Prinzip des permanenten Überschreibens statt dauerhaften Einschreibens zeigt sich in der Speicher-Hardware im Zwang der ständigen Migration der Daten.408 Insbesondere diese Änderungen in den technischen Bedingungen409 – hier aufgezeigt am Beispiel der Software Digitalschrift – münden schliesslich bei A. Assmann in einer gegenwärtigen Krise des kulturellen Gedächtnisses. Sie ist geprägt durch ein Auseinanderklaffen zwischen exponentiell zunehmenden Möglichkeiten der Speicherung 406 A. Assmann (2009), u.a. S.20; vgl. auch Ausführungen in Abschnitt 3.2.2. Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2.2 und 3.2.3. 408 A. Assmann (2009), S.355. 409 Die signifikantesten Änderungen werden von ihr zusammengefasst als „Die Übertragung von materiellen auf elektronische Träger“, „Erweiterung der Speicherkapazität bei drastischer Reduktion der Langzeitstabilität“ und „Erweiterter Zugriff und kürzere Verfallszeiten“ (A. Assmann 2004: S.13ff.). 407 142 kulturellen Sinns bei gleichzeitig stabil gebliebenen Möglichkeiten menschlicher Verarbeitung und Erinnerungsfähigkeiten sowie abnehmenden Haltbarkeiten zugrundeliegender Speicher-Hardware, die im Digitalen arbeitet410: „[D]ie Diskrepanz zwischen bewohnten und unbewohnten, verkörperten und ausgelagerten Erinnerungsräumen [hat sich] drastisch verschärft.“ (A. Assmann 2009: S.409) Prozesse des Erinnerns und Vergessens – Begriffe, die rein menschliche Prozesse perspektivieren – fallen im technisch-digitalen Paradigma zusammen und machen sie mithin obsolet.411 Technologische Bedingungen der Gegenwart haben daher, so A. Assmann, einen tiefgreifenden Wandel des kulturellen Gedächtnisses initiiert, dessen wesentlicher Charakterzug in der Verselbstständigung der ars-Seite „auf Kosten der vis-Seite der Memoria“ (A. Assmann 2009: S.411) liegt. Diese Änderungen des kulturellen Gedächtnisses bestimmen massgeblich die Ausprägung der konnektiven Struktur der Kultur – technisch bedingte Gedächtnis- und in der Folge Erinnerungsausprägungen verantworten aktuelle Kulturausprägungen. 4.1.3 Funktionen und Organisation des kollektiven412 Gedächtnisses Wenn kollektives Gedächtnis und Kultur ein derart enges Verhältnis prägt, können mit Hilfe genauer Beschreibungen von Funktionen und Organisation dieses Gedächtnisses Rückschlüsse auf kulturelle Mechanismen und Selbstbeschreibungen vorgenommen werden. Insbesondere auf Basis der vorliegenden Modellbeschreibungen zum kulturellen Gedächtnis von J. und A. Assmann lassen sich konkrete, für die Ausprägung von (Erinnerungs-)Kultur wesentliche Einzelfunktionen des Erinnerns und Vergessens sowie zentrale Organisationsformen des kollektiven Gedächtnisses aufzeigen. Für eine nähere Darstellung dieser Einzelfunktionen lege ich unter Berücksichtigung der Beschreibungen im Assmann’schen Modell folgende Strukturierung 410 A. Assmann (2009), S.408f. A. Assmann (2009), S.410. 412 Der Begriff >kollektives Gedächtnis< umfasst auch im Assmann’schen Modell (gemäss der Ausführungen im letzten Abschnitt) die beiden untergeordneten Begriffe >kulturelles Gedächtnis< und >kommunikatives Gedächtnis<. In Abhängigkeit der Quellen und des zu beschreibenden Kontextes werden im Folgenden alle drei Begriffe verwendet und daher mit Blick auf die dargestellten Unterschiede dieser Begriffe von einer terminologischen Vereinheitlichung abgesehen. Sofern auf einen allgemeinen, übergeordneten Aspekt kollektiv-kultureller Gedächtnisarbeit verwiesen wird, wird der Begriff >kollektives Gedächtnis< gebraucht. 411 143 zugrunde: Die Generierung individueller und kollektiver Zeit- und Raumvorstellungen (1), die (De-)Legitimierung von Institutionen, Macht etc. (2), die Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen (3) sowie die Schaffung kollektiver Identitätskonstruktionen (4).413 Daran anschliessend wird sich den zentralen Organisationsformen gewidmet (5). (1) Generierung von Zeit- und Raumvorstellungen Für das kollektive Gedächtnis hatte bereits Halbwachs bestimmt, dass die Vergangenheit fortlaufend durch Erinnerungen rekonstruiert und damit Prozesse der Gegenwart und Zukunft mitbestimmt werden.414 Eine derartige Rekonstruktion der Vergangenheit ist wesentliche Grundlage für die Entstehung von Geschichte. Die Herausbildung eines solchen historischen Bewusstseins markiert vor allem die Einführung einer zeitlichen Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie einer auf diesen retrospektiven Zeitperspektiven beruhende Vorstellung prospektiver individueller und kollektiver Optionen. Mit anderen Worten: Die im kollektiven Gedächtnis rekonstruierten und vielfältig vernutzbarten Vergangenheitsrekonstruktionen eröffnen Möglichkeiten für Vorstellungen über Zeit(abläufe) und zeitliche Strukturierungen, die in der westlichen Welt zumeist linearer Natur sind und sich daher zwischen den drei grossen Zeitperspektiven – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – bewegen.415, 416 Wie diese Zeitperspektiven in konkrete Zeitvorstellungen umgewandelt werden, ist 413 Berek (2009): Berek analysiert prinzipielle Funktionen der Erinnerung aus einer konstruktivistisch-wissenssoziologischen Perspektive und unterscheidet darin fünf Hauptfunktionen: Strukturierung der Wahrnehmung und Sinnkonstitution, Zeitvorstellungen, Handlungsorientierung, Legitimation von Institutionen, Sinnwelten und Identitäten sowie die Wirklichkeitskonstruktion in der Gegenwart. Seine Strukturierung ist ein erster wesentlicher Ausgangspunkt für die eigene Gliederung der zentralen Erinnerungsfunktionen. Die inhaltliche Funktionenbeschreibung setzt jedoch auf den hier fokussierten Theorien von Halbwachs und J. und A. Assmann auf. D.h. die hier vorgelegte Einteilung orientiert sich zwar an der Berek‘schen Strukturierung, die inhaltlichen Beschreibungen dieser Funktionen werden indes abgeleitet aus den vorgestellten Gedächtnismodellen von Halbwachs sowie J. und A. Assmann. (vgl. insbesondere Berek 2009: Kapitel 3). 414 Vgl. Ausführungen zu Halbwachs in Abschnitt 4.1.1 und J. Assmann (2000), S.42. 415 A. Assmann (2009), S.50ff; Berek (2009), S.124f. 416 Für Luhmann ist diese zeitliche Strukturierung das eigentliche „Prinzip“ eines (kollektiven) Gedächtnisses: „Gegenwart ist aber nichts anderes als die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. […] Wenn Gedächtnis seine Funktion nur im aktuellen Operieren, also nur in der Gegenwart ausüben kann, so heißt dies: daß es mit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft zu tun hat; daß es diesen Unterschied verwaltet […].“ (Luhmann 1998: S.581); Weitere Ausführungen zur „Gedächtnistheorie“ Luhmanns (und insbesondere auch zu den sonst herrschenden Unterschieden zum Assmann’schen Konzept) siehe auch Pethes (2008), S.73ff. 144 abhängig von den zur Verfügung stehenden (Medien-)Techniken einer Erinnerungskultur: Auf ritueller Kohärenz beruhende, orale Kulturen bilden weniger Vorstellungen über eine historische Vergangenheit als vielmehr Vorstellungen über eine mythische, absolute Vergangenheit (eine Urzeit) aus, deren Differenz zur Gegenwart gleichbleibend ist. Erst in den Schriftkulturen können sich, so J. Assmann, mit Hilfe intertextueller Bezüge ein historischer Sinn und damit eine nicht-ontische Differenz zwischen erfahrbarer Gegenwart und nicht-gelebter Vergangenheit herausbilden.417 Diachrone Zeitstrukturierungen und -vorstellungen sind demnach auch Funktionen von Technik. Erinnerungsbedingte Zeitkonstruktionen arbeiten aber nicht nur auf der diachronen Ebene: J. Assmann hat ausserdem aufgezeigt, wie das rituell geprägte Fest in oralen Kulturen die Gegenwarts-Zeit einer Gruppe in eine Alltags- und Festzeit strukturiert und damit eine „allgemeine Zeitordnung“ (J. Assmann 2000: S.58) etabliert.418 Eine solche Zeitordnung feiert im wahrsten Sinne des Wortes (kulturelle) Vergangenheit in der dafür vorgesehenen Festzeit und damit die diachronen Zeitbezüge einer Gruppe. Sie erzeugt gleichzeitig Synchronizität des Kollektivs in Bezug auf ihre gemeinsam und gleichzeitig stattfindenden Abläufe in der Gegenwart.419 Derartig diachron und synchron wirkende Mechanismen der erinnerungsbedingten Zeitstrukturierung gelten indes nicht nur für orale Kulturen: „Durch das kulturelle Gedächtnis gewinnt das menschliche Leben eine […] Zweizeitigkeit, die sich durch alle Stadien der kulturellen Evolution erhält“ (J. Assmann 2000: S.57). Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses geben parallel zu den zeitlichen auch räumliche Orientierungen vor: So wie Zeit strukturiert und Zeitbezüge aufgezeigt werden können, so schafft kollektives Gedächtnis gleichermassen eine Orientierung im Raum. Mit der Etablierung von Mnemotopen420 werden „Zeichensetzungen im natürlichen Raum“ (J. Assmann 2000: S.60) vorgenommen, die diesen strukturieren und 417 J. Assmann (2000), S.78 und S.93. J. Assmann (2000), S.57. 419 Berek (2009), S.125. 420 J. Assmann entwickelt den Begriff des Mnemotops in Anlehnung an Halbwachs >topographie légendaire< und insbesondere an Pierre Noras Begriff >lieux de mémoire<: Pierre Nora hatte in seinen von 1984 bis 1992 erschienenen Les lieux de mémoire in Zusammenarbeit mit einer Reihe anderer Wissenschaftler die für die nationale Identität Frankreichs wesentlichen Erinnerungsorte ausfindig gemacht und ihrem Identitätsgehalt bzw. ihrer Funktion nach analysiert. Erinnerungsorte umfassen eine Vielzahl von Dingen, sie reichen von historischen Figuren über geographische Orte bis hin zu Emblemen. Die Idee der 418 145 mit denen im Anschluss daran raum-zeitliche Bezüge zur Gegenwart vorgenommen werden können. Gleichzeitig wirken solche Orte – ähnlich wie zeitstrukturierende Elemente der Form Fest- und Alltag – wiederum festigend auf die Ausprägung bzw. den Erhalt eines kollektiven Gedächtnisses.421 Derartige raum-zeitliche Bezüge und Strukturierungen, die mittels Erinnerungen im Rahmen kollektiver Gedächtnisse etabliert werden, bestimmen in hohem Masse unsere Orientierung in der Gegenwart. Der massive Einfluss raum-zeitlicher Vorstellungen auf unser Alltagsleben eröffnet daher eine Reihe von machtpolitischen Fragestellungen, die Pethes mit Bezug auf die Zeit zu dem Schluss kommen lässt, dass „die Definitionsmacht über einen Feiertag ein zentrales macht-politisches Instrument ist“ (Pethes 2008: S.86) – womit der Übergang für eine zweite wesentliche Funktion, der Legitimationsfunktion, gemacht ist. (2) (De-)Legitimierung (von Institutionen, Macht etc.) „Herrschaft braucht Herkunft“ (J. Assmann 2000: S.71, A. Assmann 2009: S.138) heisst es bei J. und A. Assmann – ihre Kurzformel für die Tatsache, dass die inhaltliche Formgebung eines kulturellen Gedächtnisses gekoppelt ist an diejenigen (Institutionen, Personen etc.), die aus unterschiedlichen Gründen Macht oder Befugnisse über kulturelle Gedächtnisarbeit inne haben. Mit dieser Macht ausgestattet, legitimieren und sichern sie ihren eigenen Bestand. Vergangenheitskonstruktionen werden hier für Festigungen oder aber Wandlungen (sozialer) Rahmen genutzt, mit denen die gewünschten Herrschaftskonstellationen, institutionellen Ordnungen etc. erreichbar bzw. gesichert scheinen. Dieser retrospektiv arbeitenden Legitimierung setzen J. und A. Assmann auch eine prospektive Seite gegenüber: Macht, Herrschaft, institutionelle Ordnung soll nicht nur mittels Vergangenheitsrekonstruktionen abgesichert werden, Nation ist eng verknüpft mit diesen Erinnerungsorten. Sie sind Symbole für nationale Identitäten und können jeweils mittels der drei Dimensionen – Materialität, Funktionalität und Symbolik – näher bestimmt werden. Erinnerungsorte fungieren daher als Identifikationsmöglichkeit zur Herstellung nationaler Einheiten, rufen aber auch Differenzen und Konflikte hervor. Diese Erinnerungsorte existieren nach Nora jedoch nur, weil es heute keine >wahre< Erinnerung mehr gibt. Erinnerungsorte sind zwar ihrem Namen nach >Erinnerungsorte<, dahinter verbirgt sich aber nur das Unvermögen der modernen Gesellschaft, mit wirklicher Erinnerung zu leben. (vgl. Nora (1996); Kritzman (1996); J. Assmann (2000), S.60). 421 Pethes (2008), S.83ff. 146 es soll sich darüber hinaus auch in Zukunft an die Gegenwart, die dann bereits Vergangenheit geworden ist, erinnert werden. Denkmäler, Monumente und Feiertage sind >klassische< Formen zur Verwirklichung dieser prospektiven Seite von Legitimation.422 Eine solche Legitimationsfunktion wird in der von A. Assmann weiter fortgeführten Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses in ein bewohntes Funktionsund unbewohntes Speichergedächtnis dem Funktionsgedächtnis zugeschrieben, da es immer auch das jeweils offizielle oder politische Gedächtnis einer Gemeinschaft darstellt.423 Wo aber legitimiert werden kann, da kann auch delegitimiert werden: Delegitimierung beruht wie die Legitimationsfunktion auf der Herausbildung und Festigung eines Funktionsgedächtnisses. Im Fall delegitimierender Funktionalisierung beinhaltet dieses Funktionsgedächtnis jedoch andere Erinnerungen – A. Assmann nennt sie Gegenerinnerungen424 –, die aus dem im Hintergrund prozessierenden Speichergedächtnis für Veränderungen des offiziellen Funktionsgedächtnisses wieder aktiviert werden. Derartige Prozesse sind vor allem immer dann anzufinden, wenn Teile der Gemeinschaft Repressalien ausgesetzt sind oder herrschende gesellschaftlich-politische Ordnungen nicht mehr ausreichend durch die Mitglieder der Gemeinschaft getragen werden. Legitimations- und im Anschluss daran Delegitimationsfunktionen des kulturellen Gedächtnisses finden in allen Gesellschafts- und Politikformen Anwendung, (de-)legitimieren also wahlweise Einzelpersonen, Gruppen, Institutionen, Organisationen. Eng verbunden mit der (De-) Legitimierung individueller oder kollektiver Entitäten – genauer: das eigentliche Prinzip – ist die (De-)Legitimierung der damit zusammenhängenden Sinnwelten, wie Berek aufzeigt425: Erst über die sinnhafte Vermittlung dieser Entitäten, die Darstellung damit verbundener Sinnhorizonte, kann die (De-)Legitimierungsfunktion des kulturellen Gedächtnisses richtig greifen. Zentrales Instrument sinnvermittelnder (De-)Legitimationen des kulturellen Gedächtnisses sind daher Prozesse der Selektion: Was soll bzw. kann für eine (De-)Legitimierung individueller 422 J. Assmann (2000), S.71; A. Assmann (2009), S.138. A. Assmann (2009), S.138. 424 A. Assmann (2009), S.139. 425 Berek (2009), S.131f. 423 147 oder kollektiver Entitäten erinnert werden? Welche Vergangenheits(re)konstruktionen sollen in ein Funktionsgedächtnis aufgenommen werden, welche vergessen und damit ggf. in das Speichergedächtnis verschoben werden?426 Selektionsprozesse, die über die Inhalte im kulturellen Gedächtnis bestimmen und bei J. und A. Assmann an ein Macht bzw. Befugnis habendes >Wer< gebunden sind, sind an dieser Stelle inhaltliche Selektionsprozesse.427 (3) Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen Mit J. Assmann wurde bereits aufgezeigt, wie u.a. das Zusammenspiel von kommunikativen und kulturellen Gedächtnis Zeit- und Raumstrukturierungen in der Gegenwart vornimmt, indem es beispielsweise eine >Zweizeitigkeit< zwischen Alltag und Festtag generiert. Diese Zäsur trennt demnach zeitlich strukturierbare Bereiche und damit, nach J. Assmann, auch die unterscheidbaren Formen des kollektiven Gedächtnisses. Das Gedächtnis der biographischen Erinnerung – das kommunikative Gedächtnis – ist in dieser Einteilung wesentlich für die notwendigen Interaktionen sowie für die Ordnung im Alltag innerhalb einer Gruppe von Zeitgenossen428. Das fundierende Gedächtnis der Gemeinschaft – das kulturelle Gedächtnis – beinhaltet demgegenüber Interaktionen und Austausch von kulturellem Sinn auf der diachronen Ebene. Durch seinen diachronen Bezug werden in letzterem zudem Vorgaben für individuelle 426 Derartige Verschiebungen im Zusammenhang von Erinnern und Vergessen gelten, wie bereits aufgezeigt, nur für Gesellschaften mit den Möglichkeiten externer, technischer Speicherungen. 427 Herausragendes Beispiel solcher Selektionsprozesse zum Zwecke der Legitimierung ist die Herausbildung und Etablierung der Nationalstaaten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts: „Das Nation-Sein ist […] der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit.“ (Anderson 1996: S.12f.) Ihre Legitimation erfolgte nach Anderson insbesondere über eine mehr oder weniger zufällige Selektion und Durchsetzung jeweiliger Landessprachen als Folge von Entwicklungen wie dem Buchdruck sowie der Selektion von Vergangenheits(re)konstruktionen, die „vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 1996: S.15) in der Form der Nationalstaaten möglich machten. Die Vorstellung einer Gemeinschaft beinhaltet dabei nicht nur den von Anderson betonten Aspekt, dass einzelne Mitglieder einer Nation niemals alle anderen kennen können, sondern auch jenen der Vorstellung einer gemeinsamen Genealogie, also der (Re-)Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte, die die eigene Nation fundiert und damit legitimiert. Ihre prägnanteste Visualisierungsform des kulturellen Gedächtnisses sind „die Ehrenmäler und Gräber des Unbekannten Soldaten“ (Anderson 1996: S.18). 428 J. Assmann (2000), S.52f. und S.58. 148 und kollektive (Alltags-)Handlungen gespeichert.429 An dieser Stelle scheint der nochmalige Verweis auf die Gedächtnistheorie Bergsons angemessen, der mit Bezug auf ein individuelles Gedächtnis eine mémoire-souvenir – Speicherung der Vergangenheit in persönlichen Erinnerungsbildern – und mémoire-habitude – Speicherung der Vergangenheit in motorischen Mechanismen – unterscheidet. Die von ihm formulierte Macht des Gedächtnisses liegt nun darin, dass im Zusammenspiel dieser beiden Gedächtnisse vergangene Wahrnehmungen und Erfahrungen erinnert und in ein Handeln der Gegenwart übertragen werden.430 Auf ähnliche Weise gibt auch das kulturelle Gedächtnis Handlungsorientierungen: Erinnerungen an Handlungen in diesem Gedächtnis dienen gleichermassen als Vorgabe oder Handlungshilfe für (Alltags-)Handlungen in der Gegenwart – dies umso mehr, je besser sie im jeweiligen Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft legitimiert sind. Das umfasst insbesondere Handlungsformen, die als Traditionen oder >Gewohnheiten< bestimmte Regeln für Handlungsabläufe und -zielsetzungen vorgeben. Dazu gehören beispielsweise alle Arten von Initiationshandlungen. Aber auch erinnerbares Handlungswissen, wie die Überlieferung von Techniken etc., leistet alltägliche Handlungsorientierung. Indem mittels kulturellem Gedächtnis „Erinnerungen als Motor des Handelns“ (A. Assmann 2009: S.83) eingesetzt werden, werden aber nicht nur (Alltags-)Handlungen der Gegenwart bestimmt, sondern gleichzeitig auch Optionen für mögliche zukünftige Handlungen gegeben. Analog der (De-)Legitimierungsfunktion weist auch die Funktion der Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen eine retrospektive und eine prospektive Seite auf. Zukunftsorientiert zeigen Erinnerungen an vergangene Handlungen Optionenräume für mögliche zukünftige Handlungen auf und erweitern damit individuelle und kollektive Wirklichkeiten. Husserl sagt: „[J]ede Erinnerung enthält Erwartungsintentionen, deren Erfüllung zur Gegenwart führt. Jeder ursprünglich konstituierende Prozeß ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen, zur Erfüllung bringen.“ (Husserl 2000: S.410). Retentionen und Protentionen – oder 429 430 J. Assmann (2000), u.a. S.56. Vgl. Ausführungen zu Bergson (inkl. Quellenangaben) in Abschnitt 4.1.1., Fussnote 356. 149 Rückschau und Vorschau des Gedächtnisses, wie es bei von Foerster heisst431 – generieren zusammen Perspektiven für die Gegenwart und Zukunft und münden in realen Handlungen. Insofern kommunikatives und kulturelles Gedächtnis Möglichkeitsräume für individuelle und kollektive Aktionen eröffnet, verbinden sich mit dieser handlungsorientierenden Funktion vielfältige Formen der Imagination: Menschen und Kollektive können auf Basis vergangener Handlungen Vorstellungen über zukünftige Handlungen und damit über alternative Lebensentwürfe entwickeln.432, 433 Insbesondere das kulturelle Gedächtnis kann mit Erinnerungen an weit vergangene Handlungen Hilfestellungen für Handlungen in der Gegenwart und in der Zukunft geben. Speichergedächtnisse, „als ein Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse“ (A. Assmann 2009: S.140), halten zahlreiche Alternativen für individuelle und alternative Handlungen und in der Folge alternative Welten bereit. (4) Individuelle und kollektive Identitätskonstruktionen Formulierungen wie >potentielle Gemeinschaften auf Basis kollektiver Imaginationen< verweisen bereits auf die zentrale Funktion des kollektiven Gedächtnisses. J. Assmann hat sie in den funktionalen Mittelpunkt des kulturellen Gedächtnisses gestellt und den Zusammenhang zwischen Identität, Gedächtnis und Erinnerung aufgezeigt. Für ihn ist „Identität […] eine Sache des Bewußtseins, d.h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes. Das gilt im individuellen wie im kollektiven Leben.“ (J. Assmann 2000: S.130) Damit sind auch die beiden Ebenen benannt, die in Bezug auf Identitätsbildung betrachtet werden müssen: Die Ich-Identität setzt sich nach J. Assmann zusammen aus einer individuellen Identität – das sich von den Anderen 431 Von Foerster (1993), S.299. Eine derartige Imaginationsfunktion stellt beispielsweise für Appadurai ein wesentliches, „konstitutives Merkmal moderner Subjektivität“ (Appadurai 2008: S.3, eig. Übersetzung) dar, die heute mehr denn je Triebfedern realer Handlungen werden. Als kollektive Imaginationen generieren sie potentielle Gemeinschaften, deren konkrete Ausprägungsform u.a. abhängig ist von den zur Verfügung stehenden Medientechniken. (Appadurai schreibt: „The imagination is today a staging ground for action, and not only for escape.“ (Appadurai 2008: S.7)). 433 Vgl. A. Assmann (2009), u.a. S.83. 432 150 differenzierende Selbstbild – sowie der personellen Identität – dem Einzelnen via Gesellschaft zugeschriebene Rollen.434 Im Gegensatz zu dieser physisch und psychisch individuell bestimmbaren, aber gleichwohl kulturell determinierten Ich-Identität beschreibt die zweite Ebene, die Wir-Identität, die kollektive Identität einer Gruppe und damit „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren“ (J. Assmann 2000: S.132). Kollektive Identität ist dementsprechend ein im Imaginären einer Gruppe entstehendes Konstrukt, dass keine physische Entsprechung im Realen hat, wohl aber das Reale der einzelnen Mitglieder des Kollektivs bestimmt435, denn individuelle und kollektive Identitäten arbeiten gegenseitig infiltrierend: Die Ich-Identität entsteht auf Basis von Interaktion und Kommunikation im zugehörigen Kollektiv und kollektive Identität ist als körperlose Identität auf ihre individuellen Träger angewiesen, die das Wissen um diese kollektive Identität (über)tragen.436 Wesentliches Merkmal kollektiver Identitäten ist es, dass sie zum einen – im Gegensatz zur individuellen Identität – für den Einzelnen, aber auch für die gesamte Gruppe temporär sein können, d.h. sie sind änderbar und kündbar.437 Zum anderen generieren sie eine Art von Kontinuität und Vereinheitlichung für eine Gemeinschaft, mit der darüber hinaus eine Differenz zu kollektiven Identitätskonstruktionen anderer Gruppen markiert wird: Ein >Wir< wird gegen ein >Anderes< abgegrenzt und mittels Kultur institutionalisiert, schreibt J. Assmann in Anlehnung an Warburg.438 Grundlage für die Ausbildung sich gegenseitig bedingender individueller und kollektiver Identitäten ist Kultur und damit die Vergangenheits(re)konstruktion des kulturellen Gedächtnisses. Im Reflexiv- bzw. Bewusstwerden der Inhalte des kulturellen Gedächtnisses wird kollektive Identität erarbeitet und auf Ich-Identitäten übertragen. Erst in der gemeinsamen Erinnerung definieren wir unser kollektives Selbstbild. Die Erinnerungen des kulturellen Gedächtnisses, spezifisch des jeweils aktuellen Funktionsgedächtnisses439, prägen kollektive Identitäten und führen in der Folge zunächst 434 J. Assmann (2000), S.131f. J. Assmann (2000), S.132. 436 J. Assmann (2000), S.130ff. 437 J. Assmann (2000), S.133. 438 J. Assmann (2000), S.137. 439 A. Assmann (2009), S.137. 435 151 zu gesellschaftlicher Einheit und Kontinuität. Das kollektive Gedächtnis „ist deshalb nicht nur raum- und zeit-, sondern auch […] identitätskonkret“ (J. Assmann 2000: S.39). Bei einem derart symbiotischen Verhältnis zwischen Identität und Gedächtnis gilt aber auch der Umkehrschluss: „Umbildung von Identität bedeutet immer auch Umbau des Gedächtnisses“ (A. Assmann 2009: S.62f.).440 Identitätskonkrete Erinnerungsgemeinschaften auf Basis gemeinsamer Vergangenheitsperspektiven und Sinnhorizonte sind daher das prägnanteste >Produkt< eines kollektiven Gedächtnisses. Vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten Funktionen des kollektiven Gedächtnisses kann zusammenfassend festgehalten werden, dass mittels Generierung individueller und kollektiver Zeit- und Raumvorstellungen, der (De-)Legitimierung von Institutionen und Macht, der Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen sowie mittels der Schaffung kollektiver Identitätskonstruktionen anamnésis zentrale Prozesse individueller und kollektiver Bewusstwerdung und Verortung verantwortet. Gleichzeitig bedingt die Ausübung dieser Funktionen in den jeweiligen sozialen Rahmen und mit den je spezifischen technischen Grundlagen die Ausprägung von Erinnerungskultur, die damit in ihren spezifischen Merkmalen – besagte Vorstellungen über Zeit, Raum, Sinn, Identität etc. – markiert wird. Erinnerungskultur ist daher eine u.a. mittels der Funktionen des kollektiven Gedächtnisses geschaffene kollektive Erinnerungskultur, die gleichzeitig auf die individuelle Ausgestaltung der Lebenswelt ihrer Mitglieder einwirkt.441 (5) Kanon als Organisationsform des kollektiven Gedächtnisses (der Vergangenheit) Die Funktionen des kollektiven Gedächtnisses gaben Aufschluss darüber, welche prinzipiellen Aufgaben durch dieses Gedächtnis erfüllt werden und damit in ihrer je spezifischen inhaltlichen Ausprägung Erinnerungskulturen bestimmen. Mit der Frage 440 Das hat Anderson am Beispiel der Nationenbildung aufgezeigt: Nationen basieren als vorgestellte Gemeinschaften auch auf gemeinsamen Vergangenheits(re)konstruktionen. Ihre Herausbildung war / ist massgeblich von Wandlungen des kollektiven Gedächtnisses abhängig. (vgl. Anderson 1996). 441 Berek (2009), S.200. 152 nach der Organisationsform wird im Anschluss daran die Frage gestellt, welche organisatorischen Möglichkeiten442 zum Aufbau und Erhalt von erinnerungskulturellen Inhalten bestehen. Hier nennen J. und A. Assmann für das kulturelle Gedächtnis vergangener Epochen den Kanon als wesentliches organisatorisches Prinzip: „Unter einem „Kanon“ verstehen wir jene Form von Tradition, in der sie ihre höchste inhaltliche Verbindlichkeit und äußerste formale Festlegung erreicht. Nichts darf hinzugefügt, nichts weggenommen, nichts verändert werden. […] Kanon bezieht sich daher auf das Ideal einer Null-Abweichung in der Sequenz der Wiederholungen. Die Nähe zu dem, was wir als rituelle Kohärenz beschrieben haben, ist evident. Kanon, so ließe sich definieren, ist „die Fortsetzung ritueller Kohärenz im Medium schriftlicher Überlieferung“.“ (J. Assmann 2000: S.103, S.105) Mit dem kanonischen Organisationsprinzip wird die Möglichkeit erlangt, bestimmte Inhalte des kulturellen Gedächtnisses als heilig, besonders fundierend, herausragend und damit verbindlich festzusetzen. Höchstmögliche Invarianz und damit Permanenz für ausgewählte Teile des kulturellen Gedächtnisses sollen in Bezug auf Sinn und Form erzielt werden.443 Drei Institutionen sind hierfür erforderlich444: Institutionen der Zensur, Textpflege und Sinnpflege. Zensuren stehen im kanonischen Prinzip zunächst für Zäsuren: Mit ihrer Hilfe werden Schnitte gemacht und damit Abgrenzungen vorgenommen zwischen dem, was als kanonisierte Inhalte Bestand haben soll und demjenigen, was ausserhalb des Kanons verbleibt. Zensoren fungieren daher als „die „Grenzposten“ der Überlieferung“ (J. / A. Assmann 1987: S.11) und nur ein Teil des verfügbaren kulturellen Sinns wird diese Grenze passieren können. Dahinter liegende Selektionsprozesse sind – im Rahmen der Theorie des kulturellen Gedächtnisses – inhaltlichen Kriterien der jeweiligen sozialen Bezugsrahmen unterworfen. Derartige Zensuren machen erst dann Sinn, wenn mehr und inhaltlich diversifizierter, in Teilen widersprüchlicher kultureller Sinn verfügbar ist. Mit anderen Worten, erst mit dem Einsatz der Schrift und der in der Folge 442 Organisatorische Ausgestaltungsmöglichkeiten stehen damit auch für Arten der institutionellen, strukturellen etc. Verankerung. 443 Hahn (1987), S.28; J. Assmann (2000), S.122. Hahn zeigt auf, dass derartige Kanonisierungen nicht nur für Texte gelten, sondern für alle Formen kulturellen Sinns, wie beispielsweise Artefakte, Regeln, Handlungsformen. (vgl. Hahn (1987), S.28). 444 J. und A. Assmann verweisen darauf, dass ohne diese Institutionen keinerlei Gewähr für Permanenz selbst heiliger Texte besteht. Vgl. J. / A. Assmann (1987), S.9f. 153 entstehenden vielfältigen, bald schon unüberschaubaren Textkultur prägen sich Kanonisierungs- und damit Zensurpraktiken aus445 – eben „die Fortsetzung ritueller Kohärenz im Medium schriftlicher Überlieferung“ (J. Assmann 2000: S.105). Ein Kanon reduziert verfügbaren kulturellen Sinn auf das Besondere mit den Mitteln der Zensur, weswegen beide bei J. und A. Assmann als „korrelative Begriffe“ (J. / A. Assmann 1987: S.19) verstanden werden.446 Um Permanenz kulturellen Sinns sicherzustellen, braucht es neben der Zensur noch Institutionen der Text- und Sinnpflege. Ersteres steht für eine Fixierung der buchstäblichen Ausdrucksweise. Das kanonische Ziel höchstmöglicher Invarianz heisst hier eine wortgetreue Wiedergabe der heiligen Texte.447 Institutionen der Textpflege sind daher Institutionen für Forminvarianz. Institutionen der Sinnpflege zielen dementsprechend auf höchstmögliche Sinninvarianz ab. Mit ihrer Hilfe soll die Distanz zwischen heiligen Texten (der Vergangenheit) und aktueller Lebenssituation in der Gegenwart überbrückt werden. Der Sinn dieser Texte soll durch fortlaufende Interpretation und Auslegung lebendig erhalten bleiben. Ohne solche Formen der Pflege ginge die Sinnhaftigkeit eines derart kanonisierten kulturellen Sinns über die Zeit verloren.448 Erst im Zusammenspiel aller drei genannten Institutionen sind nach J. und A. Assmann die notwendigen Bedingungen für Kanonisierungen gegeben. Gleichzeitig wird mit der Anwendung dieser Institutionen eine Hierarchisierung von Sinn im kulturellen Gedächtnis vorgenommen. Der einleitend dargestellten Definition von Kanon entsprechend stehen kanonisierte Inhalte über den anderen Inhalten des kulturellen Gedächtnisses. Zwei Arten von Kanonisierungen werden dabei von J. und A. Assmann unterschieden: Im >Kanon von oben< liegt der Fokus auf der Einhaltung bestehender Kanon-Werte 445 J. / A. Assmann (1987), S.19. J. und A. Assmann zeigen aber auch auf, dass Zensurpraktiken auch ausserhalb von Kanonisierungen auftreten können. Kanon und Zensur sind daher korrelative aber nicht konvergierende Begriffe: „Selbstverständlich sind nicht alle Zensurentscheidungen auf bestimmte Kanon-Werte gestützt. […] [E]s gibt eine andere Zensur, die, wesentlich systematischer aber ebenfalls ohne Rückkopplung an einen Kanon, der Macht ihre Ungreifbarkeit und Stabilität sichert, indem sie die Vergangenheit auslöscht und das kulturelle Gedächtnis auf die herrschende Gegenwart reduziert.“ (J. / A. Assmann 1987: S.21). 447 J. / A. Assmann (1987), S.12. 448 J. / A. Assmann (1987), S.13. 446 154 und Normierungen mit dem Ziel der Legitimierung des eigenen Bestands und damit verbundener gesellschaftlich-politischer Vorstellungen. Er dient insbesondere als Herrschaftsinstrument. Ein >Kanon von unten< basiert demgegenüber auf einer besonderen Sinnquelle, die dann zum eigentlichen Ausgangspunkt für die nachfolgende Kanonisierung wird.449 Derartige Kanonisierungsprozesse zeigen sich vor allem in Zeiten der Veränderung und Komplexitätssteigerungen. Vormals bestehende mehr oder weniger feste kollektive Identitätskonstruktionen befinden sich in diesen Situationen in Auflösung, orientierungsstiftende Funktionen des kulturellen Gedächtnisses werden (teilweise) ausser Kraft gesetzt.450 Diese Veränderungen befähigen Kanonisierungsprozesse als Organisationsprinzip des kulturellen Gedächtnisses zur Wiederherstellung bzw. Vermeidung besagter Verluste und Gefährdungen. Sie finden vor allem in Gesellschaften mit stark hierarchischer Ausrichtung Anwendung, da hier die Prozesse bzw. Kanonisierungsstile besonders gut durchsetzbar sind. Heterarchische Gesellschaftsformen mit gleichwertigen Subsystemen lassen übergeordnete Kanonisierungen hingegen kaum zu.451 Daher geben J. und A. Assmann auf die Frage nach etwaigen Kanonisierungsprozessen in der Gegenwart eine geteilte Antwort: Moderne Gesellschaften brauchen Kanonisierungen vor dem Hintergrund aktueller gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen wie beispielsweise in Bezug auf Fragen des Umweltschutzes. Gleichzeitig gibt es eine, in Teilen historisch bedingte, Abneigung gegen Kanonisierungen, da sie im Verdacht stehen, kulturelle Diversifikation durch totale Vereinheitlichung zunichte zu machen.452 4.2 Kritische Reflexion des Assmann’schen Modells Mit der Weiterentwicklung der Halbwachs’schen Vorstellung des kollektiven Gedächtnisses und dessen Ausdifferenzierung in ein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis sowie den daraus abgeleiteten Ausführungen zu Funktionen und Organisationsformen dieser Erinnerungsmodi haben J. und A. Assmann ein Erinnerungsmo- 449 J. / A. Assmann (1987), S.22f. Hahn (1987), S.33; J. Assmann (2000), S.123. 451 Hahn (1987), S.36. (darin auch: „Der eigentliche Ort der Kanonisierung sind daher die Hochkulturen.“ (Hahn 1987: S.36)). 452 J. / A. Assmann (1987), S.24. 450 155 dell vorgelegt, dass eine detaillierte Vorstellung über die Entstehung und Weiterentwicklung von Erinnerungskulturen entwickelt. Ein hoher Abstraktionsgrad bei gleichzeitig stringenter Terminologie ihres Modells ermöglicht eine Anwendung auf unterschiedlichste kulturelle Ausprägungen. (Erinnerungs-)Kulturelle Entwicklungen lassen sich auf Basis der Theorie des kulturellen Gedächtnisses gut nachvollziehen und zeigen dabei den besonderen Einfluss von Erinnerungen für gesellschaftlich-kulturelle und individuelle Prozesse auf. Die Theorie hat in der Folge, wie bereits einleitend erwähnt, eine hohe wissenschaftliche Anschlussfähigkeit erfahren und ist bis heute Gegenstand zahlreicher Reflexionen und Weiterentwicklungen. Es handelt sich daher beim Assmann’schen Modell um einen echten Kristallisationspunkt im gegenwärtigen Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs. Das Modell dient daher auch für diese Arbeit als Grundlage für weiterführende Auseinandersetzungen. Um den Einfluss der im dritten Kapitel analysierten technischen Eigenschaften der Gegenwart auf die Ausprägung von Erinnerungskultur – und d.h. auf Modell, Funktionen und Organisationsformen des kollektiven Gedächtnisses – aufzeigen zu können, wird in einem ersten Schritt das Assmann’sche Modell einer kritischen Prüfung unterzogen. Ziel ist es, die Anwendbarkeit des Modells insbesondere unter diesen technischen Vorzeichen der Gegenwart zu prüfen und auf Basis dieser Analyse Anknüpfungspunkte für etwaige notwendige Änderungen herauszuarbeiten. Im Fokus der kritischen Reflexionen stehen in einem ersten Schritt die wesentlichen Modellannahmen. Sie werden nachfolgend entlang der beiden Aspekte >Raum- und Zeitperspektivierungen des Modells< sowie >Rolle und Darstellungsgrad der Gedächtnismedien im Modell< betrachtet. Anschliessend werden die aufgezeigten Funktionen und Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses bei J. und A. Assmann kritisch hinterfragt. 4.2.1 Raum- und Zeitperspektivierungen des Modells Wandlungen konnektiver Strukturen einer Kultur werden zunächst von J. Assmann anhand diverser Fallstudien nachvollzogen und analysiert. Seine Beispiele für unterschiedliche Ausprägungsformen und kulturelle Wandlungsfähigkeit sind vielfältig und akzentuieren je unterschiedliche Strategien und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses. Babylonien und das alte Ägypten als Beispiele für kulturellen Verfall und Untergang sowie das antike Griechenland und Israel als Beispiele für kulturelle Re- 156 sistenz und Permanenz dienen J. Assmann als Muster für die Begründung unterschiedlicher Ausprägungen konnektiver Strukturen und in der Folge von Erinnerungskulturen. Sie dienen ihm zudem als Reflexionsebene für die Entwicklung seines übergeordneten, theoretischen Rahmens für das kulturelle Gedächtnis. Empirische Grundlage für die Assmann’schen Modellüberlegungen bilden demnach Gesellschaftsformen, die zum einem durch stark hierarchische Organisationsstrukturen geprägt sind, sich primär als Religionsgemeinschaften verstehen und vor allem eine zeitliche Perspektive bezeugen, die in der modernen Zeitrechnung als vorchristliche Zeit und damit als Kulturen der >alten< Welt, als vormoderne Gesellschaftsordnungen, wie Zierold konstatiert453, zu begreifen sind. An ihnen werden für alle nachfolgenden Kulturen signifikante Aspekte und Entstehungsbedingungen gesellschaftlich-kultureller Erscheinungsformen im Rahmen der Theorie des kulturellen Gedächtnisses nachvollzogen: Die Herausbildung des Staates im pharaonischen Ägypten, die Entstehung der Geschichtsschreibung in Begleitung der Rechtsinstitutionen in Babylonien, die Geburt der Religion(sgemeinschaft) in Israel sowie die Geburt des Denkens im antiken Griechenland.454 Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses sowie ihre Anwendung erscheint hier daher im doppelten Sinne fundierend: Der Erinnerungsmodus des kulturellen Gedächtnisses dient mittels der genannten Beispiele einerseits dazu, zentrale kulturelle Formen wie Staat, Religion und Wissenschaft in ihrer Entstehung und initialen Ausprägung zu argumentieren. Diese Beispiele begründen dann sogleich andererseits die eigene Theorie, indem sie dafür genutzt werden, das Assmann’sche Modell des kulturellen Gedächtnisses zu legitimieren. Fundierend wirken also der gewählte Gedächtnismodus auf die Herausbildung kultureller Grundfesten und die gewählten Beispiele auf die Konzeption dieses Gedächtnismodus. Vor diesem Hintergrund muss die Frage gestellt werden, ob in Anbetracht neuerer Zeiten und sich ändernder kultureller Gesellschaftsformen diese Fundierung und damit das Modell weiterhin uneingeschränkte Anwendbarkeit besitzt oder gegebenenfalls konzeptionelle Anpassungen notwendig sind: In den westlich orientierten, modernen Gemeinschaften der Gegenwart sind hierarchi- 453 454 Zierold (2006), u.a. S.77. J. Assmann (2000), zweiter Teil: Fallstudien. 157 sche Gesellschaftsformen (zumindest teilweise) zugunsten von Heterarchien eingetauscht worden, in denen den einzelnen ausdifferenzierten Subsystemen (häufig) keine prioritäre Rolle zugeschrieben werden kann.455 Auswirkungen auf die Durchsetzungs- und Organisationsmechanismen, auf die Funktionen und Partizipationsmöglichkeiten des kulturellen Gedächtnisses sind daher zu vermuten. Im Anschluss daran kann die Frage gestellt werden, ob der aus dieser Zeitperspektive generierte Begriff des kulturellen Gedächtnisses in der bei J. und A. Assmann beschriebenen Ausprägung in dieser Form heute noch Bestand hat. Denn auch die Fallbeispiele bei A. Assmann beziehen sich auf vergangene Gesellschaftsformen. Im Fokus stehen bei ihr diverse Exempel der Renaissance im Zusammenhang mit der Ausprägung des kulturellen Gedächtnisses. Im Einklang mit der Modellierung der Theorie des kulturellen Gedächtnisses auf Basis von Fallbeispielen deutlich vergangener Zeiten sind auch die zur Anwendung kommenden Raumvorstellungen bei J. und A. Assmann zu bewerten. Die von J. Assmann untersuchten historischen Fallbeispiele basieren vor allem auf räumlich fest umrissenen Gesellschaften: Das angeführte Beispiel Ägyptens in der Zeit des alten Reiches456 umfasst die Hochblüte der Pharaonen- und Pyramidenkultur, die sich im nördlichen Afrika vor allem entlang des Niltals ausbreitet. Auch die von J. Assmann beschriebene Geburt des Denkens in Griechenland zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v.Chr. lässt sich örtlich lokalisieren in den Gesellschaften der Mittelmeerregionen und Gebieten des Schwarzen Meeres, die im Zuge der Grossen Kolonisation vom Gebiet des heutigen Griechenlands aus erobert wurden. Diesen Beispielen liegt eine klare räumliche Zuordenbarkeit der betrachteten Erinnerungsgesellschaften zugrunde. Spezifische soziokulturelle, wirtschaftliche, klimatische etc. Rahmenbedingungen haben in den von J. Assmann ausgeführten Fallbeispielen in besonderen Regionen zu ebenso besonderen Erinnerungsgemeinschaften geführt, die – wie im Falle Griechenlands und auch Israels – kulturelle Permanenz bis in die Gegenwart ausstrahlen. Räumlich abgrenzbare Territorien und kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft gehen hier eine Allianz ein, die als „“natürliche“ Stabilisierungen des kollektiven Gedächtnisses […] gelten“ (J. Assmann 2000: S.213). 455 456 U.a. Luhmann (1988), S.707ff. Vgl. J. Assmann (2000), S.167ff. (insbesondere auch S.178). 158 Darüber hinaus verweisen einige der Assmann’schen Beispiele auf eine weitere räumliche Motivlage, die für die Ausprägung von Erinnerungsgemeinschaften ein zentraler Aspekt ist. Am deutlichsten zeigt sich dieser Aspekt am Beispiel der von J. Assmann beschriebenen Geburt der Religionsgemeinschaft in Israel zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v.Chr.457: Besonderer Ursprung der israelitischen Religionsgemeinschaft ist nicht mehr die anhaltende Verweildauer an einem Ort oder in einer Region, deren Rahmenbedingungen die Herausbildung bzw. Stabilisierung einer solchen Religionsgemeinschaft ermöglichen, sondern Exil und Diaspora.458 Die Stabilisierung und Weiterentwicklung dieser Religionsgemeinschaft beruht nicht auf dem Verbleib an einem fixierten, heiligen Ort, an ein gegebenes Territorium, sondern auf einer räumlich-kulturellen, erzwungenen Mobilität der Gemeinschaft, denen das eigene Land abhandengekommen ist. Die territoriale Identitätsstiftung wird im Beispiel Israels ersetzt durch eine Technik: Ihre Software heisst Schrift, ihre Hardware Buch und sie manifestiert sich inhaltlich, so J. Assmann, im 5. Buch Mose, das zum „portative[n] Vaterland“459 für die israelitische Erinnerungsgemeinschaft wird. Das Territorium wird hier also gegen eine Technik eingetauscht und damit gleichermassen räumliche Fixierung gegen räumliche Mobilität – >Pyramiden< und >Papyrus< bilden daher die beiden Enden der Skala für die räumliche Perspektivierung im Assmann’schen Modell. Mittels der Technik – bei J. Assmann insbesondere die Schrifttechnik – können räumliche Fixierungen einer Gemeinschaft aufgehoben werden. Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses ist daher an dieser Stelle eine breit angelegte, mit Hilfe derer auch sich räumlich ändernde Erinnerungsgemeinschaften beschrieben werden können. Das bisher Gesagte bezog sich auf den geographischen Raum, wie aber sieht es mit dem sozialen Raum in der Assmann’schen Theorie des kulturellen Gedächtnisses aus? Hier verengt sich die konzeptionelle Breite: Unabhängig von ihrer räumlichen Fixierung oder Nicht-Fixierung der beispielhaft aufgezeigten Erinnerungsgemeinschaften liegt sowohl bei J. Assmann als auch bei A. Assmann die durchgehende Vorstellung physisch zusammengehöriger Gemeinschaften zugrunde. Das Territorium einer Erin- 457 J. Assmann (2000), S.163. J. Assmann (2000), S.200, S.213. 459 Zitiert nach J. Assmann (2000), S.214. J. Assmann übernimmt diesen Ausdruck und Gedankengang von Crüsemann (1987). 458 159 nerungsgemeinschaft kann verschwinden, wechseln, in Bewegung sein – die Gemeinschaft als solche wird dabei dennoch immer als (räumlich) zusammengehörig gedacht: ein fest umrissener sozialer Raum, der in einer Vielzahl der Fälle von einem fest umrissenen geographischen Raum begleitet wird. Das pharaonische Ägypten, die israelitischen Glaubens- und griechischen Denkgemeinschaften etc. bilden je räumlich zusammengehörige Gemeinschaften mit festgelegten Erinnerungsorten460 und / oder mobiler Erinnerungstechnik461. Sie sind sowohl physisch soziale Einheiten als auch Gemeinschaften kollektiv erinnerter Inhalte. Fortgeführt wird dies auch in den nationalstaatlich orientierten Beispielen bei A. Assmann: Die Entwicklung und Etablierung der Nation als Erinnerungsgemeinschaft ist beispielsweise im Rahmen der A. Assmann’schen Analyse der Shakespeare’schen Dramen eng gekoppelt an die Entstehung des absolutistischen Territorialstaates.462 D.h. eine wesentliche Grundlage für die Herausbildung einer nationalen, identitätsstiftenden Erinnerungsgemeinschaft im England der elisabethanischen Zeit bildet die räumlich physische Einheit einer Gemeinschaft, die ihre feudale Geschichte, so A. Assmann, in eine nationale zu übersetzen versteht und damit die Anfänge einer neuen nationalen Erinnerungsgemeinschaft begründet. Die von J. und A. Assmann gewählten Beispiele bedingen ein solches Verständnis physischer Zusammengehörigkeit von Erinnerungsgemeinschaften. Angesichts sozialer, technisch-medialer etc. Entwicklungen der jüngeren Geschichte eröffnet sich auch hier die Frage, ob eine solche enge sozial-räumliche Perspektive, insbesondere mit Hinblick auf A. Assmanns fokussiert nationalstaatliche Vorstellung, gegenwärtig beobachtbaren Fragmentierungs- und Durchmischungstendenzen gerecht wird. Auch wäre zu überprüfen, ob neue – in vielen Fällen technisch bedingte – Formen kultureller Mobilität und Dynamik mit globalen Ausmassen andere (Organisations-)Formen von Erinnerungsgemeinschaften zulassen. In Bezug auf Raum- und Zeitperspektiven operiert die Theorie des kulturellen Gedächtnisses von J. und A. Assmann daher im Wesentlichen auf Basis von eindeutig bestimmbaren Raum- und Zeitpunkten, denen physisch zusammengehörige Erinnerungsgemeinschaften zugeordnet werden können. 460 Z.B. die Pyramiden bei den Ägyptern oder die Agora der griechischen Antike. Z.B. das Alphabet der Griechen oder die Torah der Juden. 462 A. Assmann (2009), S.77. 461 160 Nicht eindeutig lokalisierbare, raum-zeitlich verteilte, ephemere Erinnerungsgemeinschaften sind nicht Bestandteil ihrer Theorie. 4.2.2 Rolle und Darstellungsgrad der Gedächtnismedien im Modell Konstituierenden Charakter für die Ausprägung von Erinnerungskultur haben im Modell von J. und A. Assmann nicht nur soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, sondern vor allem auch medientechnische Grundlagen der Erinnerung. Fundamental kommt dieser konstituierende Charakter in ihrer prinzipiellen Unterscheidung zwischen kommunikativen und kulturellem Gedächtnis zum Ausdruck: Die nach dem Assmann’schen Modell fehlende medientechnische Vermittlung von Erinnerung im kommunikativen Gedächtnis bedingt andere Erinnerungsformen als das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft und hat daher überwiegend autobiographische Züge. Der konstituierende Charakter zur Verfügung stehender Medientechniken für das kulturelle Gedächtnis zeigt sich insbesondere im Einfluss auf die konnektive Struktur einer Gesellschaft: Orale Gesellschaften, deren kulturelles Gedächtnis beispielsweise auf vom Hohepriester durchgeführten Riten beruht, zeigen andere Formen kultureller Kohärenz als literale Gesellschaften. Der Wandel von anamnésis auf Basis geänderter hypomnétischer Möglichkeiten ist daher eine zentrale These im Modell des kulturellen Gedächtnisses. Der in diesem Kapitel bereits zitierte Satz, „Es liegt auf der Hand, daß in der Geschichte der konnektiven Struktur von Gesellschaft die Erfindung der Schrift den tiefsten Einschnitt bedeutet“ (J. Assmann 2000: S.96), verdeutlicht den bestimmenden Charakter medientechnischer Grundlagen für die Ausprägung von Erinnerungskultur auf prägnante Weise. Die Software Schrift und ihre parallel ausgebildete Hardware Pergament, Papier und Co. geben Raum, Zeit und Sinn neue Freiheiten für die Ausprägung von Erinnerungsgesellschaften. Sie führen in der Folge auch zu den bereits beschriebenen risikobehafteten Phänomenen eines zunehmenden Auseinanderdriftens zwischen potentiell vorliegenden und individuell bzw. gesellschaftlich realisierbaren Erinnerungsinhalten. Verschärft wird diese Diskrepanz nach A. Assmann, wie bereits gesehen, durch die Einführung der elektronischen Schrift, die eine neue Zäsur des Erinnerns und Vergessens definiert. 161 Es lässt sich daher zunächst festhalten, dass den Gedächtnismedien im Modell von J. und A. Assmann ähnlich der in dieser Arbeit verfolgten Logik eine zentrale Rolle für die Ausprägungen und den Wandel von anamnésis zugeschrieben wird. Es stellt sich anschliessend die Frage, welche Techniken in welcher Weise bei J. und A. Assmann betrachtet werden und welche konkreten konzeptionellen Schlussfolgerungen sie daraus für ihr Modell und die Ausprägungsformen des kulturellen Gedächtnisses ziehen. Hier zeigt sich folgendes Bild: Auch wenn bei A. Assmann die Überlegungen J. Assmanns bezüglich der Medientechnik Schrift und ihrer Auswirkungen auf Erinnerungskulturen punktuell auf >neue Medien< – am Beispiel der elektronischen Schrift463 – überführt werden464, so gilt doch ihre prinzipielle Aufmerksamkeit den >alten Medien< in der Form von Analogschrift und Buch. Die benannten Raum- und Zeitperspektivierungen im Modell von J. und A. Assmann spiegeln sich auch auf der Ebene der Medientechnik wider: Ihre Beispiele und Betrachtungen zur medientechnischen Abhängigkeit des kulturellen Gedächtnisses fokussieren auf Gesellschaften, die sich im Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit befinden (J. Assmann) bzw. im Übergang zur handwerklich und später industriell geprägten Buchgesellschaft (A. Assmann). D.h., die Konzentration auf vormoderne Gesellschaften wiederholt sich hier mit der Fokussierung auf >vormoderne< Techniken. Die sogenannten >neuen Medien< werden bei A. Assmann weniger mit Blick auf ihre inhärenten Eigenschaften und Auswirkungen analysiert als vielmehr vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen „Opposition zwischen ,alten‘ Medien […] und ,neuen‘ Medien“ (Zierold 2006: S.167) des kulturellen Gedächtnisses betrachtet.465 Aus dieser Gegenüberstellung heraus werden dann auch diejenigen technischen Medien bei A. Assmann behandelt, die bestimmend für die Erinnerungskulturen des 20. und 21. Jahrhundert sind: Mit der kybernetischen Zäsur einsetzende Veränderungen in Soft- und Hardware in Richtung elektronischer Schrift, elektronischen Speichern und Computernetzwerken ändert sich für A. Assmann das „Hierarchieverhältnis zwischen Mensch und Technik“ (A. Assmann 2009: S.212) signifikant. Von nun an werden vormals menschliche Kompetenzen zunehmend in die Kompetenz des Technischen verschoben. Paradigmatisch steht für A. Assmann hierfür der Übergang von 463 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.2. Insbesondere auch in ihren späteren Werken, vgl. A. Assmann (2001) und A. Assmann (2004). 465 Zierold (2006), S.77. 464 162 analoger auf die digital prozessierende Schrift und deren Netzwerkkommunikationen466: Änderungen in den Eigenschaften der Schrift beim analog-digitalen Übertritt, wie sie in Abschnitt 4.1.2 aufgezeigt wurden467, führen zu einer grundlegend anderen, und d.h. bei A. Assmann vor allem negativ bestimmten, technisch bedingten Determination des kulturellen Gedächtnisses. Abhängig vom technischen Dispositiv zeichnet A. Assmann für die Ausprägungsbedingungen von Erinnerungskulturen des 21. Jahrhunderts daher folgendes Bild: „In seiner letzten Metamorphose hat sich der kulturelle Erinnerungsraum einem vollautomatischen Computer-Gehirn angeglichen, das seine Daten nach bestimmten Programmen selbstständig verwaltet und erneuert. Angesichts dieser Entwicklung der Speichertechnologie erscheinen anthropomorphe Kategorien wie Erinnern und Vergessen immer mehr als unangemessen. Die ars-Seite, die technische Beherrschung der Memoria, hätte sich damit verselbständigt auf Kosten der vis-Seite der Memoria, der unkontrollierbaren psychischen Energien.“ (A. Assmann 2009: S.410f.) Damit beschreibt A. Assmann zwar beispielhaft einige, zum Teil auch wesentliche Änderungen medientechnischer Grundlagen der Gegenwart und ihrer Effekte, zieht daraus aber keine Konsequenzen für die theoretische Modellierung des kulturellen Gedächtnisses. Derartige Konsequenzen werden ausschliesslich auf der Ebene der >Anwendung<, d.h. auf der Ebene der Ausprägung von Erinnerungskultur aufgezeigt. A. Assmann verbleibt damit – im technischen Standard der Gegenwart gesprochen – in der Rolle des >Users<, ohne das Modell des kulturellen Gedächtnisses grundsätzlich, und d.h. >programmatisch<, in die technischen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts zu überführen. Im Ergebnis bleibt trotz einzelner Betrachtungen zur kybernetischen Zäsur, und damit einhergehend zu (potentiellen) Auswirkungen der neuen Medien, das Modell des kulturellen Gedächtnisses an den Eigenschaften >vormoderner Techniken< ausgerichtet, das Änderungen in der Ausprägung von Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert vor allem negativ bestimmt, etwaige Änderungen am Modell selbst nicht zulässt oder aber bewusst vermeidet. 466 A. Assmann u.a. (2009), S.178. Zusammengefasst handelt es sich hierbei um folgende Änderungen: 1.) Steigerung des Abstraktionsgrades, 2.) Elektronische Schrift als Verbundmedium, 3.) Änderungen in der Funktionalisierung der Schrift, 4.) Änderungen in den Kommunikationsverhältnissen. 467 163 In der Folge bleibt auch die strikte mediale Zuordnung im Assmann’schen Modell erhalten: Das kommunikative Gedächtnis wird weiterhin als mündlich und das kulturelle Gedächtnis als medial vermittelt definiert. Eine solche Trennung ist jedoch vor dem Hintergrund einer technisch-medialen Durchdringung nicht nur vergangenheitsbezogener, sondern auch gegenwartsbezogener Kommunikationen nicht mehr zu halten468 Ein Grossteil unserer heutigen Kommunikation und damit verbunden unserer autobiographischen Erinnerung ist gekoppelt an technische Medien. Zierold bemerkt daher in diesem Zusammenhang: „Heute jedoch scheint es schon fast banal, darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit unserer Kenntnisse stets medial vermittelt sind, ob sie sich auf eine ,absolute‘ Vergangenheit […] oder die aktuelle Gegenwart beziehen“ (Zierold 2006: S.92). Womit die Frage bleibt, ob eine solche Differenzierung in ein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis aufrecht erhalten bleiben sollte. Neben der zu hinterfragenden, übergeordneten Trennung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis ergeben sich darüber hinaus auch auf der untergeordneten Ebene des kulturellen Gedächtnisses angesichts heutiger technischer Konfigurationen kritische Anknüpfungspunkte. Sie betreffen Fragen zur weiterführenden Unterscheidung des kulturellen Gedächtnisses in Speicher- und Funktionsgedächtnis (1), Fragen bzgl. der scharfen Gegenüberstellung alter und neuer Medien des kulturellen Gedächtnisses (2) sowie Fragen bzgl. des prinzipiell zugrunde liegenden Technikverständnisses (3). (1) Die von J. und A. Assmann getroffene Differenzierung in Speicher- und Funktionsgedächtnis des kulturellen Gedächtnisses beruht auf der Vorstellung eines zunehmenden Auseinandertretens zwischen potentiellen und realisierbaren Erinnerungsinhalten. Potentiell werden Erinnerungsinhalte erst mit der wachsenden >Potenz der Technik<. Sie ermöglicht zunehmende Speicherungen, die zu einer weitläufig synchronen und diachronen Übertragung von Erinnerungsinhalten führen. Technische Entwicklungen der Grafo-, Video- und Hypersphäre haben mit der Erhöhung der technischen Potenz so zu gesteigerten Formen und Mengen von Erinnerungsinhalten geführt. In der Folge liegt ein Vielfaches dessen in den Erinnerungsspeichern der jeweiligen Gegenwart, was auch tatsächlich erinnert wird. Damit wird das Speicherge- 468 Vgl. u.a. auch Zierold (2006), S.92. 164 dächtnis als Umschreibung all dessen, was an Erinnerungsinhalten existiert, gleichermassen zur >Potenz des Funktionsgedächtnisses<: Als kontinuierlich aktualisierter Vordergrund greift das Funktionsgedächtnis auf die gespeicherten Möglichkeiten im Hintergrund zurück, wie sich in den Ausführungen zum Assmann’schen Modell gezeigt hat. Funktionsgedächtnis als Vordergrund und Speichergedächtnis als Hintergrund benennen damit im Assmann’schen Modell zwei Modi, von denen ersterer durch die Kennzeichen >Gegenwartsbezug<, >spezifische Auswahl< und >qualitative Änderungsmöglichkeiten< geprägt ist und letzterer im Gegenzug Ausdruck für einen beständigen Sammelort ist, in dem die Veränderung eben nicht qualitativer, sondern ausschliesslich quantitativer Natur ist. Ein solcher beständiger Speicherort existiert jedoch nur unter Bedingungen technischer Langzeitspeicher. Die Analyse des vorherigen Kapitels hat gezeigt, dass technische Speicher der Grafosphäre noch eine gewisse langfristige Stabilität garantieren können, dass aber spätestens mit Beginn der Videosphäre von Langzeitspeichern nicht mehr die Rede sein kann. Sowohl analoge als auch digitale Speichermedien des letzten Jahrhunderts haben gravierend an Stabilität im Sinne einer solchen Langzeitarchivierung verloren. Die technische Permanenz der Speicher der Grafosphäre wurde für die Speicher der >neuen Medien< vielfach eingetauscht in die Permanenz des Übertragens, wenn man Inhalte langfristig erhalten möchte. Das beschriebene Zusammenspiel von Speicher- und Lesehardware verschärft die Problematiken der Langzeitarchivierung. Permanentspeicher sind daher in der hypomnétischen Gegenwart zwar nicht verschwunden, aber zunehmend Ausdruck vergangener technischer Epochen und werden verdrängt durch ephemere Speichertypen. Unter diesen technologischen Bedingungen wird eine Unterscheidung in Speicherund Funktionsgedächtnis in der Assmann’schen Definition schwieriger und muss gegebenenfalls angepasst werden: Denn das Speichergedächtnis im Sinne eines Permanentspeichers, der potentielle Erinnerungsinhalte für das Funktionsgedächtnis zur Verfügung hält, gibt es nur noch für einen Teil der Erinnerungen – denjenigen Teil, der auf der dominanten Hardware vergangener technischer Epochen beruht. Er macht zum heutigen Zeitpunkt sicher einen signifikanten Teil aus, wird aber relativ zum exponentiellen Anwachsen digital gespeicherter Inhalte schwinden. Dominante Hardware der Gegenwart kann langfristigen Zugriff auf denjenigen Teil der Erinnerungsinhalte, die aktuell nicht verwendet werden, nur durch ein permanentes Übertragen 165 auf neue Speicherformen gewährleisten. Dies setzt jedoch eine aktive, fortlaufende Tat des nicht-selektiven Übertragens auf andere Speichertypen aus und entspricht damit nicht mehr dem passiven Verständnis eines kulturellen Speichergedächtnisses, wie es im Assmann’schen Modell beschrieben wird.469 Vorder- und Hintergrundunterscheidungen mittels Speicher- und Funktionsgedächtnis implizieren darüber hinaus, ähnlich wie die übergeordnete Unterscheidung in kommunikatives und kulturelles Gedächtnis, eine Differenz in der Zeitdimension: Während das Funktionsgedächtnis einen klaren Gegenwartsbezug hat, d.h. auf Aktualität ausgerichtet ist, umfasst das Speichergedächtnis alle Vergangenheiten ohne jedwede Priorisierungen. Gelingt eine nicht-selektive, permanente Übertragung aller Erinnerungsinhalte auf je aktuelle Speicherformen und / oder der Erhalt veralteter Speicherformen in Kombination mit ihren Lesegeräten, bleibt ein kulturelles Speichergedächtnis – nun aktiv bestimmt – als Hintergrund für je aktuelle Funktionsgedächtnisse vollständig erhalten. Gelingt dies nicht vollumfänglich, d.h. treten Verluste auf, beinhaltet die Übertragung der Inhalte auf neue Formate also immer schon eine technisch bedingte Selektion dessen, was nachfolgend in den Kategorien >Sinn<, >Wert<, >Nutzen< etc. registriert wird. Technische Medien der Gegenwart und ihr Gebrauch schlagen bevorzugt letzteren Weg ein: Analog-digital Umwandlungen, globale Vernetzung verschiedenster Hard- und Software, ephemere Eigenschaften eben dieser Hardware etc. sind Ausdruck eines technisch bestimmten, permanent selektiv-aktiven Prozesses zur Herausbildung jeweiliger Erinnerungskulturen. (2) So wie vor diesem Hintergrund die Assmann’sche Definition von Speicher- und Funktionsgedächtnis anfechtbar wird, so kann auch die bei A. Assmann mitlaufende Opposition zwischen >alten< und >neuen< Medien – bei ihr gleichbedeutend mit einer Opposition zwischen analogen und digitalen Medien – mit Bezug auf das kulturelle Gedächtnis hinterfragt werden. A. Assmann spricht in diesem Zusammenhang u.a. vom „Druck der neuen Medien“, der „die Konturen eines kulturellen Gedächtnisses“ sprengt (A. Assmann 2009: S.213f.) und stellt mit Bezug auf die digitale Schrift die Frage „Wie lange wird das Gedächtnis noch hausen in unserer Welt der Zerstreuungen?“ (A. Assmann 2009: S.412). Diese Gegenüberstellung verschiedener techni- 469 A. Assmann (2009), S.134 166 scher Standards mündet bei A. Assmann in der Argumentation einer Krise des kulturellen Gedächtnisses470: Insbesondere aus dem Gegensatz zwischen >alten< und >neuen< Medien speist sich diese Krise, indem sie fest an die inhärenten technischen Eigenschaften dieser Medien gekoppelt wird. Es sind dabei die Schlagworte wie >technische Instabilität<, >ephemer< etc., die das Unvermögen bzw. die Risiken der >neuen< Medien in Bezug auf die dauerhafte Ausprägung eines kulturellen Gedächtnisses bezeugen sollen ohne dabei eine tiefere Analyse zu Chancen und Zusammenspiel verschiedener Medientechniken zu erarbeiten. Es stellt sich daher auch hier die Frage, ob die scharfe Gegenüberstellung und die damit verbundene Wertigkeit zu halten ist. Hierzu wurde im vorangegangenen Kapitel mit der Darstellung der technischen Schnittstellen zwischen analogen und digitalen Medien herausgearbeitet, dass der Eintritt in die Hypersphäre nicht automatisch gleichzusetzen ist mit dem Beginn einer Krise des kulturellen Gedächtnisses. Das Aufkommen digital prozessierender technischer Medien, so wurde gezeigt, stellt zunächst eine neue Unterscheidungsmöglichkeit dar und vergrössert die technischen Möglichkeiten. Die mit der Hypersphäre eintretende Parallelisierung der technischen Welten steht damit für eine Erweiterung der technischen Basis eines kulturellen Gedächtnisses. Aus der Gegenüberstellung technischer Standards wird mit dieser Perspektive eine Gleichstellung, die ein >Mehr an Optionen< bietet. Zwischen diesen technischen Parallelwelten – auch das hat das letzte Kapitel gezeigt – existiert eine Reihe an Schnittstellen, die die Assmann’sche Gegenüberstellung nun endgültig auflösen in sich gegenseitig durchsetzende und übersetzbare technische Welten. >Zwischenweltliche Fusionierung< war hier das Stichwort des letzten Kapitels zur Beschreibung dieser Übersetzungen, mit deren Hilfe ein kulturelles Gedächtnis generiert wird, das in beiden technischen Welten verankert ist. Der Austausch zwischen diesen Welten vermag dann vielleicht die Nachteile der digitalen Technik und ihrer Hardware in Bezug auf Langzeitspeicherung in gewissem Masse ausgleichen und im Gegenteil die Ausprägung eines kulturellen Gedächtnisses um die Vorteile dieser Technik – insbesondere eine deutlich höhere technische Performanz in Bezug auf Speicherkapazitäten und kommunikative Verarbeitung bzw. Übertragung in globalem Ausmass – bereichern. 470 Siehe auch Zierold (2006). S.79ff. 167 (3) Die bisherigen Darstellungen verdeutlichen – ungeachtet der kritischen Einwände – einmal mehr die fundamental konstituierende Rolle der Gedächtnismedien für die Ausprägung des kulturellen Gedächtnisses im Assmann’schen Modell. Die zweite kybernetische Zäsur hinterlässt dabei richtigerweise eine Spur in den vereinzelten Betrachtungen zum kulturellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts bei A. Assmann, ohne allerdings die hypomnétischen Gegebenheiten in ihrer technischen Tiefe zu analysieren und daraus Konsequenzen für die Theorie des kulturellen Gedächtnisses selbst zu ziehen. Das insbesondere bei A. Assmann aufgeworfene Leitbild in Form einer scharfen Kontrastierung zwischen >alten< und >neuen< Medien hat sicher entscheidenden Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis und in der Folge auf die Ausprägung von Erinnerungskultur. Ob daraus allein Krisenszenarien ableitbar sind und ob eine Terminologie beibehalten werden kann, die auf den technischen Medien vergangener Epochen aufbaut, ist indes hinterfragbar. Diese für das 21. Jahrhundert >verrückte< Modellage des kulturellen Gedächtnisses bei J. und A. Assmann verdeutlicht sich, wenn man die hier aufgezeigten Beschreibungen und Gegenüberstellungen in einen grösseren Rahmen – den eines allgemeinen Technikverständnisses – einstellt. Gespiegelt an den technischen (R)Evolutionen und ihren begleitenden technikphilosophischen Theorien des 3. Kapitels leite ich daher folgendes Bild für das Assmann’sche Modell ab: Die Entwicklungen der medientechnischen Grundlagen werden von J. und A. Assmann prinzipiell nachgezeichnet. Der Fokus liegt bei J. Assmann auf den Techniken im Übergang von Logo- zur Grafosphäre und wird anschliessend durch A. Assmann um Medientechniken nachfolgender Epochen bis in die Gegenwart hinein erweitert. Vor dem Hintergrund dieser medientechnischen Entwicklungen vollzieht sich gleichermassen die Metamorphose des kulturellen Gedächtnisses im Sinne unterschiedlicher Ausprägungsbedingungen für Erinnerungskultur. Mit Fokus auf den in dieser Arbeit gesetzten Zeitrahmen stellt sich diese Metamorphose im Assmann‘schen Modell für das letzte Jahrhundert wie folgt dar: Das Gedächtnismonopol der Schrift, von den Renaissance-Humanisten noch zur einzigen Form raum- und zeitüberschreitender Erinnerungstechniken ausgezeichnet, 168 löste sich bereits ab dem 19. Jahrhundert in einem echten Wettbewerbsmarkt verschiedenster Gedächtnismedien auf.471 Dadurch, so A. Assmann, haben „sich die Erinnerungsräume in ganz neue Richtungen ausgedehnt“ (A. Assmann 2009: S.410). Zunehmend in Erscheinung tretende Konkurrenzmedien in Form von Bildern etc. sowie die Möglichkeit mit dem beginnenden 20. Jahrhundert jenseits von Sprache nun auch optische und akustische Signale aufzeichnen zu können472, erweitern nicht nur die medialen Grundlagen von Erinnerungskultur um 1900, sondern auch die Art und Weise ihrer Ausprägung. Signifikante Änderungen in Quantität und Qualität überführen das kulturelle Gedächtnis in eine neue Unmittelbarkeit, in eine „besondere Nähe zum Unbewußten“ (A. Assmann 2009: S.410) und verschieben Erinnerungsfähigkeiten vermehrt in die Technik. Mit diesen Verschiebungen zeichnet sich gleichzeitig eine weitere Entwicklung um 1900 ab, die von A. Assmann unter dem Stichwort „<von Texten zu Spuren>“ (A. Assmann 2009: S.208) zusammengefasst wird: Durch neue technologische Bedingungen quantitativ radikal wachsende Erinnerungsinhalte lassen das kulturelle Gedächtnis zunehmend von der Seite des Vergessens her bestimmen.473 Nicht mehr Texte, sondern deren (technische) Spuren, d.h. all jenes, was in der Technik gespeichert, aber als solches nicht mehr vollständig reaktivierbar ist, prägt die Erinnerungskultur des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der bei A. Assmann beschriebene Wandel des kulturellen Gedächtnisses um 1900 kann daher in der Gesamtschau als Widerspiegelung zeitgenössischer Auffassungen zu prothetischen und organologischen Ansätzen der Technikphilosophie aufgefasst werden. Obwohl sie als solche bei A. Assmann nicht explizit benannt werden, gleichen sie sich auf der Beschreibungsebene: Sinnerweiternde technische Medien führen nicht nur zu einer Mechanisierung der Gesellschaft, wie sie die Technikphilosophen um 1900 konstatierten, sondern auch zu einer Mechanisierung und qualitativen Veränderung des kulturellen Gedächtnisses, dessen grössere Metamorphose jedoch noch bevorstehen sollte. Sie wird bei A. Assmann in Analogie zu den Technikphilosophien um 1950 eingeleitet durch die erste kybernetische Zäsur. Mit dem Aufkommen selbstregulierender Maschinen wird das um 1900 beginnende Aufbrechen des Schriftmonopols vollendet und die organologisch-prothetischen Technikverständnisfolien im Sinne von Kapp und 471 A. Assmann (2009), u.a. S.410. A. Assmann (2009), S.410. 473 A. Assmann (2009), S.208. 472 169 seiner Zeitgenossen in kybernetische Modelle überführt. In Bezug auf das kulturelle Gedächtnis wird diese kybernetische Zäsur bei A. Assmann am Beispiel der aufkommenden Digitalschrift und ihrer technischen Begleiterscheinungen nachgezeichnet. Sie vergrössert im Vergleich zur Analogschrift noch einmal den Abstraktionsgrad der Schrift und überführt schriftbasiertes kulturelles Gedächtnis in eine bis dato nie dagewesene Transmedialität.474 Was sich bis hierin in Form einer ersten technisch bedingten Metamorphose um 1900 angedeutet hat, wird mit der kybernetischen Zäsur Mitte des letzten Jahrhunderts nun zum echten radikalen Bruch für die Ausprägungsformen des kulturellen Gedächtnisses. Diese grundlegende Veränderung zeigt sich auch für A. Assmann in den zu diesem Zeitpunkt aufkommenden Maschinen namens Computer und seinen Begleiterscheinungen, die die prothetischen Technikauffassungen um 1900 in eine neue Ära führen. Denn Körperfunktionen und Sinne beginnen sich ab diesem Zeitpunkt zu grossen Teilen auf die Technik auszulagern, (Rück-)Kopplungen und Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine werden zentrale Elemente für technische Zustandsbeschreibungen. A. Assmann spricht jedoch weniger von Schnittstellen und Kopplungen als vielmehr von Unterbrechungen, von Menschen als „Randfigur [des] Geschehens“ (A. Assmann 2009: S.212) sowie von der bereits aufgezeigten Gegenüberstellung >alter< und >neuer< Medien. Geleitet von diesen Einschätzungen kommt bei A. Assmann für die Beschreibung der kybernetischen Zäsur um 1950 ein Technikverständnis zum Tragen, das sich als Orientierung an der Technikauffassung Heideggers interpretieren lässt. Heideggers Unterscheidung475 in eine vormoderne und moderne Technik kann daher als Verständnisfolie für die Rolle technischer Medien im kulturellen Gedächtnis nach der kybernetischen Wende bei A. Assmann dienen. So bestimmt, bildet die Heidegger’sche Auffassung einer vormodernen Technik als >Entbergen< und wesenhafte Bewusstwerdung des Menschen im Modell des kulturellen Gedächtnisses einen möglichen Verständnisrahmen für die Ausprägung von sinnhafter Erinnerungskultur unter Bedingungen >alter Medien< bei A. Assmann. Derartige vormoderne Gedächtnistechniken, mit denen hier alle Techniken jenseits der ersten kybernetischen Zäsur umfasst werden, fördern in Anlehnung an Heidegger ein Entbergen des menschlichen Selbst. Sie sind ihm Hilfsmittel im in- 474 475 A. Assmann (2009), S.211. Vgl. Abschnitt 3.1.2. 170 dividuellen Prozess der Menschwerdung sowie im übergeordneten Prozess der Vergesellschaftung. Stabile Hardware und universelle Software der Grafosphäre sind aus dieser Perspektive die technischen Garanten für mögliche Ausprägungen von vordergründig gesellschaftlich – und hintergründig technisch – bestimmter Erinnerungskultur. Sie determinieren die von J. Assmann beschriebene konnektive Struktur einer Kultur und damit einhergehend die Herausbildung kultureller Identität sowie die Einheit und (relative) Stabilität von Gesellschaften. Sie dienen darüber hinaus mit ihrem hier instrumental bestimmten Charakter dem menschlichen Geist in seinen Prozessen der Bewusstwerdung durch Erinnerung.476 Insbesondere die analoge Schrift ist in diesem Zusammenhang „ein Werkzeug des Menschen, das ihm dabei half, seinen Denkund Handlungsraum auszudehnen“ (A. Assmann 2009: S.212). Kulturelles Gedächtnis unter technologischen Bedingungen der Vormoderne steht daher bei J. und A. Assmann für selbstbestimmte Erinnerungskulturen unter Zuhilfenahme technischer Mittel. Mit der modernen Technik hingegen beginnt für Heidegger das >Herausfordern< und diejenige wesenhafte Veränderung von Technik, die den Menschen zum >Bestand< macht. Übersetzt auf das Assmann’sche Modell des kulturellen Gedächtnisses beginnt mit eben dieser modernen Technik und ihren >neuen Medien< derjenige Prozess, der nicht nur den Menschen zum >Bestand< – oder im A. Assmann’schen Sprachgebrauch zur besagten „Randfigur [des] Geschehens“477 – macht, sondern mit ihm auch seine Erinnerungen. Für das individuelle und gesellschaftliche (Selbst-)Bewusstsein notwendige Erinnerungsprozesse werden auf eine Technik übertragen, die eine quantitativ und qualitativ neuartige Basis für derartige Prozesse der Bewusstwerdung bieten. Dieses neuartige Wesen der Technik markiert bei Heidegger den Übergang vom technischen Hervorbringen in ein technisch bedingtes Herausfordern des Menschen. Übertragen auf das kulturelle Gedächtnis zeigt sich bei J. und A. Assmann, das die Gedächtnistechniken der Video- und Hypersphäre zwar weiterhin individuelle und gesellschaftliche Prozesse der Bewusstwerdung und damit die Generierung kultureller Identität etc. stützen, sie tun dies jedoch in der Assmann’schen Sicht weniger zuver- 476 477 A. Assmann (2009), S.212. A. Assmann (2009), S.212. 171 lässig und zunehmend mit geänderten Rollenverteilungen. Verloren gegangene Langzeitperspektiven im Paradigmenwechsel vom Speichern zum Übertragen und zunehmende Auslagerung des kulturellen Gedächtnisses „aus menschlichen Köpfen und Körpern [… und] aus menschlicher Wartung und Betreuung“ (A. Assmann 2009: S.355) fordern den Menschen im wahren Sinne des Wortes heraus. An das Gestell der modernen Technik gekoppelt sind die Prozesse des erinnernden (Selbst-)Bewusstseins zunehmend entkoppelt vom menschlichen Geist – sie sind ausgelagert in die Techniken der Gegenwart, die den menschlichen Fähigkeiten des Lesens und Auslesens entzogen sind, sofern Übersetzungsmaschinen nicht zur Verfügung stehen. Davon betroffen sind nicht nur die Funktion der individuellen und kollektiven Identitätskonstruktion, sondern auch alle weiteren, in Abschnitt 4.1.3 benannten Funktionen des kulturellen Gedächtnisses: Generierung von Zeit- und Raumvorstellungen, Legitimationen sowie Orientierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen. Derartige Umstellungen in den Beziehungshierarchien zwischen Mensch und Technik münden bei A. Assmann dann auch konsequenterweise in der Krise des kulturellen Gedächtnisses. Es ist eine Krise des nicht mehr vorhandenen „Gleichgewichts im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses“ (A. Assmann 2009: S.408), in der mit der gestiegenen Potenz der Technik eine Kompetenzverschiebung stattgefunden hat und Stabilität gegen stetige Veränderung eingetauscht wurde. „Diese Umorientierung weist auf einen entscheidenden <Konsistenzwandel> des Erinnerungsraums hin“ (A. Assmann 2009: S.411), dessen Metamorphose mit der zweiten kybernetischen Zäsur noch deutlicher zutage tritt. Es ist ein Konsistenzwandel, der sich nach A. Assmann in einer Verschiebung von kultureller Tiefe und Schichtung hin zu einer Kultur des Oberflächeneffekts sichtbar macht.478 Er basiert auf den beschriebenen technischen Entwicklungen der ersten und zweiten kybernetischen Zäsur, die zu massiven Änderungen in Umfang und Organisation des kulturellen Gedächtnisses führ(t)en und dieses kulturelle Gedächtnis - zumindest in grossen Teilen der Welt – den freien Marktmechanismen aussetzt(e).479 Derartige Änderungen führen nach A. Assmann zu neuen Formen von Kultur, die die Krise des kulturellen Gedächtnisses genauer ausdifferenzieren lassen in eine Wissens- 478 479 A. Assmann (2009), S.411. A. Assmann (2009), S.356ff. 172 , Medien- und Identitätskrise: Wesen der Wissenskrise ist die immer grösser werdende Diskrepanz zwischen produzierten Datensätzen und der Aufnahmekapazität menschlicher Gehirne. Kern der Medienkrise ist der Übergang in eine digitale Welt, in der historisch erlernte Kulturpraktiken des Schreibens, Lesens etc. durch Digitalschrift und Hypermedia verdrängt werden. Die Identitätskrise schliesslich basiert auf sozialpolitischen Prozessen, wie Migrationsbewegungen, die vermehrte kulturelle Durchdringung auf der einen Seite und gleichzeitig stärker werdende kulturelle Abgrenzungen auf der anderen Seite hervorrufen.480 A. Assmann unterstützt mit den aufgezeigten Krisenszenarien vor dem Hintergrund der technischen Zäsuren Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts ein Technikverständnis, das geprägt ist durch eine Sinnverschiebung in Richtung eines technologisch bestimmten Sinns, der auch unter Ausschluss des Subjekts operieren kann481. Technikphilosophische Ansätze für Zustandsbeschreibungen des kulturellen Gedächtnisses im späten 20. und 21. Jahrhundert jenseits von Krisenszenarien, wie sie beispielsweise von Simondon in seiner positiv bestimmten Kopplung von Menschen und Maschinen aufgezeigt worden sind, haben in den Assmann’schen Beschreibungen dagegen keinen Anschluss gefunden. Darüber hinaus bleiben die konzeptionellen Grundlagen im Modell des kulturellen Gedächtnisses, wie aufgezeigt, gänzlich unberührt von den Auswirkungen der ersten und zweiten kybernetischen Zäsur. 4.2.3 Darstellung von Funktionen und Organisationsform des kollektiven Gedächtnisses Mit der Betrachtung der Rolle der technischen Medien im Modell von J. und A. Assmann stand bereits ein wesentliches Organisationsprinzip im Fokus der kritischen Betrachtung. Es handelte sich in Anlehnung an Debray‘s Definition des Doppelkörpers eines Mediums jedoch nur um eine organisatorische Dimension, die hier als technisches Organisationsprinzip bezeichnet wurde. Eine zweite Dimension spiegelt die materialisierte Organisation des Mediums wider und damit die Möglichkeiten zur Ver- 480 481 A. Assmann (2004), S.29f.; A. Assmann (2001), S.348. Hörl (2011), S.11; S.25. 173 wendung und Durchsetzung eines Mediums und seiner Inhalte auf Basis organisatorischer, institutioneller und strategischer Gegebenheiten.482 Aus dem Blickwinkel dieser zweiten organisatorischen Dimension soll nun das Assmann’sche Modell im Folgenden näher betrachtet werden. Wie Abschnitt 4.1.3 gezeigt hat, wird von J. und A. Assmann der Kanon als ein solches wesentliches organisatorisches Prinzip des kulturellen Gedächtnisses bestimmt, dessen Durchsetzung auf den Mitteln der Zensur, der Text- und der Sinnpflege beruht. Es ist ein Organisationsprinzip, das mit seinem normativen Charakter stabilisierend auf gesellschaftliche Veränderungen und Komplexitätssteigerungen wirkt und als solches signifikanten Einfluss auf die Herausbildung vergangener (Erinnerungs-)Kulturen hatte. Weiterhin zeigte sich, dass die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts eine fest verankerte und breit angelegte Kanonisierung, wie sie in stark hierarchisch geprägten Gesellschaften der Vormoderne anzufinden ist, in den demokratisierten, nicht zentral verwalteten und d.h. heterarchisch geprägten Gesellschaften der Gegenwart zu grossen Teilen nicht mehr durchsetzbar ist.483 Daher kommen auch J. und A. Assmann zu dem Schluss, dass das historisch dominante Organisationsprinzip Kanon unter den technischen und sozialen Bedingungen der Gegenwart „längst anderen Organisationsformen kultureller Erinnerung Platz gemacht [hat]“ (J. Assmann 2000: S.128). Welche das sind, wird jedoch eher vage ausgeführt. Hier nähern sich J. Assmann und A. Assmann aus unterschiedlichen Perspektiven einer Antwort: J. Assmann beantwortet die Frage nach der Reorganisation des kulturellen Gedächtnisses über die Möglichkeiten zur Reflexivität des Denkens und Handelns oder ex negativo formuliert: „Unsere Reflexion dieser Prozesse wäre gar nicht denkbar, wenn wir noch immer im Banne des Kanons dächten und schrieben“ (J. Assmann 2000: S.128). Im Gegensatz zu den strengen Auflagen der Sinnund Textpflege des kanonischen Organisationsprinzips tritt mit zunehmender Reflexivität des Denkens ein organisatorischer Aspekt des kulturellen Gedächtnisses in den Vordergrund, der „die Grenzen der kulturellen Erinnerung fließend [macht]“ (J. Ass- 482 Debray (2003), S.149. Auch im 20. Jahrhundert gab es eine Reihe von Rekanonisierungen. Sie traten vor allem immer jenseits demokratischer Gesellschaftsbildung auf, wie in den politisch geprägten Kanonbildungen des Nationalsozialismus oder Kommunismus. (J. Assmann 2000: S.129). 483 174 mann 2000: S.128). Von den Zwängen und engen Grenzziehungen des Kanons befreit, steht Reflexivität hier für eine neue >Organisationsstrategie< des kulturellen Gedächtnisses. A. Assmann nähert sich der Frage nach der Reorganisation des Gedächtnisses in der Gegenwart von der technischen Seite: Für sie tritt mit der voranschreitenden Umstellung von analoger auf digitale Hard- und Software ein Organisationsaspekt zu Tage, der die Stabilität der Kanonbildung gegen ein „flüssige[s] System der Selbstorganisation von Daten“ (A. Assmann 2009: S.358) eintauscht. Weniger die Institutionen der Zensur und benannter Sinn- und Textpflege sind für die organisatorische Ausprägung von Erinnerungskultur in der Gegenwart verantwortlich, als vielmehr die in die Verwaltungskompetenz des Technischen verschobene informatorische Selbstorganisation. Reflexivität, d.h. Selbstbeobachtung, und Selbstorganisation sind also die von J. und A. Assmann benannten organisatorischen Metamorphosen des kulturellen Gedächtnisses. Hiermit werden zwei wesentliche Aspekte gegenwärtiger Organisationsformen benannt. Ein diese Aspekte umfassendes, übergeordnetes Organisationsmodell, das mehr als blosse Gegenüberstellung zum Begriff >Dekanonisierung< ist, wird für die Ausprägung von Erinnerungskulturen im 21. Jahrhundert jedoch nicht skizziert. Des Weiteren schliesst sich die Frage an, ob kanonische Organisationsprinzipien – ggf. in adaptierter Form – auch weiterhin Anwendung finden können für die organisatorische Ausgestaltung von Erinnerungskultur in der Gegenwart. Wenn Kanonisierungsprozesse drastische Komplexitätssteigerungen, Orientierungslosigkeit, identifikatorische Gefährdung etc. stabilisieren und bisweilen nivellieren können, dann gäbe es für ein solches Organisationsprinzip auch in der derzeitigen Gemengelage vielfältige Anwendungsmöglichkeiten. Fraglos indes ist – und darauf hat insbesondere J. Assmann hingewiesen484 –, dass derartige Änderungen in der Organisation und in den technologischen Bedingungen Folgewirkungen auf die Funktionen des Gedächtnisses haben: Mit Bezug auf die zwei grundlegenden Funktionen – Erinnern und Vergessen – wird die aktuelle Krise des kulturellen Gedächtnisses bei A. Assmann daher dadurch markiert, dass die technischen und organisatorischen Ausprägungen des 21. Jahrhunderts weniger die Möglichkeiten des Erinnerns unterstützen als die Funktion 484 Vgl. u.a. J. Assmann (2000), S.160. 175 des Vergessens.485 Insbesondere die Bewertung der technischen Medien der Gegenwart führt A. Assmann zu dieser Einschätzung. Diese Bewertung hat sich jedoch in einigen Punkten als des Überdenkens wert erwiesen, wie im vorherigen Abschnitt ausgeführt wurde. Gegebenenfalls handelt es sich weniger um eine funktionale Verschiebung als um andere Ausprägungsformen dieser Grundfunktionen in der Hypersphäre. Ähnliches zeigt sich auch auf der detaillierten funktionalen Ebene: Die in Abschnitt 4.1.3 dargestellten Einzelfunktionen des kollektiven Gedächtnisses486 können zwar im Rahmen des Modells als allgemeine, signifikante Funktionsaspekte von Erinnern und Vergessen abgeleitet werden, ihre konkreten Ausprägungen oder Durchsetzungsformen unter Bedingungen der technischen Gegenwart werden durch J. und A. Assmann jedoch nicht analysiert. Analog zur kritischen Reflexion von Rolle und Darstellungsgrad der Gedächtnismedien zeigt sich auch für die Organisationsformen und Funktionen, dass Änderungen unter technologischen Bedingungen der Gegenwart nur für vereinzelte Aspekte benannt werden und keiner Gesamtbetrachtung unterzogen werden. 4.3 Zusammenfassende Betrachtung Für die Beschreibung von Gedächtnis als anamnésis und damit für die Beschreibungen zur Ausprägung von Erinnerungskultur und mit ihr verbundener Merkmale, Funktionen und Organisationsformen liegt eine Vielzahl von Modellen vor. Mit der Verdrängung insbesondere biologischer Vorstellungen zur Ausprägung und Übertragung von Erinnerungskultur Anfang des 20. Jahrhunderts setzt ein breiter und lebendiger Diskurs über Formen und Wandlungen ein, der im Folgenden insbesondere kulturund medienwissenschaftliche Forschungen wesentlich flankieren und beeinflussen wird. Die zentralen Theorien dieses Diskurses zielen nun auf die kulturell-gesellschaftliche Selbstbestimmung durch Erinnerung auf Basis einer kollektiven Bestimmung des Gedächtnisses ab. Halbwachs und Warburg markieren mit ihren Modellen wesentliche Meilensteine. Auf ihren Grundlagen zur Bestimmung eines kollektiven 485 A. Assmann (2009), S.408ff, insbesondere S.411f. Generierung individueller und kollektiver Zeit- und Raumvorstellungen (1), (De-)Legitimierung von Institutionen, Macht etc. (2), Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags)Handlungen (3) Schaffung kollektiver Identitätskonstruktionen (4). 486 176 Gedächtnisses setzen im Folgenden auch J. und A. Assmann auf. Ihre Weiterentwicklungen in Richtung einer bimodalen Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses beeinflussen seit Ende des 20. Jahrhunderts massgeblich den Erinnerungsdiskurs und sind Gegenstand vielfältiger kritischer Betrachtungen sowie Grundlage für konkrete Beschreibungen einzelner Erinnerungskulturausprägungen. Als wesentlicher Kristallisationspunkt der Gedächtnisforschung wurde das Modell von J. und A. Assmann auch für das eigene Vorhaben in den Mittelpunkt gerückt: Die Beantwortung der Frage, wie muss das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann vor dem Hintergrund der technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen (anamnésis) verwenden zu können, wurde als ein Ziel dieser Arbeit formuliert. Ihr Modell ist daher Ausgangspunkt für den im folgenden Kapitel durchzuführenden Versuch einer konzeptionellen Weiterentwicklung, die den Anforderungen, Implikationen und Entwicklungslinien hypomnétischer Gegenwart gerecht wird. Diese Weiterentwicklung basiert insbesondere auf den Ergebnissen der Stärken- und Schwächenanalyse, durchgeführt im Rahmen der kritischen Reflexion des Assmann’schen Modells, die hier noch einmal in ihren wesentlichen Aspekten zusammengefasst werden: Die ausgeprägte Modellage mit einer Differenzierung des kollektiven Gedächtnisses in ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis, einer nachfolgenden Unterscheidung des kulturellen Gedächtnisses in ein Funktions- und Speichergedächtnis sowie der grundlegenden Beschreibungen von Organisationsprinzipien und Funktionen dieses Gedächtnisses macht auf der einen Seite die prinzipiellen Mechanismen von Erinnerungskultur auf besondere Weise sichtbar. Auf der anderen Seite wird hier ein Modell entwickelt, in dem strenge Zuweisungen und Terminologien wirken, für die eine vollständige Anwendung über alle Formen von Erinnerungsgemeinschaften und ihren je spezifischen hypomnétischen Hintergrund mit offenen Fragen verbunden ist. Solche statischen487 Modelle mit einem hohen Abstraktionsgrad zeigen ihre Vorzüge solange ihre eigenen Bedingungen nicht ins Wanken geraten.488 Für die konkrete Ausgestaltung des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses 487 488 U.a. Erll (2011), S.37; Zierold (2006), S.95. Als derartige Vorzüge sind beispielhaft zu nennen: Beständigkeit, breite Anwendbarkeit, Einfachheit. 177 nennen J. und A. Assmann hypomnétische Ausprägungen als eine wesentliche Bedingung. Es zeigte sich jedoch, dass technische Veränderungen der Gegenwart bisweilen nicht nur die konkreten Ausgestaltungen betreffen, sondern auch auf das Modell selbst Einfluss haben. Offene Fragen in Bezug auf die verwendeten Definitionen und Differenzierungen sowie bezüglich der Organisationsform und der Funktionen sind Ausdruck eines Anpassungsbedarfes im Modell. Die strikten Zuweisungen im Modell von J. und A. Assmann zeigen hier ihre Nebenwirkungen: Obwohl sie über die Metamorphosen des kulturellen Gedächtnisses unter den technologischen Bedingungen der Gegenwart referieren, können diese fortschreitenden, gravierenden Veränderungen unter Beibehaltung der ursprünglichen Modellage nicht in das Modell integriert werden – dem „<Konsistenzwandel> des Erinnerungsraumes“ (A. Assmann 2009: S.411) folgt kein Konsistenzwandel des Modells. >Integriert< werden die veränderten technischen Grundlagen also nicht über etwaige Anpassungen des Modells, sondern über die Verkündung der Krise des kulturellen Gedächtnisses. Identitäts-, Wissens- und Medienkrise basieren auf (technischen) Änderungen der ersten und zweiten kybernetischen Zäsur des letzten Jahrhunderts, könnten ggf. aber auch weniger krisenhaft ausfallen, würden zunächst diese Änderungen in das Modell eingearbeitet und / oder das Modell flexibler ausgestaltet werden. Aus dieser Nicht-Anpassung des Modells auf die (technischen) Gegebenheiten der Hypersphäre resultieren dann auch gewisse terminologische Unschärfen. Sie zeigen sich u.a. in der hinterfragten strikten Zuordnung, die das kulturelle Gedächtnis als medial und das kommunikative Gedächtnis als mündlich vermittelt definiert oder auch in dem von Zierold dargestellten Sachverhalt, dass eine Betrachtung der neuen Medien im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses zum jetzigen Zeitpunkt nur bedingt möglich ist, sofern man sich an die Assmann’sche Modellierung hält, die für das kommunikative Gedächtnis einen Zeitraum von 80-100 Jahren ausgehend von der jeweiligen Gegenwart ansetzt, an welches sich dann das kulturelle Gedächtnis anschliesst.489 Die Vielzahl der Vorzüge des Assmann’schen Modells wird daher mit Hinblick auf die Flexibilität und Adaptierbarkeit auf hypomnétische Gegenwarten eingeschränkt. Die Hauptgründe liegen, wie ich aufgezeigt habe, in der Modellentwicklung auf Basis 489 J. Assmann (2000), S.56; Zierold (2006), S.91f. 178 einschränkender Raum- und Zeitperspektiven (1), sowie auf einem begrenzten Technik- und damit Medienfokus mit korrespondierendem Technikverständnis (2). Sie führen letztlich zu Einschränkungen des Modells. (1) Ableitungen allgemeingültiger Modellannahmen aus Beispielen für Kulturen, die sich im Wesentlichen auf Basis eindeutig bestimmbarer Raum- und Zeitpunkte definieren lassen und gleichgesetzt werden mit physisch zusammengehörigen Erinnerungsgemeinschaften, beschreiben zwar einen grossen Teil vor allem vergangener Erinnerungsgemeinschaften, schliessen aber insbesondere für die Gegenwart auch Teile aus. Das Zusammendenken des sozialen und des geographischen Raumes als physisch fest umrissene Erinnerungsgemeinschaft, besonders ausgeprägt in den politischen Gemeinschaften der Nationalstaaten, steht für einen kollektiven Gedächtnisbegriff, in welchem zunehmende individuelle und gesellschaftliche Fragmentierungen der Gegenwart immer schwieriger integriert werden können. Stabilität und Einheit prägen daher die Raumperspektive des Modells bei J. und A. Assmann, die sich in den von ihnen verwendeten Beispielen sowohl in den zugrundeliegenden Gesellschaftsformen als auch in der angewendeten Zeitperspektive widerspiegeln. Das Erste meint die Assmann’sche Fokussierung auf stark hierarchisch geprägte Gesellschaftsformen. Das Zweite umfasst die Assmann’sche Fokussierung auf vormoderne Gesellschaftsordnungen. Der Theorie des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses zugrundeliegende Raum- und Zeitperspektiven konzentrieren sich demnach auf kulturelle und politische Gesellschaftsformen der Vergangenheit. (2) Einschränkungen dieser Art und daraus resultierende Adaptionsschwierigkeiten des Modells setzen sich im Technik- und Medienverständnis bei J. und A. Assmann fort. Der Fokus auf vormoderne Gesellschaften mit physisch fest umrissenen Erinnerungsgemeinschaften spiegelt sich in ihrem Fokus auf vormoderne Techniken wider: Ihre Beispiele umfassen Gesellschaften, die sich im Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit befinden bzw. den Übergang zu handwerklich und industriell geprägten Buchgesellschaften nachzeichnen. In der Folge fällt trotz des auch von J. und A. Assmann deklarierten konstitutiven Charakters von hypomnésis für anamnésis die Betrachtung neuer Medien weniger differenziert aus. Sie erfolgt im Wesentlichen vor dem Hintergrund einer Gegenüberstellung alter und neuer Medien und einem grundlegenden Technikverständnis, dass mit der Heidegger’schen Zäsur zwischen vormoderner und moderner Technik ein >ursprüngliches< Hierarchieverhältnis in Gefahr 179 sieht. Denn obwohl A. Assmann mit Bezug auf die hypomnétische Gegenwart davon spricht, dass sich das Hierarchieverhältnis zwischen Menschen und Technik mit einer zunehmenden Kompetenzverschiebung in Richtung Technik grundlegend verändert hat, so bleibt ihr Technikverständnis doch weiterhin von diesem >ursprünglichen< Hierarchieverhältnis der Form >Mensch über Technik< geprägt. Die Krise des kulturellen Gedächtnisses in der Gegenwart hat hier ihren Ursprung: Wo diese Hierarchie in Gefahr ist, da ist mit dem Menschen auch seine Erinnerungskultur in Gefahr. Aus dieser Perspektive heraus können dann auch die notwendigen Anpassungen am Modell nicht vorgenommen werden. Die Krise des kulturellen Gedächtnisses, so könnte man sagen, ist daher vielleicht eher eine Krise des Modells des kulturellen Gedächtnisses. Zu den Kernpunkten dieser Modellkrise gehören: ein allgemeines Medien- und Technikverständnis, das sich am besagten Hierarchieverhältnis >Mensch über Technik< orientiert strikte terminologische Zuweisungen und Differenzierungen wie: o die Zuordnung der Vermittlungsformen, in denen das kommunikative Gedächtnis ein ausschliesslich mündlich vermitteltes ist und das kulturelle Gedächtnis durch die technisch-mediale Vermittlung gestützt wird, o die weiterführende Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses in ein passives Speicher- und ein aktives Funktionsgedächtnis, bei der mindestens die Definition des Speichergedächtnisses unter den technologischen Bedingungen der Gegenwart – d.h. ein zunehmendes Eintauschen von Permanentspeichern in ein permanentes Übertragen – ins Wanken gerät, o sowie die grundlegende Betrachtungsweise neuer Medien als den alten Medien gegenübergestellt, ohne auf etwaige Schnittstellen und damit Übersetzungs- und Fusionierungsmöglichkeiten einzugehen. die nur teilweise beantwortete Frage nach Organisationsprinzipien und funktionalen Ausprägungen des kulturellen Gedächtnisses der Gegenwart. 180 Mit diesen Ergebnissen im Gepäck zeigt sich für das Modell des kulturellen Gedächtnisses eine deutliche Fokussierung auf Erinnerungsgesellschaften jenseits der Hypersphäre und damit vor allem auf materialisierte Erinnerungsformen. Unter technologischen Bedingungen der Gegenwart gerät das Modell damit zunehmend unter Anpassungsdruck. Veränderungen in den Möglichkeiten dieser technischen Grundlagen zur Ausprägung von Erinnerungskultur sollten sich jedoch im Modell widerspiegeln lassen. Mit anderen Worten: Die im Fokus des Modells stehenden Aspekte kultureller Stabilität müssen erweitert werden um Aspekte kultureller Dynamiken, die ihre Auslöser in der Gegenwart vordergründig im Technischen finden. Die derzeitige Modellage zeigt hier noch Anpassungsbedarf. Vor diesem Hintergrund ist das Modell des kulturellen Gedächtnisses bereits Gegenstand vielfältiger Reflexionen und Weiterentwicklungen vor allem im deutschsprachigen Raum geworden. Die beiden folgenden Modelle stehen beispielhaft für derartige Alternativentwürfe bzw. Adaptionen des Assmann’schen Modells: So entwickelt Erll aus den Überlegungen zu materiellen und sozialen Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses ein Drei-Dimensionen-Modell mit dem Ziel, ein alle Aspekte einer Kultur umfassendes Gedächtnismodell zu definieren.490 Sie orientiert sich dafür am semiotischen Kulturbegriff, wie er durch Lotman und Uspenskij vertreten wird.491 Ihr kultursemiotisches Gedächtnismodell setzt sich demnach aus den drei Dimensionen >Materialität<, >Sozialität< und >Mentalität< zusammen: Die materielle Dimension umfasst die technischen Medien, die soziale Dimension beschreibt die Institutionen und Praktiken, die mentale Dimension beinhaltet kulturspezifische Vorstellungen, Schemata etc. des kollektiven Gedächtnisses.492 Erinnerungskultur wird für Erll erst durch die Interaktion aller drei Dimensionen vollumfänglich beschrieben. 490 Erll (2011) S.115f. Bei Lotman und Uspenskij wird Kultur als ein Zeichensystem definiert, dass durch ein nicht-erbliches Gedächtnis eines menschlichen Kollektivs vermittelt wird. Basisoperation der Kultur ist die Aufzeichnung von Ereignissen in einem Gedächtnistext. Dieser wird im kulturellen System verankert und bestimmt es dadurch. Lotman, Uspenskij (1971) S.853, 857. 492 Erll (2011), S.116f. 491 181 Eine solche, durch materielle, soziale und mentale Aspekte geprägte Erinnerungskultur ist keine statische Ausprägung, sondern variiert im Sinne verschiedener Erinnerungskulturen sowohl auf der diachronen als auch auf der synchronen Ebene.493 Wesentlicher Motor für derlei Variationen, insbesondere für aktuelle Transformationen, sind in Anlehnung an das Assmann’sche Modell auch bei Erll technische Änderungen der Gedächtnisspeicher. Erll zeigt zusammen mit Rigney auf, wie diese technische Seite des Gedächtnisses zunehmend in den Fokus der kulturwissenschaftlichen Forschung gerückt ist und damit einhergehend ein Wechsel von stabilen hin zu dynamischen Erinnerungsmodellen stattfindet. Kern dynamischer Erinnerungsmodelle ist ein prozessuales Verständnis von Erinnerung und Vergessen, in dem Gemeinschaften Vergangenheit fortlaufend neu rekonstruieren. Feste Referenzpunkte in Form kanonischer Objekte, wie sie für stabile Erinnerungskulturen charakteristisch sind, werden heute zunehmend geringer. Als Ursache für diese Dynamisierung von Erinnerung benennen Erll (und Rigney), ähnlich wie A. Assmann, Wandlungen des medialen Rahmens. Änderungen dieser Art werden bei ihr in das von Bolter und Grusin entwickelte Konzept der >remediation< eingefasst. Es besagt, dass jedes Medium auf der Aneignung von bereits vorhandenen Medien beruht. Eine solche Aneignung kann auf zweierlei Weise geschehen: Das neue Medium präsentiert sich als Zusatz zu einem schon vorhandenen Medium oder konkurrenziert es.494 Dynamische Erinnerungskulturen, so Erll und Rigney, sind mit diesem Prozess der >remediation< eng verbunden. Indem Medien selbst Gegenstand fortlaufender Veränderungen sind, spielen sie eine aktive Rolle für die Konfiguration der Vergangenheit. Sie sind genauso wie die sozialen Rahmenbedingungen nach Halbwachs konstitutiv für Ausprägungen kultureller Erinnerung.495 Ein ähnlich prozessorientiertes Erinnerungsmodell entwickelt auch Zierold: Zur Überwindung des normativ-statischen496 Modells von J. und A. Assmann schlägt er in Anlehnung an Erll und Schmidt ein „dynamisches und vorneherein plurales Modell von Gedächtnissen und Erinnerungen“ (Zierold 2006: S.97) vor. Die zentralen terminologischen Setzungen seines Modells definieren Erinnerungen – ähnlich wie Erll – 493 Erll (2011), S.133f. Vgl. Bolter / Grusin (1999), S.3ff. und S.21ff. 495 Erll / Rigney (2009), S.3f. 496 Zierold (2006), S.93 und S.95f. 494 182 als Prozesse und Konstruktionen der Gegenwart, die wesentlich sind für Identitätenbildung und „gesellschaftliche Integration über Raum und Zeit“ (Zierold 2006: S.150). Gedächtnis als materieller, externalisierter Erinnerungsspeicher wird bei Zierold eingetauscht in den Begriff des >Fundus<.497 Mit dieser Prozessfokussierung und der daraus resultierenden Ablehnung statischer Speichermetaphern des Gedächtnisses soll die Konstruktivität von Erinnerungen hervorgehoben werden, so Zierold498, und damit ein Modell zur Verfügung stehen, dass jenseits normativ-statischer Terminologien Analysemöglichkeiten insbesondere für moderne (Erinnerungs-)Gesellschaften bietet.499 Technische Medien sind dabei analog zu Erll, J. und A. Assmann wesentlich für Erinnerungsprozesse. Das Defizit bestehender Erinnerungs- und Gedächtnistheorien, diese technischen Medien nur unzureichend zu thematisieren, versucht Zierold mit einer Differenzierung des Medienbegriffs und einer vertieften Analyse insbesondere neuer Medien und ihren Konsequenzen für Erinnerungsgesellschaften auszugleichen.500, 501 Trotz der Kritik, insbesondere am Assmann’schen Modell, dieser Analyse in der Theorie bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben und technisch teilweise inkorrekt zu arbeiten, verbleibt auch Zierold hier an der technischen Oberfläche: Vereinzelte Gedanken zur Dauerhaftigkeit und Lesbarkeit von Hard- und Software für digitale Informationen reichen zwar aus, um das Krisenszenario vom Ende des kulturellen Gedächtnisses aufzuweichen und Erinnerungen auch im Diesseits neuer Medien zu erlauben, verschalten aber nicht konsequent unterschiedliche Aspekte von hypomnésis mit anamnésis – sowohl auf konzeptioneller Ebene als auch auf der Beschreibungsebene von Erinnerungskulturen der Gegenwart. Beide Modelle – hier beispielhaft für ähnliche Adaptionen und Weiterentwicklungen des Begriffes des kollektiven Gedächtnisses stehend – nehmen einige der wesentlichen Kritikpunkte am Assmann’schen Modell auf und integrieren sie in ein überar- 497 Zierold (2006), S.150. Zierold (2006), S.58. 499 Zierold (2006), S.149. 500 Zierold (2006), S.91. 501 In Anlehnung an Schmidt und Erll erarbeitet Zierold einen mehrdimensionalen Medienkompaktbegriff, der neben der sozialen Institutionalisierung und Funktionalisierung von Medien den Medienbegriff ausdifferenziert in Kommunikationsinstrumente, Medientechnologien, Medienangebote und deren Produktion und Distribution. Eine Analyse der Ausprägung von Erinnerungsgesellschaften muss nach Zierold unter Berücksichtigung aller Dimensionen erfolgen. Vgl. Zierold (2006), S.161ff., S.197. 498 183 beitetes theoretisches Fundament für die Untersuchung von Erinnerungsgesellschaften. Dazu gehören die Hinwendung zu explizit prozessualen Erinnerungsmodellen mit besonderem Augenmerk auf die Auswirkungen technischer Medien sowie der Übergang zu dynamisch orientierten Erinnerungsmodellen. Eine konkrete, tiefergreifende Analyse der Implikationen hypomnétischer Gegenwart auf anamnésis, und damit im Modell von J. und A. Assmann auf das kulturelle und kommunikative Gedächtnis, dessen Eigenschaften, Funktionen und Organisationsformen, bleibt jedoch aus. Hierauf konzentriert sich gemäss der definierten Forschungsfrage der eigene Versuch zur Weiterentwicklung des Assmann’schen Modells im nächsten Kapitel: Vor dem Hintergrund des aufgezeigten Anpassungsbedarfes muss die Adaption des Modells in Richtung eines stärker korrelativ ausgerichteten Modells zwischen hypomnésis und anamnésis im Vordergrund stehen, um den Anforderungen, Implikationen und Entwicklungslinien hypomnétischer Gegenwart gerecht werden zu können. 184 5 Erinnerungskulturen der Gegenwart „Ich bin ein Blätterteiggebäck aus Papyrus, Pergament, Papier und Bildschirmen. Schamlos habe ich meine Kathodenstrahlröhre über meinen Papierstapeln und mein biegsames Schulheft über den steinernen Gesetzestafeln aufgetürmt. Ich bin Psalmen und Rock, Kriechtier und Flugtier, Piktogramm und Hypertext. Jeder Zeitgenosse ist ein chronologisches Tohuwabohu, ein Trödelladen sich drehender Mediensphären, die miteinander und in ihm selbst ohne Protokoll verhandeln, welcher Platz, je nach der Uhrzeit, der Firma und deren Dringlichkeiten, einzunehmen sei.“ Debray: Einführung in die Mediologie (Debray 2003: S.114f.) Die an der Assmann’schen Konstruktion anknüpfende Weiterentwicklung des Modells und damit der Versuch der Beantwortung der zweiten Forschungsfrage >Wie muss das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann vor dem Hintergrund der technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen (anamnésis) verwenden zu können?< erfolgt entlang der bisher betrachteten Aspekte: Zunächst sollen die Transformationen des kollektiven Gedächtnisses aus einer konzeptionellen Perspektive diskutiert werden, und d.h. das Assmann’sche Modell strukturell und terminologisch, wo notwendig, angepasst werden. Auf Basis dieser konzeptionellen Anpassungen werden anschliessend die wesentlichen, allgemeinen Konsequenzen für die Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses in der Gegenwart diskutiert. Darauf aufbauend erfolgt im zweiten und dritten Schritt die Analyse der funktionalen und organisatorischen Implikationen auf diese Ausprägungen. Alle Ergebnisse werden abschliessend in einer Beschreibung zur Ausprägung von Erinnerungskulturen in der Gegenwart zusammengefasst. 185 5.1 Transformationen des kollektiven Gedächtnisses Ausgangspunkt für die Darstellung der Transformationen des kollektiven Gedächtnisses sind die im Kapitel 4 aufgezeigten Modellannahmen bei J. und A. Assmann sowie die Ergebnisse der Stärken- und Schwächenanalyse dieses Modells.502 Aus letzterer lassen sich konkrete inhaltliche Anforderungen für die Überarbeitung des Modells ableiten, die ich unter den Stichworten >zeit- und raumintegratives Modell< (1) und >technikintegratives Modell< (2) zusammenfasse: (1) Mit dem Anforderungskriterium >zeit- und raumintegratives Modell< wird darauf verwiesen, das von J. und A. Assmann entwickelte Modell konzeptionell für alle Formen von Erinnerungskulturen anwendbar zu machen: Die Analyse des Assmann’schen Modells hatte gezeigt, dass eine besondere Fokussierung auf vormoderne, physisch zusammengehörige Erinnerungsgemeinschaften vorlag. Etwaige konzeptionelle Anpassungen sollten eine derartige Fokussierung überwinden und damit zeitliche und räumliche Ausprägungsmöglichkeiten jeglicher Erinnerungskulturen in das Modell einschliessen. (2) Das Anforderungskriterium >technikintegratives Modell< meint zudem die konzeptionelle Berücksichtigung aller Gedächtnismedien und damit die Überwindung der Fokussierung auf vormoderne Techniken. Die Konsequenzen sich ändernder hypomnétischer Grundlagen, insbesondere seit dem 20. Jahrhundert, sollen auch auf der Modellebene, wo notwendig, zum Ausdruck gebracht werden. Das heisst auch, eine Überarbeitung des Assmann’schen Modells vorzunehmen, die sich nicht mehr an historischen Mensch-Technik-Hierarchieverhältnissen orientiert, sondern im Gegenteil ein korrelatives, koevolutionäres, sich gegenseitig infiltrierendes Verhältnis503 als Grundlage verwendet. Unter Berücksichtigung dieser inhaltlichen Anforderungen soll das normativ-statische504 Modell von J. und A. Assmann in Richtung eines deskriptiv-dynamischen Modells weiterentwickelt werden, um breite Anwendungsmöglichkeiten, insbesondere 502 Siehe Abschnitt 4.2. Wie es beispielsweise bei Simondon zum Ausdruck gebracht wurde. 504 Vgl. u.a. Zierold (2006), S.93 und S.95f.; Erll (2011), S.37. 503 186 auch für gegenwärtige Ausprägungsformen von Erinnerungskollektiven, zu gewährleisten. Auf Basis dieser Anpassungen werden im Anschluss die funktionalen und organisatorischen Implikationen ausgelotet: Während es sich bei der Weiterentwicklung des Modells jedoch um übergeordnete, d.h. allgemeine konzeptionelle Anpassungen handelt505, stehen in der Analyse von Funktionen und Organisation die spezifischen Ausprägungsformen unter technologischen Bedingungen der Gegenwart im Fokus. Hier gilt es vor allem folgende Frage zu beantworten: Ergeben sich aus den konzeptionellen Anpassungen und unter besonderer Berücksichtigung der Ausprägungsformen hypomnétischer Gegenwart Änderungen in den in Abschnitt 4.1.3 vorgestellten Funktionen und Organisation des kollektiven Gedächtnisses? 5.1.1 Konzeptionelle Transformationen Abbildung 2 zeigt das Assmann’sche Modell des kollektiven Gedächtnisses mit seinen Differenzierungsstufen noch einmal schematisch auf: Abbildung 2: Modell des kollektiven Gedächtnisses nach J. und A. Assmann (Quelle: eigene Darstellung) 505 Für die im Anschluss die wesentlichen Konsequenzen zur Ausprägung kollektiver Gedächtnisse in der Gegenwart benannt werden. 187 Auf der ersten Stufe wurde das kollektive Gedächtnis anhand der Differenzierungsmerkmale >Zeit< und >Trägerschaft< in ein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis unterschieden. Nachgelagert erfolgte dann eine Unterscheidung des kulturellen Gedächtnisses anhand der Differenzierungsmerkmale >Inhalt< und >Handlungsart< in das Funktions- und Speichergedächtnis.506 Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Modellschwächen und der daraus abgeleiteten Überarbeitungsanforderungen schlage ich strukturelle und inhaltliche Anpassungen des Modells vor, die im Folgenden näher erläutert werden: Das beschriebene zweistufige Modell von J. und A. Assmann wird dabei in ein Achsenmodell mit den beiden Dimensionen >Technik< und >Inhalt< überführt, wie in Abbildung 3 schematisch dargestellt. Abbildung 3: Angepasstes Modell des kollektiven Gedächtnisses (Quelle: eigene Darstellung) 506 Detaillierte Erläuterungen siehe Abschnitt 4.1.2. 188 Strukturelle Anpassungen des Modells Zentrales Moment in der strukturellen Anpassung ist die Umstellung von einem zweistufigen Modell auf ein zweidimensionales Achsenmodell. Mit dieser Umstellung sollen zum einen Änderungen in der Ordnungslogik und zum anderen eine Fokussierung auf die Flexibilitätsgrade des Modells zum Ausdruck gebracht werden: Mit dem ersten Aspekt – Änderungen in der Ordnungslogik – wird das hierarchisch strukturierte Modell von J. und A. Assmann in ein Modell mit zwei gleichberechtigten Ausprägungsformen in den beiden Dimensionen >Technik< und >Inhalt< umgewandelt. >Analog- und Digitalgedächtnis< sind demnach zwei gleichwertige Grundoptionen in der technischen Dimension des Modells, >realisiertes Funktionsgedächtnis und potentielles Speichergedächtnis< gleichberechtigte Optionen in der Inhaltsdimension. Ein Hierarchieverhältnis zwischen den Dimensionen wie beispielsweise in der Art >Inhalt über Technik< wird mit diesem Modell ebenso ausgeschlossen. Vielmehr werden mit dieser Anpassung die beiden Seiten des Gedächtnisses – hypomnésis und anamnésis – konzeptionell eingebettet und damit auf oberster Ebene im Modell im verankert. Der zweite Aspekt – Fokussierung auf Flexibilitätsgrade – steht für eine Verankerung dynamischer Aspekte im Modell und d.h. für beliebig viele Ausprägungsmöglichkeiten in beiden Dimensionen: Für die Dimension >Technik< gilt dann, dass die benannten Grundoptionen lediglich zwei Extrempunkte darstellen, zwischen und innerhalb derer beliebige Ausprägungsformen denkbar sind.507 In Abhängigkeit politischer, religiöser, wirtschaftlicher etc. Aspekte jeweiliger gesellschaftlicher Hintergründe können Erinnerungskollektive die zur Verfügung stehenden (Basis-)Technologien in unterschiedlicher Intensität und Zusammensetzung für die Ausprägung ihres je konkreten, realisierten Funktionsgedächtnisses nutzen. In der Dimension >Inhalt< sind die Optionen hingegen weniger Grundoptionen zwischen denen beliebige Zustände eingenommen werden können, da Erinnerungsinhalte entweder als Teil des Funktionsgedächtnisses die Ausprägung des jeweiligen Erinnerungskollektivs bestimmen oder 507 Damit sind unterschiedliche Ausprägungen im Analog- und / oder Digital-Gedächtnis in Abhängigkeit der zum Betrachtungszeitpunkt zur Verfügung stehenden Technologien gemeint. D.h. Erinnerungskulturen vor dem Zuhandensein digitaler Technik operieren in der Dimension >Technik< ausschliesslich im AnalogGedächtnis mit seinen diversen, zeitspezifischen technischen Ausprägungsformen. 189 aber Bestandteil eines im Hintergrund prozessierenden Speichergedächtnisses sind. Hier wird unter >Flexibilität< vielmehr die Möglichkeit verstanden, beliebig viele und beliebig häufige Realisierungen aus dem potentiellen Speichergedächtnis vornehmen zu können. Flexibilitätsgrade stehen in der inhaltlichen Dimension also für Mengenund Zeitaspekte. Inhaltliche Anpassungen des Modells Diese strukturellen Änderungen implizieren einer Reihe inhaltlicher Anpassungen. Mit der Umstellung des zweistufigen auf ein zweidimensionales Modell werden auch die im Assmann’schen Modell zur Anwendung kommenden, stufendifferenzierenden Kriterien obsolet: Die Kriterien >Zeit< und >Trägerschaft< der ersten Differenzierungsstufe (1) sowie die Kriterien >Inhalt< und >Handlungsart< der zweiten Differenzierungsstufe (2)508 werden überführt in die aufgezeigten Ausprägungsoptionen der beiden Dimensionen des Achsenmodells. Hiermit sind folgende inhaltlichen Anpassungen verbunden: (1) Mit den Kriterien >Zeit< und >Trägerschaft< wird bei J. und A. Assmann auf der ersten Differenzierungsstufe die Unterscheidung des kollektiven in ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis begründet. Die Stärken- und Schwächenanalyse des Modells hat gezeigt, dass eine solche Unterscheidung mindestens für Erinnerungskulturen der Gegenwart nicht mehr relevant ist: Ein Grossteil der heutigen Kommunikation ist an eine technisch-mediale Vermittlung gebunden, weswegen eine strikte Kopplung biographischer Erinnerung an Subjekte und gesellschaftlich fundierender Geschichten an technische Objekte509 angreifbar wird. Die von J. und A. Assmann postulierte Trennschärfe auf Basis der Kriterien >Trägerschaft< und >Zeit< für eine Unterscheidung zwischen kommunikativen und kulturellen Gedächtnis kann daher nicht mehr aufrechterhalten werden.510 Biographische Erinnerung beispielsweise, die in der hypomnétischen Gegenwart nicht mehr ausschliesslich an das Speichermedium Mensch gebunden ist, kann als speichertechnisch gebundene Erinnerung auch Gegenstand kollektiver Erinnerung werden, die dann kulturell fundierend wirkt. Wiewohl also die 508 Vgl. Abbildung 2. J. Assmann (2000), S.50ff. 510 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.2. 509 190 beiden Kriterien >Trägerschaft< und >Zeit< für eine derartige Unterscheidung nicht mehr anwendbar sind, so stellen sie doch wichtige Aspekte für die Beschreibungen kollektiver Gedächtnisse dar. Daher werden sie auch im zweidimensionalen Achsenmodell berücksichtigt, nun allerdings in Form einer prinzipiellen technologischen Bedingung, wie sie in der Dimension >Technik< zum Ausdruck gebracht wird. Damit wird zum einen das Assmann’sche Kriterium der >Trägerschaft< mitgedacht, ohne jedoch anhand der darin impliziten Mensch-Technik-Unterscheidung grundlegende Gedächtnismodi zu definieren. Zum anderen werden mit der Einführung der Dimension >Technik< und den darin enthaltenen Grundoptionen >Analog-Gedächtnis< und >Digital-Gedächtnis< alle zur Verfügung stehenden Speichermedien – und damit die Gesamtheit der technologischen Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses über die Zeit – repräsentiert. In der Konsequenz heisst das, die Differenzierung nicht als Mensch-Technik-Schnittstelle zu begreifen, wie sie insbesondere durch das Kriterium >Trägerschaft< bei J. und A. Assmann impliziert wurde, sondern Technik als grundlegende Bedingung für die Ausprägung des kollektiven Gedächtnisses, d.h. für anamnésis, setzen. Hierfür sind vielfältige, technisch hybride Ausprägungsformen511 auf Basis unterschiedlichster Hard- und Softwarekonfigurationen über die verschiedenen Technikepochen möglich. Eine Unterscheidung des kollektiven Gedächtnisses in ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis wird damit aufgehoben zugunsten der technischen Grundoptionen >Analog-Gedächtnis< und >Digital-Gedächtnis< des kollektiven Gedächtnisses. (2) Die Kriterien >Inhalt< und >Handlungsart< der zweiten Differenzierungsstufe dienen in der Argumentation von J. und A. Assmann für die Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses in ein Speicher- und Funktionsgedächtnis, d.h. für eine Unterscheidung in einen aktiv selektierten Vordergrund durch konkrete Erinnerungsgemeinschaften und einen passiven, alle potentiellen Erinnerungen umfassenden Hintergrund.512 Diese Trennung in ein je spezifisch realisiertes und potentielles Kollektivgedächtnis bleibt auch im Achsenmodell erhalten. Die inhaltlichen Änderungen setzen hier erst auf der Ebene des Speichergedächtnisses an: Bei J. und A. Assmann wurde das Speichergedächtnis als passiver Hintergrund und damit als Basis inhaltlich 511 Technisch hybride Ausprägungsformen als beliebige Konfigurationen aus Analog- und Digital-Gedächtnis. 512 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.2. 191 bestimmter Selektionen für die Ausgestaltung von Funktionsgedächtnissen definiert. Im Rahmen der >kritischen Reflexion< (Abschnitt 4.2) des Assmann’schen Modells wurde aufgezeigt, dass diese Bestimmung des Speichergedächtnisses insbesondere auf dem Vorhandensein von Permanentspeichern, d.h. auf langfristigen Speichermöglichkeiten vergangener Medienepochen beruht. Dominante Hardware der Gegenwart kann jedoch den langfristigen Zugriff auf potentielle Erinnerungsinhalte nur durch permanentes Übertragen auf neue Speichertechniken sichern. Solche Übertragungen sind immer gekoppelt an Selektionen, die hier ausgelöst werden durch technische Eigenschaften. Damit wird das Speichergedächtnis – wie es im Achsenmodell verwendet wird – umgestellt von einem passiven Hintergrund hin zu einem technisch bedingten aktiven Speichergedächtnis. Auftretende Selektionen sind in diesem Zusammenhang technisch, nicht inhaltlich bestimmt. Terminologie auf Basis struktureller und inhaltlicher Anpassungen Aus diesen strukturellen und inhaltlichen Anpassungen des Modells resultieren zusammenfassend folgende Definitionen für die angewendete Terminologie: Kollektives Gedächtnis: Das kollektive Gedächtnis umfasst mit den Dimensionen >Technik< und >Inhalt< die beiden grundlegenden und in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigten Perspektiven des Gedächtnisses: Gedächtnis als hypomnésis und Gedächtnis als anamnésis. Mit dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses wird daher zum einen eine prinzipielle technische Verfasstheit von gemeinschaftlichen Erinnerungen zum Ausdruck gebracht, deren Ausprägungsformen von den zugrundeliegenden technologischen Bedingungen in einer je spezifischen Gegenwart abhängig sind. Hierfür steht die Dimension >Technik<. Zum anderen beschreibt der Begriff einen inhaltlichen Selektionsprozess vor jeweiligen sozialen, politischen etc. Hintergründen, im Rahmen dessen durch (Re-)Konstruktionen von Vergangenheit Erinnerungskollektive in der Gegenwart herausgebildet werden. Hierfür steht die Dimension >Inhalt<. In seiner Gesamtheit umfasst der Begriff >kol- 192 lektives Gedächtnis< damit technisch bedingte, vergangenheitsbezogene Rekonstruktionsprozesse in Form von Erinnerungen und >Vergessungen<513, die Auswirkungen auf die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft von Gemeinschaften haben. (Re-)Konstruktionen, das Herstellen von Zeitbezügen und prozessuales Vorgehen sind daher inhärente Eigenschaften des kollektiven Gedächtnisses. Dieses kollektive Gedächtnis hat keine physiologische Entsprechung. Die physiologische Grundlage für Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses liefern die menschlichen Gedächtnisareale dazugehöriger Gehirne. In ihnen werden die rekonstruierenden, kollektiven Prozesse individuell gespiegelt und physiologisch verwaltet. Des Weiteren meint >kollektives Gedächtnis< im Singular verwendet die allgemeine, theoretische Beschreibung des Phänomens, in seiner Pluralform werden bereits konkrete Ausprägungsformen beschrieben.514 Analog- und Digital-Gedächtnis: Analog- und Digitalgedächtnis spiegeln die zwei Grundoptionen des kollektiven Gedächtnisses in der Dimension >Technik< wider. Mit diesen Grundoptionen wird die Gesamtheit aller bis zum heutigen Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Speichertechniken erfasst. Die darin enthaltenen, vielfältigen Verknüpfungen und Kombinationen umfassen unterschiedlichste Möglichkeiten für die technische Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses.515 Technologische Weiterentwicklungen und Innovationen werden dabei additiv eingebunden: Neue Techniken führen zu veränderten technologischen Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses, die sich in beiden Grundoptionen widerspiegeln. Dabei verschwinden die vorangegangen Medientechniken nicht, sondern werden lediglich durch die neue, nun dominante Technologie eingeordnet.516 Das technologische Spektrum erweitert sich also mit Voranschreiten einzelner Medienepochen. Gleichzei- 513 >Vergessungen< als Ausdruck für die zweite Grundfunktion des kollektiven Gedächtnisses, d.h. als negativ bestimmte Selektionen. 514 Eine derartige Definition des Begriffes >kollektives Gedächtnis< anhand der beiden Dimensionen >Technik< und >Inhalt< negiert die Unterscheidung des kollektiven Gedächtnisses in ein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis. 515 Das kollektive Gedächtnis integriert damit in der technischen Dimension alle bisherigen Technik- bzw. Medienepochen. 516 In Anlehnung an Debray (2003), u.a. S.60. 193 tig operiert das kollektive Gedächtnis in der Dimension >Technik< auch selektiv durch technisch bedingte Auslassungen und Verluste in der Übertragung von einem Speichermedium auf das andere. Einzeln betrachtet, steht das Analog-Gedächtnis dem Namen nach für eine auf analoger Basis operierende Technik, das Digital-Gedächtnis demnach für digital prozessierende Speichertechnologien. Wesentliche technische Merkmale des Analog-Gedächtnisses sind kontinuierliche, unterbrechungsfreie Signale und seine informatorischen Entäusserungen im Materiellen. Als solches ist es ein sinnlich erfahrbares, auf Beständigkeit ausgelegtes, im Realen verankertes Gedächtnis. Analog-Schrift als Software und Bücher als korrespondierende Hardware sind zentrale Techniken dieses Gedächtnisses; Bibliotheken, Museen und Archive entsprechende Beispiele für Orte des Analog-Gedächtnisses. Als materielles Gedächtnis ist das Analog-Gedächtnis daher (zumindest temporär) orts-, hardware- und software-gebunden. Das Digital-Gedächtnis beruht technisch demgegenüber auf diskreten, d.h. nicht stetigen Signalen und daraus resultierenden Informationen, die ortsunabhängig sowie hardware- und software-flexibel sind. Es handelt sich um ein technisches Gedächtnis, das – obgleich seiner Entsprechung im Realen via der zugrundeliegenden Hardware – als ein virtuelles, flüchtiges und daher im >Augenblick< agierendes Gedächtnis bezeichnet werden kann.517 Technisch digital operierende Gedächtnisse sind weniger auf Beständigkeit als auf Flexibilität und temporäre Kompositionen ihrer Inhalte ausgelegt. Via Internet abrufbare und bearbeitbare Sound- oder Datenclouds können als Beispiel dienen. Mit einem derart definierten Analog- und Digitalgedächtnis wird gleichermassen die bei A. Assmann postulierte Opposition zwischen >alten< und >neuen Medien< – bei ihr gleichbedeutend mit analog und digital operierenden Medien – zugunsten einer gleichberechtigten Perspektive aufgehoben. 517 Realisiertes Funktionsgedächtnis und potentielles Speichergedächtnis: Realisiertes Funktionsgedächtnis und potentielles Speichergedächtnis spiegeln die beiden Ausprägungsformen der Dimension >Inhalt< des kollektiven Gedächtnisses wider. Das Funktionsgedächtnis steht darin für das inhaltliche Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2.1. 194 Ergebnis von gedächtnisrelevanten Selektionsprozessen, d.h. für konkrete (Re-)Konstruktionen von Vergangenheit und die Auswahl spezifischer Erinnerungen. Diese Selektionen erfolgen auf Basis des im Hintergrund prozessierenden Speichergedächtnisses. Es beinhaltet die Gesamtmenge der zur Verfügung stehenden Erinnerungsinhalte. Es ist in diesem Sinne ein potentielles Gedächtnis, weil es beliebig viele Funktionsgedächtnisse umfasst, die erst in der konkreten Auswahl realisiert werden. Das Funktionsgedächtnis stellt damit immer nur einen Ausschnitt des Speichergedächtnisses dar. Dieser Ausschnitt ist das Resultat aus inhaltlichen Selektionen und technologischen Bedingungen zum Zeitpunkt der Realisierung.518 Zu jedem Zeitpunkt können beliebig viele Funktionsgedächtnisse herausgebildet werden. Als Hintergrund für mögliche Ausprägungen von Funktionsgedächtnissen unterliegt das Speichergedächtnis keinen inhaltlichen Selektionen, es wird jedoch fortlaufend technisch bedingt selektiert. Wesentliche Prozesse des Speichergedächtnisses sind daher Datenpflege, technische Übertragung von Informationen und damit verbundene technische Selektionen. Wesentliche Prozesse des Funktionsgedächtnisses sind die Durchführung inhaltlicher Selektionen aus dem Fundus des Speichergedächtnisses für bestimmte Vergangenheitsrekonstruktionen sowie die Ausübung funktionaler Eigenschaften wie Alltagsorientierung, Identitätskonstruktion etc.519. Zusammengefasst können Funktionsgedächtnisse als technisch und inhaltlich konkrete, kollektive Gedächtnisausprägungen spezifischer Erinnerungsgemeinschaften bestimmt werden, die vor dem Hintergrund eines kollektiven, im Unbewussten prozessierenden Potenzgedächtnisses – dem Speichergedächtnis – operieren. In der Dimension >Inhalt< arbeitet das kollektive Gedächtnis daher rein selektiv: Aus dem Bestand möglicher Erinnerungsinhalte werden diejenigen ausgewählt, die aus funktionaler Sicht sinnvoll erscheinen. Erinnerungskultur (und kollektives Gedächtnis): Eng verbunden mit dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses ist der Ausdruck Erinnerungskultur. 518 Mit dieser Definition werden die Überlegungen zu Funktions-und Speichergedächtnis von A. Assmann übernommen. Unterschiede ergeben sich erst, wie im obigen Abschnitt aufgezeigt, auf der Definitionsebene des Speichergedächtnisses. Vgl. A. Assmann (2009), S.133ff. 519 Ausführungen dazu im nächsten Abschnitt, siehe 5.1.2. 195 Wie eng diese Verbindung ist, zeigte sich nicht nur in verwandten Termini, wie beispielsweise in dem bei J. und A. Assmann verwendeten Begriff des >kulturellen Gedächtnisses<, sondern vor allem in den vorausgegangen Kulturbestimmungen, wie im Assmann’schen Begriff der >konnektiven Struktur einer Kultur< oder auch im Begriff >Kulturprogramm< bei Schmidt: Diese Definitionen520 bestimmen in ihrem Kern Vergangenheitsbezüge und Vergangenheitsrekonstruktionen in Form von Erinnerungen als zentrales Moment für kulturelle Ausprägungen und Prozesse je spezifischer Gegenwarten. Für den hier definierten Begriff des kollektiven Gedächtnisses wird in Anlehnung an J. Assmann und Schmidt folgender Zusammenhang mit dem Begriff Erinnerungskultur zugrunde gelegt: Mit dem kollektiven Gedächtnis, präziser – mit der spezifischen Ausprägung konkreter Funktionsgedächtnisse –, werden kulturelle Programme initiiert oder fortgeschrieben: Kulturelle Programme prägen als Erinnerungskultur Gegenwart und Zukunft von Gemeinschaften und ihren Mitgliedern. Gleichzeitig gestalten (einige521) Mitglieder einer solchen Gemeinschaft diese Erinnerungskultur durch die vorgenommenen Selektionen im Funktionsgedächtnis mit. Die Ausgestaltung von Erinnerungskulturen basiert neben den inhaltlichen Selektionen ihrer Mitglieder zudem wesentlich auf den zugrunde liegenden technologischen Bedingungen. >Inhalt< und >Technik<, die beiden Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses, sind daher gleichermassen die Ausprägungsinstanzen für spezifische Erinnerungskulturen. Das kollektive Gedächtnis ist in diesem Sinne das (konzeptionelle) Mittel für Beschreibungen von Mechanismen und Ausprägungen kultureller Erinnerungsprogramme. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur bilden so ein sich gegenseitig bedingendes Begriffspaar, in dem >kollektives Gedächtnis< vor allem für besagte Mechanismen, Ausprägungsbedingungen und -inhalte steht und >Erinnerungskultur< für den Prozess und damit für die Herausbildung und Fortschreibung 520 Zur Definition konnektiver Strukturen von Kulturen vgl. J. Assmann (2000), S.16 sowie die Ausführungen in Abschnitt 4.1.1.; zur weiteren Beschreibung des Begriffes >Kulturprogramm< (Kulturprogramm als Ausdruck für die Durchsetzung von kollektiven Wirklichkeitsmodellen mittels kognitiver und kommunikativer Sinnstrukturen) vgl. Schmidt (2000), S.34ff. sowie die Ausführungen in Abschnitt 2.3. 521 Die Partizipationsmöglichkeiten sind wiederum abhängig vom kulturellen Programm sowie den technologischen Bedingungen dieses Programms. 196 erinnerungskultureller und funktionaler Aspekte.522 Kollektives Gedächtnis, im Begriff der Erinnerungskultur gefasst, weist bisweilen eine höhere Anschlussfähigkeit für kulturelle und gesellschaftliche Zustandsbeschreibungen auf. Die terminologische Überschneidung ist wiederum Ausdruck für die starke Interdependenz zwischen Gedächtnis und Kultur und damit Betonung für die Tatsache, dass Vergangenheitskonstruktionen wesentlich sind für kulturelle Ausprägungen der Gegenwart. Wesentliche Konsequenzen der Transformationen für Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses der Gegenwart Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen strukturellen und inhaltlichen Anpassungen des Modells sollen nun die Konsequenzen für die Ausprägungen kollektiver Gedächtnisse in der Gegenwart näher beleuchtet werden. Dafür müssen die spezifischen technischen Eigenschaften dieser Gegenwart, d.h. die aktuellen Ausprägungen der Dimension >Technik< berücksichtigt werden und ihre Auswirkungen auf erinnerungskulturelle Prozesse und damit auf die Dimension >Inhalt< aufgezeigt werden. Denn der Logik des hier vorgestellten Modells folgend, haben Änderungen in den Speichertechnologien und damit verbundene Übertragungen von Erinnerungsinhalten in neue technische Formen Einfluss auf den Inhalt selbst: Technischer Transit und Speichermöglichkeiten der Dimension >Technik< schreiben sich in die Dimension >Inhalt< ein. Was das konkret für die Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses in der Gegenwart bedeutet, soll im Folgenden näher erläutert und beispielhaft unterfüttert werden. Da diese technische Gegenwart wesentlich bestimmt wird durch den Übergang von analog zu digital operierenden Gedächtnismedien, sollen zum einem die Konsequenzen aus diesem Übergang beschrieben werden. Zum anderen soll präzise auf die zu 522 Zuordnungskriterien in Anlehnung an Berek: „Die Frage, ob Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis gleichgesetzt werden können, soll hier parallel zur Scheidung von Erinnerung und Gedächtnis beantwortet werden, indem sie als verschiedene Aspekte desselben Zusammenhangs begriffen werden. Der Begriff kollektives Gedächtnis legt dabei den Schwerpunkt auf die Inhalte des gemeinsam Erinnerten und auf den gegenwärtigen Zustand der Summe all dieser Erinnerungen, während Erinnerungskultur den Fokus auf die Prozesse richtet: die Strukturen, Funktionen und Abhängigkeiten kollektiven Erinnerns.“ (Berek 2009: S.39). 197 unterscheidenden Hard- und Software-Implikationen digitaler Technologien eingegangen werden. Die in Abschnitt 3.2 herausgearbeiteten Eigenschaften hypomnétischer Gegenwart dienen hierfür als Grundlage.523 Die Analyse startet mit der übergeordneten Betrachtung analog-digitaler Übergänge: Zu den wesentlichen Konsequenzen dieser Übergänge auf die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses gehören prozessuale Änderungen (1) sowie Änderungen in den Verantwortlichkeiten (2): (1) Das Zusammenspiel zwischen analoger und digitaler Basistechnologie birgt zunehmende Abhängigkeiten von Übertragungsprozessen und Übersetzungsinstanzen. Diese Übersetzungen524, so wurde in Abschnitt 3.2 herausgearbeitet, sind gekennzeichnet durch Gewinne und Verluste. Analog-digitale Übersetzungsgewinne sind vor allem technische Stabilisierungen und gesteigerte technische >Potenzen< durch das Vorhandensein analoger und digitaler Speichertechnologien und den darin enthaltenen, vielfältigen Möglichkeiten. Übersetzungsverluste zeigen sich demgegenüber in der hypomnétischen Gegenwart als Einbussen von Informationen im Übertragungsprozess bei der Umstellung auf wert- und zeitdiskrete Datenspeicherung. Verluste durch den Wegfall von >Umgebungsinformationen< des analogen Trägermaterials wie etwa bei der Digitalisierung von Buchtexten, Einbussen in den Erinnerungsinhalten in Form von Authentizitätsverlusten durch Rauschminimierung oder Nachbearbeitungen im Digitalen wurden in Abschnitt 3.2.1 hierfür als Beispiele genannt.525 Bei derartig signifikanten Übersetzungsgewinnen und -verlusten erlangt der dahinterstehende Übersetzungsprozess an Bedeutung: Übersetzungen sind als signifikanter Bestandteil des >Speicherprozesses< neben den zur Verfügung stehenden Speichertechnologien ein zentraler Aspekt in der technischen Dimension des kollektiven Gedächtnisses. Hardware- und softwareseitige Übersetzungen als technisch-prozessuale 523 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.3.(Zunehmende Kompetenzverschiebungen und das Aufkommen technischer Parallelwelten, komplexe technische Selektionen, Änderungen in der technischen Performanz und den Partizipationsmöglichkeiten sowie die Ausprägung nicht-hierarchischer und nicht-linearer Strukturen skizzieren zusammenfassend diese technischen Eigenschaften der Gegenwart.). 524 Übertragungsprozesse und Übersetzungsinstanzen werden im Folgenden unter dem Stichwort >Übersetzungen< zusammengefasst. 525 Vgl. auch Ernst (2007), S.306. 198 Grundlage für erinnerungskulturelle Programme können auf diese Weise als dominante Kulturtechnik (der Gegenwart) betrachtet werden.526 (2) Übersetzungsverluste zeigen sich auch noch auf einer anderen Ebene: Hypomnésis der Gegenwart, so wurde weiterhin in Abschnitt 3.2.1 dargelegt, operiert in Teilen auch unter Ausschluss des Subjekts, womit Änderungen in den Verantwortlichkeiten angezeigt sind: Dort wo Technik unter Ausschluss des Menschen wirkt, werden Inhaltskonfigurationen des kollektiven Gedächtnisses eben auch technisch generiert. Die von Stiegler postulierten Kompetenzverschiebungen vom >Wer< zum >Was<527 werden im Modell des kollektiven Gedächtnisses dann als technisch konfigurierte und modifizierte Erinnerungsinhalte sichtbar. Für A. Assmann bedeutete das den Rückzug des kulturellen Gedächtnisses „aus menschlicher Wartung und Betreuung“ (A. Assmann 2009: S.355). An dieser Stelle soll eine solche Kompetenzverschiebung bzw. erweiterung zunächst nur die zusätzlichen Möglichkeiten zur technisch bedingten Erzeugung von Erinnerungsinhalten aufzeigen. Im Sinne Simondons verlagert der Mensch Teile inhaltlicher Kompetenzen, um als Steuermann im technischen Ensemble seine Verantwortung wahrnehmen zu können.528 Erste technische Implikationen aus den analog-digitalen Übergängen auf die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses zeigen sich demzufolge als Informationsverluste, als Kompetenzverschiebungen bzw. -erweiterungen in Richtung technisch generierter Inhaltskonfigurationen sowie als mögliche Stabilisierungen und damit Bewahrung von Erinnerungsinhalten durch Speichermöglichkeiten in analoger und digitaler Technik. In einem zweiten Schritt sollen weitere Auswirkungen, nun differenziert in Hard- und Software-Implikationen des Digitalgedächtnisses, aufgezeigt werden: Spezifische Einflüsse digital operierender Hardware auf die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses der Gegenwart möchte ich anhand von drei Aspekten darlegen. Der erste Aspekt bezieht sich auf den bereits angesprochenen Akt der Übersetzung und d.h. in diesem Zusammenhang auf Implikationen durch mehrstufige, komplexe Hardware-Transaktionen. Sie setzen auf zwei Ebenen an: Notwendige Transaktionen zwischen verschiedenen Formen von Speicherhardware aufgrund sinkender Lebensdauer 526 Vgl. Machos Definition für Kulturtechnik: Macho (2008), S.99f. Stiegler (2009c), S.176. 528 Simondon (2012), S.72. 527 199 digital operierender Gedächtnisträger sowie Transaktionen zwischen Speicher- und Lesehardware, um die gespeicherten Erinnerungsinhalte nicht nur bewahren, sondern auch (dauerhaft) für erinnerungskulturelle Prozesse zur Verfügung zu stellen. Mit diesen Hardware-Transaktionen sind neben den bereits beschriebenen Gewinnen und Verlusten in analog-digitalen Übersetzungen weitere transaktionale Übersetzungsverluste im Digitalen verbunden. Übersetzungsverluste zeigen sich hier zum einen durch Nicht- oder fehlerhafte technische Übersetzungen von einem digitalen Speichermedium auf ein anderes. Mechanische Beschädigungen des Speichermediums oder nicht vollständige Datenübertragungen sind Beispiele für solche Fehlerquellen. Im zweiten Fall sind die technischen Übersetzungen zwischen den Speichermedien geglückt, allein es fehlt die dazu notwendige Lesehardware, um auf darin gespeicherte Inhalte zugreifen zu können.529 Beispielhaft wurden hierfür mittlerweile weitläufig fehlende Diskettenlaufwerke genannt und damit die Konsequenz, auf diskettengespeicherte Informationen nur noch schwer zugreifen zu können. Dieses Problem wird sich mit neuen Speicherformaten und daran gekoppelten Lesegeräten jenseits von CD-, DVDAuslesegeräten etc. zukünftig verschärfen. Aus diesen Transaktionsverlusten digitaler Speicher- und Lesehardware resultieren daher weitere Mengenverluste in den Inhalten des kollektiven Gedächtnisses: Angestrebte Persistenz kulturellen Sinns kann aufgrund der Eigenschaften gegenwärtiger Speichermedien nur mit den Mitteln stetiger Migration, d.h. mit permanenter Übersetzung sichergestellt werden, mit der Konsequenz möglicher Verluste in den Inhalten des kollektiven Gedächtnisses. Derartig komplexe Transaktionsmechanismen haben Einfluss auf die Selektionsmechanismen, womit der zweite Aspekt hardwareseitiger Implikationen auf die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses angezeigt wird: Änderungen in den Selektionsmechanismen durch Änderungen der Hardware-Performanz. Diese Änderungen, so wurde in Abschnitt 3.2.2 beschrieben, äussern sich zum einen in erhöhten Speicherkapazitäten und damit in einem massiven Anwachsen des Speichergedächtnisses. Inhaltliche Selektionen auf der Ebene des Speichergedächtnisses aufgrund begrenzter Speicherkapazitäten sind demnach weniger zwingend im Vergleich zu vorangegangenen Medienepochen. Der gegenläufige Effekt zeigt sich in den transaktionalen Übersetzungs- 529 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2.2. 200 verlusten und den damit verbundenen technisch bedingten Selektionen. Selektionsmechanismen der hypomnétischen Gegenwart sind daher bidirektional: Auf der einen Seite gibt es zunehmende, oftmals unbewusst stattfindende, technische Selektionen, hervorgerufen durch notwendige Hardware-Transaktionen. Auf der anderen Seite verringert sich der inhaltliche Selektionszwang auf der Ebene des Speichergedächtnisses aufgrund radikal gestiegener Speicherkapazitäten. Die im Zusammenspiel von analoger und digitaler Technik bereits aufgezeigte Kompetenzverschiebung hin zum Technischen spiegelt sich in diesen bidirektionalen Selektionsmechanismen wider. Ein dritter Aspekt wird in neuen Formen der Prägnanzbildung und damit verbundenen De- und Rekontextualisierungen von Erinnerungsinhalten sichtbar. Unter symbolischer Prägnanzbildung wurden von Cassirer diejenigen Prozesse verstanden, in denen Wahrnehmungserlebnisse im Moment der Wahrnehmung sogleich mit Sinnhaftigkeit versehen und dadurch in eine konkrete Darstellung gefasst werden.530 Prägnanzbildungen können daher als sinnhafte Formgebungen von Wahrnehmungen verstanden werden, die in der Folge Austausch von Sinn und damit auch von Erinnerungsinhalten ermöglichen. Derartige Prägnanzbildungen treten dann, darauf hat Berek aufmerksam gemacht531, sowohl bei der initialen Speicherung potentieller Erinnerungsinhalte auf532 als auch bei der nachfolgend stattfindenden Rezeption dieser speichertechnisch fixierten Erinnerungsinhalte. Folgt man dieser Einschätzung, gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass auch die Formen der Prägnanzbildung den Änderungen in den Eigenschaften der Gedächtnismedien unterliegen. In Bezug auf digitale Speicherhardware werden Änderungen in der Prägnanzbildung einerseits durch die Art der technischen Speicherung hervorgerufen: Wert- und zeitdiskrete Speicherungen im Digitalen resultieren in schlichtweg nicht darstellbaren Anteilen initialer Wahrnehmungen. Denn Speicherungen im binären System stehen nicht nur für eine hohe Datenexaktheit und Verarbeitungseffizienz, sondern auch für wahrnehmungsoptimierte Speicherungen, die zwangsläufig mit Auslassungen arbeiten. Nachträgliches >Herausrechnen< unerwünschter Informationen verschärft die Diskrepanz zwischen dem Informationsgehalt der initialen Wahrnehmung und der speichertechnisch fixierten, geformten 530 Cassirer (2010), S.231. Berek (2009), S.91. 532 Als initiale Formgebung mittels technischer Speicherung. 531 201 Wahrnehmung. Änderungen in der Prägnanzbildung sind an dieser Stelle also zunächst speichertechnisch bedingte Wahrnehmungsverluste. Gleichzeitig ermöglicht digitale Speicherhardware anderseits auch Erweiterungen in den Formen der Prägnanzbildung: Speicherungen von Schreibsignalen sowie akustischen und optischen Informationen führen zu einer darstellbaren und damit speicherfähigen Wahrnehmungsbreite, wie sie erst in der Hypersphäre möglich ist. Die umfassende, technisch ausgefeilte Fixierung und Verwebung von Texten, Bildern und Tönen in einem Speichermedium, wie sie im Zusammenspiel mit digitaler Software beispielsweise in Hypermedia-Dokumenten sichtbar wird, bietet bisher noch nie dagewesene Formungsbzw. Darstellungsmöglichkeiten von Wahrnehmungen. Neben diesen Änderungen kann noch eine weitere Entwicklung in den Formen der Prägnanzbildung festgestellt werden: Wahrnehmungserlebnisse sind heute kein menschliches Monopol mehr – auch Technik, ausgerüstet mit Sensoren, ist in der Lage, Wahrnehmungen zu generieren und damit in den Speicherprozess einzuführen. Formen der Prägnanzbildung unterliegen demnach nicht nur Änderungen in den Eigenschaften der Gedächtnismedien, sondern bereits Änderungen in der Generierung der Wahrnehmungserlebnisse selbst. In der hypomnétischen Gegenwart ist Technik demnach wahrnehmungsfähig geworden. Prägnanzbildung, und d.h. Formung und sinnhafte Darstellung dieser Wahrnehmung, ist dann Aufgabe des zugrundeliegenden Algorithmus. Computerbasierte Bildund Umgebungserkennungen sowie deren Verarbeitungen sind ein Beispiel für technische Wahrnehmungen. Ein Hierarchieverhältnis der Art >Mensch über Technik< für wahrnehmungsbedingte Informationsgewinnung wird hiermit aufgehoben. Das hat Folgen auf die Funktionen des kollektiven Gedächtnisses, die in Abschnitt 5.1.2 noch näher erläutert werden. Mit den auf Basis von Prägnanzbildungen geformten und austauschbaren Erinnerungsinhalten verbunden sind auch Prozesse der De- und Rekontextualisierung. Die Eigenschaften digitaler Speicherhardware und mit ihr verbundener (Netz-)Infrastruktur überwinden lokale Zugriffs- und Partizipationsmöglichkeiten. Inhalte können so relativ einfach aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgegriffen und in andere Kontexte eingearbeitet werden. Sich verstärkende Dynamiken innerhalb und zwischen spezifischen Funktionsgedächtnissen des kollektiven Gedächtnisses sind die Folge. 202 Komplementiert werden diese hardwareseitigen Implikationen digitaler Speichermedien durch jene digital operierender Software. Ihre Einflüsse auf die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses sollen anhand von drei Punkten näher erläutert werden. Der erste Punkt rückt wiederum die für das kollektive Gedächtnis signifikante Kulturtechnik >Übersetzen< in den Fokus: Analog zu den hardwareseitigen Transaktionen zeigen sich Einflüsse auf Erinnerungsinhalte hier durch mehrstufige, komplexe softwareseitige Translationen, die gleichermassen mit Verlusten verbunden sind. Verluste von Erinnerungsinhalten resultieren an dieser Stelle aus dem Fehlen von (historischen) Compilern und Interpretern, mit denen auch Programme der Vergangenheit übersetzt und damit Anschlussfähigkeit für die darin enthaltenen Erinnerungsinhalte potentiell gewährleistet werden können.533 Die Ausführungen in Abschnitt 3.2.3 zeigten zudem, dass mit den Programmen der Gegenwart und ihren zugrundeliegenden Programmiersprachen neue Grammatisierungsregeln und d.h. neue Formalisierungsregeln des kollektiven Gedächtnisses in Kraft treten. Sie basieren auf neuen Software-Eigenschaften und machen ihre Einflüsse auf die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses – als zweiten hier zu nennenden Punkt – sowohl auf der Ebene der Programme und ihrer Programmiersprachen als auch auf der Ebene der darauf basierenden Textstrukturen geltend. Auf der Ebene der Programme und Programmiersprachen zeigen sich die Implikationen auf die Erinnerungsinhalte als weiterer Katalysator für sich verschärfende Dynamiken des kollektiven Gedächtnisses sowie als konsequente Umstellung auf multimediale Inhalte dieses Gedächtnisses: Zum einen verstärken die aufgezeigte hohe Sprachflexibilität und Sprachfluktuation der künstlichen Programmiersprachen die dynamischen Prozesse des kollektiven Gedächtnisses. Zum anderen stellen Programme und Programmiersprachen zusammen mit der dafür notwendigen Hardware das Digitalgedächtnis konsequent von Monomedialität auf Multimedialität um – das Monopol der Schrift wird nun endgültig zugunsten der Verbundmedien aufgehoben und damit die beschriebenen Änderungen in den Formen der Prägnanzbildung auch softwareseitig unterstützt. Auf der zweiten Ebene, der Ebene der Textstrukturen, zeigen sich die Implikationen auf die Erinnerungsinhalte des kollektiven Gedächtnisses vor allem als Abnahme stabiler Textstrukturen sowie als erhöhte Anschlussfähigkeit und Reflexivität: 533 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2.3. 203 Hypertexte umgehen zu Teilen die beispielsweise von Barthes formulierten Verfestigungen von Sprache in der Schrift bzw. in den Texten.534 Hypertexte bieten als offene Textstrukturen multioptionale Textrealisierungen in Form von Hyperdokumenten an. Der jeweils beschrittene Textpfad und der daraus resultierende Textinhalt zeigen sich ausschliesslich im Moment der Beschreitung und sind, sofern sie als solche nicht gespeichert werden, im Nachgang nicht mehr verfügbar. Hypertexte stellen daher diesen Teil der Inhalte des kollektiven Gedächtnisses von stabil und dauerhaft auf temporär und flüchtig um, womit sich die Herausforderungen angestrebter hardwareseitiger Permanenz von Erinnerungsinhalten im digitalen Speichergedächtnis auch auf der Softwareseite widerspiegeln. Gleichzeitig führen derart offen agierende Textstrukturen zu einer Steigerung von Anschlussfähigkeit: Je nach Pfadbeschreitung ergeben sich andere Möglichkeiten der Sinnerzeugung und damit andere Möglichkeiten zur Generierung potentieller Erinnerungsinhalte, die sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Seite des Gedächtnisses wirken. Das von J. Assmann formulierte Prinzip der Hypolepse, d.h. das Aufsetzen auf bereits Vorhandenem und damit die Fortführung bestehender Kommunikation, wird mit Hypertexten nun bereits auf der technischen Ebene umgesetzt.535 Mit einer vollzogenen Realisierung des Hypertextes verweist das so entstehende Hyperdokument gleichzeitig auf den Fakt, dass auch andere Ausprägungen möglich gewesen wären. Erhöhte Reflexivität in den Inhalten des kollektiven Gedächtnisses spiegelt sich daher nicht zuletzt in den Strukturen der Hypertexte. Diese neuen Software-Eigenschaften zeigen ihre Einflüsse weiterhin – und das ist der dritte hier zu nennende Punkt – in den Partizipationsmöglichkeiten des kollektiven Gedächtnisses. Auch hier sind bidirektionale Entwicklungen festzustellen: Auf der einen Seite führen hoher Analphabetismus im Bereich der Programmiersprachen zu der Herausbildung neuer Schreibeliten an den Grundlagen der Software und damit zu 534 Vgl. Barthes: „Die Schrift übernimmt die Funktion, Sprachreserven zu bilden; diese Reserven sind zwangsläufig mit einer gewissen Verfestigung der sprachlichen Kommunikation verknüpft […]: Die Schrift erzeugt Schreibweisen oder, wenn man lieber will, »Literaturen«, und vermittels dieser Schreibweisen oder Literaturen münzt die Massengesellschaft ihre Wirklichkeit in Institutionen, Praktiken, Objekte und sogar in Ereignisse um, da das Ereignis nunmehr immer geschrieben ist. Mit anderen Worten gibt es immer einen Moment, in dem die Massengesellschaft eine Strukturierung des Wirklichen über die Sprache vornimmt, da sie nicht nur »schreibt«, was andere Gesellschaften »sprechen« (Erzählungen), sondern auch, was sie bloß herstellt (Werkzeuge) oder »ausagiert« (Riten, Bräuche).“ (Barthes 1988: S.172). 535 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.2. 204 einschränkenden Partizipationsmöglichkeiten auf Produzentenebene. Auf der anderen Seite werden die Partizipationsmöglichkeiten auf der Software-Anwenderseite erweitert – offene Textstrukturen, die Überwindung linearer und hierarchischer Textstrukturen ermöglichen eine weite Teilhabe sowohl am Schreiben der Erinnerungsinhalte als auch an der Strukturierung und damit verbunden der Selektion der Erinnerungsinhalte. Die Freiheitsgrade in der Ausgestaltung und Partizipation am Digitalgedächtnis haben sich erhöht. Vor dem Hintergrund dieser hard- und softwareseitigen Implikationen lassen sich zusammenfassend folgende zentrale Aspekte für kollektive Gedächtnisse der Gegenwart formulieren: 536 Mehrstufiges Schnittstellenmodell und Schnittstellendefekte des kollektiven Gedächtnisses: Das kollektive Gedächtnis wird geprägt durch eine Vielzahl an inter- und in-tradimensionalen Schnittstellen. Intradimensionale Schnittstellen wirken insbesondere in der technischen Dimension. Sie zeigen sich dort als mehrstufiges Transfermodell: als Übersetzungen zwischen dem Analog- und Digitalgedächtnis, als Übersetzungen zwischen Hard- und Software sowie als Übersetzungen innerhalb von Hard- und Software. An diese intradimensionalen Schnittstellen knüpft die interdimensionale Schnittstelle (zwischen den Dimensionen >Technik< und >Inhalt<) an: Gebunden an die technischen Übersetzungsfähigkeiten können nun Erinnerungsinhalte zur Herausbildung kollektiver Erinnerungskulturen und ihren Prozessen der Identitätsstiftung, Handlungsorientierung etc. generiert und fortgeschrieben werden. Im Sinne Simondons werden damit reine Aufzeichnungsmaschinen an menschliche und damit auch an das kollektive, erinnerungsfähige Formen beinhaltende Gedächtnis gekoppelt.536 Diese vielfältigen Schnittstellen bedingen komplexe, mehrstufige Selektionen. Sie zeigen sich als den Sinn bestimmende, aber ausschliesslich im technischen Hintergrund operierende Selektionen sowie als vordergründig inhaltliche Selektionen. Schnittstellen bestimmen so in den unbewussten und bewussten Prozessen der Erinnerungskultur die Ausprägung kollektiver Funktionsgedächtnisse. In einem derartig Simondon (2012) S.112, S.114f. 205 durch Schnittstellen geprägten Modell wirken auch die zwischen ihnen auftretenden Übersetzungsfehler: Schnittstellen schreiben als Schnittstellendefekte Erinnerungskultur massgeblich mit. Analog zu ihren Verortungen treten sie dabei sowohl als technische als auch als menschliche Schnittstellendefekte auf.537 Kollektives Gedächtnis als permanent oszillierendes Gedächtnis innerhalb und zwischen den Dimensionen: Inter- und intradimensionale Übersetzungen führen zu einem stetigen Austausch: Innerhalb der technischen Dimension bilden dabei das beschriebene Analog- und Digitalgedächtnis die beiden Grundausprägungen des kollektiven Gedächtnisses. Oszillationen zwischen diesen Grundausprägungen sind konstitutiv für das kollektive Gedächtnis der Gegenwart. Gerade in Bezug auf die gezeigten transienten Eigenschaften des Digitalgedächtnisses und seiner Implikationen auf die inhaltlichen Ausprägungen stellen neben den beschriebenen digital-digital-Übersetzungen die digital-analog-Übersetzungen Möglichkeiten für längerfristige, sich wechselseitig stabilisierende Speichergedächtnisse dar. Derlei Austausche zwischen Analog- und Digitalgedächtnis führen zu einem „sich gegenseitig infiltrierende[n]“ (Ernst 2007: S.267f.) Gedächtnis. Materiell und immateriell vorliegende Informationen im Analog- und Digitalgedächtnis beleuchten ihre Inhalte aus verschiedenen Perspektiven, verweisen aufeinander und bestimmen sich ggf. gegenseitig. Innerhalb der Dimension >Inhalt< bestimmen die Oszillationen zwischen potentiellen und realisierten Erinnerungsinhalten die je spezifischen Funktionsgedächtnisse. Oszillation steht hier für gesellschaftliche Verhandlungen über inhaltliche Selektionen sowie für gesteigerte Formen von Reflexivität kollektiver Gedächtnisse. Steigende Komplexität und Performanz des kollektiven Gedächtnisses: Kollektives Gedächtnis auf Basis mehrstufiger Schnittstellen und Oszillationen weist eine hohe strukturelle und inhaltliche Komplexität auf. Steigende Komplexität wirft Fragen nach dem Aufwand auf und stellt damit zum einen 537 Nach Völz sind ca. 50% der Datenverluste bzw. Übertragungsfehler durch den Menschen verursacht. (vgl. Völz (2007b), S.460); Vgl. auch Ernst (2007), S.277. 206 aufwandsbasierte Funktionen einer Gesellschaft in den Vordergrund: Aufwand als zentrale Grösse des Wirtschaftssystems fragt dann auch simultan nach den zu erzielenden Erträgen und rückt damit kollektives Gedächtnis insgesamt in einen funktionalen Betrachtungshorizont. Gedächtnis und Fragen der Wirtschaftlichkeit setzen damit in der Gegenwart ihre lange Beziehung fort, gehen aber – ähnlich den technischen Ausprägungen der Gegenwart – deutlich explizitere Verbindungen ein. Wirtschaftliche Funktionalisierung von Programmiersprachen und Programmen und damit die Kopplung von Gedächtnissoftware an (individuelle) Kaufkraft stellten hierfür ein Beispiel dar.538 Zum anderen erhöhen derartige Komplexitätssteigerungen auch die Anforderungen an den Umgang mit dem kollektiven Gedächtnis und im Speziellen an die Ausprägung spezifischer Funktionsgedächtnisse. Höhere Anforderungen an die Performanz der Akteure in der technischen und inhaltlichen Dimension ist die Konsequenz. 538 539 Erweiterung des kollektiven Gedächtnisses von statischen auf dynamische Beschreibungselemente: Permanente hard- und softwareseitige Übersetzungen in und zwischen den beiden Basistechnologien mit zunehmend dynamischen Prozessen auf der Inhaltsebene (De- und Rekontextualisierungen etc.) führen insgesamt zu einem deutlich dynamischeren System. Zunehmende Dynamik soll hier aber nicht für eine prinzipielle Umstellung von statisch auf dynamisch stehen, sondern vielmehr eine Entwicklungsrichtung anzeigen, die weiterhin und notwendigerweise statische Elemente beinhaltet: Dynamische Prozesse zur Ausgestaltung, Fortschreibung und Erneuerung von Erinnerungskultur brauchen gleichermassen stabilisierende Faktoren, um als Erinnerungskultur bestehen zu können.539 Stabilisierende Faktoren des kollektiven Gedächtnisses setzen dabei sowohl auf der technischen – beispielsweise in Form analoger Materialisationen digitaler Speicherinhalte – als auch auf der inhaltlichen Dimension – beispielsweise in Form verbindlicher Selektionen – an. Sie werden für ein kollektives Gedächtnis umso wichtiger, je stärker ihre >dynamischen Gegenspieler< auf das System einwirken. Vom Vgl. Ausführungen in Kapitel 3. Fraas (2004). S.26. 207 ursprünglichen Streben nach Stabilität540 und damit auf eine Fokussierung auf statische Modelle kollektiver Erinnerung muss jedoch Abstand genommen werden. Beide Elemente – statische und dynamische – sind daher konstitutiv für kulturelle Modelle, wie die des kollektiven Gedächtnisses.541 5.1.2 Funktionale Implikationen An solcherlei Transfergeschäfte gebunden, stellt sich die Frage nach möglichen Implikationen für die Funktionen des kollektiven Gedächtnisses in der hypomnétischen Gegenwart. Die Analyse allfälliger Auswirkungen orientiert sich dabei entlang der im Kapitel >anamnésis< (Abschnitt 4.1.3) vorgestellten Funktionen, wie sie anhand des Assmann’schen Modells herausgearbeitet werden konnten. Die dort aufgezeigten Funktionen, Generierung von Raum- und Zeitvorstellungen, (De-)Legitimierung (von Institutionen, Macht etc.), Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-) Handlungen sowie individuelle und kollektive Identitätskonstruktionen, dienen als strukturelle und inhaltliche Grundlage für die nachfolgende Betrachtung. Die folgende Untersuchung fokussiert dabei auf prinzipielle funktionale Änderungen. D.h., sie versucht die grundsätzlichen Funktionsausprägungen herauszuarbeiten, ohne dabei detaillierte wissenschafts-historische Analysen und Zustandsbeschreibungen für die Einzelfunktionen vorzunehmen.542 540 Vgl. Stieglers Ausführungen zur nach Stabilität trachtenden Philosophie der Griechen: (2009a), S.42. Für Lotman und Uspenskij steht das Zusammenspiel statischer und dynamischer Elemente für den Hauptmechanismus einer Kultur: „Das Bedürfnis nach ständiger Selbsterneuerung, das Bedürfnis, sich selbst identisch zu bleiben und gleichzeitig etwas anderes zu werden, stellt einen der Hauptmechanismen der Kultur dar. Die wechselseitige Spannung zwischen diesen Tendenzen macht die Kultur zu einem Objekt, für das ein statisches Modell wie ein dynamisches Modell in gleicher Weise gerechtfertigt ist. Beide sind gleichzeitig auch Ausgangsaxiome für ihre Beschreibung.“ (Lotman; Uspenskij 1986: S.872). 542 Das ist Gegenstand der jeweiligen Wissenschaftsdiskurse. 541 208 Generierung von Raum- und Zeitvorstellungen J. und A. Assmann haben aufgezeigt, wie mittels der im kollektiven Gedächtnis rekonstruierten Vergangenheitsbezüge sowohl zeitliche als auch räumliche Vorstellungen generiert werden, die unsere Orientierung in der Gegenwart bestimmen. Die konkreten und je spezifischen Raum- und Zeitvorstellungen basieren dabei wesentlich auf den technologischen Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses.543 Es gilt demnach der Frage nachzugehen, auf welche Weise Zeit- und Raumvorstellungen kollektiver Gedächtnisse unter technischen Bedingungen der Gegenwart geprägt werden. Die folgende Untersuchung betrachtet zunächst Zeit- und Raumvorstellungen getrennt voneinander, um anschliessend eine zusammenfassende Bewertung zu möglichen Änderungen in der hypomnétischen Gegenwart abzugeben. Funktionalen Änderungen des kollektiven Gedächtnisses in Bezug auf generierte Zeitvorstellungen nachzugehen, bedeutet dann vor allem, sich mit den „komplexen Zeitstrukturen, die der Technik innewohnen“ (Hayles 2011: S.199) zu beschäftigen. Diese Beschäftigung erfolgt entlang der bereits von J. Assmann vorgenommenen Unterscheidung zwischen Zeitvorstellungen auf diachroner und auf synchroner Ebene.544 Für die diachrone Ebene möchte ich zwei Aspekte aufzeigen, die in besonderem Masse Wirkung auf die Ausprägung von Zeitvorstellungen entfalten: Der erste Aspekt meint die beschriebenen Übersetzungen in den hardwareseitigen Transaktionen und softwareseitigen Translationen innerhalb sowie zwischen den analog und digital operierenden Gedächtnismedien. Diese Übersetzungen haben Auswirkungen auf die Zeitvorstellungen durch neuartige Möglichkeiten der Entkopplung des Zeitindexes von der Gedächtnishardware (1) sowie durch weitere Entkopplungen der Erinnerungsinhalte von ihrer initialen Rezeption (2). (1) Wie aufgezeigt wurde, sind analog-digitale Übersetzungen an eine Reihe von Verlusten gebunden. Dazu gehörte u.a. der Verlust des analogen Trägermaterials und der 543 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3 (Die technologische Abhängigkeit der Ausprägung von Zeit- und Raumvorstellungen hat J. Assmann beispielsweise am Übergang von ritueller zu textueller Kohärenz gezeigt: Erst mit Einführung der Schriftkultur kann mittels entstehender intertextueller Bezüge ein historischer Sinn und eine nicht-ontische Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart herausgebildet werden.). 544 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3; u.a. auch J. Assmann (2000), S.57f. 209 darin enthaltenen >Umgebungsinformationen<: Denn analoge und d.h. materiell gebundene Erinnerungsinhalte entziehen sich mit ihrer Digitalisierung diesen physischen Grundlagen. Damit verbunden ist auch der Verlust des Zeitindexes des initialen Trägermaterials. Merkmale und Spuren eines Buches beispielsweise, die Aufschluss über zeitliche Aspekte des Inhaltes geben und damit zeitliche Verortungs- und Strukturierungsmöglichkeiten erlauben, gehen mit einer solchen Digitalisierung verloren. Solche Verluste kennen auch schon analog-analog Übersetzungen, beispielsweise in Form von Neuauflagen von Büchern, Fotografien von Architekturen etc. – auch hierdurch gehen im initialen Trägermaterial enthaltene Zeitinformationen verloren. Der Unterschied bei der Digitalisierung von Inhalten besteht jedoch darin, dass sie aufgrund ihrer vollkommenen Unabhängigkeit von einem Trägermaterial absolut von Zeitindexes entkoppelt werden können. Es findet keine Übertragung auf ein neues Trägermaterial wie in den analog-analog Übersetzungen statt, sondern eine vollständige Entbindung. Daraus resultieren nicht nur die Vernichtung sämtlicher Zeitindikatoren und Möglichkeiten der Rückverfolgung für zeitliche Verortungen, sondern auch neue Formen der Manipulation. Analog-digitale Übersetzungen sind damit auch immer Übersetzungen in andere Zeiten: Initiale, >analoge< Zeitindizes werden in >neue digitale Zeiten< überführt und damit insgesamt eine „Synthese verschiedener Zeiten in einer Zeit“ (Lyotard 1986: S.77) bzw. eine „Illusion der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Luhmann 1998: S.265) vorgenommen. Diese bei Lyotard benannte >eine Zeit< – die Digitalzeit – ist zunächst ohne konkreten >Zeitwert< für ihre Erinnerungsinhalte. Erst durch bewusste Akte der Zeitmarkierung (Datumsstempel, gespeicherte Abbildungen des analogen Trägermaterials etc.) wird ein informatorischer Zeitwert hinzugefügt. In analog-digitalen Übersetzungen wird also die >doppelte Zeit der Erinnerung<, bestehend aus dem Zeitindex der analogen Gedächtnishardware (dem Trägermaterial bzw. der >Umgebungsinformationen< aus diesem Trägermaterial) und dem Zeitindex des Erinnerungsinhaltes, umgewandelt in eine >einfache Zeit< des Erinnerungsinhaltes und die >Übersetzungszeit< von einem Speicher auf den nächsten. 210 (2) Analog-digitale Übersetzungen bedingen zudem eine Loslösung der Erinnerungsinhalte vom Zeitpunkt (und Ort) der initialen Rezeption545. Das ist prinzipiell nichts Neues – auch alle anderen, analog operierenden Gedächtnisspeicher jenseits der Hypersphäre ermöglichten bereits raum-zeitliche Entkopplungen von Inhalten aus ihren ursprünglichen Erinnerungskontexten. Digitale Übersetzungen potenzieren jedoch diese Möglichkeiten: Digitale Gedächtnishardware angeschlossen an Netzinfrastrukturen der Gegenwart entkoppelt weiträumiger und schneller – Erinnerungsinhalte werden >zeitautonomer< und steigern damit ihren Spielraum für Re- und Dekontextualisierungen oder führen mit Luhmanns Worten zu einer „gewaltigen Explosion von Anschlußmöglichkeiten“ (Luhmann 1998: S.266). Zeitautonomie heisst aber auch weniger Vorgaben für Zeitstrukturen und höhere Freiheitsgrade in der Verortung. Der zweite Aspekt mit Wirkung auf die Generierung von Zeitvorstellungen auf der diachronen Ebene beruht auf den nicht-linearen und nicht-hierarchischen Eigenschaften von Gedächtnismedien. Wie sich in Abschnitt 3.2 zeigte, werden mit den Eigenschaften von Hard- und Software der Gegenwart lineare und hierarchische Strukturen konkurrenziert und bisweilen überwunden. Derartige Strukturwandlungen haben auch Auswirkungen auf die Generierung von Zeitvorstellungen: Lineare und hierarchische Strukturen, auf konsequente Art und Weise im Schriftmonopol der Grafosphäre durchgesetzt, spiegeln sich in geradlinigen und fest strukturierten Zeitvorstellungen wider: Chronologie und darauf aufbauende Vorstellungen eines linearen Geschichtsund Fortschrittsdenkens sind das gesellschaftlich umfassend wirksame Ergebnis.546 545 U.a. Lyotard (1986), S.64; vgl. auch Lyotard: „Nach der Digitalisierung können [… die] Daten egal wo und wann synthetisiert werden, wodurch gleichartige akustische und chromatische Produkte (Simulakren) entstehen. Auf diese Weise werden sie vom Ort und Zeitpunkt ihrer „anfänglichen“ Rezeption unabhängig, aus räumlicher und zeitlicher Entfernung realisierbar, sagen wir: telegraphierbar gemacht. […] Die aktuelle Technologie, dieser spezifische Modus der Tele-Graphie, das Schreiben […] aus der Ferne, entfernt die nah zusammenliegenden Zusammenhänge, aus denen die verwurzelten Kulturen gewebt sind, voneinander. Auf diese Weise, durch die ihr eigene Einschreibungsweise, bringt sie in der Tat eine Art Speicherung hervor, die von den sogenannten unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Bedingungen losgelöst ist.“ (Lyotard 1986: S.64f.). 546 Der Zusammenhang zwischen analoger Schrifttechnik und Zeit(vorstellungen) ist Gegenstand vielfältiger Untersuchungen. Hier sei insbesondere auf Leroi-Gourhan, Debray und Bitsch mit ihren nachfolgenden Zitaten verwiesen: Leroi-Gourhan: "Im Stadium des linearen Graphismus, der für die Schrift charakteristisch ist, wandelt sich das Verhältnis beider Bereiche von neuem: phonetisiert und linear im Raum, ordnet sich die geschriebene Sprache vollständig der gesprochenen Sprache unter, die ihrerseits phonetisch und linear in der Zeit ist. Der Dualismus zwischen gesprochener Sprache und Graphismus verschwindet, und der Mensch verfügt über einen einheitlichen Sprachapparat, ein Instrument zum Ausdruck und zur Bewahrung des Denkens, das seinerseits mehr und mehr in der Vernunft kanalisiert wird.“ (Leroi-Gourhan1988: S.262) 211 Schrifttechnikbedingte, stetige, irreversible Zeitabfolgen der Art >Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft< eröffneten Möglichkeiten >objektiver< und distanzierter Rück- und Vorschauen, die in den vorgängig mündlich geprägten Gesellschaften in Ermangelung derartiger Techniken noch nicht umfassend ausgeprägt werden konnten.547 In den technischen Gegenwarten, d.h. in Zeiten kybernetischer Feedbackschleifen, Hypertexten, Zeitindexverschmelzungen und / oder -auflösungen durch hard- und softwareseitige Übersetzungen etc. tendieren nunmehr auch Zeitvorstellungen bzw. Verortungen zu nicht-linearen Strukturen. Ein chronologisches Verständnis im Sinne stetig voranschreitender Zeitvorstellungen wird dann erweitert und in Teilen abgelöst durch gleichermassen reversible, diskrete (d.h. nicht kontinuierliche) Zeitstrukturen. In Echtzeit begehbare Pfade in Hypertexten verdeutlichen diese neuen, nicht-linearen Strukturierungsformen: Hypertexte ermöglichen immer wieder andere, reversible Formen von Textrealisierungen, die vor- und rückwärts beschritten werden können, ohne dabei starre Textchronologien zu etablieren. Im Digitalgedächtnis der Gegen- Debray: „Die logische Maschine, die die Schrift ist, hat den Menschen verändert, mehr als sein Haben und sein Handeln, seine Kompetenzen und seine Träume. Sie hat seinen Raum durch eine erste Form von Telepräsenz revolutioniert - indem sie ihm erlaubte, von Botschaften Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu lassen, die von sich Tausende von Kilometern weit entfernt befindenden Menschen hervorgebracht wurden. Sie hat seine Zeit revolutioniert – die von für mündliche Zivilisationen typischen Schleifenmustern in eine lineare Progression übergegangen ist. Und das, weil es möglich wurde. einen festen Bezugspunkt im Zeitablauf zu fixieren, einen Strich zu ziehen, von dem aus man die Jahre, die Herrscher, die Zeitalter nummerieren, kurz: eine Chronologie aufstellen konnte.“ (Debray 2003: S.52f.) Bitsch: „Die "Linearität des Symbols" korreliert mit dem "traditionellen Begriff der Zeit", das heisst einer sich chronologisch von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft erstreckenden Zeit und damit mit einem Geschichtsdenken, das eine lineare und einsinnige Rekonstruierbarkeit des historischen Ablaufes unterstellt, des einen, einzigen und wahren historischen Ablaufs. […] Das traditionelle Zeitverständnis stellte sich Zeit stets als eine lineare, chronologische Reihe von Gegenwartsmomenten vor: Jeder Moment ist irgendwann einmal Gegenwart gewesen oder wird irgendwann einmal Gegenwart sein. Diachronie wird gedacht als Sequenzialisierung von Gegenwartsmomenten in der Zeit. Das lineare Zeitkonzept beglaubigt die Wahrheit, Faktizität und Authentiz[it]ät des Vergangenen, sei es im philosophischen Sinne von Logos und Urbild oder im mnemologisch-geschichtlichen Sinne des 'es-ist-so-gewesen', auf eine unhintergehbare und absolute Weise und konsolidiert, sofern es die Vernetzung einer finalen mit einer ursprünglichen Präsenz ermöglicht, den logozentrisch-ideengeschichtlichen Geschichtsbegriff ebenso wie die Teleologie und die Fortschrittsgeschichte, die das Urbild utopistisch-chiliastisch in eine kommende Zukunft investieren.“ (Bitsch 2009: S.2). 547 Goody; Watt, (1991), S.72f. (Goody und Watt zeigen zudem auf, dass im Gegensatz zu literalen Gesellschaften in nicht-lite-ralen Gemeinschaften Vergangenheitskonstruktionen und Gegenwart deutlich enger, weniger distanziert, gedacht und gelebt werden, Konstruktionen von Vergangenheit demnach stärker von Gegenwart bestimmt sind.). 212 wart entsteht auf diese Weise ein >synthetisierter Zeitraum<, in dem unterschiedlichste Zeitindizes miteinander verwoben werden können ohne zwangsläufig dabei wieder Chronologien zu generieren. D.h., die für die Grafosphäre und bis hinein in die Videosphäre reichenden, durch die Schrift geprägten, linearen Zeitvorstellungen werden umgestellt: Eine >einfache<, stabile Chronologie weicht zunehmend anderen Formen nicht-linearer Zeitlichkeit, wie sie beispielsweise auch in Latours Vorstellungen einer Spiralzeit548 angezeigt werden: Anordnungen von gleichzeitigen Elementen nicht mehr entlang einer Linie, sondern entlang einer Spirale lassen Zeitstrukturierungen in der Art Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weiterhin zu, eröffnen aber gleichzeitig polytemporelle Verortungen und Zusammenhänge549, wie sie am Beispiel von Hypertexten bereits aufgezeigt wurden. Derartige Veränderungen haben Folgen für zeitbasierte, gesellschaftliche Konstrukte, wie jene von >Geschichte<, >Fortschritt< und >Kontinuität<: Basierend auf stetigen, irreversiblen Abläufen stehen lineare Zeitstrukturen in diesen Konstrukten unter anderem für Stabilität und Kontinuität. „Diese wunderschöne Ordnung gerät durcheinander, […]. Statt eines schönen gleichmäßigen Stromes sieht man nun einen turbulenten Fluß mit Wirbeln und Stromschnellen.“ (Latour 2008: S.98). Diese >Flussturbulenzen< lassen lineare und stetige Vorstellungen in dynamische, mehrdimensionale, de-linearisierte Anschauungen übergleiten550. Damit nähern sich Zeitvorstellungen der Gegenwart wieder den Schleifenbewegungen nicht-literaler Gemeinschaften.551 Neben diesen, aus einer diachronen Perspektive betrachteten Änderungen zeigen gegenwärtiger Technik innewohnende Zeitstrukturen auch auf der synchronen Ebene neue Aspekte: Implikationen auf die Funktion >Generierung von Zeitvorstellungen< 548 Neue Vorstellungen, Bilder etc. für Zeitbeschreibungen im Digitalen der Hypersphäre werden vielerorts diskutiert. Ein anderes Bild, neben Latours Spiralzeit, liefert beispielsweise Ernst, in dem er von >n-dimensionaler cybertime< spricht. (Ernst 2007: S.276). 549 Latour (2008), S.101. 550 Derrida (1983), S.156; vgl. auch Derrida: „Diese Nacht hellt sich in dem Augenblick ein wenig auf, wo die Linearität – die nicht der Verlust noch die Abwesenheit, sondern die Verdrängung des mehrdimensionalen, symbolischen Denkens ist – ihre Unterdrückung lockert […].“ (Derrida 1983: S.153). 551 Ausdruck dieser Vorstellungen ist nicht zuletzt die häufige Verwendung solcher Zeitschleifen als Stilmittel in Science-Fiction-Filmen, beispielsweise in Form von Zeitmaschinen, wie z.B. in den Filmreihen „Zurück in die Zukunft“ oder „Terminator“. 213 werden hier sichtbar an der >Zeitarbeit< der technischen Objekte selbst und d.h. konkret: an den Möglichkeiten der Echtzeitübertragungen. Arbeiten mit Lichtgeschwindigkeiten ermöglicht das Überwinden vormals existierender und für das kollektive Gedächtnis relevanter Zeitbeschränkungen und damit verbundener Zeitdifferenzen. Übertragen mit Lichtgeschwindigkeit in Zusammenarbeit mit einer Netzinfrastruktur namens Internet führt dann zu zeitlich unbeschränkten, nahezu instantan zur Verfügung stehenden Zugriffsmöglichkeiten auf etwaige Erinnerungsinhalte. Die zweite Virilio’sche Revolution der Transmission ist hier verwirklicht und der Schritt in Richtung Transplantation bereits gemacht.552 Derartiges Schrumpfen der Zeiträume zeigt seine Wirkung auf die Zeitfunktion des kollektiven Gedächtnisses: Dort wo >ohne Zeit<, in jedem Moment vieles verfügbar ist, werden andere Erfahrungen in der Zeit möglich553 und schwindet damit die Vorstellungskraft kontinuierlicher Zeitabläufe und -differenzen. Die Synthese unterschiedlicher Zeiten in einer Digitalzeit kombiniert mit den >Nicht-Zeiträumen< der Übertragung mittels Lichtgeschwindigkeit bestärken nicht-chronologische Zeitstrukturierungen, deren Zeitdifferenzen digital operierender Hard- und Software dann weniger in >Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft< als vielmehr, so Bitsch, in >on< und >off< unterschieden werden können.554 Die weitreichende Umstellung von Kommunikation auf >on/off-Medien< in der Gegenwart ist ein wesentlicher Treiber für diese Entwicklung. Wenn synchronisierte, digitale Echtzeitverarbeitungen unterschiedlichster Zeiten in der Gegenwart zusammenlaufen und dort einen beständig grösser werdenden Optionenraum begehbarer >Echtzeitpfade< entstehen lassen, so tritt weiterhin „[a]n die Stelle archivischer Makrozeit […] eine dynamische Mikrozeit“ (Ernst 2007: S.268), die sich wesentlich von ihrem Vorgängermodell unterscheidet: Digitale Ausprägungsformen der technischen Dimension des kollektiven Gedächtnisses ermöglichen mit den aufgezeigten Mitteln der zeitlichen Entkopplung, der instantanen Zugriffsmöglichkeiten sowie diverser Zeitsynthesen auf der diachronen und synchronen Ebene neue Zeiterfahrungen und erfahrungsbedingte Vorstellungen, die in ihrem Kern als dynamisch, fragmentiert, delinearisiert und nicht-chronologisch bezeichnet werden können. 552 Virilio (1993), S.17. Stiegler (2009c), S.115. 554 Bitsch (2009), S.4. 553 214 Wo Zeiträume zur Überwindung von Distanzen schrumpfen, erweitert sich der Aktionsradius des Einzelnen und der Gemeinschaft. Die für die funktionale Betrachtung der Zeit angeführten technischen Eigenschaften der Gegenwart beeinflussen daher gleichermassen spezifische Raumvorstellungen. Hoch mobile, nicht-linear prozessierende, echtzeitverarbeitende und echtzeitübertragende Hard- und Software führen zu einer signifikanten Steigerung räumlicher Mobilität, die analog der dargestellten Aufhebung von Zeitdifferenzen zur Auflösung bestehender Raumbegrenzungen führt. Die mit der zweiten Virilio’schen Revolution angezeigten Transmissionen digitaler Erinnerungsinhalte überwinden nun mit Lichtgeschwindigkeit räumliche Ausdehnungen. D.h. auch, dass vormalige räumliche Zugriffsbeschränkungen auf mögliche Erinnerungsinhalte zunehmend wegfallen und damit weitläufiger verfügbar sind. Neue Möglichkeiten von Relokalisierungen und damit verbunden von Rekontextualisierungen sind eine weitere Folge. Im Hinblick auf das kollektive Gedächtnis und seine Funktion zur Generierung von Raumvorstellungen leite ich daraus zwei zentrale Konsequenzen ab. Zum einen ermöglichen bessere Verfügbarkeiten und die Überwindung vormaliger Raumgrenzen die Durchbrechung bestehender Kulturräume wie sie beispielsweise in Form von Nationalstaaten in den letzten Jahrhunderten gesellschaftlich-politisch legitimiert wurden. Nationen, und d.h. territorial abgrenzbare, politisch legitimierte kulturelle Gemeinschaften verlieren als „Homogenitätsmaschinen“ (Anderson 1996: S.284) an Kraft: Homogene Zeiten und Räume555 können in der technischen Gegenwart nicht mehr vorbehaltslos aufrechterhalten werden – sie werden durch raum-zeitliche Dynamiken aufgebrochen. In der Konsequenz ist eine möglichst umfassende Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern und Inhalten des kollektiven Gedächtnisses und den Mitgliedern eines politisch legitimierten Raumes, wie der eines Staates, nicht mehr durchgängig möglich. Mit diesen Auflösungserscheinungen verbunden sind jedoch zum anderen auch Möglichkeiten für neue Raumdefinitionen: Die Techniken der Gegenwart ermöglichen kollektiv und individuell konfigurierbare, virtuelle Räume durch Initiativen jenseits staatlicher oder anderer institutioneller Vorstellungen. Sie haben keine oder nur wenig verbindliche Entsprechungen im realen, physischen Raum und werden durch Mitglieder bzw. Gestaltern dieser virtuellen Räume mit selektierten Inhalten befüllt. Online-Plattformen und Facebookgruppen 555 Anderson (1996): S.284. 215 sind Beispiele für derartige Orte des kollektiven Gedächtnisses. Die Mnemotopen der Grafosphäre als „Zeichensetzungen im natürlichen Raum“ (J. Assmann 2000: S.60) werden ergänzt oder verdrängt durch hybride virtuelle Räume, die nicht oder nur in Teilen eine eineindeutige Übersetzung zu bestehenden kulturellen Räumen ermöglichen. Das führt manchmal zu Spannungen: Dort wo eine möglichst hohe Überschneidung zwischen politischen und erinnerungskulturellen Räumen nicht mehr gegeben ist, hat das Auswirkungen auf die Durchsetzungskraft von Verbindlichkeiten und d.h. auf die Legitimationsfunktion556 des kollektiven Gedächtnisses.557 Alternative Raumkonzepte sind daher gefragt, die territorialstaatliche, politische Räume entweder entkoppeln oder aber flexibel machen für erinnerungskulturelle Räume jenseits dieser Territorialgrenzen.558 Die beschriebenen Zustände und Wandlungen vorausgesetzt, lassen sich zusammenfassend folgende zentrale Aspekte in Bezug auf die Generierung von Raum- und Zeitvorstellungen in der Gegenwart artikulieren: Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses formen basale Raum- und Zeitvorstellungen von Gemeinschaften. Die konkreten Ausgestaltungen dieser Vorstellungen und damit verbundene Strukturierungen und Verortungen sind in hohem Masse abhängig von den technologischen Grundlagen des kollektiven Gedächtnisses. Für Ausprägungen in der kybernetischen Gegenwart bedeutet dies mindestens eine Erweiterung (und in Teilen auch eine Verdrängung) 556 Vgl. Ausführungen im folgenden Abschnitt zu Legitimationsfunktion. Vgl. auch Ernst und Debray: „Für die telematische Kommunikation ist das Gedächtnismodell des Archivs nicht mehr angemessen. Nicht mehr ortsgebunden, befinden sich im Internet viele auf ein kulturelles Gedächtnis bezogene Adressen, die aber nur noch mathematisch und topologisch, nicht mehr topographisch einen Ort haben und damit auch der territorialstaatlichen Zensur potentiell entgehen.“ (Ernst 2007: S.262) „Unsere technischen Systeme haben die Tendenz, einen immer ausgedehnteren Raum zu besetzen (sie strahlen in alle Himmelsrichtungen aus), bei immer kürzer werdender Lebensdauer; während unsere Kulturen – das heißt das Repertoire an Formen, Gesten und Erinnerungen, das jede Gesellschaft ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt – dauerhafte Realitäten (zeitlich geringe Veränderlichkeit) darstellen, dabei aber im Wesentlichen auf ein und dasselbe Territorium beschränkt bleiben (große Vielfalt im Raum).“ (Debray 2003: S.70). 558 Derartige Konzepte jenseits nationalstaatlicher Kulturräume werden u.a. in den postcolonial studies intensiv diskutiert. Beispielhaft seien in diesem Zusammenhang Appadurais Vision eines Postnationalismus auf Basis verschiedener „scapes“, Canclinis Vorstellungen de- und reterritorialisierter kultureller Symbole und Praktiken sowie Ettes Beschreibung sich auflösender klar umrissener Kulturräume durch die Begriffe TransArea und TransKultur genannt. In unterschiedlicher Radikalität zeigen Appadurai, Canclini und Ette die Überwindung bzw. Auflösung nationalstaatlicher Vorstellungen in Form von Postnationalismus, Transnationalismus und Transarea auf. Mit diesen Territorialauflösungen verbunden sind kulturelle Vermischungen, Verschiebungen, Verwebungen, die die mit den jeweiligen Kulturräumen zusammengedachten Traditionsrahmen verschieben bzw. ganz auflösen. 557 216 von analogen, schriftgeprägten Zeit- und Raumvorstellungen der Grafosphäre: Lineare Zeitauffassungen mit klaren Zeitdifferenzen, chronologischen Ereignisanordnungen, klar umrissenen politisch legitimierten Räumen mit hoher Korrelation zu dazugehörigen Erinnerungsgemeinschaften etc. – kurz: homogene Zeit- und Raumvorstellungen – werden erweitert und in Teilen ganz überwunden durch heterogene, fragmentarische und neu synthetisierte Zeit-Räume. Die zentrale technische Grundlage der Grafosphäre – (analoge) Schrifttechniken – wird in der hypomnétischen Gegenwart digital operierender Hard- und Software gegenübergestellt, die andere Formen von Zeiten und Räumen zulassen. Die für das Gedächtnis mit der Analog-Schrift initiierte Aufhebung der Einheit von Raum und Zeit wird im Digitalen potenziert. Sie führt im Ergebnis bis zur vollkommenen Auflösung dieser Einheit und darüber hinaus zur Schaffung neuer, virtueller Zeit-Räume, die mit den Mitteln der >bricolage<559 und Synthese arbeiten. Technologien der Gegenwart erfordern ein Raum-Zeitdenken in dynamischen, echtzeitverarbeitenden und in Teilen räumlich unbeschränkten Strukturen. Das kollektive Gedächtnis tritt unter derartigen technologischen Bedingungen in eine neue Stufe des Übersetzens ein. Es ist dies die Stufe des stetigen Übersetzens in der Zeit: Auf der diachronen Ebene werden Übersetzungszeiten im Gleichklang mit den reduzierten Halt- und Lesbarkeitsdauern zugehöriger Hard- und Software erhöht. Auf der synchronen Ebene ist man bereits in der von Ernst proklamierten Mikrozeit560 der Echtzeitverarbeitung angekommen. Je geringer diese Zeit(barrieren), desto grösser ist auch der mögliche Raum, in dem wir uns bewegen.561 Zeit- und Raumerfahrungen sind dann nicht mehr geprägt durch Abfolgen und Grenzen, sondern durch ein 559 In Anlehnung an Lévy-Strauss: >bricolage< als Bastelei und d.h. in dem hier verwendeten Zusammenhang als ein (individuelles) Zusammensetzen verschiedener Einheiten, Aspekte etc. (vgl. Levy-Strauss (1973), S.29). 560 Ernst (2007) S.268. 561 Vgl. auch Ette: „Einerseits stellen wir alle fest, daß eine immer rascheren Modernisierungsschüben ausgesetzte Infrastruktur die für die Überwindung von Distanzen notwendige Zeit ständig verkleinert und minimiert. Damit werden die Räume, innerhalb derer wir uns bewegen, beständig größer, die mit ihnen verbundenen Zeit-Räume aber immer kleiner. Mit anderen Worten: Je weiter wir die Räume dehnen, umso kleiner wird die Welt. Die Situation ist paradox: Indem wir unseren Bewegungsraum ausweiten, minimieren wir durch immer höhere Bewegungsgeschwindigkeiten diesen Raum und die an ihn angrenzenden Räume auf immer radikalere Weise. […] Doch es bleibt nicht bei dieser weltweiten Ausweitung und zugleich Verknappung oder Minimierung des Raumes, die sich auch in jenen touristischen Angeboten niederschlägt, unsere Erdkugel links- oder rechtsherum in einigen wenigen Sprüngen und stop-overs zu umrunden. Denn überzeugend wurde darauf hingewiesen, daß der empirische Raum durch die rapide Entfaltung elektronischer Medien und die damit verbundene Schaffung virtueller Räume außer Kraft gesetzt wird. 217 Mehr an simultanen Optionen. Mit diesen Übersetzungen gewinnt die Arbeit in der Zeit höhere Bedeutung als die Arbeit im Raum: Übersetzungszeiten bestimmen nun signifikant die Ausprägungsformen und Funktionalitäten des kollektiven Gedächtnisses und lassen im Gegenzug den Stellenwert von Speicherräumen verblassen. Ein Paradigmenwechsel vom Raum- zum Zeitgedächtnis wird damit für Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses der Gegenwart angezeigt.562 Schliesslich werden mit den so generierten Vorstellungen Alternativen für Raum- und Zeitvorstellungen jenseits der Grafosphäre zur Verfügung gestellt. Ihr additiver Charakter sowie die technischen Grundlagen zur Ausprägung dieser Vorstellungen machen sie jedoch weniger bindend als ihre Vorgängermodelle: De-linearisierte, dynamisch ausgelegte, grenzenlos erfahrbare Zeit-Räume erweitern sowohl den diachronen als auch den synchronen Optionenraum und sind in ihrer Funktionskraft zur Durchsetzung bestimmter Pfade daher weniger verpflichtend. (De-)Legitimierung (von Institutionen, Macht etc.) Derartige Änderungen zeigen auch ihre Wirkung auf die Legitimationsfunktion des kollektiven Gedächtnisses. Ihr Wirkungsgrad ist sowohl auf der retrospektiven Seite – als Nutzung von Vergangenheitskonstruktionen zur Legitimierung von Macht, Institutionen etc. – als auch auf der prospektiven Seite – als Versicherung für Entwicklungen in der Zukunft – abhängig von der Durchsetzbarkeit und Verbindlichkeit der dafür eingesetzten Vergangenheitskonstruktionen.563 Die aufgezeigten technologischen Bedingungen verändern die Möglichkeiten dieser Durchsetzbarkeit. In Bezug auf die Legitimationsfunktion setzen diese Änderungen, wie ich im Folgenden zeigen werde, an den Dynamiken der Gegenwart und den ihnen innewohnenden Selektionsprozessen an. Wenn wir in Beinahe-Gleichzeitigkeit via Internet oder Satellit die unterschiedlichsten Räume unseres Planeten miteinander verbinden und in dieselbe virtuelle Zeitlichkeit holen können, dann haben wir den empirischen Raum gegen null geführt.“ (Ette 2001: S.13f.). 562 U.a. Hoskins (2009), S.97, Ernst (2007) u.a. S.313. (Hoskins hat diese Verschiebungen am Beispiel des Archivs aufgezeigt: "Thus, the archive can even be seen as a medium in its own right as it has been liberated "from archival space into archival time". That is to say, the idea of the static archive as a permanent place of storage is being replaced by the much more fluid temporalities and dynamics of "permanent data transfer"." (Hoskins 2009: S.97). 563 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3. 218 Selektionsprozesse wurden bereits im Assmann’schen Modell als zentrales Instrument zur Funktionsausübung bestimmt: Aus dem bei J. und A. Assmann noch passiv definierten Speichergedächtnis werden Erinnerungsinhalte zur Legitimierung jeweiliger politischer Ziele, Stabilisierung von Machtverhältnissen etc. im Rahmen der Herausbildung des Funktionsgedächtnisses selektiert. Die Ausgestaltung und damit die Ergebnisse dieses Selektionsprozesses sind abhängig von den Partizipationsmöglichkeiten der Mitglieder jeweiliger Erinnerungsgemeinschaften. Diese Partizipationsmöglichkeiten haben sich grundlegend verändert: Infrastrukturen und Techniken digital operierender Gedächtnismedien haben – zumindest auf der Anwenderebene – zu breiten Zugangs- und damit Partizipationsmöglichkeiten geführt und so Wege für Selektionsprozesse geöffnet, die jenseits von politischen, religiösen etc. Eliten ausgeführt werden können. Dort, wo Partizipationsmöglichkeiten erweitert werden, sind verbindliche Erinnerungsinhalte mit gesteigerten Formen der Reflexion verbunden und damit Legitimationen bestimmter Inhalte längeren Vereinbarungsprozessen unterstellt oder schlichtweg weniger bis gar nicht durchsetzbar. Neben den Änderungen in den Partizipationsmöglichkeiten an den inhaltlichen Selektionen des Funktionsgedächtnisses führen die bereits aufgezeigten Dynamiken der Gegenwart und die damit verbundenen Änderungen in Zeit- und Raumerfahrungen zu weiteren Implikationen auf die Legitimationsfunktion. In einer Gegenwart, die zunehmend geprägt ist durch virtuelle Erinnerungsräume, durch erinnerungskulturelle Gemeinschaften, die nicht mehr zwangsläufig mit territorialstaatlichen Grenzen in Übereinstimmung gebracht werden können sowie durch instantane Zugriffsmöglichkeiten auf verschiedene, im Digitalen synthetisierte Zeiten, werden die Einschränkungen auf die von J. und A. Assmann angesprochene retrospektive und prospektive Seite der Legitimationsfunktion grösser: Vergangenheitskonstruktionen zu Legitimierung von politischen, religiösen etc. Zielsetzungen verlieren aufgrund schwindender Durchsetzungskraft und Verbindlichkeit in zunehmend fragmentarischen Erinnerungsgemeinschaften an funktionaler Kraft im Vergleich zu den Legitimationsmöglichkeiten vormaliger homogener, kulturell klar abgrenzbarer Erinnerungsgemeinschaften. Diese Einbussen in der Durchsetzungskraft setzen sich auf der prospektiven Seite fort: Legitimierungen jeweiliger Macht- oder Institutionsinstanzen über die Gegenwart hin- 219 aus verlieren gleichermassen an Verbindlichkeit. Im >besten< Falle können Legitimierungen für bestimmte Ausschnitte des gesamten, zukünftigen Möglichkeitsraumes vorgenommen werden. Verlieren Legitimierungen an Durchsetzungskraft, wird es einfacher, Gegenerinnerungen564 zu etablieren – die Möglichkeiten delegitimierender Prozesse nehmen dann zu: Insbesondere mit digital gespeicherten und via Internet einfacher zugreifbaren Erinnerungsinhalten kann die (zumindest teilweise) Isolation des jeweils legitimierten Funktionsgedächtnis vom Speichergedächtnis nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden. Schnellerer Austausch, steigende Reflexionsmöglichkeiten lassen Abgleiche eines bestehenden Funktionsgedächtnisses mit möglichen Alternativen des Speichergedächtnisses einfacher zu. Legitimationen von Macht, Institutionen etc. können auf diese Weise schneller als solche entlarvt und durch anderweitige Erinnerungsinhalte ersetzt oder in ein neues Funktionsgedächtnis überführt werden. Für die Legitimationsfunktion kollektiver Gedächtnisausprägungen der Gegenwart kann daher festgehalten werden, dass – basierend auf den technologischen Grundlagen – die Funktionskraft im Vergleich zu homogenen, hierarchisch geprägten Erinnerungsgemeinschaften eingebüsst hat. Geänderte Selektions- und Partizipationsprozesse, höhere Durchlässigkeit zwischen den je spezifischen Funktionsgedächtnissen und dem Speichergedächtnis führen zu Einschränkungen in den Legitimierungsmöglichkeiten und damit gleichzeitig zu einer höheren reflexiven Performanz verbunden mit der Zunahme delegitimierender Prozesse. Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen Dem kollektiven Gedächtnis wurde von J. und A. Assmann weiterhin die Funktion der Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags)Handlungen zugeschrieben: Das kollektive Gedächtnis gibt dabei mittels Erinnerungsinhalten Vorgaben bzw. Orientierungen für Handlungen in der Gegenwart sowie für mögliche zukünftige Handlungen – es tut dies umso intensiver, je besser die diesen 564 A. Assmann (2009), S.139. 220 Handlungen zugrunde liegenden Erinnerungen im jeweiligen Funktionsgedächtnis legitimiert sind.565 Mit Bezug auf die hypomnétische Gegenwart lassen sich meiner Ansicht nach die drei folgenden, in Teilen gegenläufigen Effekte auf diese Funktion des kollektiven Gedächtnisses ausmachen. Mit der Auflösung homogener Zeit-Räume sowie dem Aufweichen streng kanonisierter Kulturräume geraten zunehmend alternative Erinnerungsinhalte in den Betrachtungsraum der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaften. Nicht mehr nur das Speichergedächtnis des jeweils eigenen, tradierten Kulturraumes und die in ihm enthaltenen, potentiellen Inhalte stehen für mögliche Handlungsperspektivierungen zur Verfügung. Kulturelle Durchdringungen und ausgedehnte Partizipationsmöglichkeiten lassen auch Inhalte anderer Speichergedächtnisse als Alternativentwürfe in Betracht ziehen. Unterstützt wird diese Ausdehnung des Optionenraumes durch den beschriebenen Zuwachs an Speicherkapazitäten und veränderte Zugriffsmöglichkeiten: Speichergedächtnisse der Gegenwart umfassen schlichtweg mehr abrufbare Inhalte und damit mehr Optionen für etwaige Handlungsorientierungen. Die neuen Möglichkeiten der Hardwarekapazitäten sowie der Partizipation führen daher auf der einen Seite zu einer Erweiterung des Optionenraumes für Handlungsstrukturierungen und -perspektivierungen mittels Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses. Gleichzeitig stehen diesen erweiterten Optionenräumen auf der anderen Seite geringere Verbindlichkeiten gegenüber: Vorgaben oder Orientierungen für Handlungen sind in hohem Masse abhängig vom Legitimierungsgrad der Erinnerungsinhalte des je spezifischen Funktionsgedächtnisses. Die beschriebenen Einbussen in der Legitimationsfunktion zeichnen sich daher auch als >Einbussen< in dieser Funktion ab. In die Erinnerungsinhalte eingeschriebene Handlungen, die als Vorlage für Gegenwart und Zukunft dienen sollen, verlieren an Verbindlichkeit, wenn alternative Entwürfe zur Verfügung stehen und die institutionelle Durchsetzungskraft via Organisationsmechanismen566 des kollektiven Gedächtnisses sinkt. Strukturierungen und Perspektivierungen für Handlungen der Gegenwart verweisen nunmehr auf ein >Können< und weniger auf ein >Müssen<. Der steigenden Quantität an Handlungsperspektivie- 565 566 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3. Hierauf wird im Abschnitt 5.1.3 noch näher eingegangen. 221 rungen steht daher eine gesunkene Qualität in Bezug auf Durchsetzungskraft und Verbindlichkeit dieser Handlungen gegenüber. Feste Handlungsvorschriften durch Erinnerungsinhalte, wie sie beispielsweise im Ritus oder in Traditionen angezeigt werden, verlieren in der Gegenwart an Bedeutung und haben eher fakultativen statt obligatorischen Charakter. Hier zeigen sich einmal mehr die >Optionalisierungstendenzen< kollektiver Gedächtnisse der Gegenwart. Der dritte Effekt schliesslich fusst auf den benannten Kompetenzverschiebungen vom >Wer< zum >Was<567: Handlungsperspektivierungen, so wie sie bei J. und A. Assmann beschrieben wurden, basieren ausschliesslich auf den in Erinnerungsinhalten eingelagerten Handlungsoptionen und damit auf Sinnproduktionen durch Subjekte und Gemeinschaften (>Wer<). Hypomnétische Gegenwart hält jedoch noch andere Handlungsanweisungen parat – Handlungsanweisungen, die durch die technologischen Grundlagen des kollektiven Gedächtnisses selbst generiert werden (>Was<): Denn Hard- und Software der Gegenwart ermöglichen Sinnproduktion auch ohne menschliche Beteiligung. In Form intelligenter Sensoren und kybernetischer Verschaltungen mit der Umwelt können, wie in Abschnitt 5.1.1 aufgezeigt wurde, Empfindungen ausserhalb menschlicher Körper generiert werden, die dann als technisch generierte Wahrnehmungen entweder selbst Sinn produzieren oder an andere, bereits bestehende Erfahrungen ankoppeln.568 Die so erzeugten Wahrnehmungen werden in der angrenzenden Hardware gespeichert und stehen dann gegebenenfalls als zukünftige, potentielle Inhalte zur Verfügung. Analog zu den vorangegangenen funktionalen Betrachtungen lassen sich auch für die Gegenwart Strukturierungen und Perspektivierungen individueller und kollektiver (Alltags-)Handlungen mittels kollektiver Gedächtnisse feststellen. Umfang, Verbindlichkeiten und Prozesse unterliegen jedoch Änderungen. Es zeigt sich hier einmal mehr, wie die technologischen Eigenschaften des Digitalgedächtnisses die Funktionen des kollektiven Gedächtnisses >optionalisieren<. Diese >Optionalisierung< erfolgt hier im dreifachen Sinne: Erweiterung des Optionenraumes durch kulturelle Dynamiken (1), durch alternative Handlungsperspektivierungen auf Basis sinkender Ver- 567 568 Stiegler u.a. (2009c), S.176.vgl. auch Ausführungen in Kapitel 3. Hansen (2011), S.371ff., S.390f. 222 bindlichkeiten und Durchsetzungskraft (2) und schliesslich durch Erweiterung sinnproduzierender Akteure, die nun nicht mehr allein den Menschen umfassen, sondern Erfahrungen auch durch technische Akteure zulassen (3). Dieses Mehr an Optionen ist wiederum abhängig von notwendigen Übersetzungsprozessen zwischen und innerhalb der zugrundeliegenden Hard- und Software – funktionale Qualität des kollektiven Gedächtnisses daher hier einmal mehr abhängig von seinen technologischen Bedingungen. Individuelle und kollektive Identitätskonstruktionen Einer Gruppe ein Gedächtnis zu unterstellen, heisst immer auch, ihr eine Identität zuzuschreiben. Denn erst mit den Vergangenheitsrekonstruktionen des kollektiven Gedächtnisses können Herkunftsfragen geklärt, Entstehungsgeschichten verfasst, Verortungen ermöglicht und damit vor allem die für Identitätsausbildung zentralen retrospektiven Aspekte geklärt werden. Individuelle und kollektive Identitätskonstruktion wurde daher bereits bei J. und A. Assmann als eine zentrale Funktion des Gedächtnisses herausgestellt, für die dann auch der bereits benannte Umkehrschluss gilt: Änderungen in der Identität bedeuten gleichermassen Veränderungen im Gedächtnis.569 Alle bisher aufgeführten Funktionen können in diesem Sinne auch als Unterfunktionen für Identitätskonstruktionen mitgedacht werden, indem sie durch die Art der vermittelten Raum- und Zeitvorstellungen, durch Legitimationen bestimmter Erinnerungsinhalte und damit verbundene Orientierungen in der Gegenwart und Zukunft entsprechende individuelle und kollektive Identitäten mitbestimmen. Insofern gilt hier ebenso was für alle anderen Funktionen bisher galt: Wesentliche Grundlage für identitätskonkrete Ausprägungen einer Gemeinschaft sind die selektierten Vergangenheitskonstruktionen des kollektiven Gedächtnisses. Analog dem Zusammenhang zwischen individuellen und kollektiven Gedächtnis sind kollektive Identitäten dabei eine im Imaginären einer Gruppe entstehende Konstruktion ohne Entsprechung im Realen, 569 A. Assmann (2009), S.62f. 223 die jedoch das Reale der einzelnen Mitglieder des Kollektivs entscheidend bestimmen.570 Die technologischen Bedingungen dieses Konstruktionsmilieus spiegeln sich folglich in der Ausprägung von Identitäten im besonderen Masse wider. Deutlich heraus gestellt wurde der Zusammenhang zwischen Konstruktionen individueller und kollektiver Selbstbilder und den technologischen Bedingungen ihrer Herausbildung im Begriff der >Transindividuation<: Individuelle und kollektive Identitätsbildung als „Reflexivwerden[…] eines unbewußten Selbstbildes“ (J. Assmann 2000: S.130) ist gekoppelt an dazugehörige Individuationsprozesse und d.h. an alle bewussten Prozesse der Selbstwerdung im Austausch bzw. in Abgrenzung zu Anderen. Die Erweiterung dieses Begriffes hin zur >Transindividuation< steht bei Simondon in ihrem Kern für wechselseitige Infiltrierungen individueller und kollektiver Individuationen571 und d.h. für sich gegenseitig beeinflussende Bewusstseinsprozesse unterschiedlicher Akteure. In der darauf aufbauenden Stiegler’schen Adaption dieses Begriffes wird hierbei die technologische Bedingung für solche Prozesse hervorgehoben: Transindividuation ist bei ihm ein „Prozess der Ko-Individuation von »Ich« und »Wir«“ (Hörl 2011: S.114f., Fussnote 7) abhängig von den zuhandenen technologischen Bedingungen.572, 573 570 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3. sowie J. Assmann (2000) , S.130ff. Hörl (2011), S.114, Fussnote 7. Die Simondon’sche Begriffserweiterung enthält damit auch die bei J. Assmann formulierte gegenseitige Bedingung von individueller und kollektiver Identitätskonstruktion. Vgl. J. Assmann (2000), S.130ff. 572 Stiegler (2011b), S.143. (Für Stiegler führen die technologischen Bedingungen der Gegenwart zu einem neuen Prozess der Transindividuation, der – allgemein formuliert – individuelle und kollektive Individuationsprozesse schwächt und in der Folge zur kollektiven Desintegration führt. ; Vgl. Stiegler: „Das planetarische technische System hat einen neuen Prozess der Transindividuation in Gang gesetzt, und hierin liegt die Ursache für die Desintegration der einzelnen Systeme. Denn dieser neue Transindividuationsprozess ist weit davon entfernt, zur Verstärkung und Intensivierung der psychischen und kollektiven Individuationsprozesse beizutragen, wie sie für die unterschiedlichen Gesellschaftsformen konstitutiv sind, auf die sich die Weltbevölkerung verteilt. Im Gegenteil, er umgeht diese Prozesse, schwächt sie und macht sie schließlich zunichte. Diese Schwächung oder Erschöpfung ist keine bloße Nebenwirkung des Wachstums und der Globalisierung des technischen Systems. Es handelt sich im Gegenteil um eine sehr spezifische Art und Weise, dieses Wachstum auf Kosten der sozialen Systeme durchzusetzen […].“ (Stiegler 2011b: S.114f.)). 573 Die Abhängigkeit des „identitätssichernde[n] Wissen[s] der Gruppe“ (J. Assmann 2000: S.56) von den technologischen Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses wird auch bei J. und A. Assmann benannt, im Begriff des >Transindividuation< aber auf besondere Weise explizit gemacht. 571 224 In Anlehnung an den durch Simondon und Stiegler bestimmten Begriff der Transindividuation, der individuelle und kollektive Bewusstseinsprozesse an das zugrundeliegende technische Milieu koppelt, überführe ich im Folgenden die Assmann’sche Funktion der Identitätskonstruktion in den Begriff der >Transidentitätskonstruktion<. Das Präfix >trans< zeigt hier zweierlei Übergänge an: Zum einen die bei J. und A. Assmann bereits aufgezeigte reflexive Beziehung zwischen Individuen und Kollektiv und zum anderen die nun explizite Beziehung zwischen Identität und ihren technologischen Grundlagen der Herausbildung. Im Rahmen des hier gesetzten Fokus sollen daher die Auswirkungen der technologischen Grundlagen in der hypomnétischen Gegenwart auf den Prozess der Transidentitätskonstruktion auf folgende Weise herausgestellt werden: Vergangenheitsadaptionen sind eine zentrale Grundlage für die Konstruktion individueller und kollektiver Identitäten im Rahmen des Transidentitätsprozesses und damit auch für die Herausbildung und den Zusammenhalt von Gemeinschaften.574 Ferner gilt, dass Vergangenheitsrekonstruktionen – wollen sie kollektiv einigend wirken und identitätsstiftend sein – auf einem gemeinschaftlichen Selbstverständnis der selektierten Erinnerungsinhalte des Funktionsgedächtnisses beruhen und d.h. zu einem gewissen Masse verbindlich sind für die Mitglieder dieser Gemeinschaften. Die bis hierhin aufgezeigten Eigenschaften technischer Gegenwart zeigen ihre Wirkung nun auch auf diesen Transidentitätsprozess: Komplexe Selektionen und Übersetzungen umfassende, mit neuen Möglichkeiten der Partizipation ausgestattete Gedächtnismedien, deren Folgen sich bis hierhin in fragmentarischen und neu synthetisierten Zeit-Räumen, in Einschränkungen der Legitimierungsmöglichkeiten sowie in den Optionalisierungen von Handlungsanweisungen zeigten, erschweren die Generierung einheitlicher und kulturell trennscharfer Gruppenidentitäten. Kulturelle Dynamiken bedingen auch eine Auflösung ihres individuellen und kollektiven Korrelats auf der Identitätsebene. Kollektive 574 Stiegler (2009a), S.16; J. Assmann (2000), S.130ff. Vgl. auch Stiegler: „Grundsätzlich lässt sich das Adoptionsproblem folgendermaßen formulieren: Die gemeinsame Beziehung zur und der gemeinsame Entwurf von Zukunft, wie sie Gemeinschaftlichkeit charakterisieren, setzen voraus, dass die Mitglieder der Gemeinschaft eine Vergangenheit miteinander teilen, auf deren Grundlage sie das, was kommt, zusammen projizieren. Doch diese gemeinsame Vergangenheit, die Partizipation und Projektion möglich macht, ist tatsächlich nie erlebt worden, hat nie stattgefunden, sie kann immer nur nachträglich durch Adoption übernommen und geteilt werden. Jeder Einzelne und die Gemeinschaft insgesamt hat die Adoption zu leisten, sie stiftet überhaupt erst den Zusammenhang.“ (Stiegler 2009a: S.16). 225 Gedächtnisse der Gegenwart produzieren nunmehr unterschiedlichste Identitätsangebote, mit denen individuelle und kollektive Identitäten im Sinne einer >Identitätsbricolage< zusammengestellt werden können. Derartige >bricolagen< setzen auf verschiedenen Ebenen an: zum einen auf dem Fakt, dass Individuen an unterschiedlichen Funktionsgedächtnissen partizipieren können und zum anderen auf den neuen Möglichkeiten des kulturellen Austauschs, die gegenseitige Infiltrierungen von Funktionsgedächtnissen und damit verbundene >hybride< Identitätskonstruktionen fördern. Bei J. Assmann ist zu lesen: „Auffallend gesteigerte kollektive Identitäten gehen überall einher mit der Ausbildung besonderer kultureller Technologien […]“ (J. Assmann 2000: S.160). Gesteigerte Identitäten als Identitätsverfestigungen auf Basis technologischer Neuerungen des kollektiven Gedächtnisses, wie sie beispielsweise die Schrift im antiken Griechenland ermöglichte575, mögen für die von J. Assmann beschriebenen Hochkulturen, aber auch für nachfolgende Gesellschaftsformen, wie die der frühen Nationalstaaten, gelten. Mit den >besonderen Technologien< der Gegenwart liegen >gesteigerte Identitäten< jedoch nicht mehr als Identitätsverfestigungen, sondern vielmehr als quantitative Steigerungen von Identitätsausprägungen mit gleichzeitig geringeren Verbindlichkeiten vor. Aus Identitätsverfestigungen wird so eine Vielzahl von Identitätsangeboten. Zunehmende Auflösungen des kollektiven Identitätsganzen in Identitätsoptionalitäten birgt immer auch die Gefahr des Totalverlustes von Gemeinschaft. Der Zentrifugalkraft der Technik wird jedoch auch eine einende Kraft gegenübergestellt: Die Notwendigkeit permanenten Übersetzens von einem Speichermedium auf das andere bedingt die bereits aufgezeigten Formen technischer Selektionen wie auch die gesteigerten Formen inhaltlicher Selektionen. Letztere basieren auf kollektiver Ebene – und d.h. zum Erreichen eines Mindestmasses an Verbindlichkeit – auf Verhandlungen und gemeinschaftlichen Einigungen über die auszuwählenden Erinnerungsinhalte für das jeweilige Funktionsgedächtnis. Inhaltlich geführte, kollektive Selektionsprozesse sind daher wesentlicher Bestandteil der Transidentitätsprozesse, indem sie eine Art >kleinsten gemeinsamen Identitätsnenner< erzeugen können. Debray spricht im Zusammenhang von kollektiven Identitätskonstruktionen vom „Schwimmen gegen den 575 J. Assmann (2000), S.160. 226 entropischen Strom“ (Debray 2003: S.21). Diesem entropischen Strom entgegenzuwirken hiesse, der auf die Identitätsfunktion wirkenden Zentrifugalkraft des Technischen Verbindlichkeiten gegenüberzustellen und damit dem >optionalistischen Individuum<576 einen Stamm an kollektiven, identitätskonkreten Erinnerungen anheimzustellen, der dann im Sinne der beschriebenen Identitätsbricolage individuell angereichert werden kann. Ein solches Zusammenspiel im Prozess der Transidentitätskonstruktion spiegelt sich in Änderungen der Organisation des kollektiven Gedächtnisses wider, auf die in Abschnitt 5.1.3 näher eingegangen wird. Diese strukturellen Änderungen im Prozess der Transidentitätskonstruktion bedingen weitere Änderungen in den von J. und A. Assmann deklarierten Merkmalen kollektiver Identitäten. Als wesentliche Eigenschaften wurden von ihnen benannt: Kollektive Identitäten sind temporäre Konstruktionen, die änderbar und kündbar sind. Sie generieren nach innen Kontinuität und Vereinheitlichung einer Gemeinschaft und schaffen nach aussen bewusste Differenzen zur Abgrenzung gegenüber anderen kollektiven Identitäten.577 Übertragen auf den Prozess der Transidentitätskonstruktion möchte ich die Änderungen in diesen Eigenschaften an folgenden Aspekten aufzeigen: Abnehmende Durchsetzungskraft von Vereinheitlichungs- und Kontinuitätsprozessen (1) sowie kürzere Intervalle in den Prozessen der Transidentitätskonstruktionen (2). (1) Sinkende Durchsetzungskraft und Verbindlichkeit in Bezug auf die Etablierung trennscharfer, ganzheitlicher kollektiver Identitäten und Entwicklungen hin zu Prozessen der Identitätsbricolage schlagen sich in den Möglichkeiten zur Generierung von Kontinuitätsvorstellungen nieder. Die Herausbildung solcher Vorstellungen fusst auf tradierbaren und stabilen Selbstbildern, die in einer retrospektiven Betrachtung bei den Mitgliedern dieser Erinnerungsgemeinschaft ein Gefühl der Beständigkeit und Robustheit erzeugen. Derart produzierte Kontinuitätsvorstellungen stabilisieren in der Gegenwart die Einheit dieser Erinnerungsgemeinschaften. Die aufgezeigten Änderungen in den technologischen Grundlagen, kulturelle Dynamiken der Gegenwart und damit verbundene Änderungen in den Zeitvorstellungen lassen Kontinuitäts- und Ver- 576 Ellrich (2008), S.74. z.B. J. Assmann (2000), S.130-160; A. Assmann (2009), S.139; vgl. auch Ausführungen in Abschnitt 4.1.3. 577 227 einheitlichungsprozesse in dieser Weise nicht mehr zu. Vielmehr ist auch hier ein abnehmendes Durchsetzungsvermögen für Kontinuitäts- und Stabilitätsvorstellungen zu konstatieren. Im Krisenfalle bedeutet das den bereits benannten Verfall von Gemeinschaft. In einer positiven Adaption steht es für die Gewinnung von Freiheitsgraden und permanenten Verhandeln gemeinsamer Identitäts- und Wertperspektiven auf kollektiver Ebene. (2) Die von J. und A. Assmann benannten Eigenschaften kollektiver Identitäten >temporär<, >änderbar< und >kündbar< haben weiterhin Bestand. Sie treten mit dem kybernetischen Zeitalter jedoch in andere Geschwindigkeitsdimensionen ein und bedingen so deutlich kürzere Intervalle in den Prozessen der Transidentitätskonstruktion: Geringere Verbindlichkeiten, vielseitige Identitätsangebote auf individueller und kollektiver Ebene auf Basis aktueller technologischer und kultureller Entwicklungen erleichtern oder forcieren Kündigungen mittels Alternatividentitäten. Individuelle und kollektive >Neuerfindungen< sind durch gesteigerte Reflexionsmöglichkeiten einfacher gestaltbar, Gegenentwürfe zu bisherigen kollektiven Identitäten leichter handhabbar und in die kollektiven Identitätsverhandlungen damit schneller einführbar. Die Geschwindigkeit in Bezug auf identitätskonkrete Ausprägungen von Kollektiven hat sich erhöht und folgt der Logik neuer, kybernetischer Zeiten. Zusammenfassend zeigen sich korrespondierend zu den bisherigen Betrachtungen deutliche Änderungen in den Möglichkeiten zur Herausbildung individueller und kollektiver Identitäten. Einmal mehr werden diese Änderungen hervorgerufen durch die technischen Grundlagen der Gegenwart. Individuelle und kollektive Wechselbeziehungen wurden daher im Begriff der >Transidentitätskonstruktion< erweitert um technische Abhängigkeiten bei der Herausbildung kollektiver Selbstbilder. Die durch diese Abhängigkeiten hervorgerufenen Änderungen zeigen sich dabei vor allem als Übergang kulturell trennscharfer, relativ stabiler kollektiver Identitäten hin zu den beschriebenen Möglichkeiten der Identitätsbricolage mit einem Kern minimaler identifikatorischer Verbindlichkeiten für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Der in der Analyse der anderen Funktionen herausgearbeitete Gedanke der funktionalen >Optionalisierung< setzt sich im Prozess der Transidentitätskonstruktion fort. 228 5.1.3 Organisatorische Implikationen Das Bewahren von Inhalten des kollektiven Gedächtnisses und die daran gekoppelten Funktionen schliessen wesentlich die Organisation dieses Gedächtnisses ein. Im Anschluss an die Frage nach den funktionalen Veränderungen soll daher im Folgenden auf die organisatorischen Anpassungen in der hypomnétischen Gegenwart näher eingegangen werden. Mit der Betrachtung der Organisation des kollektiven Gedächtnisses wird prinzipiell auf das Organisationsmodell fokussiert. Unter Organisationsmodell verstehe ich im Folgenden die beiden Aspekte Organisationsprinzipien und Organisationsformen. Organisationsprinzipien spiegeln dabei die organisatorische Grundidee des kollektiven Gedächtnisses wider, wie beispielsweise in der Form >hierarchische Organisation< vs. >gleichberechtigte Organisation<. Organisationsformen repräsentieren dann die (physischen) Ausprägungsformen der jeweiligen Organisationsprinzipien. Eine kurze Vergegenwärtigung der in Abschnitt 4.1.3 aufgezeigten Organisationsaspekte des kulturellen Gedächtnisses bei J. und A. Assmann zeigt – nun in die strukturelle Unterscheidung von Organisationsprinzip und -form übertragen – folgendes Bild: Im Organisationsmodell des kollektiven Gedächtnisses bei J. und A. Assmann wird für die Vergangenheit578 der Kanon als ein wesentliches Organisationsprinzip, basierend auf den drei Institutionen >Zensur< als Mittel der inhaltlichen Selektion sowie >Text- und Sinnpflege< als Mittel für den dauerhaften Erhalt der selektierten Inhalte, beschrieben. Dieses Organisationsprinzip spiegelte sich in bestimmten Organisationsformen wider, bei denen es sich in Gesellschaften der Grafosphäre vordergründig um materialisierte, räumliche Formen, wie die der Bibliotheken und Archive handelt.579 Der Kanon als Organisationsprinzip ist jedoch gebunden an bestimmte Formen der politischen, religiösen etc. Durchsetzbarkeit, wie sie insbesondere in stark hierarchisch geprägten Gesellschaften gegeben ist. Daher wurden für die Gegenwart 578 D.h. für den bei J. und A. Assmann gesetzten Fokus auf vormoderne Gesellschaften. U.a. J. Assmann (2000), S.103-130; J. / A. Assmann (1987), S.11-15; vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3. 579 229 von J. und A. Assmann neue organisatorische Ausprägungen der Art >Selbstbeobachtung< und >Selbstorganisation< formuliert, ohne dabei ein vollständiges Organisationsmodell zu benennen.580 Aufsetzend auf diesen Überlegungen bleibt die Frage, welches Organisationsmodell – und in dessen Rahmen zunächst: welches Organisationsprinzip – den Bedingungen der Gegenwart gerecht wird. Der Kanon als zentrales Organisationsprinzip kann im Einklang mit J. und A. Assmann ausgeschlossen werden: Mehrstufige, komplexe Transaktionen, nicht-lineare und nicht-hierarchische Hard- und Softwarestrukturen mit daran gekoppelten Änderungen in den Partizipationsmöglichkeiten sowie allgemeine gesellschaftlich-kulturelle Wandlungen haben die Durchsetzungskraft des Kanons in der Gegenwart schwinden lassen. Diese Entwicklung durchdringt alle gesellschaftlichen Ebenen – ein vielstimmiger Kanon zum Ende des Kanons hat im letzten Jahrhundert in den Wissenschaften eingesetzt: Er zeigt sich beispielsweise im „Zerfall der grossen Erzählungen“ (Lyotard 2009: S.54f.) ebenso wie in Ettes Aufforderung zum „Studium grenzüberschreitender Literaturen“ (Ette 2001: S.17) in Ermangelung eines verbindlichen europäischen Literaturkanons.581 Die Suche nach einem geeigneten Organisationsprinzip setzt daher am organisatorischen Gegenpol des Kanons an: Mit den Begriffen >Selbstbeobachtung< und autopoietischer >Selbstorganisation<582 sind von J. und A. Assmann bereits wesentliche Merkmale benannt worden, die die gegenläufige Richtung anzeigen, in die das organisatorische Pendel unter Bedingungen der hypomnétischen Gegenwart schwingt. Von anderen ist es deutlicher formuliert worden: Dem Verschwinden des Kanons, in das Bild des Wurzelbuches übertragen, setzten Deleuze und Guattari das Rhizom entgegen. Antonymisch arbeitend wird durch sie das Rhizom dem Kanon als Prinzip der 580 J. Assmann (2000), S.128; A. Assmann (2009), S.358; vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.2. Vgl. Ette: „Bestand noch für die französischen Theoretiker der sechziger Jahre ein fester Kanon an ganz selbstverständlich europäischen Texten, der sich überdies nur aus Werken eines bestimmten Teiles Europas zusammensetzte und durch einige wenige nordamerikanische Werke ergänzt wurde, so gibt es diesen verbindlichen Kanon heute schon nicht mehr in einem auch nur annähernd vergleichbaren Maße. Auch hier sind die Dinge in Bewegung geraten. In diesem Sinne bedeutet das Studium grenzüberschreitender Literaturen auch, daß es sich um Literaturen jenseits eindeutiger nationalstaatlicher, kontinentaler und territorialer Grenzziehungen handelt, um Literaturen, die bislang gültige Grenzen nationalliterarischer, gattungsgeschichtlicher oder kultureller Art überschreiten und queren.“ (Ette 2001: S.16f.). 582 J. Assmann (2000), S.18. 581 230 >Nicht-Organisation des Gedächtnisses< gegenübergestellt. Das Rhizom repräsentiert diese Nicht-Organisation über folgende inhärente Prinzipien: das >Prinzip der Konnexion und Heterogenität<, d.h. die Möglichkeit zur Verbindung beliebiger Punkte in der rhizomatischen Struktur, das >Prinzip der Mannigfaltigkeit<, d.h. die Repräsentation des >Vielen< anstatt des >Einen<, das >Prinzip des asignifikanten Bruchs<, d.h. die Möglichkeit zur Unterbrechung an beliebiger Stelle sowie das >Prinzip der Kartographie und des Abziehbildes<, d.h. die Repräsentation von AntiGenealogie, Performanz und offenen Systemen.583 Das Rhizom steht für eine Zirkulation zwischen mannigfaltigen Zuständen, ist dabei weder zentrisch noch polyzentrisch584, kurz: „das Rhizom [ist] ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne Oberinstanz“ (Deleuze 2001: S.67). Das Rhizom als organisatorisches Prinzip des kollektiven Gedächtnis der Gegenwart zu definieren hiesse dann, das kollektive Gedächtnis auf gespeicherte, abrufbare, frei verknüpfbare Zustände umzustellen, die jenseits des kanonischen Regulativs individuell und kollektiv frei definierbare Verknüpfungen bzw. Selektionen in den Vordergrund stellen. Ein rhizomatisches Prinzip wäre also entgegen dem kanonischen Prinzip gänzlich ohne bindende Selektionsgenealogie von Erinnerungsinhalten – hohe Freiheitsgrade und totale >Optionalisierung< damit die organisatorische Konsequenz. Eine wesentliche Grundlage für rhizomatische >Nicht-Organisationen< kollektiver Gedächtnisse liegt in der technischen Widerspiegelung der aufgezeigten Prinzipien des Rhizoms: Mittels dieser technischen Grundlagen müssten demnach selektierte Erinnerungsinhalte in allen Dimensionen beliebig verknüpfbar und wieder abtrennbar sein, so entstehende Funktionsgedächtnisse als offene Systeme insgesamt niedrige Eintrittsbarrieren und hohe Anschlussfähigkeit, d.h. Performanz aufweisen. Derartige technologische Bedingungen liegen in der Hard- und Software des Digitalgedächtnisses mit dazugehöriger Netzinfrastruktur zu grossen Teilen vor. Allein, es handelt sich hierbei nur um einen Teil der technologischen Bedingung kollektiver Gedächtnisse der Gegenwart – für Analoggedächtnisse ist diese Art geforderter technischer Performanz nicht bzw. in deutlich geringerem Masse gegeben. Darüber hinaus beschränken rhizomatische Organisationen Möglichkeiten zur Ausprägung persistenter, fester 583 584 Deleuze (2001), S.50-64. Deleuze; Guattari (1992), S.11-42. 231 Kristallisationspunkte: Wenn die „Zirkulation von Zuständen“ (Deleuze 2001: S.67) zum Paradigma wird, sind stabile, Einheit schaffende Bezugspunkte und damit auf eine bestimmte Dauerhaftigkeit angelegte kollektive Erinnerungsinhalte nur schwer verankerbar. Auch das bei J. und A. Assmann angesprochene Problem, dass jenseits kanonischer Regulative gesamtgesellschaftliche Herausforderungen nicht umfassend thematisiert und verhandelt werden können585, wird mit ausschliesslich azentrisch arbeitenden Strukturen verstärkt. Derartige technische und inhaltliche Aspekte führen zu der Schlussfolgerung, dass das Rhizom als alleiniges, übergeordnetes Organisationsprinzip nicht geltend gemacht werden kann. Vielmehr gilt es ein Prinzip zu suchen, welches zwischen den Polen >Kanon< und >Rhizom< angesiedelt ist. Es sollte dabei auch der Tatsache gerecht werden, dass ganzheitliche und übergeordnete Regulative nicht mehr durchsetzbar sind, gleichzeitig jedoch gemeinschaftliche Stabilisatoren gepaart mit individuellen und kollektiven Freiheitsgraden in den Selektionen zulassen. Als ein solches Organisationsprinzip schlage ich in Anlehnung an die Umsetzung telekommunikatorischer Organisationsstrukturen das Prinzip des >Erinnerungs-Backbone< vor, das im Folgenden hergeleitet und näher erläutert wird: Die technische Gegenwart ist – so wurde in Kapitel 3 dargelegt – im Besonderen geprägt durch analog-digitale (Parallel-)Welten mit multiplen Selektionen auf der technischen und inhaltlichen Ebene, durch steigende Komplexität und Performanz von Hard- und Software, durch nicht-hierarchische, de-linearisierte Strukturen und geänderte Partizipationsmöglichkeiten. Diese technologischen Bedingungen bewirken auf der einen Seite Individualisierungsmöglichkeiten und zunehmende Flexibilität, wie sie bereits in den Beschreibungen zu funktionalen Ausprägungen in der Gegenwart zum Ausdruck gebracht wurden.586 Damit wird auch auf der organisatorischen Ebene der Wunsch nach dynamischer Repräsentanz, d.h. nach benannten rhizomatischen Prinzipien, stärker. Auf der anderen Seite erzeugen höhere Dynamiken Bedürfnisse nach Organisationsprinzipien, die Möglichkeiten der individuellen und kollektiven Verortung liefern und damit kanonische Elemente als Orientierungspunkte und Möglichkeiten der sinnhaften Einbettung in Erinnerungsgemeinschaften inkludieren. 585 586 U.a. J. / A. Assmann (1987), S.24f. Vgl. Ausführungen in Abschnitt 5.1.2. 232 Im Organisationsprinzip >Erinnerungs-Backbone< werden diese beiden Perspektiven zusammengeführt: Der Erinnerungs-Backbone bezeichnet eine Art Grundgerüst und damit die verbindliche Grundmenge an selektierten Erinnerungsinhalten des Funktionsgedächtnisses einer Gemeinschaft. Er umfasst damit den inhaltlichen Kern dessen, was dieses Kollektiv als Erinnerungsgemeinschaft überhaupt erst formiert. Diese Grundmenge kann bildlich als eine Art >Basisnetz< vorgestellt werden: Erinnerungsinhalte werden im Rahmen des Selektionsprozesses ausgewählt und zueinander in Beziehung gesetzt. Diese Verknüpfungen bilden in ihrer Gesamtheit das Grundgerüst, welches das notwendige Mass an Verbindlichkeit und vereinheitlichender Kraft für die Herausbildung bzw. den Fortbestand einer Erinnerungsgemeinschaft erzeugt. Auf diese Weise wird mit dem Erinnerungs-Backbone der normative Anteil einer Erinnerungsgemeinschaft widergespiegelt und damit Aspekte eines kanonischen Regulativs, was die Durchsetzungskraft und sich daran anschliessende funktionale Ausprägungen betrifft. Entgegen des kanonischen Prinzips muss dieser Erinnerungs-Backbone keine hierarchische Struktur aufweisen. Es können unterschiedlichste Inhalte gleichberechtigt miteinander verknüpft werden. Analog zu den Backbone-Netzen in der Telekommunikation können sich an dieses Basisnetz nun verschiedenste, gleichberechtigte Anschlussnetze ankoppeln. Dabei handelt es sich entweder um individuelle Anreicherungen oder aber um inhaltliche Erweiterungen von Sub-Gemeinschaften, beispielsweise in Form untergeordneter Interessengemeinschaften. Diese individuellen oder kollektiven Anreicherungen stellen den flexiblen, hoch dynamischen Anteil des jeweiligen Funktionsgedächtnisses dar. Sie sind ähnlich der vorgestellten rhizomatischen Struktur mit hoher Performanz ausgestattet, erlauben Verknüpfungen unterschiedlichster Inhalte und garantieren damit hohe Freiheitsgrade jenseits des normativen Erinnerungs-Backbones. Über diese Anreicherungen können zudem verschiedene Erinnerungs-Backbones miteinander in Beziehung gesetzt werden.587 Kulturelle Dynamik und hohe Reflexivität basieren nicht zuletzt auf dem Austausch von Inhalten und damit auf dem Austausch zwischen Funktionsgedächtnissen der einzelnen Erinnerungsgemeinschaften. 587 Als neue Verknüpfungen zwischen Anschlussnetzen mit unterschiedlichen dazugehörigen Basisnetzen. 233 Insgesamt ergibt sich daraus ein flexibel-normatives588 Organisationsprinzip, das hohe Freiheitsgrade mittels individueller Selektionen auf der einen Seite und die Einbindung in eine Erinnerungsgemeinschaft auf der anderen Seite ermöglicht. Über die Herausbildung eines normativen Konsenses schafft das kollektive Gedächtnis Einbettungs- und Orientierungsmöglichkeiten für die Mitglieder einer Gesellschaft. Der Erinnerungs-Backbone als Organisationsprinzip steht damit für den Übergang von auf Stabilität fokussierenden Erinnerungskulturen hin zu den Möglichkeiten dynamischer Erinnerungskulturen. Für eine solche organisatorische Umstellung möchte ich einige zentrale Beschreibungsaspekte geltend machen: Heterogene Erinnerungs-Backbones als Ausdruck einer neuen Gedächtnisökologie: Mit einem derartigen Prinzip, das Inhalte des Basisnetzes mit gleichberechtigten Inhalten verschiedenster Anschlussnetze miteinander verschaltet, d.h. streng hierarchische Organisationen negiert, wird nunmehr statt eines breit angelegten Kanons lokaler Konsens organisiert. Zentrale, übergeordnete Erinnerungsprozesse und -organisationen weichen kleineren, vielfach auf lokaler Ebene operierenden Erinnerungs-Backbones589, die über die beschriebenen Verknüpfungsmöglichkeiten Verbindungen und damit Austauschmöglichkeiten eingehen. Die einzelnen, nach dem Prinzip des Erinnerungs-Backbones organisierten, parallel prozessierenden Funktionsgedächtnisse stellen trotz ihrer Verknüpfungsmöglichkeiten jeweils eigenständige Ordnungen dar, die nebeneinander existieren. In Anlehnung an Baecker kann man in diesem Zusammenhang von der Einführung einer neuen Gedächtnisökologie sprechen, „wenn Ökologie heißt, dass man es mit Nachbarschaftsverhältnissen zwischen heterogenen Ordnungen zu tun bekommt, denen es […] an jeder übergreifenden Ordnung, an jedem Gesamtsinn fehlt“ (Baecker 2007: S.9). 588 In Anlehnung an Ellrichs Ausführungen zum Umgang mit schwindenden Orientierungsmöglichkeiten in der Gegenwart. Es werden von ihm dafür verschiedene Strategien beschrieben. Neben der Möglichkeit des >proto-normalistischen< Verhaltens, d.h. der scharfen Trennung des >Normalen< vom >Anormalen<, gibt es nach Ellrich auch eine >flexibel-normalistische< Haltung: Sie steht für individuell, flexible Selektionen in einem vorher abgesteckten, normativen Bereich (an Inhalten). Vgl. Ellrich (2008), S.69f. 589 Vgl. auch Zierold (2006) S.187. 234 Dekanonisierung >im Grossen< und Kanonisierung >im Kleinen<: In der Konsequenz bedeutet das auch, dass eine Dekanonisierung >im Grossen< durch eine Art Kanonisierung >im Kleinen< fortgesetzt wird, wenn man unter Kanonisierung hier lediglich die Generierung von Verbindlichkeit für bestimmte selektierte Erinnerungsinhalte versteht. Ein stabiler, zentraler Organisationsmechanismus wird überführt in eine technisch bedingt offene Organisationsstruktur, in der die jeweiligen Funktionsgedächtnisse – organisatorisch als Erinnerungs-Backbones gedacht – gemeinschaftlichen Konsens organisieren. Das Organisationsprinzip spiegelt auf diese Weise den bereits beschriebenen Übergang von geschlossenen auf offene Maschinen im kybernetischen Zeitalter wider.590 Das hat zum einem Auswirkungen auf die Selektionsmechanismen, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird. Zum anderen wird mit dem Verzicht auf weitläufige Kanonisierung auch die Idee des Totalen, des Einen zugunsten inhaltlicher Vielheit aufgegeben. Bisherige Repräsentation von religiös, politisch etc. forcierten und mittels Kanonisierungen durchsetzbaren Totalitäten und Idealitäten weichen der bei Deleuze und Guattarani angesprochenen Mannigfaltigkeit (der Inhalte). Höhere Dynamiken zwischen kollektiven Funktionsgedächtnissen: Verknüpfungen zwischen Basis- und Anschlussnetzen im Sinne rhizomatischer Strukturen ermöglichen nicht nur prinzipiellen Austausch zwischen den einzelnen Erinnerungs-Backbones – die vielfältigen und mehrdimensionalen Verknüpfungen generieren überdies gesteigerte Formen des Austauschs und damit gesteigerte Formen der Reflexivität. Permanenter Austausch produziert dann auch stetige Alternativen, ein >Was-wäre-sonst-noch-möglich<, die in der Folge zu höheren Fluktuationsraten, d.h. zu Neu- oder Umwandlungen von Funktionsgedächtnissen führen. Mit den aufgezeigten Änderungen im Organisationsprinzip unterliegen auch die Organisationsformen Erweiterungen und Wandlungen: Gemäss den beiden grundlegenden Ausprägungsformen des kollektiven Gedächtnisses in der Dimension >Technik< (Analog- und Digitalgedächtnis) werden materielle Organisationsformen um virtuelle 590 Simondon (2012), u.a.S.11 und S.130; Simondon (2011) S.90; vgl. auch Ausführungen in Abschnitt 3.2. 235 Organisationsformen jenseits des realen Raumes erweitert. Für diese beiden, physisch unterscheidbaren Organisationsformen stehen dann wiederum sowohl räumliche, zeitliche als auch semantische Organisationsstrukturen zur Verfügung. Ihre jeweiligen Anwendungen und konkreten Ausprägungen sind dabei abhängig von den zugrundeliegenden Technologien. Mit den technischen Parallelwelten der Gegenwart operieren kollektive Gedächtnisse daher weiterhin mit Organisationsformen im realen Raum wie beispielsweise mit traditionellen Bibliotheken, Archiven, Museen etc. Sie wurden und werden jedoch zunehmend erweitert um ihre virtuellen Kopien in Form von Datenbanken, Bibliotheken, Archiven etc.591 Die möglichst genaue Übersetzung räumlicher Organisationsformen in den virtuellen Raum, wie sie insbesondere in den Anfängen der Digitalisierung vollzogen wurde, weicht mit zunehmender >Emanzipation< digital operierender Hard- und Software anderen Organisationsformen, vornehmlich zeitlichen. Zumindest für den digital operierenden Teil des kollektiven Gedächtnisses scheint sich hier der bereits angezeigte Paradigmenwechsel vom Raum- zum Zeitgedächtnis592 auch in der Organisation widerzuspiegeln: Vormals räumliche Organisationsformen im digitalen Bereich, die sich an ihren analogen Vorbildern orientierten593, werden überführt oder zumindest erweitert um zeitliche Formen der Organisation. Sick hat in diesem Zusammenhang beispielsweise auf Projekte wie >MyLifeLog< hingewiesen, bei dem es sich um die Etablierung zeitlicher und semantischer Organiationsformen zur Abbildung multimedialer, individueller und kollektiver Informationen mittels digital operierender Hard- und Software handelt.594 Andere, wie Gelernter595, sehen Life- oder Cyberstreams, d.h. zeitlich geordnete Informationsströme, als zukünftig dominante Organisationsform des Internets.596 Die hier aufgezeigten Übergänge hin zu einem dynamischen Organisationsmodell des kollektiven Gedächtnisses der Gegenwart, bestehend aus einem Organisationsprinzip der Art >Erinnerungs-Backbone< und den sich daran anschliessenden zeitlichen, se- 591 Wie bereits in Abschnitt 3.2.1 angezeigt. Vgl. Ausführungen in Abschnitt 5.1.2 (Funktion: Generierung von Raum- und Zeitvorstellungen). 593 Sick (2004), S.23. 594 Sick (2004), S.20ff. 595 Gelernter (2010b). 596 Zu den Änderungen bzw. Übertragungen räumlicher Organisationsformen in digital operierende Speichermedien gibt es eine Vielzahl an Publikationen. U.a. sei hier auf Ernst und seine Betrachtungen zum Wandel des Archivs verwiesen. Vgl. Ernst (2002); Ernst (2007). 592 236 mantischen und räumlichen Organisationsformen, bedingen weiterhin bereits angesprochene Änderungen in den Selektionsmechanismen. Die zentralen Änderungen aus einer organisatorischen Perspektive können unter den Stichworten >Auflösung zentraler Selektionsautoritäten< (1) und >Änderung in den Selektionsfiltern< (2) zusammengefasst werden. (1) In stark hierarchisch geprägten Organisationsmodellen, insbesondere im kanonischen Prinzip, oblag die Selektion der zu erinnernden Inhalte den religiösen oder politischen Eliten, die in ihren Gemeinschaften selbst nicht hinterfragt wurden. Eine Selektionsautorität wurde etabliert, die ausserhalb des inhaltlichen Selektionsprozesses stand.597 Mit dem hier dargestellten, dynamisch ausgestalteten und hohe Freiheitsgrade umfassenden Organisationsmodell werden nicht nur statisch-hierarchische Modelle wie der Kanon negiert, sondern mit ihnen auch Selektionsmechanismen, die ausschliesslich auf höher gestellten Selektionsautoritäten beruhen. Selektionsprozesse setzen im beschriebenen Modell nunmehr an verschiedensten Ebenen an: Inhaltliche Selektionen für das jeweilige Funktionsgedächtnis einer Gruppe speisen sich zum einen aus individuellen Selektionen der Mitglieder, die neue oder alternative Inhalte in das Funktionsgedächtnis einer Gemeinschaft einführen können. Zum anderen speisen sich die Inhalte des Funktionsgedächtnisses aus bereits verhandelten, kollektiven Vergangenheitsrekonstruktionen und deren Fortschreibung in die Gegenwart. Selektionsprozesse sind damit breiter angelegt und basieren weniger auf Selektionsautoritäten als auf stetigen Verhandlungen ihrer Mitglieder.598 Der Wegfall aussenstehender, nicht hinterfragbarer, zentraler Selektionsautoritäten und die Zuwendung hin zu einer mehr und mehr dezentral operierenden Selektionsvielfalt fördert gleichzeitig eine individuelle, >innere< Selektionsautorität – die der Aufmerksamkeit(sallokation): Mit den signifikant gestiegenen Inhaltsangeboten wird die Selektion auf individueller und kollektiver Ebene zu einer expliziten Funktion der Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich um eine konstante Funktion, da den gestiegenen technischen Kapazitäten und den darin gespeicherten Mengen an Erinnerungsinhalten auf der Ebene des Subjektes weiterhin >nur< nahezu gleichbleibende Aufmerksamkeitskapazitäten (des menschlichen 597 Stiegler (2009a), S.85. D.h. nicht, dass es auch weiterhin beispielsweise temporäre oder auf bestimmte Inhalte angewandte Selektionsautoritäten geben kann. Sie sind jedoch im Gegensatz zu ihren Vorgängern nicht ausserhalb der Gemeinschaft >angesiedelt<, können also selbst Gegenstand der Hinterfragung sein und so an Autorität verlieren. 598 237 Gehirns) zur Verfügung stehen. D.h. nichts anderes, als das Selektionsprozesse der Gegenwart nicht nur breiter angelegt, sondern auch mehr denn je herausfordernder Bestandteil bei der Herausbildung von Funktionsgedächtnissen sind und ein höheres Mass an Reflexivität erzeugen.599 (2) Die organisatorische Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses beinhaltet weiterhin bestimmte Präferenzen für die anzuwendenden Selektionsfilter. In hierarchischen Organisationsmodellen werden die Selektionsfilter durch die aussen stehenden Selektionsautoritäten festgelegt, wodurch beispielsweise religiöse Filter (z.B. die Auswahl der heiligen Texte) oder politische Filter (z.B. der Ausschluss >entarteter Kunst< im Nationalsozialismus) für die Selektion der Erinnerungsinhalte zur Anwendung kamen. Mit dem Übergang von zentralen Selektionsautoritäten hin zu dezentraler Selektionsvielfalt könnte auch für die zur Anwendung kommenden Selektionsfilter eine grössere Vielfalt angenommen werden. Eine solche Tendenz lässt sich aufgrund der gestiegenen Partizipationsmöglichkeiten auf individueller Ebene erkennen. Auf kollektiver Ebene hat insbesondere Stiegler darauf hingewiesen, dass eine zunehmende Ökonomisierung des Gedächtnisses auszumachen ist600 und d.h. der Filter >Wirtschaftlichkeit< an Bedeutung gewonnen hat: Auswahlprozesse sind seit der Industrialisierung immer stärker dem Selektionsfilter „einer politischen und industriellen Ökonomie“ (Stiegler 2009a: S.70) ausgesetzt. Auch wenn wirtschaftliche Aspekte früheren dominanten Filtern der Art >Religion< oder >Politik< immer schon beiliegend waren, so ist doch die Explizitheit und Exposition des wirtschaftlichen Selektionsfilters erst Gegenstand der jüngeren Kultur(industrie)geschichte und zeigt einmal mehr die Bedeutung technisch und wirtschaftlich symbiotischer Entwicklungen für die Ausprägung kollektiver Gedächtnisse. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Aspekte lässt sich insgesamt festhalten, dass das hier entwickelte, flexibel-normativ arbeitende Organisationsmodell die technologischen Bedingungen der Gegenwart und damit verbundene Flexibilisierungs-, Individualisierungs- und Optionalisierungstendenzen mit den grundlegenden Funktionen kollektiver Gedächtnisse, d.h. Verortungsmöglichkeiten für den Einzelnen in der Gemeinschaft anzubieten und gemeinschaftlich verbindliche Sinn- und Werthorizonte zu 599 600 U.a. Peters (2009), S.91; Schmidt (2000), S.264. Stiegler (2009a), S.70; Stiegler (2009c), S.97-187. 238 schaffen, zusammenführt. Kanonische und rhizomatische Aspekte werden hierfür im kollektiv verbindlichen Erinnerungs-Backbone mit individuellen und (sub-)kollektiven Anschlussmöglichkeiten kombiniert und generieren damit auf organisatorischer Ebene gesellschaftliche Stabilisatoren bei gleichzeitig hohen Freiheitsgraden. In der Folge lassen sich aus organisatorischer Sicht kollektive Gedächtnisse der Gegenwart als lokale, heterogene Erinnerungs-Backbones beschreiben, die im Rahmen einer neuen Gedächtnisökologie nebeneinander existieren und interagieren. Inhaltliche Vielfalt statt Streben nach übergeordneten, zentralen Totalitäten, höhere Dynamiken in der prozessualen Ausgestaltung kollektiver Funktionsgedächtnisse mit besonderem Augenmerk auf die Änderungen in den Selektionsprozessen können als zentrale Implikationen dieses Organisationsmodell benannt werden. 5.2 Zusammenfassende Abschlussbetrachtung Zum Auftakt dieser Arbeit stand die mit Goethe artikulierte Frage nach dem Anfang. Aufgefasst als Frage nach den Anfängen wurden damit Fragestellungen nach Vergangenheit und Gedächtnis aufgeworfen. Verstanden als Frage nach dem einen Anfang standen Aspekte der Selektion und damit verbunden Fragen nach Erinnern und Vergessen im Vordergrund. Beide Perspektiven lieferten den ersten inhaltlichen Rahmen für die hier vorgelegte Arbeit. Auf diese Weise inhaltlich und im weiteren Verlauf spezifischer in das Forschungsfeld des medien- und kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses verortet, wurde die Beantwortung der beiden Forschungsfragen >Welche Entwicklungen haben im letzten Jahrhundert zur technischen Gegenwart (hypomnésis) geführt und wie gestaltet sie sich heute?< und daran anschliessend Frage >Wie muss ein erinnerungskulturelles Modell, in dieser Arbeit das Modell des kollektiven Gedächtnisses von J. und A. Assmann, vor dem Hintergrund dieser technischen Gegenwart überarbeitet werden, um es anschliessend für eine Beschreibung heutiger Erinnerungskulturen (anamnésis) verwenden zu können?< als Zielsetzung für diese Arbeit formuliert. Aufsetzend auf der bereits bei Platon eingeführten Unterscheidung zwischen hypomnésis als technischem Gedächtnis und anamnésis als Erinnerungs- und Erkenntnismodell widmete sich Kapitel 3 daher zunächst der Beantwortung der ersten Forschungsfrage und damit der hypomnétischen Gedächtnisperspektive. Kapitel 4 stellte mit der Untersuchung eines zentralen Modells 239 zur Ausprägung von Erinnerung(skultur) anschliessend auf die anamnétische Perspektive um und lieferte hiermit die konzeptionelle Grundlage zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage in diesem letzten Kapitel: Aufbauend auf den wesentlichen Erkenntnissen zu den Eigenschaften und Konfigurationen der hypomnétischen Gegenwart aus Kapitel 3 sowie auf der in Kapitel 4 vorgenommenen kritischen Reflexion des Modells zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis bei J. und A. Assmann wurde ein Gedächtnismodell entwickelt, das die beschriebenen Einschränkungen des Assmann’schen Modells zu überwinden versucht und als raum-, zeit- und technikintegratives Modell die konzeptionelle Anschlussfähigkeit auch für Erinnerungskulturen der (technischen) Gegenwart sicherstellt. Auf der konzeptionellen Ebene bedeutete dies, das zweistufige Modell von J. und A. Assmann in ein Achsenmodell des kollektiven Gedächtnisses mit den beiden Dimensionen >Inhalt< und >Technik< zu überführen. Strukturell beinhaltet das zum einem die Umstellung von einem hierarchisch aufgebauten Modell in ein Modell mit gleichberechtigten intra- und interdimensionalen Ausprägungsformen: In der Dimension >Technik< handelt es sich dabei um die Ausprägungsoptionen >Analog- und Digitalgedächtnis<, in der Dimension >Inhalt< bilden >realisiertes Funktionsgedächtnis< und >potentielles Speichergedächtnis< die möglichen Ausprägungsformen.601 Neben der geänderten Ordnungslogik werden mit einer derartigen konzeptionellen Ausgestaltung zum anderen gesteigerte Flexibilitätsgrade angezeigt: Innerhalb der technischen Dimensionen können in Abhängigkeit soziokultureller, politischer und nicht zuletzt technischer Entwicklungen zwischen den Ausprägungsoptionen >Analog- und Digitalgedächtnis< beliebig viele technische Zustände kollektiver Gedächtnisse eingenommen werden. Innerhalb der Dimension >Inhalt< stehen gesteigerte Realisierungsmöglichkeiten von Funktionsgedächtnissen aus einem im Hintergrund prozessierenden Speichergedächtnis für erhöhte Flexibilitätsgrade. Diese strukturellen Anpassungen gehen bei der Umstellung auf das Achsenmodell einher mit inhaltlichen Anpassungen. Zusammengefasst handelt es sich hierbei im Wesentlichen um die Aufhebung der Assmann’schen Unterscheidung des kollektiven Gedächtnisses in ein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis auf der ersten Hierarchieebene ihres Modells zugunsten der Einführung gleichberechtigter, technischer 601 Vgl. Ausführungen und Abbildungen in Abschnitt 5.1.1. 240 Grundoptionen des kollektiven Gedächtnisses in der Dimension >Technik< (d.h. besagtes >Analog- und Digitalgedächtnis<). Die im Modell von J. und A. Assmann nur implizit im Unterscheidungskriterium >Trägerschaft< mitgedachte technologische Bedingung zur Ausprägung kollektiver Gedächtnisse wird nun explizit auf oberster Ebene im Modell verankert und die Unterscheidung in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis aufgrund der technischen Bedingtheit beider Gedächtnisformen seit dem letzten Jahrhundert obsolet. Die Assmann’sche Unterscheidung in ein Funktions- und Speichergedächtnis auf der zweiten Hierarchieebene ihres Modells wird auch im Achsenmodell beibehalten. Die inhaltliche Anpassung erfolgt hier in der Bestimmung des Speichergedächtnisses als nun aktiv operierender Speicherhintergrund: Das bei J. und A. Assmann noch passiv bestimmte Speichergedächtnis, so hat insbesondere die Analyse der technischen Gegenwart in Kapitel 3 gezeigt, kann mit den notwendigen technischen Übersetzungsprozessen nicht mehr aufrecht erhalten werden und wird daher als aktiver Speicherhintergrund mit Selektionsprozessen bereits auf technischer Ebene neu bestimmt. Mit diesen strukturellen und inhaltlichen Anpassungen wurden hierarchische, teilweise starre und, bezogen auf die Entwicklungen des letzten Jahrhunderts, mitunter terminologisch schwierige konzeptionelle Aspekte des Modells bei J. und A. Assmann notwendigerweise eingetauscht in ein offeneres, den technologischen Bedingungen und prinzipiellen Anforderungen jüngerer Entwicklungen entsprechendes Modell. Insgesamt wurde damit das normativ-statische Modell von J. und A. Assmann überführt in ein deskriptiv-dynamisches, raum-, zeit- und technikintegratives Modell mit einer Anwendbarkeit über alle technik- und sinngeschichtlichen Epochen bis in die Gegenwart. Hierin kommt neben der explizit formulierten technischen Bedingtheit des kollektiven Gedächtnisses gleichzeitig ein Technikverständnis zum Tragen, das sich nicht mehr an >ursprünglichen< Hierarchieverhältnissen der Art >Mensch über Technik< orientiert, wie es beispielsweise in der Assmann’schen Gegenüberstellung von alten und neuen Medien zum Ausdruck kommt602, sondern vielmehr ein Verständnis, das versucht, den in den Abschnitten 3.1.2 und 3.1.3 beschriebenen technischen Entwicklungen und Zäsuren der ersten und zweiten kybernetischen Phase gerecht zu werden. Dem Assmann’schen Technikverständnis innewohnende Vorstellungen von 602 Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.2.2. 241 Stabilitäten und Idealitäten werden, orientiert an den (technischen) Realitäten, überführt in ein Modell, das sowohl stabile, technisch wie inhaltlich auf Permanenz ausgerichtete Erinnerungskulturen als auch kurzlebige, auf stetige Prozesse der Veränderung und (technischen) Übersetzung aufbauende Erinnerungskulturen zulässt. Auf Basis dieser übergeordneten strukturellen und inhaltlichen Anpassungen im Modell konnte im Anschluss eine Analyse zu den spezifischen Konsequenzen für die Ausprägung kollektiver Gedächtnisse in der Gegenwart vorgenommen werden: Als Ergebnis zeigte sich hier, dass wesentliche Konsequenzen für aktuelle Ausprägungen auf zwei Ebenen des Modells festgemacht werden können: intradimensional, d.h. im Zusammenspiel zwischen Analog- und Digitalgedächtnis (Ebene 1) sowie interdimensional, d.h. in der im Modell verankerten Beziehung zwischen den technologischen Bedingungen und den Inhalten des kollektiven Gedächtnisses (Ebene 2). Auf der ersten Ebene konnten bei Übersetzungen zwischen analog und digital operierenden Speichermedien insbesondere Mengen- und Authentizitätsverluste bei potentiellen Erinnerungsinhalten als wesentliche Konsequenzen aufgezeigt werden. Weitere Verluste zeigten sich im Digitalgedächtnis durch den partiellen Ausschluss des Subjekts mit den auftauchenden Möglichkeiten technisch generierter Erinnerungsinhalte. Diesen Verlusten stehen Formen der Stabilisierung durch digital→analoge Übersetzungen gegenüber. Auf der zweiten Ebene, der interdimensionalen Betrachtung, wurde der Fokus auf die Implikationen digitaler Speichertechnik für die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses gesetzt. Hier konnten die Auswirkungen spezifisch anhand der Eigenschaften digitaler Hard- und Software aufgezeigt werden: Zum einen wurde eine Verschärfung der bereits in den analog→digitalen Übersetzungen aufgezeigten Verluste in der Dimension >Inhalt< sichtbar, beispielsweise durch nicht vorhandene Lesehardware oder fehlende Compiler. Zum anderen präsentieren sich digitale Hardund Software als zentrale Katalysatoren für häufigere und bisweilen schnellere Modifikationen und Neuausprägungen kollektiver Gedächtnisse und damit für kulturelle Dynamiken insgesamt. Technisch bedingte Möglichkeiten der Re- und Dekontextualisierung von Erinnerungsinhalten, gesteigerte Partizipationsmöglichkeiten an der Auswahl von Inhalten und damit an der Ausprägung je spezifischer Erinnerungskulturen sowie erhöhte Anschlussfähigkeit und Reflexivität waren hier einige der Effekte, die diese gesteigerten Formen kultureller Dynamiken erzeugen. Digitale Hardund Software setzt darüber hinaus auch direkt an der Herausbildung der Einzelinhalte 242 an: Neue Formen der Prägnanzbildung und prinzipielle Umstellung monomedialer auf multimediale Inhalte stehen für weitere Auswirkungen auf die Inhaltsdimension des kollektiven Gedächtnisses. Neben diesen, hier am Modell aufgezeigten Konsequenzen konnten weiterführende Effekte für die Herausbildung gegenwärtiger Erinnerungskulturen beschrieben werden, die ich nachfolgend in den Punkten >Prozesse<, >Funktionen< und >Organisation< kollektiver Gedächtnisse der Gegenwart zusammenfasse: Prozesse des kollektiven Gedächtnisse der Gegenwart: Die Prozesse zur Herausbildung spezifischer kollektiver Gedächtnisse sind durch die technischen und soziokulturellen Entwicklungen spätestens seit Mitte des letzten Jahrhunderts vielfältiger und komplexer geworden und spiegeln sich in den benannten intra- und interdimensionalen Beziehungen für gegenwärtige Ausprägungen im Modell wider. Als zentral hat sich in diesem Zusammenhang ein Prozess für die Ausprägung von Erinnerungskulturen hervorgetan: Übersetzungsprozesse zwischen den zur Verfügung stehenden Speichertechniken sind fundamental für die Herausbildung und den (relativen) Erhalt kollektiver Gedächtnisse der Gegenwart. Standen in früheren Epochen allein die Speicherprozesse als technische Voraussetzung zum späteren Abrufen von Erinnerungsinhalten im Vordergrund, so müssen diese in der technischen Gegenwart zwingend von stetigen Übersetzungsprozessen begleitet werden. Im Vergleich zu früheren Medienepochen eingeschränkte Halt- und Lesbarkeiten der technischen Gedächtnismedien, deren initiale Einschreibungen und Speicherungen keine dauerhaften Fixierungen mehr garantieren, machen Übersetzungsprozesse zu einem bedeutenden Faktor in der Herausbildung kollektiver Gedächtnisse. Eine neue Form des >rituellen Wiederholungszwanges< in Form technischer Übersetzungsprozesse hat damit eingesetzt, in denen Menschen wie ihre technischen Korrelate zu dynamischen Zwischenspeichern werden und darauf eingelagerte Inhalte für eine >dauerhafte< Abrufbarkeit auch dauerhaft neu gespeichert werden müssen. Funktionen des kollektiven Gedächtnisse der Gegenwart: >Generierung von Raum- und Zeitvorstellungen<, >Legitimation (von Institutionen, Macht etc.)<, >Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver 243 (Alltags-)Handlungen< sowie >individuelle und kollektive Identitätskonstruktionen< konnten als wesentliche Funktionen des kulturellen Gedächtnisses im Modell von J. und A. Assmann herausgearbeitet werden.603 Mit diesen Funktionen werden prinzipielle Aufgaben des kollektiven Gedächtnisses beschrieben. Ihre Wirkung zeigt sich jedoch unter Berücksichtigung der technologischen Bedingungen für gegenwärtige Ausprägungen verändert – funktionale Kräfte gehen verloren, Wirkungsmechanismen ändern sich oder müssen neu orientiert werden. Die Einzelfunktionen betrachtend zeigten sich insbesondere folgende funktionale Implikationen der hypomnétischen Gegenwart: 603 604 o Generierung von Raum- und Zeitvorstellungen: In den vergangenen Epochen schrift-technik-geprägte homogene Zeit- und Raumvorstellungen mit linearen Zeitauffassungen, klaren Zeitdifferenzen und chronologischen Ereignisanordnungen werden mit den digital operierenden Techniken der Gegenwart erweitert und in Teilen verdrängt durch heterogene, fragmentarische und neu synthetisierte Zeit-Räume. Mit den Technologien der Gegenwart kann das kollektive Gedächtnis in neuen Zeit-Räumen operieren und für ihre Mitglieder mitgestalten: Echtzeitverarbeitende Technologien gebunden an eine weltweite Übertragungsinfrastruktur ermöglichen jenseits der Eigenschaften analoger Gedächtnismedien erweiterte Zugangsmöglichkeiten zu Erinnerungsinhalten und andersartige Formen der Zusammensetzung mit den Mitteln der >bricolage<. Zeit- und Raumerfahrungen sind hier weniger geprägt durch Abfolgen und Grenzen als durch gleichberechtigte Optionen sowie dynamische, de-linearisierte, virtuelle Strukturen.604 o (De-)Legitimierung (von Institutionen, Macht etc.): Legitimationen von Erinnerungsinhalten für politische, religiöse etc. Zwecke beruhen wesentlich auf der Durchsetzbarkeit und Verbindlichkeit der eingesetzten Vergangenheitsrekonstruktionen. Die Funktionskraft Vgl. Ausführungen in Abschnitt 4.1.3. Vgl. detaillierte Analyse in Abschnitt 5.1.2. 244 korreliert hier im besonderen Masse mit der Durchsetzungskraft der gewünschten Erinnerungsinhalte zur Sicherung von Macht und Institutionen. Mit den geänderten Selektions- und Partizipationsmechanismen der technologischen Gegenwart sowie einer höheren Durchlässigkeit zwischen den jeweiligen Funktionsgedächtnissen und dem Speichergedächtnis wird diese Durchsetzungskraft stark eingeschränkt. Legitimationen verbindlicher Erinnerungsinhalte sind mit den benannten, vor allem technisch bedingten Veränderungen längeren und umfassenderen Vereinbarungsprozessen unterstellt oder auch gar nicht mehr durchsetzbar.605 o 605 Strukturierung und Perspektivierung individueller und kollektiver (Alltags-) Handlungen: Erinnerungsinhalte des kollektiven Gedächtnisses liefern den Mitgliedern einer Erinnerungsgemeinschaft darüber hinaus Vorgaben oder Orientierungen für Handlungen in der Gegenwart und der Zukunft. Je besser diese Erinnerungen legitimiert wurden, und d.h. in diesem Zusammenhang je verbindlicher sie sind, desto stärker können diese Handlungsvorgaben wirken. Mit Blick auf gegenwärtige Ausprägungen zeigen sich funktionale Änderungen hier vor allem als Erweiterung des Optionenraumes – Handlungsvorgaben transformieren auf Basis des Zugangs zu alternativen Handlungsperspektiven und technisch-kulturellen Dynamiken zu Handlungsoptionen, die individuell ausgewählt werden können. Sinkende Durchsetzungskräfte in der Legitimation von Vergangenheitsrekonstruktionen und der Zugang zu Alternativen verändern daher auch diesen Funktionsmechanismus. Weiterhin tritt mit den aufkommenden Möglichkeiten ausschliesslich technisch generierter Erinnerungsinhalte neben dem Menschen auch Technik als >Handlungsakteur< auf: Auf Basis von Sensoren technisch er- Vgl. detaillierte Analyse in Abschnitt 5.1.2. 245 zeugte Wahrnehmungen können gleichermassen in potentielle Erinnerungsinhalte umgewandelt werden und damit Handlungsorientierungen stiften.606 o 606 607 Individuelle und kollektive Identitätskonstruktionen: Als zentrale Funktion des kollektiven Gedächtnisses bestimmen die darin enthaltenen Vergangenheitsrekonstruktionen wesentlich die Identität von Gruppen und ihrer Mitglieder. Die technologische Bedingung zur Ausprägung kollektiver Gedächtnisse spiegelt sich daher in dieser Funktion in besonderem Masse wider. Mit dem neu eingeführten Begriff der >Transidentitätskonstruktion< soll diese Beziehung deutlich herausgestellt werden. Das Präfix >trans< steht deswegen zum einen für die bereits bei J. und A. Assmann aufgezeigte, reflexive Beziehung zwischen dem >Wir< einer Gruppe und dem >Ich< des Individuums bei der Identitätsbildung und zum anderen für die nun explizite Beziehung zwischen der Herausbildung von Identitäten und ihren technologischen Bedingungen im Rahmen des Modells des kollektiven Gedächtnisses. Vor diesem Hintergrund konnten für die Identitätsbildung in Erinnerungsgemeinschaften der Gegenwart insbesondere folgende Änderungen aufgezeigt werden: Die dominierenden Techniken seit Mitte des letzten Jahrhunderts erzeugen mittels ihrer Eigenschaften607 eine Zentrifugalkraft, die einen Übergang von relativ stabilen, abgrenzbaren, möglichst viele Bereiche umfassenden Identitätsentwurf von Erinnerungsgemeinschaften hin zu weniger verbindlichen Identitätsangeboten der je spezifischen kollektiven Gedächtnisse feststellen lässt. Kollektive Identitäten zeigen sich in den aktuellen Ausprägungen vielmehr als Gemeinschaften, die auf Basis kollektiver Verhandlungen einen identifikatorischen Kern herausbilden, der dann mit den Mitteln der Identitätsbricolage individuell angereichert werden kann. Die von J. und A. Assmann genannten weiteren Eigenschaften kollektiver Vgl. detaillierte Analyse in Abschnitt 5.1.2. Vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.2. 246 Identitäten, wie >temporär<, >änderbar< und >kündbar< haben weiterhin Bestand, folgen jedoch deutlich kürzeren Intervallen: Geringere Verbindlichkeiten, Zugang zu alternativen Identitätsentwürfen etc. führen zu schnelleren Zyklen von Identitätsneuerfindungen, -kündigungen oder -gegenentwürfen.608 608 Organisation des kollektiven Gedächtnisses der Gegenwart: Neben den Funktionen ist die Organisation ein weiterer wesentlicher Aspekt für die Beschreibung der Arbeitsweise des kollektiven Gedächtnisses. Die technischen Eigenschaften und Konfigurationen der Gegenwart zeigen auch hier ihre Wirkung auf die organisatorische Ausgestaltung gegenwärtiger Erinnerungsgemeinschaften. J. und A. Assmann selbst hatten den Kanon als wesentliches organisatorisches Prinzip der Vergangenheit für heutige Erinnerungsgemeinschaften bereits ausgeschlossen und >Selbstbeobachtung< und >Selbstorganisation< als mögliche Aspekte für ein neu zu formulierendes Organisationsprinzip, das den Individualisierungs-, Flexibilisierungs- und Optionalisierungstendenzen der Gegenwart gerecht wird, benannt. Gesucht wurde daher ein Prinzip, welches gleichzeitig gemeinschaftliche Stabilisation sowie hohe individuelle und kollektive Freiheitsgrade in den Vergangenheitsselektionen ermöglicht. Kanon und Rhizom waren Ausdruck dieser beiden gegenläufigen organisatorischen Grundsätze, die im neu eingeführten Organisationsprinzip >Erinnerungs-Backbone< zusammengeführt wurden. Er steht daher für ein flexibel-normatives Organisationsprinzip: Der Erinnerungs-Backbone selbst bezeichnet die verbindliche Grundmenge an selektierten Erinnerungsinhalten einer Gruppe und stellt den normativen Anteil dar. Darüber hinausgehende Vergangenheitsselektionen bilden als individuelle und (sub)kollektive Anreicherungen dieser Grundmenge den flexiblen Teil dieses Organisationsprinzips ab. Auf diese Weise können auf organisatorischer Ebene gemeinschaftliche Stabilisation bei gleichzeitig hoher Flexibilität erzeugt werden. Mit einem derartigen Organisationsprinzip werden zudem zentrale, übergeordnete Erinnerungsprozesse und -organisationen der Vergangenheit überführt in Richtung kleinerer, gleichberechtigter kollektiver Gedächtnisse, Vgl. detaillierte Analyse in Abschnitt 5.1.2. 247 die über die individuellen und (sub-)kollektiven Anreicherungen miteinander verschaltet werden und Austauschmöglichkeiten eingehen können. Als Konsequenz lassen sich aus organisatorischer Sicht kollektive Gedächtnisse der Gegenwart als vielfach lokale, heterogene Erinnerungs-Backbones beschreiben, die im Rahmen einer neuen Gedächtnisökologie nebeneinander existieren und interagieren. Übergeordneten, zentralen Totalitäten vergangener Epochen wird damit inhaltliche Vielfalt und höhere Dynamik in der Ausgestaltung der jeweiligen kollektiven Funktionsgedächtnisse gegenübergestellt. Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass Erinnerungskultur der Gegenwart nicht mehr allein auf den historisch dominanten Gegenkopplungsprozessen beruht, d.h. auf Prozessen der Stabilisierung und Begrenzung wie sie organisatorisch im Kanon gespiegelt wurden, sondern zunehmend auch auf Mitkopplungsprozessen, d.h. auf Prozessen der Verstärkung und des Wachstums. Stabilität und Dynamik sind daher die beiden Pole, die das Organisationsprinzip >Erinnerungs-Backbone< repräsentieren soll. Kapitel 5 beantwortet mit den hier zusammenfassend vorgestellten Weiterentwicklungen des Modells sowie mit den konkreten Ausführungen zu den Implikationen dieser Anpassungen auf Erinnerungskulturen der Gegenwart nun auch die zweite Forschungsfrage dieser Arbeit und versucht damit auf die einleitend aufgezeigten Einschränkungen im bestehenden wissenschaftlichen Diskurs609 einzugehen. Denn neben der in Kapitel 3 erarbeiteten und in den anschliessenden Kapiteln zur Anwendung gekommenen Analyse hypomnétischer Gegenwart soll damit auch den aufgezeigten Krisen- und Endeszenarien eine neue Perspektive hinzugefügt werden: Die dargestellten Eigenschaften gegenwärtiger Erinnerungskulturen auf Basis des hier vorlegten Modells sollen weniger als Ende oder Krise verstanden werden, als vielmehr Ausdruck für eine neue Art der Gedächtniskultur sein, die für eine Umstellung von geschlossenen auf zunehmend offene Erinnerungsgemeinschaften steht.610 >Offen< werden diese Erinnerungsgemeinschaften durch ihre technologischen Grundlagen, 609 Hier wurden in der Einleitung insbesondere zwei Punkte benannt: wenig konkrete Technikanalyse (1) und eine Vorliebe für Krisen und Enden (2). Vgl. Abschnitt 2.1.2. 610 In Anlehnung an Simondon, vgl. Ausführungen in Abschnitt 3.1.2. und Simondon u.a. (2012), S.11; (2011), S.90. 248 durch (darauf basierende) sozio-kulturelle Entwicklungen, die Hierarchien, Stabilitäten etc. bisweilen eintauschen in gleichberechtigte Vielheiten, höhere Freiheitsgrade und schnellere Entwicklungszyklen sowie durch das gemeinsame Auftreten von Mensch und Technik als Akteure in der Herausbildung kollektiver Gedächtnisse. Damit verbundene und mit Bezug auf die technischen Entwicklungen sicherlich massive Herausforderungen müssen jedoch nicht zwangsläufig in dauerhafte Krisen kollektiver Gedächtnisse führen, sondern sind eher ein Spiegelbild für eine solche neue Gedächtniskultur. Der insbesondere von A. Assmann formulierten Krise des kollektiven Gedächtnisses wird damit nur insofern entsprochen, als dass es sich hierbei um einen Wendepunkt und mit Blick auf die beschriebenen technischen Herausforderungen sicherlich auch um einen kritischen Wendepunkt handelt. Das Wort >Wendepunkt< zeigt jedoch bereits an, dass damit eben auch eine neue Richtung eingeschlagen wird, und daran gekoppelt, neue konzeptionelle und handlungsorientierte Ansätze erforderlich sind – das hier vorgelegte Modell liefert einen Vorschlag dafür. Derartig gedacht steht dieses Modell des kollektiven Gedächtnisses für Ausprägungen in der Gegenwart mehr als noch für einen Wendepunkt für ein Gedächtnis in TRANSformation, wie es bereits im Titel dieser Arbeit angezeigt wird. Die Verwandlung und der daran gekoppelte Aspekt des Hinübergleitens von einem Zustand in einen anderen hat ihren semantischen Kern im Präfix >trans<. Dieses >trans< kann für die aufgezeigten Dimensionen im Modell des kollektiven Gedächtnisses weiter ausdifferenziert werden: In der technischen Dimension zeigen sich die Veränderungen insbesondere als >transiente Eigenschaften<, als >Transfer< und >Transmedialität<: Transiente, also nicht auf Dauerhaftigkeit angelegte Eigenschaften, so hat Kapitel 3 aufgezeigt, bestimmen massgeblich die Hard- und Software von Gedächtnismedien der Gegenwart und machen so einen Transfer im Sinne stetiger Übersetzungen von einem Speicher auf den anderen zwingend erforderlich. Kollektive Gedächtnisse der Gegenwart werden damit auf der technischen Ebene an einen stetigen Transferprozess gekoppelt. Dieser neuartige Zwang zum Transfer ging allerdings einher mit der Befreiung von einem anderen Zwang – die technischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts haben zu einer Loslösung von der eindimensionalen Schrift hin zu einer transmedialen Mehrdimensionalität von Schrift, Bild, Ton und Zahl bei der Speicherung von Erinnerungsinhalten geführt. 249 In der inhaltlichen Dimension kann der Ausdruck >Transformation< spezifiziert werden als >Transit<, >transitorisch< und >transnational<: Erinnerungen können im Sinne des vorgestellten Modells als Transitgeschäfte bezeichnet werden, da vergangene, nicht-gelebte Ereignisse einer Hard- und Software bedürfen, um als Vergangenheitsselektionen Gegenwart und Zukunft mitzugestalten. Die hierfür eingesetzte Hard- und Software hat durch ihre Eigenschaften und Transferprozesse dabei Einfluss auf die Erinnerungsinhalte selbst. Dieser technisch bedingte, strukturelle Transit zeigt seine Auswirkungen in der inhaltlichen Dimension besonders deutlich im zeitlichen Aspekt des >Transitorischen< und im räumlichen Aspekt des >Transnationalen<. Verstärkt transitorisch sind kollektive Gedächtnisse der Gegenwart durch ihre höheren Flexibilitäts- und Freiheitsgrade: Mit den angestiegenen Austauschmöglichkeiten zwischen den Funktionsgedächtnissen sowie den zunehmenden Gedächtnisfluktuationen verlieren kollektive Funktionsgedächtnisse an zeitlicher Beständigkeit. Ein solcher Verlust zeigte sich auch in der räumlichen Perspektive: Fest umrissene Erinnerungsräume mit dazugehörigen Erinnerungsgemeinschaften, wie sie für die Vergangenheit am Beispiel nationalstaatlicher Erinnerungskulturen aufgezeigt wurden, werden sowohl im physischen und mehr noch im virtuellen Raum überwunden. Diese raum-zeitlichen Aspekte sind Ausdruck neuer kultureller Dynamiken. Diese TRANS-formationen des kollektiven Gedächtnisses repräsentieren eine neue Gedächtniskultur und prägen damit Erinnerungskulturen der Gegenwart in besonderem Masse durch die Notwendigkeit zur Anschlussfähigkeit, durch Fragmentierungen, Heterogenität und Dynamiken jenseits der angestrebten Stabilitäten und Idealitäten vergangener Epochen. Die notwendigen Anschlussfähigkeiten zeigen sich dabei auf zweifacher Ebene: Mittels technischer Übersetzungen und ihrer Transferprozesse wird der erforderliche technische Anschluss gewährleistet, darauf aufbauende Prozesse der Vergangenheitsselektion und Vergangenheitsrekonstruktion stellen die inhaltliche Anschlussfähigkeit sicher. Die um 1900 einsetzende und mit der zweiten kybernetischen Phase vollumfänglich ausgeprägte gesellschaftliche Umstellung auf >Netzwerkgesellschaft<, in der das >Angeschlossen-Sein< zur notwendigen Bedingung des Seins wird611, wird gleichermassen übertragen auf die Prozesse der Erinnerung und die Herausbildung von Erinnerungsgemeinschaften. In Kombination mit den 611 Vgl. Ausführungen in den Abschnitten 3.1.1 bis 3.1.3. 250 weiteren, insbesondere technischen TRANS-formationen haben sich Erinnerungsgemeinschaften der Gegenwart vielleicht nicht immer von den Ewigkeits- und Stabilitätsansprüchen, wohl aber von den Ewigkeits- und Stabilitätsdurchsetzungsvermögen entfernt. In diese Verhältnisse gestellt, zeigen sich Erinnerungsgemeinschaften als vielfältige, mittels individueller und (sub-)kollektiver Anreicherungen verknüpfbare Kollektive, die schnelleren Austausch-, Fluktuations- und Entwicklungszyklen unterliegen und auf diese Weise den benannten Individualisierungs-, Flexibilisierungs- und Optionalisierungstendenzen der Gegenwart Ausdruck verleihen. 251 6 Quellengedächtnis (Bibliographie) „Das Spiel der Wissenschaft impliziert also eine diachronische Temporalität - eine Erinnerung und einen Entwurf. Dem aktuellen Sender einer wissenschaftlichen Aussage wird unterstellt, dass er von früheren, seinen Referenten betreffenden Aussagen Kenntnis hat (Bibliographie) und dass er eine Aussage über diesen Gegenstand nur vorbringt, insofern sie sich von den früheren Aussagen unterscheidet.“ Lyotard: Das postmoderne Wissen (Lyotard 2009: S.76) Aischylos (2010). Der gefesselte Prometheus. Stuttgart: Reclam. Anderson, Benedict (1996). Die Erfindung der Nation. 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