Thema Autoren Entstehungshintergrund

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Rezension von Cordula Kropp in: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/16624.php, Datum des Zugriffs
09.05.2014.
Rezension zu: Jürgen Howaldt, Ralf Kopp, Michael Schwarz: Zur
Theorie sozialer Innovationen (2014): Tardes vernachlässigter Beitrag
zur Entwicklung einer soziologischen Innovationstheorie. Beltz Juventa,
Reihe: Edition Soziologie (Weinheim und Basel) 2014. 120 Seiten. ISBN 978-3-7799-2727-3
D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 23,90 sFr.
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Thema
Der kleine Band greift das verstärkte Interesse an „sozialen Innovationen“ auf und möchte zu
deren begrifflicher Klärung durch ein „theoretisch fundiertes und für die empirische
Forschung taugliches Konzept“ (S. 11) beitragen. Dazu ziehen die Autoren insbesondere die
Sozialtheorie des vergessenen soziologischen Klassikers Gabriel de Tarde (1843-1904) heran,
berücksichtigen aber darüber hinaus zahlreiche weitere Ansätze der sozialwissenschaftlichen
Innovationsforschung.
Autoren
Das Autorenteam prägt seit vielen Jahren die deutsche Debatte um soziale Innovationen und
ist auch wesentlich an der Entstehung und Vernetzung der internationalen Community in
diesem heterogenen Forschungsfeld beteiligt. Als Wissenschaftler der Sozialforschungsstelle
Dortmund bleiben sie dabei einerseits ihrer Tradition in der Arbeitsforschung treu und
konzentrieren sich andererseits zunehmend auf soziale Innovationen als
Forschungsgegenstand der Sozialforschungsstelle.
Entstehungshintergrund
Die Verknüpfung der Untersuchung von Innovationsprozessen mit der auf die logischen
Gesetze der Nachahmung konzentrierten Sozialtheorie von Gabriel de Tarde wurde in den
vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten, insbesondere von Bruno Latour angeregt.
Jürgen Howaldt und seine Kollegen fangen diesen Ball auf, ohne aber ihre bisherigen
Prämissen aufzugeben, etwa die kategoriale Unterscheidung sozialer und technischer
Innovationen.
Aufbau
Das Buch besteht aus fünf Kapiteln, die aber viele Überschneidungen aufweisen.
1. Die Einleitung klärt die Zielsetzung.
2. Das zweite Kapitel beleuchtet den Zusammenhang von sozialen Innovationen und
sozialem Wandel.
3. Das dritte Kapitel drückt de Tardes Sozialtheorie für die Begriffsexplizierung sozialer
Innovationen in das Zentrum und diskutiert zugleich andere Arbeiten, die hier
anschließen.
4. Das vierte Kapitel fragt nach der Rolle von sozialen Innovationen für gesellschaftliche
Transformationsprozesse im Angesicht gegenwärtiger Herausforderungen.
5. Das fünfte Kapitel fragt nach den Möglichkeiten der erfolgreichen Verbreitung
sozialer Innovationen.
Inhalt
Einleitend begründen Howaldt, Kopp und Schwarz ihre folgende Betrachtung mit dem immer
wieder beklagten Defizit eines kohärenten, trennscharfen und operationalisierbaren Begriffs
sozialer Innovation. Für dessen Entwicklung im Rahmen einer soziologischen Praxistheorie
werden sie bei Gabriel de Tarde fündig. Für de Tarde kann ein Verständnis der Entstehung
des Sozialen und insbesondere der Entwicklung von neuartigen Problemlösungen nicht aus
Makrostrukturen und -phänomenen abgeleitet werden, auch nicht aus der Beschreibung der
handelnden Individuen oder Gruppen. Jegliches Verständnis von Prozessen sozialer
Veränderung müsse vielmehr an den vielen kleinen Handlungen der Nachahmung sowie den
Erfindungen und kollektiven Lernprozessen, die sie tragen, ansetzen und also „von unten“
entwickelt werden. de Tarde erweist sich damit für die bisherige Definition der Autoren
besonders passend, soziale Innovationen ‚nicht normativ als intentionale Neukonfiguration
sozialer Praktiken zu fassen‘ (S. 13 sowie in vorhergehenden Veröffentlichungen 2008 und
2010). Die vielfältigen Nachahmungsflüsse werden so zum Transmissionsriemen zwischen
sozialen Erfindungen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen.
Das zweite Kapitel benennt zunächst die begrifflichen Desiderata der bisherigen Befassung
mit sozialen Innovationen. Die Autoren zeigen, inwiefern Innovationen generell, aber noch
stärker soziale Innovationen bzw. gesellschaftliche Veränderungsprozesse, auch Theorien
sozialen Wandels und zeitdiagnostische Fragen am Rande der gesellschaftstheoretischen
Diskussion geblieben sind und allzu oft unter dem Primat technischer Veränderungsimpulse
verhandelt wurden. Mit einer kursorischen Sichtung techniksoziologischer Überlegungen
begründen sie die Notwendigkeit einer analytischen Unterscheidung von technischen und
sozialen Innovationen, der zufolge die Durchsetzung ersterer zwar letztere voraussetze oder
nach sich ziehe, letztere aber, also soziale Innovationen, auch ohne technische auskämen (S.
20). Dann stellen sie eine Reihe älterer Überlegungen zum Zusammenhang von sozialem
Wandel, sozialem Konflikt und sozialen Innovationen in sozial- und arbeitspolitischen
Untersuchungsfeldern vor, die gemeinsam mit jüngeren Anknüpfungspunkten ihre
Begriffsarbeit inspirieren, aber als gesuchte „Mikrofundierung des Sozialen“ (S. 27) und
seines Wandels die Klärung des Verhältnisses von Veränderungsdynamiken auf Mikro- und
Mesoebene und ihrer Wirkung auf der Makroebene schuldig bleiben.
Das zentrale dritte Kapitel bewegt sich auf dieser Basis weg „Von Schumpeters
ökonomischer Innovationstheorie [hin; erg. C.K.] zu Tardes sozialtheoretischer Begründung
der Innovationsforschung“, so der Titel. Der Einbezug der Überlegungen von Gabriel de
Tarde ermöglicht Howaldt, Kopp und Schwarz über Schumpeters Fokus auf
unternehmerisches Handeln von Entrepreneuren hinwegzugehen und stärker die zugleich
adaptive und kreative Seite zahlreicher, teils eigenwilliger Nachahmungshandlungen in den
Blick zu nehmen. Die Autoren rekonstruieren, inwieweit Schumpeter, aber auch der
diskursprägende Diffusionstheoretiker Everett Rogers und viele gegenwärtige Arbeiten
ebenfalls Anleihen bei dem französischen Vorreiter genommen haben, ohne deshalb die
ökonomisch verengte Betrachtungsweise auf Innovationen oder aber die dominante
Makroperspektive in der Erklärung sozialen Wandels zu überwinden. Diese Überwindung
erfordert nach Howaldt et al. eine praxistheoretische Perspektive auf (re)produzierendes
Handeln in seinen vielfältigen Formen von erfinderischen Ideen über kritische Initiativen bis
hin zu Innovationen von Alternativen und Veränderungen, die die Autoren stets mitführen. In
ihren Überlegungen streifen sie viele gegenwärtige Debatten über soziale Innovationen – als
wissenschaftliches Konzept, als politisches Interesse oder als Handlungsarena
gesellschaftlicher Transformationsprozesse –, diskutieren das Verhältnis zu technischen
Innovationen und Artefakten weiter und bedienen sich aktueller zeitdiagnostischer
Einschätzungen, um die Bedeutung von sozialen Innovationen für und im sozialen Wandel zu
bestimmen.
Im vierten Kapitel spitzen sie derlei Überlegungen auf die Fragen zu, welche Möglichkeiten
der gezielten Veränderung sozialer Wirklichkeit soziale Innovationen eröffnen und inwieweit
sozial innovative Experimente, Mikropolitiken, Nischenbewegungen und neuartige
Akteursnetzwerke zur transformativen Bildung neuer Orientierungen und Routinen beitragen.
Hintergrund dieser Erkundungen ist die vielseitige Hoffnung, soziale Innovationen könnten
als Vorreiter und Taktgeber Pfade zu nachhaltigeren Entwicklungsoptionen aufzeigen und
deren Erprobung auf den Weg bringen. Auch mit Blick auf diese gezielten, an Nachhaltigkeit
orientierten Transformationsprozesse kritisieren die Autoren unter Nutzung vieler Zitate die
einseitige Betonung technischer Innovationen und weisen zugleich auf die unumgängliche
Folgenunsicherheit und Ambivalenz auch sozialer Innovationen hin. Das Kapitel schließt mit
einer Diskussion von Folgerungen für die öffentliche Innovationspolitik und für eine breiter
zu verteilende Teilhabe an Zukunftsverantwortung ab.
Das fünfte Kapitel wendet sich wieder der Fachdebatte über Verbreitungsprozesse von
Neuerungen zu. Es zielt darauf, die einzelnen Schritte der Veränderung etablierter Handlungsund Deutungskonzepte über ein einseitiges Transferverständnis hinausgehend als kulturelle
Lernprozesse der „Selbsterfindung der Gesellschaft“ (S. 81) zu erfassen. In diesem Sinne regt
die Rezeption von de Tarde die Autoren an, soziale Innovationen als permanente Erneuerung
des Alten bei dessen gleichzeitiger Kontinuität im Neuen zu verstehen. Das verschiebt ihre
Aufmerksamkeit von der Invention auf die oftmals spielerischen Kombinationen und
Rekombinationen entlang der Diffusionswege von Nachahmung und Aneignung hin zu immer
reicheren Praktiken. Kein Wunder, dass in der Konsequenz die Gestaltungsfähigkeit sozialer
Innovationen weniger in Skalierungsstrategien als im begrenzten Durchgriff durch
Kontextsteuerung gesucht wird.
Das sechste Kapitel fasst die Überlegungen noch einmal zusammen und bestimmt
gemeinsam mit de Tarde als „eigentliche Aufgabe der Soziologie“ (S. 92) die Erforschung
des Zusammenhangs von sozialen Erfindungen und ihren wechselhaften Nachahmungswegen
mit sozialem Wandel – und angesichts der aktuellen Herausforderungen vielleicht auch eine
aktive Teilnahme an diesen Innovationsprozessen (vgl. ebd.).
Diskussion
Die vorliegende Theoriedebatte stellt eine vielseitig eingebettete Begründung des von den
Autoren gewählten, praxistheoretischen Begriffs sozialer Innovationen dar. Informierte
Leserinnen und Leser können darin vielfältige Bezüge in die gegenwärtige Fachdebatte rund
um soziale Innovation und zu deren klassischen Bezugspunkten finden. Neuankömmlingen
wird vielleicht nicht immer klar, dass und inwiefern die Autoren dabei die
Diskussionslandschaft ausschnittweise wiedergeben und aufgrund ihrer praxistheoretischen
Ausrichtung die Diskussion von Pfadabhängigkeiten, Machtungleichgewichten und
Strukturzwängen kaum berücksichtigen. Auch der umkämpfte Charakter sozialer
Innovationen, auf den selbst Gabriel de Tarde, dessen Fortschrittsoptimismus die Autoren
zurecht kritisieren (S. 38), mit vielen Hinweisen auf Gegen-Nachahmung und Konflikt
aufmerksam macht, findet vergleichsweise wenig Beachtung. Dies mag mit der Entscheidung
zusammenhängen, keine Fallstudien oder empirischen Befunde einzubinden, sondern sich
ganz auf die theoretische Fundierung des Konzepts sozialer Innovation zu konzentrieren.
Fazit
Das Buch liefert keine Einführung in den Gegenstandsbereich sozialer Innovationen, in deren
Analyse oder Theoriegeschichte. Vielmehr stellt es einen wertvollen Fachbeitrag zur
sozialwissenschaftlichen Theorie sozialer Innovation dar und lädt dazu ein, sich mit den
Implikationen der unterschiedlichen, oftmals stillschweigend und einseitig vorgenommenen
Vorentscheidungen in der Betrachtung gesellschaftlicher Innovationsprozesse
auseinanderzusetzen. Es wirbt um eine Mikrofundierung des Verständnisses von
Transformationsprozessen und sozialem Wandel und damit um eine stärkere Beachtung
sozialer Innovationen in der Soziologie, in der Innovationspolitik und im Ringen um
nachhaltige Entwicklung.
Rezensentin
Prof. Dr. Cordula Kropp
Homepage www.sw.fh-muenchen.de/die_fakultaet/personen/profes ...
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