Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen Symposium „Menschen mit Demenz im KH“ Kardinal König Akademie, Wien 29. Oktober 2013 J. Wallner Überblick 1. Einsichts- und Urteilsfähigkeit als bewegliches System 2. Respekt vor der Selbstbestimmung versus Fürsorgepflicht: wo verlaufen die Grenzen? 3. Organisationale Faktoren im KH, welche die Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen erleichtern bzw. erschweren 4. Artikulationsformen des Patientenwillens und ihre rechtsethischen Konsequenzen 5. Entscheidungsfindung mit Stellvertretern des nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten 6. To Doʼs für die eigene Organisation Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen EINSICHTS- UND URTEILSFÄHIGKEIT ALS BEWEGLICHES SYSTEM Was bedeutet „Einsichts- und Urteilsfähigkeit“? ● Definition – Einsichtsfähigkeit: eigene Situation, Problematik, Fragestellung verstehen und kognitiv verarbeiten können – Urteilsfähigkeit: den eigenen Willen vor dem Hintergrund des Verstandenen rational bilden können ● Synonyme: Einwilligungsfähigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit ● Systematische Bedeutung: – Voraussetzung für einen Informed Consent bzw. eine gemeinsame Entscheidungsfindung bezüglich medizinischer Maßnahmen Relative Einsichts- und Urteilsfähigkeit ● Sachlich relativ: – Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist in Beziehung zu setzen zur konkret anstehenden Frage und zum konkreten Kontext dieser Frage. ● Zeitlich relativ: – Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit kann zeitlich schwanken. ► Nur weil jemand hinsichtlich einer bestimmten Frage (z.B. große OP) oder zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht einsichts- und urteilsfähig ist, bedeutet dies nicht, dass diese Person vollkommen und endgültig einwilligungsunfähig ist. Praktische Konsequenzen ● Eine Person mit der Diagnose „Demenz“ ist nicht automatisch einwilligungsunfähig. ● Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit kann gefördert oder gehemmt werden. ● Die Überprüfung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist eine wichtige professionelle Aufgabe und sollte im Zweifelsfall nach etablierten Testmethoden erfolgen. Informationen von Angehörigen erfassen Informationen von Angehörigen erfassen Fragebogen zur Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit (Franziska Schervier Altenhilfe) http://www.ethiknetzwerkaltenpflege.de/media/downloads/EK_Frag_Einwill.pdf Arbeitshilfe zum Fragebogen (Franziska Schervier Altenhilfe) Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen RESPEKT VOR SELBSTBESTIMMUNG VERSUS FÜRSORGEPFLICHT: WO VERLAUFEN DIE GRENZEN? Die ethische Aufgabe: Balance halten Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie Fürsorge, Schadensvermeidung Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie ● Grundprinzip unserer ethischen und rechtlichen Systeme ● Zwei Seiten der Freiheit: – negative Freiheit: „Freiheit von“ – Abwehrrecht – positive Freiheit: „Freiheit zu“ – Anspruchsrecht ● Übliche Grenze der eigenen Freiheit: gleiche Freiheit des Anderen – Fremdgefährdung als Berechtigung, Freiheit einzuschränken – Selbstgefährdung als strittige Ausweitung dieses Grundsatzes Verhältnismäßigkeit als leitendes rechtsethisches Prinzip für die Beurteilung von Freiheitseinschränkungen Ist ein Eingriff in die Selbstbestimmung… ● Legitim? – Gerechtfertigte Zwecke – Gerechtfertigte Autorisierung – Vorhersehbarkeit – Vereinbarkeit mit Grundwerten einer liberalen Gesellschaft ● Geeignet? – Evidenzlage für Nutzen – Bewertung von Faktoren, die Zielerreichung verhindern könnten ● Notwendig? – Gibt es geeignete gelindere Mittel? – Warum können sie nicht eingesetzt werden? ● Verhältnismäßig im engeren Sinn? – Stehen die Nachteile, die mit der legitimen, geeigneten und notwendigen Maßnahme verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen, die sie bringen soll? Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen ORGANISATIONALE FAKTOREN IM KH, WELCHE DIE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG ERLEICHTERN BZW. ERSCHWEREN Beispiele für organisationale Faktoren im KH ● Zeitliche Planung ● Räumliche Gegebenheiten ● Medizinisches und pflegerisches Leistungsspektrum ● Personelle Ausstattung (quantitativ und qualitativ) ● Prozessorientierung ● Umgang mit Angehörigen, Pflegeheimen, Niedergelassenen Ärzten, mobilen Pflegediensten etc. ● Hilfe für Helfende ● Psychosoziale Dienste ● Ethikberatung ● … Wie sieht eine KH-Organisation aus, welche die Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen erleichtert? Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen ARTIKULATIONSFORMEN DES PATIENTENWILLENS UND IHRE RECHTSETHISCHE KONSEQUENZ Artikulationsformen des Patientenwillens ● Zeitlich ● Klarheit ● Ausdrucksform Aktuell Antizipiert Eindeutig Mutmaßlich Verbal Konkludent („natürlich“) Antizipierte Willensäußerungen ● Patientenverfügung ► Errichtung ● Vorsorgevollmacht ► Interpretation ► Umsetzung ● Sachwalterverfügung Klarheit des Patientenwillens Klar, eindeutig Mutmaßlich Unbekannt Ausdrucksformen des Patientenwillens Verbal Konkludent („natürlich“) ● Mündliche oder schriftliche Äußerungen, aus denen der Wille des Patienten hervorgeht ● Nonverbale Verhaltensweisen, die ein Indiz für den Patientenwillen sein können – Wohliges Schmatzen – Entspannte Körperhaltung und Mimik – Sich-führen-lassen bei Pflegeund Therapiehandlungen – Freiwilliges Essen und Trinken – Verspannungen, gekrümmte Haltung, Spastiken – Stirn runzeln – Gänsehaut – Schlagen, Beißen, Kratzen, Spucken – Mund zusammenpressen Leiblichkeit als Grundlage des „natürlichen Patientenwillens“ (Irmgard Hofmann) ● Leib als Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Integrationsraum ● Demenz als Desintegration – Zunächst des kognitiven, expliziten Wissens – Dann der leiblichen Erfahrungen (z.B. Schlucken) ● Leibliche Ausdrucksformen: ernst nehmen ABER sorgfältig interpretieren – Rahmenbedingungen analysieren (z.B. Tageszeit, Darreichungsform, Medikation, räumlicher Kontext) – Eigene Wertungen, Sichtweisen reflektieren (z.B. Vorstellungen von Lebensqualität, sozialen Beziehungen) Rechtsethische Konsequenzen aus dem Patientenwillen ● Respekt vor der Selbstbestimmung ● Patientenwille kann auch indizierte Maßnahmen bindend ablehnen ● Kritische Überprüfung des mutmaßlichen Patientenwillens ● Zurückhaltung bei einer schnellen Interpretation des „natürlichen“ Patientenwillens Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen ENTSCHEIDUNGSFINDUNG MIT STELLVERTRETERN DES NICHT MEHR ENTSCHEIDUNGSFÄHIGEN PATIENTEN Denkbare Stellvertreter des nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten ● Vorsorgebevollmächtigter Wohl des Patienten ● Nächste Angehörige ● Sachwalter Wille des Patienten Entscheidungsfindung mit Vorsorgebevollmächtigtem ● Muss rechtlich beglaubigte Vollmacht für Entscheidung über auch schwerwiegende medizinische Entscheidungen haben ● Vollmacht wird wirksam, insoweit der Patient für eine bestimmte Entscheidung nicht mehr einwilligungsfähig ist ● Spricht und entscheidet mit derselben Autorität wie der Patient – D.h. kann auch medizinisch indizierte Maßnahmen ablehnen ● Sofern der Patient seinen Willen zuvor bekundet hat, ist der Bevollmächtigte daran gebunden Entscheidung mit nächsten Angehörigen ● Nächste Angehörige – Volljährige Kinder für ihre Eltern (auch: Enkelkinder – Großeltern) – Eltern für ihre volljährige Kinder (auch Großeltern – Enkelkinder) – Ehepartner, eingetragene Partner, (nichteingetragene) Lebensgefährten füreinander ● Umfang der Entscheidungsbefugnis – bloß einfache medizinische Maßnahmen – nicht schwerwiegende medizinische Maßnahmen ○ nicht PEG-Sonde Entscheidung mit Sachwalter ● Muss vom Gericht für die Besorgung gesundheitlicher Angelegenheiten (inkl. Entscheidungen über medizinische Maßnahmen) bestellt sein ● Ist (im Gegensatz zum Vorsorgebevollmächtigten) an die gerichtliche Kontrolle rückgebunden ● Ist verpflichtet, – medizinisch indizierten Maßnahmen zuzustimmen, – sofern nicht der Patient zuvor eine eindeutige gegenteilige Willensäußerung getätigt hat ● Kann einfache medizinische Maßnahmen allein autorisieren, ● Braucht für die Autorisierung einer schwerwiegenden medizinischen Maßnahme (z.B. PEG-Sonde) aber – entweder zwei voneinander unabhängige ärztliche Zeugnisse – oder die Bewilligung durch das Gericht Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen TO DOʼS FÜR DIE EIGENE ORGANISATION Autonomie und Entscheidungsfindung bei PatientInnen mit kognitiven Einschränkungen: To Doʼs für die eigene Organisation ► ► ► ► ► Priv.-Doz. Dr. Jürgen Wallner, MBA UNIVERSITÄT WIEN | RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht Institut für Ethik und Recht in der Medizin Arbeitsplatz BARMHERZIGE BRÜDER | KRANKENHAUS WIEN Leiter Personalmanagement, Organisationsentwicklung, Ethikberatung Johannes-von-Gott Platz 1 1020 Wien [email protected] www.medicalethics.at