1 SOZIALPOLITIK – EINE EINFÜHRUNG Was Sie in diesem Kapitel lernen können Dieses einführende Kapitel zur Sozialpolitik wird sich mit verschiedenen Fragen zur Begründung von Sozialpolitik und den Formen ihrer Ausgestaltung beschäftigten. Somit werden hier die Grundlagen vermittelt, um zu verstehen, warum Sozialpolitik in einer bestimmten Weise ausgestaltet wird und welche Rolle hierbei der gesellschaftliche Hintergrund und die gesellschaftlichen Leitideen spielen. Diese Überlegungen ermöglichen es auch, ein Verständnis für die länderspezifischen Besonderheiten in der Ausgestaltung von Sozialpolitik zu entwickeln. • • • • In einem ersten Schritt wird geklärt, warum Sozialpolitik überhaupt notwendig ist. Konkret wird es darum gehen, welche Bedarfe oder Bedürfnisse in einer Gesellschaft bestehen, die sozialpolitische Maßnahmen erfordern. Die bestehenden Bedarfe bilden die Basis für Zielformulierungen an die Sozialpolitik vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund. Hier fließen immer Wertungen, also normative Setzungen mit ein. Das zentrale Thema dieser normativen Setzungen ist die Frage nach einem als gerecht empfundenen Grad der Bedarfsdeckung. Oder anders ausgedrückt nach einer als gerecht empfundenen Verteilung von Rechten und Pflichten in einer Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser Grundlegungen können Handlungsfelder der Sozialpolitik definiert werden. 1.1 Notwendigkeit von und Ziele der Sozialpolitik 1.1.1 Notwendigkeit von Sozialpolitik Sozialpolitische Maßnahmen sind notwendig, weil es erstens in jeder Gesellschaft Personen gibt, die nicht oder nur zum Teil aus eigener Kraft für ihre Existenz sorgen können und auf die Hilfe Dritter angewiesen sind. Zweitens ergibt sich die Notwendigkeit aufgrund sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft, die einen verteilungsbedingten Bedarf an sozialpolitischen Maßnahmen auslöst (vgl. zu den folgenden Ausführungen Widmaier 1976). SozArb_Engel_s001-246End.indd 11 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Zunächst kann festgehalten werden, dass Sozialpolitik in allen Gesellschaften notwendig war und ist, woraus sich je nach Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft Ziele der Sozialpolitik ableiten lassen. 05.05.11 15:11 12 Sozialpolitik – eine Einführung Personenkreise, die aus eigener Kraft nicht für ihre Existenz sorgen können Die fehlende Möglichkeit, seine Existenz vollständig aus eigener Kraft zu sichern, kann unterschiedliche Gründe haben. Hieraus entstehen Bedarfslagen, die unabhängig von der Gesellschaftsform bestehen: • Permanent vorhandener Bedarf beschreibt einen Bedarf, der in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit besteht. Er betrifft Personen, die ihre Existenz aufgrund von Krankheit, Behinderung oder Alter nicht, nicht mehr oder nur zum Teil aus eigener Kraft sichern können. • Der katastrophenbedingte bzw. kriegsfolgenbedingte Bedarf entsteht dadurch, dass die betroffenen Personengruppen vorübergehend bei materiellen Schäden bzw. dauerhaft durch bleibende Behinderungen aufgrund von Verletzungen oder aufgrund des Todes des Versorgers/der Versorgerin einer Familie auf Hilfen angewiesen sind. • Entwicklungsbedingter Bedarf entsteht durch gesellschaftliche, kulturelle oder wirtschaftliche Veränderungsprozesse. Im weiteren Sinn leiten auch Katastrophen oder Kriege Entwicklungen ein, aus denen eine Notsituation und dadurch ein sozialpolitischer Handlungsbedarf entsteht. Als Beispiel für gesellschaftliche, kulturelle Veränderungen im engeren Sinne kann die Auflösung der Leibeigenschaft und Beschränkung der Rechte der Zünfte Mitte des 19. Jahrhunderts genannt werden. Wie noch gezeigt werden wird (Abschnitt 2.1), war ein großer Personenkreis nun zwar persönlich frei, aber in großer existenzieller Not. Auch wirtschaftliche Veränderungen erzeugen einen entwicklungsbedingten Bedarf. Denn solche Entwicklungen haben Arbeitslosigkeit, berufliche Fehlqualifikation und damit verbunden die Notwendigkeit beruflicher, sozialer und/oder regionaler Mobilität zur Folge, die möglichst nur vorübergehend der Unterstützung und damit sozialpolitischer Maßnahmen der Gesellschaft bedürfen. Besonders kritisch sind solche Entwicklungen, wenn ganze Regionen betroffen sind, wie z. B. bei der Stilllegung von Werften in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, bei der Beendigung des Kohleabbaus im Ruhrgebiet und im Saarland oder bei der Umstrukturierung der Montanindustrie im Ruhrgebiet. Soziale Ungleichheit ist ebenfalls ein Thema, das alle Gesellschaften – wenn auch in unterschiedlicher Weise – betrifft, woraus ein verteilungsbedingter Bedarf für sozialpolitische Maßnahmen entsteht. Die soziale Ungleichheit drückt sich erstens aus in unterschiedlich guten Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten (insbesondere höheren Entscheidungs-)Positionen und zweitens in den Verfügungsmöglichkeiten über wirtschaftliche Güter. Der Sozialpolitik kommt hier die Aufgabe zu, Sorge für eine gesellschaftlich akzeptierte Verteilung zu tragen und ggf. die Folgen einer bestimmten Verteilung zu mildern. Ersteres kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass die Zugangsmöglichkeiten zur Bildung als eine Grundvoraussetzung SozArb_Engel_s001-246End.indd 12 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Soziale Ungleichheit 05.05.11 15:11 Notwendigkeit von und Ziele der Sozialpolitik 13 für spätere Chancen für alle in gleichen Maßen zugänglich gestaltet wird. Die Folgen einer bestimmten Verteilung werden beispielsweise dadurch sozialpolitisch abgemildert, dass es eine staatliche Leistung zur Existenzsicherung gibt. Kasten 1 Ein weiterer Bedarf betrifft insbesondere die industrialisierten und sozialpolitisch entwickelten Systeme und wird hier weniger für die Herleitung der Notwendigkeit von Sozialpolitik erläutert, sondern vielmehr, weil er uns bei der Diskussion um die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Handlungsfelder begleiten wird: der geweckte Bedarf. Ein Bedarf an sozialpolitischen Leistungen kann „geweckt“ oder erzeugt werden, weil die Leistungen in den unterschiedlichen sozialpolitischen Handlungsfeldern unter besonderen Voraussetzungen erbracht werden. Eine wichtige Besonderheit ist, dass die Person, die eine Leistung erhält (Leistungsempfänger), sie nicht direkt zahlt. Dies tun die sogenannten Leistungsträger, also z. B. die Sozialversicherungen oder die Sozialhilfeträger. Die Erbringer von sozialen Leistungen (z. B. Ärzte/innen, Krankenhäuser, Pflegedienste, Pflegeheime, Wohnheime für behinderte Personen usw.) haben das natürliche Bestreben, ihre Leistungen möglichst umfangreich zu erbringen. Und schließlich ist es für die Leistungsempfänger sehr schwierig zu beurteilen, Leistungen welcher Art und in welchem Umfang wirklich notwendig sind und ob die Qualität einer Leistung gut ist. Dieses Phänomen wird asymmetrische Information genannt und besteht auch in anderen Dienstleistungsbereichen, wie z. B. bei Banken oder privaten Versicherungen. Das Zusammenwirken der beschriebenen Besonderheiten führt dazu, dass quantitativ mehr oder teurere Leistungen erbracht werden und finanziert werden müssen, als notwendig sind. Ein besonders einleuchtendes Beispiel hierfür ist der medizinische Bereich, in dem z. B. Ärztinnen und Ärzte die Nachfrage nach Arztbesuchen selbst erhöhen können, indem sie ihre Patient/innen häufiger wieder einbestellen als notwendig. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, werden die Leistungen von Ärzten/innen durch entsprechende gesetzliche Regelungen begrenzt (s. hierzu ausführlich Abschnitt 8.3). Diese Ausweitung der Sozialleistungen ist neben unzureichender Steuerung und Organisation von Leistungen ein Grund für die verhältnismäßig hohen Kosten des deutschen Sozialsystems. Das „Maß des Notwendigen“ ist dabei ein Dreh- und Angelpunkt sozialpolitischer Debatten. Welche Leistungen sollen welcher Personengruppe mit welchen Bedarfslagen in welchem Umfang zur Verfügung gestellt werden? Die Beantwortung dieser Frage wird uns in den folgenden Kapiteln begleiten. Welches Maß an Ungleichheit von einer Gesellschaft als gerecht akzeptiert wird, kann sich durchaus unterscheiden. Nimmt man die Einkommensverteilung in einem Land als einen möglichen Indikator zur Messung von Ungleichheit, so werden allein in Europa unterschiedliche Traditionen sichtbar: die nordischen SozArb_Engel_s001-246End.indd 13 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Exkurs: „Geweckter“ Bedarf 05.05.11 15:11 14 Sozialpolitik – eine Einführung Länder und hier insbesondere Dänemark oder Schweden legen offenbar größeren Wert auf eine geringe Einkommensungleichheit als die südlichen Mitgliedstaaten, allen voran Portugal mit einer sehr ungleichen Einkommensverteilung (vgl. European Commission 2008). 1.1.2 Ziele der Sozialpolitik Die Auseinandersetzung mit dem Umgang der oben erläuterten Bedarfe und die Lösungen, die gefunden werden, finden ihren Ausdruck in den Zielsetzungen von Sozialpolitik. Diese hängen von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Systemen, dem vorherrschenden Menschenbild, den damit verbundenen normativen Setzungen sowie von der wirtschaftlichen Situation der jeweiligen Gesellschaft ab. Die Durchsetzung sozialpolitischer Maßnahmen hängt also erstens davon ab, was eine Gesellschaft durchsetzen will, und zweitens davon, was sie mit den ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln durchsetzen kann. Grundlegende Zielsetzungen von freiheitlichen demokratischen Sozialstaaten, die als Auftrag an die Sozialpolitik formuliert werden können, sind: Die Milderung oder Abwendung der Folgen Existenz gefährdender Risiken sowie die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit (s. o.). Während die Milderung oder Abwendung der Folgen Existenz gefährdender Risiken als grundlegendes Ziel sozialpolitischer Maßnahmen – unabhängig vom jeweils zugestandenen Niveau – recht einleuchtend erscheint, wird über die Frage der sozialen Gerechtigkeit trefflich gestritten. Aus diesem Grund erscheint es angebracht, einige Überlegungen zu diesem Thema anzustellen. Die Diskussion um soziale Gerechtigkeit dreht sich letztendlich immer um die Frage, wie in einer Gesellschaft Güter und Lasten verteilt werden. Der abstrakte Begriff Güter steht dabei für die „Habenseite“ und meint Besitz sowie die Möglichkeiten, sich Waren und Dienstleistungen zu beschaffen oder bestimmte Positionen zu besetzten. Der Begriff Lasten steht für die „Sollseite“ und meint insbesondere das Bezahlen von allgemeinen öffentlichen Leistungen (Schulen, Universitäten, Infrastruktur etc.) durch Steuern oder von Sozialleistungen durch Steuern oder Sozialabgaben. Vor allem in demokratisch verfassten Gemeinwesen, in denen allen Bürgerinnen und Bürgern formal die gleichen Rechte zugesprochen werden, erfordert die Gerechtigkeit, dass die Verteilung von Gütern und Lasten durch eine unparteiische Anwendung allgemeiner Regeln so zu lösen ist, dass niemand strukturell benachteiligt wird (vgl. Liebig/May 2009). Man kann sich leicht vorstellen, dass diese zunächst recht plausible Forderung in der praktischen Umsetzung je nach politischer Ausrichtung und persönlicher SozArb_Engel_s001-246End.indd 14 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.2 Soziale Gerechtigkeit 05.05.11 15:11 Soziale Gerechtigkeit 15 Stellung zu recht unterschiedlichen Lösungen führen wird, wie bspw. die Debatte um gerechtere Bildungschancen in Hamburg eindrucksvoll gezeigt hat. Kasten 2 Bildungsstreit in Hamburg Im Jahr 2009 hat die schwarz-grüne Koalition in Hamburg eine Schulreform auf den Weg gebracht, die die Einführung einer Primarschule vorsah, in der die Kinder sechs Jahre anstatt bisher vier Jahre gemeinsam lernen. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass aus fachlicher Sicht durch ein längeres gemeinsames Lernen die bis heute in Deutschland sehr stark ausgeprägte Abhängigkeit der Bildungschancen von der familiären Herkunft abgemildert werden kann (vgl. bspw. Rösner 2008; Jungmann 2008). Darauf hin entbrannte in Hamburg ein Bildungsstreit, bei dem sich Teile der Elternschaft insbesondere höherer Einkommensschichten gegen die Schulreform wandten. Die Ablehnung der Reform ist sicherlich auf unterschiedliche Motivationen zurückzuführen. Eine war aber auch, dass die Kinder aus Familien mit höherer Bildung im bisherigen Schulsystem gute Chancen auf eine gute Bildung und damit im späteren Leben auf höhere Positionen und höhere Einkommen haben. Die Initiative gegen die Reform ging von einem Rechtsanwalt aus, der vor allem ähnlich gut gestellte Eltern aus konservativen sowie aus FDP-Kreisen gewinnen konnte. Am 18. Juli 2010 wurde die Schulreform in Hamburg durch Volksentscheid abgelehnt. Damit zeigt sich, dass die Wertigkeit von sozialer Ungleichheit unterschiedlich interpretiert wird und sich auch in demokratisch verfassten Gesellschaften größere Ungleichheit erzeugende Systeme durchsetzen können. 1.2.1 Gerechtigkeitsprinzipien Um die Antwort der oben gestellten Frage vorwegzunehmen: Gleichheit ist ein, aber nicht das einzige Gerechtigkeitsprinzip. So unterscheiden Becker und Hauser (2004) vier Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, von denen drei Ungleichheit zulassen. • Das Gleichheitsprinzip meint zunächst einmal allgemein die Zuweisung gleicher Rechte und Pflichten bzw. gleicher Güter und Lasten. SozArb_Engel_s001-246End.indd 15 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Was ist nun aber gerecht? Und: Meint Gerechtigkeit Gleichheit oder kann Ungleichheit durchaus gerecht sein? Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, welche Gerechtigkeitsprinzipien angewendet werden. Erstens bezogen auf den Zeitpunkt eines Verlaufs (bspw. einer beruflichen Karriere); zu unterscheiden sind die Startphase (Zugangsmöglichkeiten zu Bildung/Ausbildung), der Prozess (Zugangsmöglichkeiten zu Ämtern und Positionen) sowie das Ergebnis (berufliche Stellung und Einkommen). Zweitens bezogen auf die Vorstellungen von Gerechtigkeit, die sich, wie bereits angesprochen, zwischen Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen unterscheiden. 05.05.11 15:11 16 Sozialpolitik – eine Einführung • Nach dem Bedarfsprinzip werden Verteilungen bzw. Umverteilungen als gerecht angesehen, die einen Bedarf abdecken. Beispiele hierfür sind Gesundheitsleistungen, die eine erkrankte Person aufgrund seines Bedarfs erhält, Leistungen der Mindestsicherung, die Personen erhalten, die sich nicht aus eigener Kraft versorgen können, oder Unterstützungsleistungen für behinderte Personen, um gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. • Nach dem Anrechtsprinzip werden Zugangsmöglichkeiten oder Verteilungen als gerecht angesehen, die Personen zugestanden werden, weil sie entsprechende Ansprüche erworben haben. Ansprüche können durch Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Stand (Adel, Zünfte etc.) oder durch Mitgliedschaft erworben werden. • Nach dem Leistungsprinzip sollen individuelle Anstrengung und Leistungen belohnt werden. Als gerecht gilt, dass diejenigen, die mehr tun und sich mehr anstrengen, auch mehr besitzen und verdienen sollen als die anderen, die sich weniger bemühen. Unschwer zu erkennen ist, dass alle genannten Gerechtigkeitsprinzipien durchaus ihre Berechtigung haben, in Gesellschaften nebeneinander bestehen und sich zum Teil bedingen. 1.2.2 Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien Die Beurteilung, ob etwas gerecht ist, hängt von dem angewendeten Gerechtigkeitsprinzip (s. o.) sowie von der jeweiligen Situation ab, womit Möglichkeiten und Chancen, Verfahren und Prozesse sowie ein endgültiges Verteilungsergebnis gemeint sind. Chancen- oder Startgerechtigkeit beschreibt die Möglichkeiten, die eine Person in einer Gesellschaft zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit erhält. Wird hier das Gleichheitsprinzip als Herstellung von Chancengleichheit interpretiert, so muss dem Bedarfprinzip gefolgt werden. Denn die Mitglieder einer Gesellschaft sind unterschiedlich mit Talenten, Behinderungen etc. ausgestattet, sodass Chancengleichheit durch dem jeweiligen Bedarf angepasste sozialpolitische Maßnahmen hergestellt wird. Insofern käme hier das Bedarfsprinzip zur Realisierung von Gleichheit zum Tragen. Chancengerechtigkeit passt mit dem Anrechtsprinzip als Gerechtigkeitsprinzip aus heutiger Sicht zumindest formal nicht zusammen, denn dies würde bedeuten, dass Positionen qua Geburt erlangt werden. Ein – zumindest in Deutschland historisches – Beispiel hierfür ist das Anrecht auf den Königstitel. Das Leistungsprinzip ist bezogen auf die Chancengerechtigkeit dem Anrechtsprinzip recht nahe, weil auf die Leistungen der vorherigen Generation zurückgegriffen werden muss. Waren diese tüchtig oder hatten Glück, so hat die nachfolgende Generation eine entsprechend gute Ausgangssituation. SozArb_Engel_s001-246End.indd 16 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Chancengerechtigkeit 05.05.11 15:11 Soziale Gerechtigkeit 17 Prozessgerechtigkeit Prozessgerechtigkeit meint die Bedingungen bei den Verfahren zur Verteilung von Positionen und Gütern. Diese sollten allen offen stehen, transparent und von der Gesellschaft als fair akzeptiert sein. Beispiele für die Gestaltung von Verfahren sind die Beteiligung oder Nichtbeteiligung bestimmter Personengruppen in Entscheidungsprozesse sowie der Grad der Offenheit für bestimmte Personenkreise in politisch und/oder gesellschaftlich hoch stehende Positionen zu gelangen. Ob Prozesse als fair und gerecht beurteilt werden, hängt ebenfalls vom gewählten Gerechtigkeitsprinzip ab, wobei hier die gleiche Argumentation greift wie bei der Chancengerechtigkeit. So gehören auch hier das Gleichheitsprinzip, sofern es als Herstellung gleicher Zugangsmöglichkeiten interpretiert wird, und das Bedarfsprinzip zusammen. Beide Prinzipien sorgen für gleiche Zugangsmöglichkeiten und haben ausgleichenden Charakter für gegebene Nachteile. Ein Beispiel hierfür sei das inzwischen auch in Deutschland gesetzlich verankerte Recht von behinderten Personen auf ungehinderten Zugang in öffentliche Gebäude, auf barrierefreie Kommunikation sowie darauf, auch beim Erlangen von Positionen in keiner Weise diskriminiert zu werden. Das Anrechtsprinzip setzt dagegen auch im Prozess auf Vorteile durch bereits erworbene Ansprüche. Das Leistungsprinzip ist bezogen auf die gerechte Ausgestaltung von Prozessen nicht interpretierbar. Die Ergebnisgerechtigkeit beschreibt die durch Start und Prozess bedingte endgültige Verteilung von Positionen, Einkommen und Gütern. Nach dem Gleichheitsprinzip müsste die endgültige Verteilung von Gütern und Lasten gleich sein. Nach dem Bedarfsprinzip werden dagegen die Grundbedürfnisse in einem als gesellschaftlich angemessen angesehenen Maß gedeckt. Dieses Prinzip ist insofern schwächer als das der Gleichheit, weil hier eine Mindestversorgung vorgesehen ist, die aber darüber hinaus gehende Ungleichheit zulässt und dennoch als gerecht beurteilt wird. Nach dem Anrechtsprinzip wird ein Ergebnis, das durch Ansprüche und Anrechte erworben wurde und ungleich verteilt ist, als gerecht angesehen. Nach dem Leistungsprinzip wird eine ungleiche Verteilung als gerecht beurteilt, die durch Leistung erworben wurde. In der Zusammenschau kann festgehalten werden, dass Verteilungen im Ergebnis durchaus ungleich sein können, ohne dass sie zwangsläufig als ungerecht beurteilt werden, sofern die Startbedingungen und die Verfahren, die zu einer bestimmten Verteilung geführt haben, als gerecht beurteilt werden. So gilt eine ungleiche Verteilung dann als gerecht, wenn die Möglichkeiten zur Erlangung von Positionen und Ämtern und damit verbunden auch von Einkommen und Einfluss für alle gleich sind. Diese Bedingung bedarf eines politischen und rechtlichen Rahmens, der dafür sorgt, dass übermäßige Konzentrationen von Eigentum und Vermögen verhindert werden, die ggf. zu politischer Vorherrschaft führen werden. Hierdurch würde nämlich die Bedingung fairer Chancengleichheit verletzt. Zudem muss eine Gesellschaft insbesondere „gleiche Bildungschancen für SozArb_Engel_s001-246End.indd 17 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Ergebnisgerechtigkeit 05.05.11 15:11 18 Sozialpolitik – eine Einführung alle durchsetzen, einerlei, wie hoch das Einkommen der jeweiligen Familie ist“ (Rawls 2006, 80). Dass diese theoretischen Überlegungen in der Realität durchaus anders gesehen werden können, zeigt der beispielhaft geschilderte Hamburger Bildungsstreit eindrucksvoll (s. Kasten 2). 1.2.3 Gerechtigkeit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modelle Die bevorzugte Wahl eines der vier Gerechtigkeitsprinzipien kann schließlich auch als Folge gesellschaftlicher Zusammenhänge erklärt werden (vgl. auch Liebig/May 2009, 5 ff.): Diese Einordnungen geben lediglich einen ersten Hinweis auf die Präferenz möglicher Gerechtigkeitsprinzipien, sie können aber im Ansatz erklären, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund Sozialstaaten mit welcher konkreten Ausgestaltung in welchen Handlungsfeldern entwickelt wurden. SozArb_Engel_s001-246End.indd 18 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart • Enge langfristige Gesellschaftsgefüge, in denen jedes Mitglied eng eingebunden ist und seinen festen Platz hat, werden vermutlich das Bedarfsprinzip, bei dem jedem das zugestanden wird, was er benötigt, bevorzugen. Beispiele hierfür sind Familienverbände, Stämme oder recht kleine, überschaubare Gemeinschaften, in denen sich die Menschen gegenseitig kennen. • Hierarchische Gesellschaften mit festen Zuordnungen von Rechten und Pflichten je nach Position werden das Anrechtsprinzip als das am ehesten gerechte beurteilen. Denn hierdurch wird sichergestellt, dass bestimmte Rechte und Leistungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Position, einer Berufsgruppe o. ä. garantiert sind. Länder, in denen das Anrechtsprinzip recht ausgeprägt ist, sind bspw. Deutschland oder Österreich. • Nicht-hierarchische Netzwerke (z. B. Genossenschaften), deren Mitglieder sich als gleich und mit denselben Rechten und Pflichten versehen betrachten, werden am ehesten die Gleichheit bei der Verteilung von Rechten und Pflichten als das dominierende Prinzip wählen. • Große, heterogene Gesellschaftsmodelle mit einer ausgeprägten Leistungsethik, bei denen der soziale Zusammenhalt eine vergleichsweise geringere Rolle spielt, würden im Ergebnis am ehesten dem Leistungsprinzip als gerechtes Verteilungsprinzip folgen. Beispiele hierfür sind Länder, die weitgehend dem Gedanken der freien Marktwirtschaft folgen, wie z. B. Großbritannien oder die USA. Deutschland und Österreich gehören insofern ebenfalls in diese Kategorie, als dass das Erwerben von Anrechten (Anrechtsprinzip s. o.) in der sozialen Sicherung eng an die Arbeitsleitung geknüpft ist. 05.05.11 15:11 Handlungsfelder der Sozialpolitik 19 1.3 Handlungsfelder der Sozialpolitik In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurden die Notwendigkeit von Sozialpolitik sowie Theorien und verschiedene Prinzipien zur Durchsetzung von Gerechtigkeit diskutiert. Diese beiden Aspekte definieren im Zusammenspiel die Handlungsfelder von Sozialpolitik. Und dies sowohl in qualitativer Hinsicht: Welche Handlungsfelder gehören zur Sozialpolitik? Als auch in quantitativer Hinsicht: In welchem Umfang sollen sozialpolitische Maßnahmen erbracht werden? In qualitativer Hinsicht gehören zum engeren Kreis sozialpolitischer Handlungsfelder: • Soziale Mindestsicherung als Auffangnetz für die Personen, die ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft nicht oder überwiegend nicht bestreiten können. Hier kommt der erste Grund für die Notwendigkeit von Sozialpolitik zum Tragen (s. Abschnitt 2.1). • Weitergehende soziale Sicherung gegen Existenz gefährdende Risiken durch Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Alter. Die Absicherung dieser Risiken ist z. B. in Europa völlig unstrittig ein sozialpolitisches Handlungsfeld, wie auch immer es im Detail ausgestaltet wird. Anders sieht dies bspw. in den USA aus, wo eine Gesetzliche Krankenversicherung erst im Jahr 2010 nach heftigen politischen Auseinandersetzungen und nur mit knapper politischer Mehrheit eingeführt wurde. • Sozialer Schutz als Übereinkunft, die Schwächeren einer Gesellschaft zu schützen. Hierzu zählen insbesondere Kinder und Jugendliche. Aber auch der Arbeitsschutz sowie der Mutterschutz gehören zu diesem Handlungsfeld. • Familienpolitik als spezielle Form der Sozialpolitik, deren Maßnahmen nicht aufgrund von Bedürftigkeit geleistet werden, sondern weil – übrigens in vielen Ländern – Familien den besonderen Schutz des Staates genießen. • Soziale Rechte zielen auf die Unversehrtheit der Person, das Recht auf freie Entfaltung und damit das Recht, nicht diskriminiert zu werden, ab. Zu den sozialen Rechten gehören bspw. das Recht auf betriebliche Mitbestimmung, der Arbeitszeitschutz oder der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer. • Bildungspolitik als zentrale sozialpolitische Maßnahme zur Durchsetzung von Chancengleichheit. So sieht bspw. Christoph Butterwegge (2006) für Deutschland insbesondere in diesen Bereichen einen erheblichen sozialpolitischen Handlungsbedarf, um soziale Ausgrenzung verhindern oder zumindest deutlich eindämmen und die Chancengleichheit verbessern zu können. SozArb_Engel_s001-246End.indd 19 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart Neben diesen, auf den Schutz vor existenzieller Gefährdung sowie auf Familien ausgerichteten sozialpolitischen Handlungsfeldern kann Sozialpolitik auch weiter gefasst werden. Nämlich als eine auf die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit gerichtete Gesellschaftspolitik. Nach diesem Verständnis kommen noch einige sozialpolitische Handlungsfelder hinzu: 05.05.11 15:11 20 Sozialpolitik – eine Einführung Die folgenden weiteren sozialpolitischen Handlungsfelder sind im Rahmen der Sozialpolitik eher als indirekte Handlungsfelder zu verstehen. Diese sind: • Vermögenspolitik wird als eine Maßnahme mittelstandsorientierter Sozialpolitik bezeichnet und kann insofern als sozialpolitische Maßnahme interpretiert werden, als dass durch entsprechende Anreize und staatliche Hilfen, Möglichkeiten geschaffen werden, Vermögen zu bilden. • Steuerpolitik kann als ein Instrument für sozialpolitisch motivierte Umverteilung zugunsten bestimmter Personenkreise (z. B. Familien) verwendet werden. Durch eine entsprechend ausgestaltete Erbschaftsteuerpolitik kann beispielsweise auch die „übermäßige“ bzw. als sozial ungerecht angesehene Anhäufung von Kapital entgegengewirkt werden. Bleibt die quantitative Frage danach, welche sozialpolitischen Maßnahmen vorrangig in welchen Handlungsfeldern und in welchem jeweiligen Umfang erbracht werden sollen. In der politischen Debatte gehen die Meinungen darüber deutlich auseinander. Beispielhaft sei hier auf Hans-Werner Sinn (2005) verwiesen, aus dessen Sicht das Leistungsprinzip deutlich gestärkt werden muss. Gesetzt wird dabei auf die Eigeninitiative der Bürgerinnen und Bürger, die durch ein übermäßiges Angebot an Sozialleistungen gelähmt wird. Diesen neo-liberalen Ideen zur Reform des Sozialstaates setzt beispielsweise Christoph Butterwegge (2006) eine Ausweitung der sozialpolitischen Aufgaben insbesondere zur Herstellung von Chancengerechtigkeit entgegen. Gut zu wissen – Gut zu merken • Notwendigkeit von Sozialpolitik Sozialpolitik ist in allen Gesellschaften notwendig, weil es in jeder Gesellschaft Personen gibt, die aus eigener Kraft nicht für ihre Existenz sorgen können. Unterschieden werden permanent vorhandener Bedarf, katastrophenoder kriegsbedingter Bedarf und entwicklungsbedingter Bedarf. Zudem wird Sozialpolitik je nach gesellschaftlichen Leitmotiven entweder benötigt, damit eine Gesellschaft nicht aufgrund einer als zu ungerecht empfundenen sozialen Ungerechtigkeit gefährdet wird oder damit soziale Gerechtigkeit durchgesetzt werden kann. • Gerechtigkeit in gesellschaftlichem Kontext Unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen erzeugen verschiedene Präferenzen bezogen auf das jeweils anzuwendende Gerechtigkeitsprinzip: Sozialmodelle in langfristigen Gesellschaftsgefügen mit enger Einbindung aller Mitglieder sind stärker geprägt durch das Bedarfsprinzip, in hierarchischen Gesellschaften stärker durch das Anrechtsprinzip, in nicht-hierarchische Netzwerken mit SozArb_Engel_s001-246End.indd 20 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart In diesem Kapitel wurde gezeigt, warum Sozialpolitik in allen Gesellschaftsformen notwendig ist und welche Ziele mit Sozialpolitik verfolgt werden. Hierauf aufbauend wurde der Frage nach sozialer Gerechtigkeit nachgegangen, wobei diese in einen gesellschaftspolitischen Kontext gesetzt wurde. Schließlich wurden die Handlungsfelder von Sozialpolitik definiert. 05.05.11 15:11