Leseprobe zum Titel - content

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Zu diesem Buch
Das deutsche Sozialwesen ist eines der finanziell bestausgestatteten der Welt;
gleichzeitig hat es es einen komplizierten Aufbau: Verschiedene soziale Systeme greifen je nach rechtlichen Voraussetzungen. Dies ist durch die Entstehungsgeschichte des deutschen Sozialstaates in Verbindung mit herrschenden gesellschaftlichen Normen und den entsprechenden politischen Direktiven begründet
und spiegelt sich in den jeweils gewählten Formen der Organisation, der Trägerschaft, der Leistungsgewährung sowie in der Art der Finanzierung wider.
Die soziale Arbeit befasst sich mit einzelnen Personen und Gruppen in ihren
jeweiligen spezifischen sozialen Lagen bzw. Problemsituationen, sie ist somit an
sozialpolitischen Handlungsfeldern orientiert: Jugend, Bildung, Gesundheit, Alter, Pflege, Armut etc. Aus dieser Aufgabenstellung der sozialen Arbeit heraus
stellt sich in erster Linie die Frage danach, welche unterschiedlichen Systeme des
Sozialwesens in einem bestimmten sozialpolitischen Handlungsfeld zum Tragen
kommen: Welches Sozialversicherungssystem greift unter welchen Voraussetzungen z. B. bei Pflegebedürftigkeit, unter welchen Voraussetzungen kommen Fürsorgeleistungen zum Tragen und welche Aufgaben kommen in diesem sozialpolitischen Handlungsfeld der kommunalen Planung zu?
Das Konzept dieses Lehrbuchs zur Sozialpolitik nimmt den Blickwinkel der
Sozialen Arbeit, sich an den sozialpolitischen Handlungsfeldern zu orientieren,
auf. Dieser Aufbau hat den weiteren Vorteil, dass die einzelnen Kapitel in sich
geschlossen sind und die Leserin/der Leser zu jedem sozialpolitischen Handlungsfeld einen zusammenhängenden Überblick erhält. Wichtige Voraussetzung
bei dieser handlungsfeldorientierten Vorgehensweise sind Grundlagenkenntnisse über die Prinzipien sowie die generelle Ausgestaltung der Sozialsysteme in
Deutschland, auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten.
Aufbau und Inhalte
Zu Beginn dieses Lehrbuches wird in den Kapiteln 1 bis 3 ein sozialpolitischer
Überblick über Ziel und Zweck sozialpolitischen Handelns auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle, über die Entstehungsgeschichte
sowie über die grundlegenden Prinzipien des deutschen Sozialstaates gegeben.
Die Kapitel 1 bis 3 bilden damit die Grundlage für die Bearbeitung der einzelnen
sozialpolitischen Handlungsfelder.
Die Sozialpolitik auf der Ebene der Europäischen Union nimmt einen immer
wichtiger werdenden Stellenwert ein und die hier getroffenen sozialpolitischen
Entscheidungen wirken auf die nationalen Sozialpolitiken. Wichtige Institutionen und Wegmarken der Sozialpolitik in der europäischen Union werden deshalb
in Kapitel 4 im Überblick beleuchtet, bevor die Kapitel 5 bis 13 die einzelnen
sozialpolitischen Handlungsfelder behandeln.
Diese orientieren sich in ihrer Reihenfolge an Lebensphasen und beginnen
mit der Sozialpolitik für Familien, Kinder und Jugendliche (Kapitel 5). Für den
größten Teil der Bevölkerung ist Arbeit der entscheidende Faktor zur Existenzsicherung. Diesem Thema sind zwei Kapitel gewidmet, die sich mit den sozialen
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Rechten und der Sicherung im Berufsalltag (Kapitel 6) sowie mit der Sicherung
bei Arbeitslosigkeit (Kapitel 7) befassen. Dem Handlungsfeld Gesundheit, das
altersunabhängig alle Teile der Bevölkerung betrifft (Kapitel 8) folgen die Felder
Alterssicherung (Kapitel 9) und Pflegebedürftigkeit (Kapitel 10), die insbesondere für die älteren bzw. hochaltrigen Bevölkerungsteile relevant sind. Hierauf folgt
das Querschnittsthema Behinderung (Kapitel 11), das im deutschen Recht alle
Sozialleistungsträger berührt.
Als Sonderform des Sozialsystems wird die soziale Sicherung für Kriegsopfer
(Kapitel 12) dargestellt. Die Soziale Mindestsicherung (Kapitel 13) stellt das unterste Sicherungsnetz des deutschen Sozialstaates dar und wird daher als letztes
Handlungsfeld thematisiert.
Dieses Buch abschließend werden in Kapitel 14 einige zentrale Aspekte zu den
derzeitigen und zukünftigen Herausforderungen im Rahmen der Sozialpolitik
betrachtet.
Zur Nutzung des Buches
Da die einzelnen Kapitel zu den sozialpolitischen Handlungsfeldern in sich geschlossen sind, muss dieses Buch nicht der Reihe nach „von vorne bis hinten“
durchgearbeitet werden. Allerdings empfiehlt sich, die vorderen Kapitel (1 bis 4)
voranzustellen, da hier Grundlagenwissen vermittelt wird, das dem Verständnis
der Erläuterungen zu den einzelnen Handlungsfeldern dient.
Dieses Buch enthält zahlreiche grundlegende Erklärungen zu Begriffen und
vertiefende Darlegungen zu politischen Debatten, die durch grau hinterlegte
Kästen gekennzeichnet sind. Zudem werden themenspezifisch aktuelle Daten in
Abbildungen und Tabellen aufbereitet. Zum leichteren Auffinden der insgesamt
63 Erläuterungskästen, 21 Abbildungen und 4 Tabellen finden sich im Anhang
entsprechende Verzeichnisse.
Die nicht immer einfache Aufgabe einer geschlechtsneutralen Sprache wurde
in diesem Buch pragmatisch zugunsten der Lesbarkeit ohne eine durchgängige
Form gelöst.
Heike Engel
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SOZIALPOLITIK – EINE EINFÜHRUNG
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Dieses einführende Kapitel zur Sozialpolitik wird sich mit verschiedenen Fragen zur
Begründung von Sozialpolitik und den Formen ihrer Ausgestaltung beschäftigten.
Somit werden hier die Grundlagen vermittelt, um zu verstehen, warum Sozialpolitik in einer bestimmten Weise ausgestaltet wird und welche Rolle hierbei der
gesellschaftliche Hintergrund und die gesellschaftlichen Leitideen spielen. Diese
Überlegungen ermöglichen es auch, ein Verständnis für die länderspezifischen Besonderheiten in der Ausgestaltung von Sozialpolitik zu entwickeln.
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In einem ersten Schritt wird geklärt, warum Sozialpolitik überhaupt notwendig
ist. Konkret wird es darum gehen, welche Bedarfe oder Bedürfnisse in einer
Gesellschaft bestehen, die sozialpolitische Maßnahmen erfordern.
Die bestehenden Bedarfe bilden die Basis für Zielformulierungen an die Sozialpolitik vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund. Hier fließen immer
Wertungen, also normative Setzungen mit ein.
Das zentrale Thema dieser normativen Setzungen ist die Frage nach einem als
gerecht empfundenen Grad der Bedarfsdeckung. Oder anders ausgedrückt nach
einer als gerecht empfundenen Verteilung von Rechten und Pflichten in einer
Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund dieser Grundlegungen können Handlungsfelder der Sozialpolitik definiert werden.
1.1 Notwendigkeit von und Ziele der Sozialpolitik
Zunächst kann festgehalten werden, dass Sozialpolitik in allen Gesellschaften
notwendig war und ist, woraus sich je nach Gerechtigkeitsvorstellungen einer
Gesellschaft Ziele der Sozialpolitik ableiten lassen.
1.1.1 Notwendigkeit von Sozialpolitik
Sozialpolitische Maßnahmen sind notwendig, weil es erstens in jeder Gesellschaft Personen gibt, die nicht oder nur zum Teil aus eigener Kraft für ihre Existenz sorgen können und auf die Hilfe Dritter angewiesen sind. Zweitens ergibt
sich die Notwendigkeit aufgrund sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft, die
einen verteilungsbedingten Bedarf an sozialpolitischen Maßnahmen auslöst (vgl.
zu den folgenden Ausführungen Widmaier 1976).
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Sozialpolitik – eine Einführung
Personenkreise, die aus eigener Kraft nicht für ihre Existenz sorgen können
Die fehlende Möglichkeit, seine Existenz vollständig aus eigener Kraft zu sichern,
kann unterschiedliche Gründe haben. Hieraus entstehen Bedarfslagen, die unabhängig von der Gesellschaftsform bestehen:
• Permanent vorhandener Bedarf beschreibt einen Bedarf, der in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit besteht. Er betrifft Personen, die ihre Existenz aufgrund
von Krankheit, Behinderung oder Alter nicht, nicht mehr oder nur zum Teil
aus eigener Kraft sichern können.
• Der katastrophenbedingte bzw. kriegsfolgenbedingte Bedarf entsteht dadurch, dass die betroffenen Personengruppen vorübergehend bei materiellen
Schäden bzw. dauerhaft durch bleibende Behinderungen aufgrund von Verletzungen oder aufgrund des Todes des Versorgers/der Versorgerin einer Familie
auf Hilfen angewiesen sind.
• Entwicklungsbedingter Bedarf entsteht durch gesellschaftliche, kulturelle oder wirtschaftliche Veränderungsprozesse. Im weiteren Sinn leiten auch
Katastrophen oder Kriege Entwicklungen ein, aus denen eine Notsituation
und dadurch ein sozialpolitischer Handlungsbedarf entsteht. Als Beispiel für
gesellschaftliche, kulturelle Veränderungen im engeren Sinne kann die Auflösung der Leibeigenschaft und Beschränkung der Rechte der Zünfte Mitte
des 19. Jahrhunderts genannt werden. Wie noch gezeigt werden wird (Abschnitt 2.1), war ein großer Personenkreis nun zwar persönlich frei, aber in
großer existenzieller Not.
Auch wirtschaftliche Veränderungen erzeugen einen entwicklungsbedingten Bedarf. Denn solche Entwicklungen haben Arbeitslosigkeit, berufliche
Fehlqualifikation und damit verbunden die Notwendigkeit beruflicher, sozialer und/oder regionaler Mobilität zur Folge, die möglichst nur vorübergehend
der Unterstützung und damit sozialpolitischer Maßnahmen der Gesellschaft
bedürfen. Besonders kritisch sind solche Entwicklungen, wenn ganze Regionen betroffen sind, wie z. B. bei der Stilllegung von Werften in Bremen und
Mecklenburg-Vorpommern, bei der Beendigung des Kohleabbaus im Ruhrgebiet und im Saarland oder bei der Umstrukturierung der Montanindustrie im
Ruhrgebiet.
Soziale Ungleichheit
Soziale Ungleichheit ist ebenfalls ein Thema, das alle Gesellschaften – wenn auch
in unterschiedlicher Weise – betrifft, woraus ein verteilungsbedingter Bedarf für
sozialpolitische Maßnahmen entsteht. Die soziale Ungleichheit drückt sich erstens
aus in unterschiedlich guten Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten (insbesondere
höheren Entscheidungs-)Positionen und zweitens in den Verfügungsmöglichkeiten
über wirtschaftliche Güter. Der Sozialpolitik kommt hier die Aufgabe zu, Sorge
für eine gesellschaftlich akzeptierte Verteilung zu tragen und ggf. die Folgen einer
bestimmten Verteilung zu mildern. Ersteres kann beispielsweise dadurch erreicht
werden, dass die Zugangsmöglichkeiten zur Bildung als eine Grundvoraussetzung
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Notwendigkeit von und Ziele der Sozialpolitik
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für spätere Chancen für alle in gleichen Maßen zugänglich gestaltet wird. Die
Folgen einer bestimmten Verteilung werden beispielsweise dadurch sozialpolitisch
abgemildert, dass es eine staatliche Leistung zur Existenzsicherung gibt.
Kasten 1
Exkurs: „Geweckter“ Bedarf
Ein weiterer Bedarf betrifft insbesondere die industrialisierten und sozialpolitisch
entwickelten Systeme und wird hier weniger für die Herleitung der Notwendigkeit
von Sozialpolitik erläutert, sondern vielmehr, weil er uns bei der Diskussion um
die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Handlungsfelder begleiten wird: der
geweckte Bedarf.
Ein Bedarf an sozialpolitischen Leistungen kann „geweckt“ oder erzeugt werden, weil die Leistungen in den unterschiedlichen sozialpolitischen Handlungsfeldern unter besonderen Voraussetzungen erbracht werden. Eine wichtige Besonderheit ist, dass die Person, die eine Leistung erhält (Leistungsempfänger),
sie nicht direkt zahlt. Dies tun die sogenannten Leistungsträger, also z. B. die Sozialversicherungen oder die Sozialhilfeträger. Die Erbringer von sozialen Leistungen (z. B. Ärzte/innen, Krankenhäuser, Pflegedienste, Pflegeheime, Wohnheime
für behinderte Personen usw.) haben das natürliche Bestreben, ihre Leistungen
möglichst umfangreich zu erbringen. Und schließlich ist es für die Leistungsempfänger sehr schwierig zu beurteilen, Leistungen welcher Art und in welchem Umfang wirklich notwendig sind und ob die Qualität einer Leistung gut ist. Dieses
Phänomen wird asymmetrische Information genannt und besteht auch in anderen Dienstleistungsbereichen, wie z. B. bei Banken oder privaten Versicherungen.
Das Zusammenwirken der beschriebenen Besonderheiten führt dazu, dass
quantitativ mehr oder teurere Leistungen erbracht werden und finanziert werden
müssen, als notwendig sind. Ein besonders einleuchtendes Beispiel hierfür ist der
medizinische Bereich, in dem z. B. Ärztinnen und Ärzte die Nachfrage nach Arztbesuchen selbst erhöhen können, indem sie ihre Patient/innen häufiger wieder
einbestellen als notwendig. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, werden
die Leistungen von Ärzten/innen durch entsprechende gesetzliche Regelungen
begrenzt (s. hierzu ausführlich Abschnitt 8.3).
Diese Ausweitung der Sozialleistungen ist neben unzureichender Steuerung und
Organisation von Leistungen ein Grund für die verhältnismäßig hohen Kosten des
deutschen Sozialsystems. Das „Maß des Notwendigen“ ist dabei ein Dreh- und
Angelpunkt sozialpolitischer Debatten. Welche Leistungen sollen welcher Personengruppe mit welchen Bedarfslagen in welchem Umfang zur Verfügung gestellt
werden? Die Beantwortung dieser Frage wird uns in den folgenden Kapiteln begleiten.
Welches Maß an Ungleichheit von einer Gesellschaft als gerecht akzeptiert wird,
kann sich durchaus unterscheiden. Nimmt man die Einkommensverteilung in
einem Land als einen möglichen Indikator zur Messung von Ungleichheit, so
werden allein in Europa unterschiedliche Traditionen sichtbar: die nordischen
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Länder und hier insbesondere Dänemark oder Schweden legen offenbar größeren
Wert auf eine geringe Einkommensungleichheit als die südlichen Mitgliedstaaten, allen voran Portugal mit einer sehr ungleichen Einkommensverteilung (vgl.
European Commission 2008).
1.1.2 Ziele der Sozialpolitik
Die Auseinandersetzung mit dem Umgang der oben erläuterten Bedarfe und die
Lösungen, die gefunden werden, finden ihren Ausdruck in den Zielsetzungen von
Sozialpolitik. Diese hängen von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen
und politischen Systemen, dem vorherrschenden Menschenbild, den damit verbundenen normativen Setzungen sowie von der wirtschaftlichen Situation der jeweiligen Gesellschaft ab. Die Durchsetzung sozialpolitischer Maßnahmen hängt also
erstens davon ab, was eine Gesellschaft durchsetzen will, und zweitens davon, was
sie mit den ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln durchsetzen kann.
Grundlegende Zielsetzungen von freiheitlichen demokratischen Sozialstaaten,
die als Auftrag an die Sozialpolitik formuliert werden können, sind: Die Milderung oder Abwendung der Folgen Existenz gefährdender Risiken sowie die
Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit (s. o.).
Während die Milderung oder Abwendung der Folgen Existenz gefährdender
Risiken als grundlegendes Ziel sozialpolitischer Maßnahmen – unabhängig vom
jeweils zugestandenen Niveau – recht einleuchtend erscheint, wird über die Frage
der sozialen Gerechtigkeit trefflich gestritten. Aus diesem Grund erscheint es
angebracht, einige Überlegungen zu diesem Thema anzustellen.
1.2 Soziale Gerechtigkeit
Die Diskussion um soziale Gerechtigkeit dreht sich letztendlich immer um die
Frage, wie in einer Gesellschaft Güter und Lasten verteilt werden. Der abstrakte Begriff Güter steht dabei für die „Habenseite“ und meint Besitz sowie die
Möglichkeiten, sich Waren und Dienstleistungen zu beschaffen oder bestimmte
Positionen zu besetzten. Der Begriff Lasten steht für die „Sollseite“ und meint
insbesondere das Bezahlen von allgemeinen öffentlichen Leistungen (Schulen,
Universitäten, Infrastruktur etc.) durch Steuern oder von Sozialleistungen durch
Steuern oder Sozialabgaben.
Vor allem in demokratisch verfassten Gemeinwesen, in denen allen Bürgerinnen und Bürgern formal die gleichen Rechte zugesprochen werden, erfordert die
Gerechtigkeit, dass die Verteilung von Gütern und Lasten durch eine unparteiische Anwendung allgemeiner Regeln so zu lösen ist, dass niemand strukturell
benachteiligt wird (vgl. Liebig/May 2009).
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese zunächst recht plausible Forderung
in der praktischen Umsetzung je nach politischer Ausrichtung und persönlicher
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Stellung zu recht unterschiedlichen Lösungen führen wird, wie bspw. die Debatte
um gerechtere Bildungschancen in Hamburg eindrucksvoll gezeigt hat.
Kasten 2
Bildungsstreit in Hamburg
Im Jahr 2009 hat die schwarz-grüne Koalition in Hamburg eine Schulreform auf
den Weg gebracht, die die Einführung einer Primarschule vorsah, in der die Kinder
sechs Jahre anstatt bisher vier Jahre gemeinsam lernen. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass aus fachlicher Sicht durch ein längeres gemeinsames Lernen die bis
heute in Deutschland sehr stark ausgeprägte Abhängigkeit der Bildungschancen
von der familiären Herkunft abgemildert werden kann (vgl. bspw. Rösner 2008;
Jungmann 2008).
Darauf hin entbrannte in Hamburg ein Bildungsstreit, bei dem sich Teile der
Elternschaft insbesondere höherer Einkommensschichten gegen die Schulreform
wandten. Die Ablehnung der Reform ist sicherlich auf unterschiedliche Motivationen zurückzuführen. Eine war aber auch, dass die Kinder aus Familien mit höherer
Bildung im bisherigen Schulsystem gute Chancen auf eine gute Bildung und damit
im späteren Leben auf höhere Positionen und höhere Einkommen haben.
Die Initiative gegen die Reform ging von einem Rechtsanwalt aus, der vor allem
ähnlich gut gestellte Eltern aus konservativen sowie aus FDP-Kreisen gewinnen
konnte. Am 18. Juli 2010 wurde die Schulreform in Hamburg durch Volksentscheid
abgelehnt.
Damit zeigt sich, dass die Wertigkeit von sozialer Ungleichheit unterschiedlich
interpretiert wird und sich auch in demokratisch verfassten Gesellschaften größere Ungleichheit erzeugende Systeme durchsetzen können.
Was ist nun aber gerecht? Und: Meint Gerechtigkeit Gleichheit oder kann Ungleichheit durchaus gerecht sein? Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, welche Gerechtigkeitsprinzipien angewendet werden. Erstens bezogen auf
den Zeitpunkt eines Verlaufs (bspw. einer beruflichen Karriere); zu unterscheiden sind die Startphase (Zugangsmöglichkeiten zu Bildung/Ausbildung), der
Prozess (Zugangsmöglichkeiten zu Ämtern und Positionen) sowie das Ergebnis
(berufliche Stellung und Einkommen). Zweitens bezogen auf die Vorstellungen
von Gerechtigkeit, die sich, wie bereits angesprochen, zwischen Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen unterscheiden.
1.2.1 Gerechtigkeitsprinzipien
Um die Antwort der oben gestellten Frage vorwegzunehmen: Gleichheit ist ein,
aber nicht das einzige Gerechtigkeitsprinzip. So unterscheiden Becker und Hauser (2004) vier Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, von denen drei Ungleichheit
zulassen.
• Das Gleichheitsprinzip meint zunächst einmal allgemein die Zuweisung gleicher Rechte und Pflichten bzw. gleicher Güter und Lasten.
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• Nach dem Bedarfsprinzip werden Verteilungen bzw. Umverteilungen als gerecht angesehen, die einen Bedarf abdecken. Beispiele hierfür sind Gesundheitsleistungen, die eine erkrankte Person aufgrund seines Bedarfs erhält, Leistungen der Mindestsicherung, die Personen erhalten, die sich nicht aus eigener
Kraft versorgen können, oder Unterstützungsleistungen für behinderte Personen, um gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können.
• Nach dem Anrechtsprinzip werden Zugangsmöglichkeiten oder Verteilungen
als gerecht angesehen, die Personen zugestanden werden, weil sie entsprechende Ansprüche erworben haben. Ansprüche können durch Zugehörigkeit zu
einem gesellschaftlichen Stand (Adel, Zünfte etc.) oder durch Mitgliedschaft
erworben werden.
• Nach dem Leistungsprinzip sollen individuelle Anstrengung und Leistungen
belohnt werden. Als gerecht gilt, dass diejenigen, die mehr tun und sich mehr
anstrengen, auch mehr besitzen und verdienen sollen als die anderen, die sich
weniger bemühen.
Unschwer zu erkennen ist, dass alle genannten Gerechtigkeitsprinzipien durchaus ihre Berechtigung haben, in Gesellschaften nebeneinander bestehen und sich
zum Teil bedingen.
1.2.2 Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien
Die Beurteilung, ob etwas gerecht ist, hängt von dem angewendeten Gerechtigkeitsprinzip (s. o.) sowie von der jeweiligen Situation ab, womit Möglichkeiten
und Chancen, Verfahren und Prozesse sowie ein endgültiges Verteilungsergebnis
gemeint sind.
Chancengerechtigkeit
Chancen- oder Startgerechtigkeit beschreibt die Möglichkeiten, die eine Person
in einer Gesellschaft zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit erhält. Wird hier
das Gleichheitsprinzip als Herstellung von Chancengleichheit interpretiert, so
muss dem Bedarfprinzip gefolgt werden. Denn die Mitglieder einer Gesellschaft
sind unterschiedlich mit Talenten, Behinderungen etc. ausgestattet, sodass Chancengleichheit durch dem jeweiligen Bedarf angepasste sozialpolitische Maßnahmen hergestellt wird. Insofern käme hier das Bedarfsprinzip zur Realisierung
von Gleichheit zum Tragen.
Chancengerechtigkeit passt mit dem Anrechtsprinzip als Gerechtigkeitsprinzip
aus heutiger Sicht zumindest formal nicht zusammen, denn dies würde bedeuten,
dass Positionen qua Geburt erlangt werden. Ein – zumindest in Deutschland
historisches – Beispiel hierfür ist das Anrecht auf den Königstitel. Das Leistungsprinzip ist bezogen auf die Chancengerechtigkeit dem Anrechtsprinzip recht
nahe, weil auf die Leistungen der vorherigen Generation zurückgegriffen werden
muss. Waren diese tüchtig oder hatten Glück, so hat die nachfolgende Generation eine entsprechend gute Ausgangssituation.
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Prozessgerechtigkeit
Prozessgerechtigkeit meint die Bedingungen bei den Verfahren zur Verteilung von
Positionen und Gütern. Diese sollten allen offen stehen, transparent und von der
Gesellschaft als fair akzeptiert sein. Beispiele für die Gestaltung von Verfahren
sind die Beteiligung oder Nichtbeteiligung bestimmter Personengruppen in Entscheidungsprozesse sowie der Grad der Offenheit für bestimmte Personenkreise
in politisch und/oder gesellschaftlich hoch stehende Positionen zu gelangen.
Ob Prozesse als fair und gerecht beurteilt werden, hängt ebenfalls vom gewählten Gerechtigkeitsprinzip ab, wobei hier die gleiche Argumentation greift
wie bei der Chancengerechtigkeit. So gehören auch hier das Gleichheitsprinzip,
sofern es als Herstellung gleicher Zugangsmöglichkeiten interpretiert wird, und
das Bedarfsprinzip zusammen. Beide Prinzipien sorgen für gleiche Zugangsmöglichkeiten und haben ausgleichenden Charakter für gegebene Nachteile. Ein Beispiel hierfür sei das inzwischen auch in Deutschland gesetzlich verankerte Recht
von behinderten Personen auf ungehinderten Zugang in öffentliche Gebäude, auf
barrierefreie Kommunikation sowie darauf, auch beim Erlangen von Positionen
in keiner Weise diskriminiert zu werden.
Das Anrechtsprinzip setzt dagegen auch im Prozess auf Vorteile durch bereits
erworbene Ansprüche. Das Leistungsprinzip ist bezogen auf die gerechte Ausgestaltung von Prozessen nicht interpretierbar.
Ergebnisgerechtigkeit
Die Ergebnisgerechtigkeit beschreibt die durch Start und Prozess bedingte endgültige Verteilung von Positionen, Einkommen und Gütern.
Nach dem Gleichheitsprinzip müsste die endgültige Verteilung von Gütern
und Lasten gleich sein. Nach dem Bedarfsprinzip werden dagegen die Grundbedürfnisse in einem als gesellschaftlich angemessen angesehenen Maß gedeckt.
Dieses Prinzip ist insofern schwächer als das der Gleichheit, weil hier eine Mindestversorgung vorgesehen ist, die aber darüber hinaus gehende Ungleichheit
zulässt und dennoch als gerecht beurteilt wird. Nach dem Anrechtsprinzip wird
ein Ergebnis, das durch Ansprüche und Anrechte erworben wurde und ungleich
verteilt ist, als gerecht angesehen. Nach dem Leistungsprinzip wird eine ungleiche Verteilung als gerecht beurteilt, die durch Leistung erworben wurde.
In der Zusammenschau kann festgehalten werden, dass Verteilungen im Ergebnis durchaus ungleich sein können, ohne dass sie zwangsläufig als ungerecht
beurteilt werden, sofern die Startbedingungen und die Verfahren, die zu einer
bestimmten Verteilung geführt haben, als gerecht beurteilt werden. So gilt eine
ungleiche Verteilung dann als gerecht, wenn die Möglichkeiten zur Erlangung
von Positionen und Ämtern und damit verbunden auch von Einkommen und Einfluss für alle gleich sind. Diese Bedingung bedarf eines politischen und rechtlichen Rahmens, der dafür sorgt, dass übermäßige Konzentrationen von Eigentum
und Vermögen verhindert werden, die ggf. zu politischer Vorherrschaft führen
werden. Hierdurch würde nämlich die Bedingung fairer Chancengleichheit verletzt. Zudem muss eine Gesellschaft insbesondere „gleiche Bildungschancen für
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alle durchsetzen, einerlei, wie hoch das Einkommen der jeweiligen Familie ist“
(Rawls 2006, 80).
Dass diese theoretischen Überlegungen in der Realität durchaus anders gesehen werden können, zeigt der beispielhaft geschilderte Hamburger Bildungsstreit
eindrucksvoll (s. Kasten 2).
1.2.3 Gerechtigkeit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher
Modelle
Die bevorzugte Wahl eines der vier Gerechtigkeitsprinzipien kann schließlich
auch als Folge gesellschaftlicher Zusammenhänge erklärt werden (vgl. auch Liebig/May 2009, 5 ff.):
• Enge langfristige Gesellschaftsgefüge, in denen jedes Mitglied eng eingebunden ist und seinen festen Platz hat, werden vermutlich das Bedarfsprinzip,
bei dem jedem das zugestanden wird, was er benötigt, bevorzugen. Beispiele
hierfür sind Familienverbände, Stämme oder recht kleine, überschaubare Gemeinschaften, in denen sich die Menschen gegenseitig kennen.
• Hierarchische Gesellschaften mit festen Zuordnungen von Rechten und Pflichten je nach Position werden das Anrechtsprinzip als das am ehesten gerechte
beurteilen. Denn hierdurch wird sichergestellt, dass bestimmte Rechte und
Leistungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Position, einer Berufsgruppe
o. ä. garantiert sind. Länder, in denen das Anrechtsprinzip recht ausgeprägt
ist, sind bspw. Deutschland oder Österreich.
• Nicht-hierarchische Netzwerke (z. B. Genossenschaften), deren Mitglieder sich
als gleich und mit denselben Rechten und Pflichten versehen betrachten, werden am ehesten die Gleichheit bei der Verteilung von Rechten und Pflichten als
das dominierende Prinzip wählen.
• Große, heterogene Gesellschaftsmodelle mit einer ausgeprägten Leistungsethik, bei denen der soziale Zusammenhalt eine vergleichsweise geringere Rolle spielt, würden im Ergebnis am ehesten dem Leistungsprinzip als gerechtes
Verteilungsprinzip folgen. Beispiele hierfür sind Länder, die weitgehend dem
Gedanken der freien Marktwirtschaft folgen, wie z. B. Großbritannien oder
die USA. Deutschland und Österreich gehören insofern ebenfalls in diese Kategorie, als dass das Erwerben von Anrechten (Anrechtsprinzip s. o.) in der
sozialen Sicherung eng an die Arbeitsleitung geknüpft ist.
Diese Einordnungen geben lediglich einen ersten Hinweis auf die Präferenz möglicher Gerechtigkeitsprinzipien, sie können aber im Ansatz erklären, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund Sozialstaaten mit welcher konkreten Ausgestaltung in welchen Handlungsfeldern entwickelt wurden.
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