"Kollaborative Demokratie"_ Demokratie anders wagen | FTD.de

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01.12.2010, 13:09
"Kollaborative Demokratie"
Demokratie anders wagen
© Bild: 2010 AP
Kommentar Proteste wie der gegen Stuttgart 21 werden immer wieder mit der Forderung nach mehr
Volksabstimmungen verknüpft. Doch die sind kein Allheilmittel gegen den Bürgerfrust. von Leonard
Novy
Leonard Novy ist Politikwissenschaftler und Fellow bei der Stiftung Neue Verantwortung in Berlin
Stuttgart 21, Berliner Flughafenstreit, Schulreform in Hamburg, Nichtraucherschutz in Bayern - allerorten begehren die
Bürger auf und protestieren gegen die Entscheidungen ihrer gewählten Repräsentanten. Die gute Nachricht lautet:
Dieses Aufbegehren straft das gängige Lamento über die Politikverdrossenheit Lügen. Denn die Bürger wollen
mitreden, wenn es um Belange geht, die sie unmittelbar betreffen. Die schlechte Nachricht: Die Kluft zwischen
Regierenden und Regierten scheint zu wachsen. Und sie wird auch durch die Einführung direktdemokratischer
Instrumente nicht automatisch kleiner werden. Vielmehr muss es darum gehen, wie sich die repräsentative Demokratie
jenseits von Wahlurnen und bürokratischen Verfahren partizipativer gestalten lässt.
Natürlich sind alarmistische Umfragen und Kommentare zum schwindenden Vertrauen in die Politik und ihre
Institutionen mit Vorsicht zu bewerten. Auch bei einer differenzierteren Betrachtung bleibt jedoch Anlass zur Sorge.
Denn die Bürger zweifeln nicht nur an der Problemlösungsfähigkeit und am Problemlösungswillen ihrer Politiker,
sondern zusehends auch an den ihnen tatsächlich zur Verfügung stehenden Einflussmöglichkeiten. Laut einer Studie
der Uni Bielefeld aus dem vergangenen Jahr ist eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung der Überzeugung, sie hätte
ohnehin "keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut". Hier artikuliert sich der Frust über Institutionen, die zwar
formal intakt scheinen, tatsächlich aber Züge dessen tragen, was der Soziologe Colin Crouch Postdemokratie nannte:
eine Politik, die den Realitäten globalisierter Märkte hinterherhinkt und die permanent damit beschäftigt scheint, dem
Diktat vermeintlicher Sachzwänge zu folgen, statt ihre Entscheidungen im Dialog mit den Wählern zu begründen.
Es ist deshalb kein Wunder, dass der Ruf nach direktdemokratischen Verfahren lauter wird. Dahinter steht der Versuch
der Bürger, angesichts einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt wenigstens in ihrer unmittelbaren
Lebensumwelt so etwas wie Autonomie und Souveränität wiederherzustellen. Doch mehr direktdemokratische
Verfahren mögen punktuell sinnvoll sein, ein Allheilmittel sind sie nicht.
Denn nur in den Institutionen der pluralistischen Repräsentativdemokratie, in Parlament, Parteien und Regierung,
können Gemeinwohl- und Zukunftsorientierung in politischen Entscheidungen ausbalanciert werden statt ständigen
Ad-hoc-Situationen unterworfen zu sein. Führung auf Zeit, wie sie sich aus dem Prinzip der Delegation von Macht
durch Wahlen ergibt, ist in großen, modernen Gesellschaften schlichtweg eine demokratische Notwendigkeit.
Dies kann auch bedeuten, dass gewählte Politiker unpopuläre Entscheidungen gegen akute Widerstände durchsetzen
(und dafür in nachfolgenden Wahlen zur Rechenschaft gezogen werden). Responsiv und im Sinne des Gemeinwohls
handelt erst derjenige Politiker, der sein Handeln nicht eins zu eins von sich in Umfragen spiegelnden Befindlichkeiten
der Gesellschaft abhängig macht, sondern selbige auch zu hinterfragen weiß und Veränderungen anzustoßen wagt.
Veränderte Erwartungen
Doch die Akzeptanz dieser abstrakten Vorteile der repräsentativen Demokratie kann nicht einfach vorausgesetzt
werden. Und sie erodiert, je mehr die Bürger an der demokratischen Qualität politischer Entscheidungsprozesse
zweifeln.
Das hat auch etwas mit den veränderten Erwartungen und Ansprüchen einer Gesellschaft zu tun, die anders als vor 50
Jahren unter Demokratie eben nicht mehr nur Frieden, Wohlstand und Konsum versteht, sondern Rechenschaft
einfordert und mitgestalten will, sich aber gleichzeitig zusehends außerhalb traditioneller politischer Strukturen
organisiert.
Das Internet ist gleichermaßen Ausdruck und Treiber dieses umfassenden gesellschaftlichen Wandels. Er stellt
traditionelle Hierarchien infrage und weckt Erwartungen hinsichtlich Transparenz und Beteiligung. Das haben nicht nur
die Bahn und die S21-Befürworter, sondern im Fall Wikileaks auch die internationalen diplomatischen Dienste leidvoll
erfahren.
So wie die Politik mit den Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre und der Abgabe nationaler Kompetenzen an
die EU auf die Globalisierung reagiert hat, muss sie auch diesen veränderten Handlungsbedingungen Rechnung
tragen. Die Zukunft der Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten wird sich nicht am häufigeren Einsatz von
Bürgerbefragungen und Volksabstimmungen entscheiden. Wichtiger ist es, die repräsentative Demokratie partizipativer
zu gestalten, damit sie ihren Aufgaben und den gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen ihrer
Gesellschaften gerecht wird.
Konkret bedeutet dies, dass sich die Politik vor allem, aber nicht nur bei Großprojekten wie Stuttgart 21 über das
rechtlich notwendige Maß an Mitwirkung hinaus für Beteiligung öffnen muss. Zu Recht hat der Schlichter Heiner
Geißler die gängigen Planfeststellungsverfahren als "bürokratischste Form der Demokratie" beschrieben. Lange stand
die Politik allen Beteiligungsformen, die über Wahlen, der Mitgliedschaft in Parteien oder zivilgesellschaftlichem
Engagement hinausgingen, skeptisch gegenüber - auch, weil sie zu schwer zu organisieren waren.
Mit dem Internet steht nun ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich Wissen und Erfahrungen der Bürger wirksamer
denn je in politische Planungs- und Entscheidungsprozesse integrieren lassen. Hier bestehen Potenziale für eine
"kollaborative Demokratie", die Beteiligung nicht auf den Urnengang oder den Einspruch gegen bereits vorgelegte
Pläne reduziert, sondern auf ziel- und ergebnisgerichtete Mitwirkung abzielt. Beispiele aus aller Welt belegen, dass
Dialog und Zusammenarbeit zwischen staatlichen Akteuren und Bürgern sich nicht nur positiv auf die Legitimation,
sondern auch auf die Qualität politischer Entscheidungen auswirken können.
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FTD.de, 01.12.2010
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