Das Bayer Kultur-Magazin 16 Peter Härtling | Der Wanderer SCHAUSPIEL | Interview mit Caroline Neven Du Mont und Julia Riegel -8+x | Papiertheater KUNST | Margarita Broich mit Schauspieler-Porträts OPER | Bayer Kultur macht wieder Oper! SCHAUSPIEL | Herbert Fritsch zum ersten mal in Leverkusen stART! | Valentin Radutiu und Alexander Krichel im Porträt Editorial ten beiden Monaten der neuen Saison beinhalten zahlreiche Höhepunkte. Am 9.9.2012 fällt mit der Aufführung von Christoph Willibald Glucks Opernserenade Le cinesi der Startschuss für unser neues, mit vier Veranstaltungen zwar kleines, aber gleichwohl ambitioniertes Opernabonnement. Einer der beiden neuen stART-Künstler, der Cellist Valentin Radutiu, stellt sich ebenfalls gleich zu Beginn der Spielzeit mit einem sehr spannenden Programm vor. Besonders stolz sind wir darüber, Ihnen mit einer Deutschen Erstaufführung in der Sparte Tanz – das „Strindberg Project“ des weltberühmten Cullberg Balletts – sowie der Uraufführung von Barfuß auf dem Eise, einem von Bayer Kultur produzierten Stück über den Komponisten Franz Schubert von Julia Riegel und Caroline Neven du Mont, einmal mehr zwei wirklich hochkarätige Novitäten präsentieren können. Liebe Freunde von Bayer Kultur! Das Eröffnungsfest zur neuen Spielzeit 2012/13 war schon kurz nach unserer Pressekonferenz Ende Mai ausverkauft – „ausgebucht“ müsste man richtiger sagen, denn die erste Veranstaltung in der neuen Saison findet weiterhin bei freiem Eintritt statt. Da aber auch Karten kurzfristig wieder zurückgegeben werden, lohnt sich eine Nachfrage in unserem Kartenbüro allemahl. Offensichtlich haben wir mit dieser Änderung – von der bisherigen „Festlichen Spielzeit-Eröffnung“, die sich mit Ausstellung, Vortrag und Musikprogramm sehr dezidiert mit dem jeweiligen Spielzeit-Motto auseinandergesetzt hat, zu einem heiter-unbeschwerten Eröffnungsfest – in hohem Maße den Wünschen und Vorstellungen unseres Publikums entsprochen. Darüber freuen wir uns natürlich sehr! Wer hier keine Tickets mehr ergattern konnte, muss aber nicht traurig sein. Denn die 43 Veranstaltungen in den ers2 Unsere Angebote für Kinder und Jugendliche haben wir in der neuen Spielzeit übrigens nochmals erweitert. Neben den Aufführungen und Konzerten für unsere jungen und jüngsten Gäste gibt es nicht weniger als 15 Angebote im Rahmen unseres Education-Programms Mitmachen!. In Relation zur Gesamtzahl unserer Veranstaltungen nähern wir uns damit der 30%-Marke. Da soll noch einer sagen, Kinder und Jugendliche hätten kein Interesse an Theater, Kunst, Musik und Tanz! Auch im weiteren Verlauf der Spielzeit dürfen Sie sich auf viele spannende und außergewöhnliche Konzerte, Aufführungen und Ausstellungen freuen und ich möchte Sie, liebe Freunde von Bayer Kultur, auch an dieser Stelle nochmals sehr herzlich zur neuen Spielzeit willkommen heißen. Wir freuen uns auf Sie! Ihr Dr. Volker Mattern Leiter Bayer Kultur 16 August/September/Oktober 12 Essay Ein Kapitel aus Peter Härtlings Der Wanderer Seite 4 KUNST Dieser komische einsame Moment – Margarita Broich portraitiert Künstler nach der Vorstellung Seite 8 schauspiel Uraufführung Barfuß auf dem Eise – Interview mit den Autorinnen Caroline Neven Du Mont und Julia Riegel Seite 10 TANZ Schwedisches Cullberg Ballett mit Deutscher Erstaufführung zu Gast bei Bayer Kultur Seite 12 start Neue stART-Künstler Valentin Radutiu und Alexander Krichel im Porträt Seite 14 schauspiel Hedwig Rost und Kurt Baesecke zeigen, dass die Bretter, die die Welt bedeuten, manchmal ganz klein sind. Seite 15 schauspiel Diener zweier Herren in der Regie von Kultregisseur Herbert Fritsch Seite 16 oper Die Oper kehrt ins Repertoire zurück – mit vier außergewöhnlichen Projekten Seite 18 Das Bayer Kultur-Magazin 3 „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Die Uraufführung von Barfuß auf dem Eise widmet sich Franz Schuberts Innen- und Außenwelten – ein Kapitel aus Peter Härtlings Der Wanderer Sie wandern aufeinander zu, zwei Schwierige, in sich gekehrt, viel zu früh müde und kommen sich doch nicht vor die Augen. Wer ihren Lebensspuren folgt, diesen Mäandern von Aufruhr, Zuversicht und Resignation, wer in dem Moment, in dem Wort und Musik wie selbstverständlich zueinander finden, den Atem anhält, dem ist es unbegreiflich, dass sie sich nie trafen, nie ein Wort miteinander wechselten, dass der eine, der Dichter, nie erfuhr, dass der andere, der Musiker, seine Gedichte, die nach einer Melodie suchten, vertont hatte. Es ist wahr: Wilhelm Müller hat nichts von der Vertonung der Winterreise durch Franz Schubert erfahren. Beide befanden sie sich zu dieser Zeit schon fast am Ende ihrer an Erfahrungen und Einfällen unendlich reichen, sie tief erschöpfenden Wanderschaft. Sie hätten sich in die Arme fallen können und einander kaum mehr etwas sagen müssen. Im Jahr 1827 komponierte Franz Schubert den Zyklus Die Winterreise. Die Vorlage, die Gedichte hatte er in einem Almanach entdeckt. Wilhelm Müller bekam darüber keine Mitteilung, ebensowenig wie über die Vertonung der Schönen Müllerin. Er starb am 30. September 1827. Schubert, der seinen Gedichten die ersehnte Musik geschenkt hatte, folgte ihm ein Jahr darauf, am 19. November 1828. Franz Schuberts Leben ist vielfach erzählt worden. Hans Gal spricht von einem „schlichten Lebensgang“. Das scheint mir eine ebenso arglose wie furchtbare Vereinfachung zu sein. Unaufwendig vielleicht; unauffällig gewiß nicht. Auffällig wird schon der junge Schubert durch seine Unrast. Er streunt. Er wohnt, nachdem er mit zwanzig das Vaterhaus verlassen hat, da und dort und ist nirgendwo zuhause. Es sei denn, man hält seine Stadt für sein Domizil. Wien, das er dort am genauesten kennt, wo die Armut an den Wohlstand grenzt – und er ist mitunter ein geduldeter, mitunter ein erwünschter Grenzüberschreiter. Auf den Bildern, den Genreszenen, die ihn in musikalischer Gesellschaft vorführen, wird er zur Plattitüde, die wir kennen, die, ihn und seine Musik verratend, überliefert wurde: der Schwammerl, der von wohlwollenden Freunden dressierte Unterhalter, der dem einen Lieder schreibt, dem andern gefällige Stückerln fürs Pianoforte. Wieso wehrte er sich nicht? frage ich mich. Warum ließ er sich mißbrauchen, wurde in dieser Runde zum Freund 4 aller, einer, der aufspielte, einer, dessen Liebesfurcht wie ein Gebrechen behandelt wurde, so, als habe er einen Buckel – und weil es so war, brachten sie ihm dann aufs gemeinste die Liebe bei und trieben sie ihm auch gleich wieder aus, machten ihn tatsächlich zum Krüppel, zum Jammerbild, zum Moribunden. Natürlich mochten und verehrten sie ihn auch, gab es Stunden, in denen sie mit ihm in die ungeheuren Abgründe seiner Musik lauschten und Echos vernahmen, die sie tief erschreckten. Dennoch bleibt die Oberflächlichkeit und Rohheit derer, die ihm nahestanden, unbegreiflich. Unbegreiflicher noch seine Gleichgültigkeit gegen sie. Aber ist er das überhaupt? Es ist verbürgt, wie selbstvergessen und ausdauernd er in den schäbigsten Unterkünften arbeiten konnte. Nichts und niemand vermochte ihn abzulenken. So haben wir uns jenen Schubert zu denken, den kein Bild wiedergibt, der in keine Genreszene paßt: Völlig besetzt von Ideen, Einfällen, sich auf die Gesetzmäßigkeiten einer musikalischen Tradition einlassend, die er kannte wie kaum ein anderer, die er respektierte und doch mit jedem Takt, den er komponierte, ausweitete; Melodien schreibend, die nur er so erfinden konnte, da er ihren wunderbar ausschweifenden Bögen gewachsen war. Was er sich, der hilflos Gesellige, in lauter Runde nicht zu sagen getraute, spricht er mit jeder Note aus: Ich bin es! Ich! Schließlich war er den Freunden weit voraus. Er hatte sich nicht von ihnen entfernt, im Gegenteil, er genoß die lärmende, weinselige Gemeinschaft, aber der Frost, der sie alle umgab, den sie nicht zur Kenntnis nehmen wollten, die Eiseskälte der Metternichzeit, hatte sich ihm bis auf die Knochen gefressen. Die Winterreise hatte schon lange begonnen. Mit allem, was er nun komponierte – nicht nur die Lieder Wilhelm Müllers, sondern die späten Sonaten, die C-Dur-Symphonie, das Streichquintett in C-Dur – bricht er ins Unvertraute auf und wird – das ist das Wunder, das er vollbringt – sogleich mit ihm vertraut. Auch mit dem Äußersten, dem Abschließenden, dem Tod. Aber ich denke ja ein Doppelbildnis. Auf ihm vereine ich zwei Wanderer im Frost. Zwei, die nicht viel Zeit haben, um dort anzukommen, wo sie einander finden. Wilhelm Müller wird erst jetzt wieder entdeckt. Die Literaturgeschichte hat ihn vernachlässigt, weil Schuberts Musik ihn vergessen machte. Das ist, ich weiß es, ein Paradoxon. Sie hat ja zum andern die Erinnerung an ihn bewahrt. Wenn auch nur undeutlich. Er wurde ausgespart, weil jenen, die seine Geschichte hätten weitervermitteln können, der Widerspruch zwischen politischem Aufbegehren und spätromantischer Sängerlust nicht paßte. Darum war Heinrich Heine einer der wenigen, der Müllers ganz und gar eigenwüchsiges Talent erkannte, ihm sogar gestand, in seinen Liedern „den reinen Klang und die wahre Einfachheit“ gefunden zu haben, wonach er immer strebte. Heine grüßte einen Gefährten. Er hörte eben nicht nur den Wohllaut, las nicht nur gefällige, dem Schein nach volkstümliche Verse und rasche Reime, sondern verstand Not und Bitterkeit, die gleichsam in der zweiten Stimme mitredeten, mitsangen. Ich berichte von einem Leben, in dem Anpassung und Aufbruch aufreibend wechselten. Wilhelm Müller wurde am 7. Oktober 1794 in Dessau geboren. Sein Vater hatte als Schneidermeister ein unregelmäßiges, meist dürftiges Auskommen. Keines von Wilhelms Geschwistern überlebte die frühen Kinderjahre. Er blieb übrig. Alle Fürsorge, alle Hoffnung der Eltern galten ihm, und es wird, geht es um seine Ausbildung, nicht gespart. Nicht nur das: „Seine Erziehung war so fern allem Zwange, dass die Wahl der Selbstbeschäftigung fast ganz den Launen des Knaben überlassen war“, stellt Gustav Schwab in einer biographischen Skizze fest. Wilhelm darf früh schon Verwandte auf Reisen begleiten, erweist sich als begabter Schüler. Ich denke ihn mir altklug und ein wenig vorlaut. Es heißt nämlich auch, er habe früh ein Gefühl für Unabhängigkeit entwickelt. Mit elf Jahren verlor er seine Mutter. Schubert war fünfzehn, als seine Mutter starb. Beide haben diesen Verlust nie verwunden. Für Schubert begann da sein fortwährendes, immer inständiger werdendes Selbstgespräch mit dem Tod, und der Schüler Wilhelm Müller redete den Tod in seinen ersten Versen in kindlicher Fassungslosigkeit an. Mit vierzehn ist er schon so weit, daß er seine Werke für sich sammeln kann: Elegien, Oden, Lieder und ein Trauerspiel, naive Zeugnisse erfahrener Unruhe und unersättlicher Lektüre. Als er sich 1812 an der Berliner Universität einschrieb, hatte sein Vater wieder geheiratet, eine vermögende Frau, wohl mit der Absicht, wie Schwab schreibt, „einen längst gehegten Wunsch in Ausführung zu bringen, den Sohn studieren zu lassen“. Er hört Philosophie und Geschichte, bleibt aber auf dem Sprung, hat keine Lust, sich allein dem Studium zu widmen. 1813 – Preußen führt den Befreiungskrieg gegen Napoleon – meldet er sich freiwillig, gerät in die Schlachten von Lützen, Bautzen und Kulm, zieht mit in die Niederlande und dient eine Zeitlang als Offizier im Commandantenbüro in Brüssel. Die Poesie ist ihm aber wichtiger als der Krieg. Noch in Brüssel beschäftigt er sich mit, so nennt er sie, altdeutscher Literatur und gibt 1816 Eine Blumenlese aus den Minnesängern heraus. Kritiker tadeln den Überschwang seiner Vorrede; sie können nicht ahnen, dass er diese Arbeit gleichsam als Einübung verstand, denn er wünschte sich für seine Gedichte eine Weise des so selbstverständlichen wie kunstvollen Singens. Nach Berlin zurückgekehrt findet er bald Gleichgesinnte. Das Bayer Kultur-Magazin 5 Sie schreiben jung und begeistert, Vorbildern nach, lesen Clemens Brentanos und Achim von Arnims Sammlung Des Knaben Wunderhorn, vertiefen sich in die deutsche Geschichte, spielen Ritter und Bürger, sind schwärmend alle mehr außer sich als bei sich. So harmlos diese Freundeskreise ehemaliger Kriegsfreiwilliger auch sind – Polizei und Zensur haben ein Auge auf sie, aus Furcht vor politischen Geheimbünden. Die Gehilfen Metternichs tun sich überall hervor. Der dichtende Maler Wilhelm Hensel und seine Schwester Luise, nicht allein von Müller angebetet, führen ihn in die Berliner Gesellschaft ein. Er ist umtriebig, regt an, läßt sich anregen. Doch schon hier, zu Beginn seines kurzen Wegs vor den Blicken der Öffentlichkeit, wirkt er in seiner Unrast wie ein nach Halt, nach Hilfe Suchender. Als merke er, dass sein Leben zu schnell geworden sei, ihm nur wenig Zeit bleibe, mit seinen Liedern eine deutliche Spur zu hinterlassen. Ich halte ein, schaue ihn an. Franz Krüger, ein Zeitgenosse, hat ihn porträtiert. Es ist ein Gesicht, das sich Schinkel erdacht haben könnte. Von klassizistischer Klarheit und einem nur durch die nachdenklich und fragend blickenden Augen gestörten Selbstbewußtsein. So sahen sie alle aus, die Schulischen Offiziere, die Männer aus der Umgebung Königin Luises. Alle mußten sie eine hohe Stirn haben, diese lange, schmale empfindliche Nase, diesen kleinen Knabenmund. Nur sein Kinn entspricht nicht ganz der Norm. Es ist etwas zu weich geraten. Die Augen jedoch, diese Brunnenlöcher im Marmor, verraten ihn, den Wanderer, den Fremden. Noch immer ist er Student, wenn auch schon bekannt als Herausgeber, Kritiker, Lyriker. Auf Anregung Achim von Arnims hat er Marlowes Doktor Faustus übersetzt. Mit allem schafft er sich Aufmerksamkeit. Und mit manchem, was er jetzt nur andeutet, tritt er schon über die Grenze: Im Salon des kunstverständigen preußischen Staatsrats Sägemann beteiligen sich er und die Geschwister Hensel an einem Liederspiel, das sie Die schöne Müllerin nennen. Wahrscheinlich haben Goethes Müllerromanzen sie dazu angeregt. Er schreibt die ersten Lieder seines Zyklus‘, den er vier Jahre später abschließt. Schon ist er unterwegs, bricht aus, hat seine Stimme gefunden. 1817 darf er wirklich aufbrechen. Auf Anregung der Akademie der Wissenschaften soll er den Kammerherrn von Sack als wissenschaftlicher Berater nach Griechenland, Ägypten und Kleinasien begleiten, um antike Inschriften zu sichten und zu sammeln. Da in Konstantinopel die Pest wütet, wird die Reiseroute geändert. Die Reisegesellschaft landet in Rom, wo sich Müller von ihr absetzt, angezogen vom Treiben der deutschen Künstlerkolonie. Er beobachtet, nimmt teil, mischt sich ein, hält schreibend fest: in zwei Bänden erzählt er anschaulich von Rom, den Römern und den Römerinnen. 1819 kehrt er heim in seine Vaterstadt nach Dessau, bewirbt sich um eine feste Anstellung, wird zuerst Lehrer für lateinische und griechische Sprache und kurz darauf Leiter der Herzoglichen Bibliothek. Er heiratet Adelheid Basedow, die Enkelin Johann Bernhard Basedows, des großen aufklärerischen Pädagogen und Menschenfreunds. 6 Auch sie kann ihn nicht zur Ruh bringen, obwohl es für kurze Zeit den Anschein hat. Verständnisvoll wird sie ihn auf seiner immer tiefer in den Winter führenden Reise begleiten. Er spielt seine Rollen als geschätzter Lehrer, als angesehener Bibliothekar, nur fühlt er sich eingeengt, gegängelt und beobachtet, beklagt den „Preßzwang“, die „politische Inquisition“, das „Zurückschrauben der Welt“ und neidet den Franzosen ihr Parlament: Es „ist fürwahr jetzt der Vertreter der ganzen bedrückten und gehudelten Menschheit. Welche herrlichen Reden sind von der linken Seite der Deputiertenkammer bei Gelegenheiten der Zensurgesetze erschollen“. In ganz Europa berühmt wird er mit seinen Gedichten zum griechischen Befreiungskrieg von 1821–1827. Er gibt ihm die Gelegenheit, seine Hoffnung auf Freiheit, seine Sehnsucht nach Freisinn unverhohlen auszusprechen. Die Gedichte erscheinen in Heften. Sie finden reißenden Absatz. Und der Ruhm schenkt ihm seinen Beinamen: Griechen-Müller. Von nun an laufe ich ihm nicht mehr erzählend nach; ich laufe mit ihm. Sein Ruhm verschafft ihm neue Freunde. Der Verleger Brockhaus in Leipzig gewinnt ihn als Berater. Herzog Leopold Friedrich ernennt ihn zum Hofrat. Ist er nun ganz der, den ich vom Bild kenne? Müßte ich mir doch ein anderes Bild machen? Hat er vielleicht schon gedacht, woran ich denke: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Er schreibt über Byron, auch einen jener auftrumpfenden Fremden. Manchmal kann er gar nicht aufhören, mit seinen beiden Kindern zu spielen: „Nun feget aus den alten Staub Und macht die Laube blank, Laßt ja kein schwarzes Winterlaub Mir liegen auf der Bank“, singt er ihnen vor, für sie und gegen seine Ahnungen: das „schwarze Winterlaub“. Er muß verdienen. Die Einkünfte genügen nicht für die größer gewordene Familie. Er veröffentlicht Novellen, Gedichte, ist als Herausgeber tätig, schreibt Kritiken, veranstaltet wöchentlich Leseabende, versucht sich als Regisseur an der herzoglichen Laienbühne. Er spielt seine Rolle, ist zugegen und zugleich weit fort. Seit langem fröstelt es ihn. Ihn plagt ein hartnäckiger Keuchhusten. Adelheid, seine Frau, sorgt sich. „Nun merk ich erst, wie müd ich bin, Da ich zur Ruh mich lege –“. Ohne daß es die andern erkennen, hat er schon viele Stationen hinter sich: „Bin gewohnt das Irregehen, ‚s führt ja jeder Weg zum Ziel: Unsere Freuden, unsere Wehen, Alles eines Irrlichts Spiel.“ Er hat auf das Frühjahr gewartet. Im Frühjahr 1827 bricht er zusammen. Der Herzog gewährt ihm auf unbestimmte Zeit Urlaub. Nur kann er die Reise noch nicht antreten. Er ist zu schwach. Erst im Spätsommer fährt er mit seiner Frau ins Rhein- tal, dann nach Württemberg, wo er Freunde und Verehrer trifft: Schwab, Hauff, Uhland und Justinus Kerner, der ihn zu heilen versucht, Geister zum Beistand ruft, die wandernde Seele beschwört und, im Umgang mit Geistern kundig, mit seinem kranken Freund alle diese Rufe vernimmt, denen der jetzt antworten kann: „Von der Straße her ein Posthorn klingt, Was hat es, dass es so hoch aufspringt, Mein Herz?“ Am 27. September sind Adelheid und er wieder zuhause in Dessau. Zuhause? Er macht Besuche. Er schläft lang. Er fühlt sich erstaunlich wohl. Er schreibt, aber er liest nicht vor, behält, was er schrieb, für sich: „Ich träumte von bunten Blumen, So wie sie wohl blühen im Mai, Ich träumte von grünen Wiesen, Von lustigem Vogelgeschrei.“ Am 30. September 1827, einem Sonntag, schläft er, nach einem kurzen und angeregten Gespräch mit Adelheid, zum Tod erschöpft ein. So erzählt es Gustav Schwab. Von andern wird angenommen, er habe, die Depressionen nicht mehr ertragend, seinem Leben ein Ende gemacht. Im Oktober 1827 beginnt Franz Schubert mit der Vertonung der Winterreise, antwortet der Wanderer dem Wanderer: „Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh ich wieder aus.“ Die beiden Wanderer hinterließen der Nachwelt mit der Erzählung ihrer Winterreise eine tiefsinnige Botschaft, mehr noch: Sie schrieben und komponierten eine säkularisierte Passion, projizierten das Bild des Wanderers in eine verdunkelte Zukunft, die möglicherweise unsere Gegenwart geworden ist. Auch der namenlose Wanderer Wilhelm Müllers kommt an. Es fragt sich, wo? Ob es ein Ziel ist? Unterwegs hatte er gewiß kein Ziel. Zwanzig Jahre nach Franz Schuberts Tod dachte Friedrich Nietzsche über die Gestalt des Wanderers nach. Er schrieb: „Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht all zu fest an alles einzelne anhängen; es muß in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Tor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Tor reicht, dass die Raubtiere bald ferner, bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugtiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zorns, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit als vor den Toren – und der Tag ist fast schlimmer als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaß der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfel und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: – sie sehen die Philosophie des Vormittages.“ Es ist zweifelhaft, ob der Wanderer der Winterreise in der Philosophie des Vormittags ankommt. Hat er nicht auf seiner Reise alles verloren? Die Liebe hat ihn verlassen. Unterwegs begegnet er kaum mehr Menschen. Die Natur wehrt sich gegen ihn, bloß in seinen Träumen öffnet sie sich und wirft ihm „helle und gute Dinge“ zu. Der Namenlose schließt vor der Welt die Augen und weiß: „Im Dunkeln wird mir wohler sein.“ Der eine Weiser, den er stehen sieht – mir kommt es vor, als werfe er den Schatten des Kreuzes – macht ihm endgültig klar, daß er einen Weg geht, der nicht zurückführt. Aber wohin dann? Ich verstehe die Botschaft der Winterreise als eine an Rätseln reiche Erklärung unseres Zustandes. Wir gleichen dem namenlosen Wanderer. Wir wandern nicht mehr, um anzukommen, wir sind unterwegs in einer frostigen, auskühlenden Welt. Wir wissen viel, nur was uns verloren geht, merken wir gar nicht. Dennoch wünschen wir, anzukommen. Der Wanderer wandert nur noch um des Wanderns willen. Er tritt auf der Stelle. Das allerdings begreift er erst am Ende, das unerwartet gar keines ist, aber auch kein Anfang sein kann, sondern die Erfahrung, dass sich die Wanderschaft wiederhole. Franz Schubert hat Müllers Gedicht vom Leiermann so gelesen. Ursprünglich hat er es um einen Ton höher gesetzt. Wenn man das Lied so hört und die abschließende Frage ernst nimmt, bedeutet es nichts anderes, als dass der Leiermann von vorn zu spielen beginnt, was zu Ende schien: „Willst zu meinen Liedern/Deine Leier drehn?“ Doch die Lieder kennen wir schon, durch die sind wir eben mit dem Namenlosen gewandert! Hier, an dieser Stelle erscheint der Schatten eines andern: Der Sisyphos von Camus. In der Wiederholung seines sinnlosen Tuns, in der „größeren Treue, die die Götter leugnet“ („Will kein Gott auf Erden sein, / Sind wir selber Götter“, singt der Wanderer), kommt er zu sich, bleibt er bei sich, ist er wie der Wanderer der Winterreise in ein anderes Leben entlassen. Es bleibt offen, ob wir ihn uns als „glücklichen Menschen“ vorzustellen haben. Das Bayer Kultur-Magazin 7 Dieser komische einsame Moment... „Dieser komische einsame Moment, wo man erschöpft vor dem Spiegel in der Garderobe sitzt und es keinen Darstellungswillen mehr gibt.“ (Margarita Broich) Text: Brigitte Landes · Fotos: Margarita Broich Diesen Moment, nachdem der Vorhang gefallen ist oder am Ende eines Drehtages oder in einer Drehpause, wenn Kostüm und Maske noch nicht abgelegt sind, sondern nur verschwitzt, benutzt, verbraucht und für heute abgespielt wie Reste einer anderen Person aus einer anderen Welt noch an einem hängt und klebt, kennt die Fotografin nur zu gut. Margarita Broich ist selbst Schauspielerin. Anfangs habe sie einfach nur so um sich herum ihre Kollegen, mit denen sie auf der Bühne stand, fotografiert. Als sie 2001 nach der Vorstellung von Rosebud, einer Inszenierung von Christoph Schlingensief an der Berliner Volksbühne, mit von Theaterblut überströmtem Gesicht in ihre Garderobe kam und sich im Spiegel sah, entdeckte sie etwas, was sie bisher so noch nie wahrgenommen hatte und was seitdem zu ihrem Thema wurde: dieser eigenartige Zwischenzustand unmittelbar nach dem Spiel, die Erschöpfung und Erleichterung, dieses Außersichsein, bevor man wieder zu sich kommt, der eigene Ausdruck und eigene Körper als Fremdkörper, eine Art Niemandsland. Eine kurze Spanne, die keine Zuschauer hat, in der noch nicht wieder eingerastet ist, was die eigene Selbstrepräsentation betrifft. Diesen schutzlosen Moment hält sie mit der Kamera fest, denn er ist eigentlich nicht festzuhalten. Er verfliegt rasch. Klick, klick, und wir können es sehen. Nichts von Indiskretion, kein voyeuristischer Blick in einen unbeobachteten Moment ist auf ihren Fotos zu finden. Nichts, was den „Boulevard“ interessieren könnte. Sie „erwischt“ sie nicht paparazzohaft, sie hat sich mit ihnen verabredet. Sie ist dann eben da mit ihrer Kamera, vertraut mit den Spielern, dem Spielen und dem sie umgebenden Gelände. Alle Akteure schauen sie an. Ein offener Blick auf beiden Seiten. Schauspieler und Fotografin gestatten gemeinsam einen Blick in die Werkstatt des Berufs, in die Schauspielerei. Wie herrlich profan die Orte sind, an denen sie ihre Kollegen fotografiert. Die Fotografien erzählen über die Personen hinaus etwas vom Schauspielerleben. Darüber, wie es jenseits des Scheinwerferlichts aussieht. Sie verzaubern geradezu die sonst toten Winkel: Die trostlosen Garderoben, die Seitenbühnen, die Seitengassen und Gänge in den Theatern, die Kulissenteile von hinten, die abgelegten Kostüme an der Stange, das Gerümpel auf der Rückseite 8 der Kulissen, die Wohnwagen und Abseiten der Drehorte. Eine Zigarette, eine Flasche Bier oder Cola, ein Hochzeitskleid und ein lila Plastikwäschekorb, ein Reklamheft, ein Textbuch, Badelatschen oder nackte Füße, ein Haufen Gummibärchen, eine Tasche an der Wand, ein Abfalleimer neben der Bank. Alles das wird auf den Fotografien wie zu Requisiten für ein je eigenes Stück, das Ende der Vorstellung heißen könnte oder Endlich Pause. Immer auch eine Inszenierung. Die Orte gewinnen ein verblüffend vitales Eigenleben. Jedes Foto könnte eine eigene Geschichte erzählen. Was macht die große chinesische Vase auf dem Garderobentisch von Martin Wuttke nach der Vorstellung von Der Idiot? Er ist auf der Bühne x-Mal auf einer Treppe über sie gesprungen, ohne sie umzuwerfen. Eine zirkusreife Nummer. Hütet er sie selbst wie einen Talisman und überlässt sie lieber nicht dem Requisiteur? Warum hat Walter Schmidinger ausgerechnet ein Buch von Maria Schell auf dem Schoß? Was machen die Hunde hier? Haben sie mitgespielt? Und hier verlassen die letzten Zuschauer gerade noch den Saal, als Jens Peter Ostendorf erschöpft auf der Seitenbühne im Hamletkostüm sitzt. Die Räume und Ausschnitte sind ebenso wenig zufällig, wie die Begegnung zwischen den Schauspielern und der Fotografin. So wie sich die Menschen ohne Posen zeigen, entbehren die Räume jeglichen besonderen Aufwands und Beleuchtung. Es sind lauter Entdeckungen, gefundene Orte, die aber nur finden kann, wer sich darin gut auskennt. Für Margarita Broich schließt sich damit ein Kreis. Fotografie und Schauspielerei, ihre beiden Berufe werden damit zu einem. Sie hat als Theaterfotografin nach ihrer Ausbildung an der Folkwang Schule am Schauspielhaus Bochum angefangen. Während sie in der Dunkelkammer stand und Probenfotos entwickelte, standen die, die sie fotografiert hat auf der Bühne im Rampenlicht. Die Proben faszinierten sie so, dass sie oft vergaß abzudrücken, erzählt sie. Und sie entschied sich, Schauspielerin zu werden. Als ihr während ihres ersten Engagements in Frankfurt am Main auch noch ihre gesamte Fotoausrüstung gestohlen wurde, dachte sie, ihren ersten Beruf an den Nagel gehängt zu haben. Doch die unzähligen Kästen mit Foto- Selbstporträt Margarita Broich grafien von Einar Schleef, Heiner Müller, Martin Wuttke, Kollegen und Freunden und ihrer Familie erzählen etwas anderes. Eigentlich kann man sich Margarita Broich ohne Kamera schwer vorstellen. In diesem „Zwischenreich“, zu dem nur sie Zugang hat, hält sie sich weiterhin auf. Jede Ausstellung – und das ist nach dem Museum der Moderne in Salzburg 2009, dem Martin Gropius Bau in Berlin und dem Deutschen Theatermuseum in München 2011 ihre vierte Ausstellung – enthält neue Bilder. Sie verschafft mit ihrem liebevollen Blick dem unbeobachteten Moment einen Auftritt, voller Würde und Schönheit. Eine Hommage an die Schauspieler, an die Schauspielerei. Margarita Broich: Wenn der Vorhang fällt Porträts 26.08-13.01 SO 26.08 | 11:00 | Vernissage Michael Schade, Bayer AG, Leiter Unternehmenskommunikation, Begrüßung Burghart Klaußner, Schauspieler, Einführung Pre-College Cologne, Musikalische Umrahmung FR 26.10 | Kunstnacht mit Führungen, Schminkangebot einer Maskenbildnerin und einer Lesung von Margarita Broich im Studio 19.30 (Infos unter 0214-30.41283/84) Das Bayer Kultur-Magazin 9 Barfuß auf dem Eise Interview anlässlich der Uraufführung dieses Stücks mit den beiden Autorinnen Julia Riegel und Caroline Neven Du Mont Interview: Sarah Zollmarsch · Fotos: Julia Riegel, Caroline Neven Du Mont Frau Riegel, Frau Neven du Mont, ein „Autorinnen-Tandem“ ist ja nicht gerade alltäglich. Wer hatte die Idee zu diesem Projekt und warum haben Sie das Stück dann zusammen geschrieben? Riegel: Wir haben uns 2002 kennengelernt, als uns Klaus Schultz für unsere erste gemeinsame Arbeit, die Oper Werther am Staatstheater am Gärtnerplatz in München, zusammen gebracht hat. Daraus ist nicht nur eine intensive Arbeitsbeziehung, sondern auch eine tiefe Freundschaft geworden. Die Idee, zusammen ein Stück zu schreiben, kam damals von Caroline, das Thema Schubert und Lied hat mich schon lange fasziniert und so entstand Barfuß auf dem Eise während einer gemütlich verregneten Klausur auf Elba. Neven Du Mont: Keith Richards antwortet in einem Interview auf die Frage, ob er oder Ronnie Wood der bessere Gitarist sei: „Each of us is lausy, but together we are better than ten.“ Ich glaube, dass dies das Geheimnis von guter Theaterarbeit schlechthin ist. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das passiert in der Zusammenarbeit von Julia und mir. Sie leben beide in der Nähe von München. Wieso wird Ihr Stück nun bei Bayer Kultur in Leverkusen seine Uraufführung erleben? Riegel: Durch das Glück, dass Volker Mattern, der uns vor seinem Wechsel nach Leverkusen bereits in Leipzig engagiert hatte, an diesen Abend glaubt und ihn zu einer Eigenproduktion von Bayer Kultur macht. Es geht um Franz Schubert. Vereinfacht formuliert um seine „Innenwelt“ in Kontrast zu seiner „Außenwelt“. Daher ist diese Uraufführung sozusagen das „Herzstück“ der Bayer Kultur Spielzeit 2012/13. Können Sie Ihre Sichtweise auf Schubert in Barfuß auf dem Eise kurz erläutern? Neven Du Mont: Wir haben uns intensiv durch die Zeugnisse, die Ernst Deutsch über Schubert zusammengetragen hat, durchgearbeitet. Dabei stößt man unausweichlich auf zwei gegensätzliche Seiten von Franz Schubert. Da ist auf der einen Seite eine sehr zarte, unglaublich kreative, verletzliche Seele und auf der anderen Seite das von allen geliebte, lustige, angepasste „Schwammerl“. So wird 10 er von allen beschrieben. Aber auf den zahlreichen Porträtzeichnungen von ihm sieht er immer älter und eingezwängt aus. Und dann hört man eine seiner Symphonien, von denen er selber keine Aufführung erlebt hat, das war alles in seinem Kopf, und ein Universum explodiert. Ich glaube, dass diese riesige Spannung zwischen seiner Innen- und Außenwelt, abgesehen von seiner Krankheit, (man vermutet, dass er Syphilis hatte), zu seinem frühen Tod geführt hat. Riegel: In seiner Musik ist diese Spannung ganz direkt spürbar. Wenn man ein fröhliches Liedchen wie Die Forelle oder auch ein fast pur romantisches Liebeslied wie Leise flehen meine Lieder nimmt und dagegen die Todessehnsucht der Winterreise oder die schon impressionistische Auflösung in dem Lied Die Stadt setzt, dann ahnt man, welche Extreme dieses Genie Schubert in sich ver- einte, vereinen musste. In Barfuß auf dem Eise wollen wir die Zuschauer hineinziehen in diese Welten, sie sinnlich erfahrbar machen. Es handelt sich also nicht um ein „reines“ Schauspiel. Welche Rolle spielt die Musik (erklingt ausschließlich Musik Schuberts?) und wie wird sie eingesetzt? Neven Du Mont: Ja, es wird ausschließlich Musik Schuberts zu hören sein, abgesehen von der Geräuschkulisse, die die Darsteller auf der Bühne selber produzieren und mit der wir nachfühlbar machen wollen, in welchem Geräuschekosmos Schubert aufwuchs. Auch hinsichtlich der Besetzung der insgesamt acht Rollen gibt es Besonderheiten! Riegel: Die Besetzung setzt sich zusammen aus 3 Schauspielern und einer Schauspielerin, die natürlich sehr mu- sikalisch sein müssen und 3 Sängern, die auch schauspielerisch extrem gefordert werden. Dabei haben wir, neben einer Sopranistin und einem Bariton als besonderes „Schmankerl“ einen Countertenor in der Hauptrolle, der die stimmliche Entwicklung Franz Schuberts vom Kind zu Mann durch einsetzen beider Stimmregister hörbar machen wird. Das wird eine ganz einzigartige und für mich selbst ganz neue Erfahrung werden, auf die ich mich unglaublich freue. Für Bayer Kultur sind eigene Produktionen – neben den vielen Gastspielen hochkarätiger Ensembles – die Ausnahme. Welche Eindrücke haben Sie bisher während der Vorbereitungen gemacht? Neven Du Mont: Das Besondere und Schöne ist das Gefühl hier zu sein, weil Volker Mattern von dem Stück überzeugt ist und weil es konzeptionell zum Innenwelten – Außenwelten Thema passt. Meistens hat man ja den Eindruck Spielpläne entstehen mehr nach dem Prinzip, wer kann was singen und was hatten wir länger nicht. Das ist in dem Fall deutlich anders, und das spüre ich in dem Enthusiasmus, mit dem alle Beteiligten durch ihr großes Engagement vergessen machen, dass die Strukturen für eigene Produktionen, wie z. B. eigene Werkstätten und ein festes Ensemble bei Bayer Kultur, nicht vorhanden sind. Barfuß auf dem Eise UA von Julia Riegel und Caroline Neven Du Mont 21.10 | 18:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Eine Produktion von Bayer Kultur Das Bayer Kultur-Magazin 11 Ein Ensemble im Wandel Deutsche Erstaufführung mit dem Cullberg Ballett in Leverkusen Text: Bettina Welzel · Fotos: Cullberg Ballett Es gibt kaum eine andere zeitgenössische Tanzkompanie, die eine so lange Tradition mit einem derart innovativen künstlerischen Programm vereint wie das schwedische Cullberg Ballett. 1967 von Birgit Cullberg gegründet, war das Ensemble bereits fünf Jahre später eine anerkannte internationale Größe. Eine Serie von vierzehn Aufführungen in London und 20 Aufführungen in Paris belegen das eindrucksvoll. 1976 kreierte Mats EK seine erste Choreographie für die Kompanie seiner Mutter, hatte 1978 mit dem Stück The House of Bernarda seinen Durchbruch und schaffte vier Jahre später, 1982, mit Giselle sein Meisterwerk. Dieses Stück wurde über 300 Mal in 28 verschiedenen Ländern aufgeführt. 1985 übernimmt dann Mats Ek die künstlerische Leitung, die er die folgenden 18 Jahre innehaben wird und das Cullberg Ballett zu großem internationalem Ansehen führt. 12 The Strindberg Project Nach seinem Fortgang übernehmen verschiedene Choreographen die künstlerische Leitung jeweils für einige Jahre und prägen das Ensemble auf unterschiedlichste Weise. Seit 2008 hat Anna Grip die künstlerische Leitung inne und erweitert den Aufgabenbereich des Ensembles nach und nach um neue Ansätze. Derzeit umfasst die Tätigkeit des Ensembles vier verschiedene Bereiche, die jeweils einen unterschiedlichen Arbeitsansatz haben. Cullberg Large Stages: Choreographien für größere Bühnen Cullberg Up Close: Kleinere intimere Produktionen mit nur einem Teil der Tänzer für kleinere Gastspielbühnen. Das Publikum kommt den Tänzern nahe und die Kompanie reist an bisher unbekannte Orte, trifft auf neue Publikums schichten und macht neue Erfahrungen. The Strindberg Project Cullberg Out In Context: „site specific works“, die den Arbeitsbereich des Ensem bles verlagern, außerhalb des traditionellen Bühnen und Theaterzusammenhangs. Cullberg To Come: dieser Arbeitsbereich beinhaltet Residenzen für junge Choreographen sowie Ausbildungsprojekte im weites ten Sinne. Immer ist jedoch das Ensemble bekannt für seine außergewöhnliche Bühnenpräsenz und technische Brillianz, die in Produktionen von höchstem Niveau mit anspruchsvollen und aktuellen Konzepten zur Geltung kommt. Von Tanz bis Performance, von Kabarett bis Theater reicht das Vokabular der experimentierfreudigen Skandinavier, die immer wieder auch mit ganz jungen Künstlern zusammenarbeiten. Auf Fragen, wie es zu dem neuen Abend und der Zusammenarbeit mit dem Choreographen Tilman O’Donell und der Theaterregisseurin Melanie Mederlind kam, antwortet Anna Grip: „August Strindberg wird in Schweden sehr verehrt, und zu seinem 100. Todestag 2012 finden sehr viele verschiedene Veranstaltungen in Schweden statt, die alle in Zusammenhang mit seiner vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit stehen. Auch Cullberg wurde um einen Beitrag gebeten. Von Anfang an war es mir ein großes Anliegen, etwas Unerwartetes entstehen zu lassen, das einen Blick von außen enthält. So wurden einerseits Tilman O’Donell, ein nicht-schwedischer Choreograph und Melanie Mederlind, eine Theaterregisseurin, eingeladen, sich mit dem schwedischen Nationaldichter auseinanderzuset- zen. An Tilmanns Arbeit bin ich schon seit geraumer Zeit interessiert. Er hat ja von 2003 bis 2007 als Tänzer bei Cullberg gearbeitet, in der Zeit als Johan Inger die Company leitete. Er kennt das Ensemble, seine Stärken und Schwächen. Seit 2007 arbeitet er viel mit William Forsythe, dessen Arbeitweise ihn beeinflusst hat. Wie sieht er, der Ausländer, den schwedischen Künstler August Strindberg? Was ist seine Meinung zu ihm? Wie setzt er sich mit ihm auseinander?“ Grip weiter: „ Auf der anderen Seite beauftragten wir Melanie Mederlind, eine bekannte schwedische Theaterregisseurin. Cullberg hatte bereits mit ihr für verschiedene Up Close Projekte zusammengearbeitet und wir hatten viel über die epische, erzählende Tradition des Ensembles gesprochen. Wie würde nun eine Theaterregisseurin mit Tänzern arbeiten und wie würde ein nicht schwedischer Choreograph zu Strindberg arbeiten? Was verbinden beide mit Strindberg? Wie setzen sie es um? Das war nun mein Ausgangspunkt an die beiden Künstler für den neuen Abend.“. Im März 2012 wurde uraufgeführt in zwei Teilen, in denen sich Choreograph Tilman O’Donell mit dem Phänomen der „Ikone“ Strindberg auseinandersetzt, und die Regisseurin Melanie Mederlind sich mit den Studien Strindbergs zur chinesischen Sprache befasste. Ein ungewöhnlicher und überraschender Abend, der einmal mehr die brilliante tänzerische und darstellerische Leistung der Mitwirkenden unter Beweis stellt. The Strindberg Project DE 20. 10 | 19:30 | Forum, Leverkusen Das Bayer Kultur-Magazin 13 stART-Newcomer Mit Valentin Radutiu und Alexander Krichel stellt BayerKultur seine neuen stART-Künstler vor. Text: Christoph Vratz · Fotos: Felix Broede, Steven Haberland Valentin Radutiu Die Isarluft erweist sich offenbar als streicherfreundlich; denn München gebiert immer wieder erfolgreiche Geiger, darunter Julia Fischer, und vor allem hochbegabte Cellisten: Johannes Moser, Daniel Müller-Schott und, als jüngstes Beispiel, Valentin Radutiu wären zu nennen. Früh von seinem Vater an die Verlockungen des Cellos herangeführt, erhält Radutiu Unterricht von den Granden seines Faches, von Clemens Hagen in Salzburg, von Heinrich Schiff und in Berlin von David Geringas. Der Frühbegabte heimst internationale Preise ein, doch er überstürzt nichts. Radutiu folgt stets seinen eigenen künstlerischen Maßstäben. Als er im vergangenen Jahr seine erste CD veröffentlicht, erntet er nicht nur aus Fachkreisen breite Anerkennung, sondern er beweist mit seinem Programm, dass er allem Mainstream widersteht: neben Musik von Robert Schumann und zwei französischen Werken hat er auch Recitativo von Peter Ruzicka ausgewählt, Musik unserer Zeit also, ein Werk, das erst ein Jahr vor dieser Einspielung uraufgeführt wurde – von Radutiu selbst. Auch in seinen Konzerten wagt der junge Cellist kühne Spagat-Übungen, ob nun mit der Gegenüberstellung von Beethoven und Enescu oder in seinen Zugaben, wenn er sich für den unterschätzten Gabriel Fauré sowie für den Tango-Nestor Astor Piazzolla stark macht. Regelmäßig zündet die Klassik-Szene neue Wunder-Raketen in den weiten Talent-Himmel. Die meisten verglühen schnell. Doch Valentin Radutiu scheint dagegen gewappnet. Mit seiner Ernsthaftigkeit, mit Mut und gesundem Gespür in die eigenen Fähigkeiten dürfte er die Musik-Umlaufbahn noch länger umkreisen. Alexander Krichel Die Kunde drang relativ schnell nach Berlin: In Hamburg, so hieß es, gäbe es einen verheißungsvollen Jung-Pianisten. Sofort war bei den Verantwortlichen des Musiklabels Sony die Neugierde geweckt, und eine rasche Begutachtung der angepriesenen Qualitäten ergab: Dieser jungen Mann ist so gut, dass wir mit ihm künftig zusammenarbeiten möchten – „exklusiv“, wie es in solchen Fällen gewöhnlich heißt. Nur wenige Monate zuvor hatte Bayer Kultur Alexander Krichel als neuen stART-Künstler auserkoren. Eine neue CD ist bereits fertig, aufgenommen wurde sie in Leverkusen. Dabei hatte Alexander Krichel bei einem kleineren Label bereits seine Debüt-Aufnahme vorgelegt, eine Liszt- Platte, die allen vorauseilenden Lobeshymnen standhält. Dabei gewann Krichels beruflicher Weg erst relativ spät an Kontur. Bis zum Abitur rätselte er: Musik oder Medizin? Die Eltern plädierten zunächst für die „sicherere“ Variante. Doch Alexander studierte Klavier in Hamburg, anschließend in Hannover bei Vladimir Krainev, dem 2011 viel zu früh verstorbenen Pianisten aus der berühmten russischen Neuhaus-Schule. „Mir hat sein intensives Spiel imponiert“, gesteht Krichel, „er vermochte dem Flügel einen strahlenden, glitzernden Klang zu entlocken, ein Singen, das nur sehr wenigen gelingt“. So manches davon hat sich auf den Schüler übertragen... Als sei die Musik nicht schon Herausforderung genug, testet sich Krichel auch auf anderen Gebieten. So hat er die Aufnahmeprüfung an einer Universität für hochbegabte Mathematiker bestanden; außerdem ist er Preisträger unterschiedlichster Wettbewerbe: Mathematik-Olympiade hier, Bundeswettbewerb Fremdsprachen dort und zu Schulzeiten bereits bei „Schüler experimentieren“ im Bereich Biologie. Valentin Radutiu | Per Rundberg DO 13.09 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Alexander Krichel DI 26.02 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen 14 „Klein, aber fein“ Die Miniaturbühne von Hedwig Rost und Jörg Baeseke fasziniert mit Papiertheater Text: Reiner Ernst Ohle · Fotos: Digi Podt Miniaturbühnen zeigen, dass die Bretter, die die Welt bedeuten, nicht im „Großen Haus“ eines Dreispartenbetriebes liegen müssen. Beispiel: Die Kleinste Bühne der Welt. Eigner, Spieler, Stücke-Entwickler sind Hedwig Rost und Jörg Baesecke. Sie studierte Geige am Richard-StraussKonservatorium in München und hat eine tanzpädagogische und therapeutische Ausbildung. Ihr Ehemann Jörg Baesecke ist von seiner Ausbildung her Jurist und seit 1980 freier Schauspieler. Er ist Präsident der Gesellschaft zur Förderung des Puppenspiels am Münchner Stadtmuseum und hat das Münchner Erzählkunstforum „KUNST DER STUNDE“ mitbegründet. Das Ehepaar entwickelt seit 1984 auch eigene Stücke, die es zum größten Teil bis heute spielt. Ihre Bühne steht vor allen Dingen für eine Sache: für faszinierendes Theater, das mit seiner poetischen Kraft verzaubert wie die große Bühne. Neben Theateraufführungen und Erzählveranstaltungen sind die beiden Künstler in Kursen, Fortbildungen, Vorträgen und Produktionsbegleitungen an anderen Theatern engagiert. In jedem ihrer Stücke entsteht ein eigener kleiner Kosmos. In ihrem Papiertheater verschmelzen zwei unterschiedliche Formen des Genres, das in Europa und Asien seine Spuren hinterlassen hat. Einerseits greift es das japanische Vorbild des Kamishibai (jap. „Papiertheaterspiel“) auf, in dem ein Erzähler kurze Texte in einen bühnenähnlichen Rahmen zu wechselnden Bildern präsentiert. Andererseits geht ihr Papiertheater auf die europäische Tradition von Genres zurück, die einerseits Guckkastendioramen kannten und andererseits Figuren, die an Drähten hingen oder mit Stäben bewegt wurden, für das Figurenspiel nutzten. Die beiden Künstler, die heute in München leben und weltweit überall da spielen, wo Figurentheater engagiert werden, nehmen sich heute die Freiheit, jedes ihrer Stücke mit einer eigenen Ästhetik auszustatten. Ob als Figurenoder Puppentheater, Bildertheater, Objekttheater, ob mit Musik oder in einer Performance, ob mit den Mitteln des Tanzes oder der Bildenden Kunst – jedes Stück im Repertoire der „Kleinstebühnederwelt“ führt in eine eigene Welt. Während jüngere Zuschauer ihre helle Freude vornehmlich an der unterhaltsamen technischen Präsentation haben, sind die Größeren fasziniert von der poetischen Ausdruckskraft dieser Bühne, bei der – weil immer die Geschichte im Mittelpunkt steht – die Akteure sich selbst als Erzähler verstehen. Baesecke: „Wir selbst haben lange gebraucht um festzustellen, dass wir nicht Schauspieler oder Puppenspieler sind. Im Grunde sind wir Erzähler, und wir versinnbildlichen unsere Geschichten auf immer wechselnde Art und Weise. Unsere Texte behalten dabei allerdings stets die narrative Form.“ Die künstlerischen Anfänge von Hedwig Rost und Jörg Baesecke liegen im Straßentheater – die dort gemachten Erfahrungen fließen in ihre szenische Arbeit ein und prägen bis heute die Dramaturgie und die Ästhetik des Theater. Baesecke: „Wahrscheinlich ist durch das Straßentheater unsere Vorliebe für die kurze Form geprägt worden und sicher auch unser stetes Bemühen um eine Auf- führungssituationen, in dem wir dem Publikum sehr nahe sind, um den Dialog aufzunehmen. Nicht zu vergessen unser Bemühen um die Verständlichkeit unserer theatralen Mittel.“ Es ist in erster Linie ein Spiel aus Wahrnehmung und Phantasie, das Baesecke mit seinen Zuschauern treibt. Sie lassen sich gerne von diesem heiteren und poetischen Theater, das sich ganz simpler Mittel bedient, verzaubern. Die meisten Stoffe stammen aus der mündlichen Überlieferung: es sind Märchen, Volkserzählungen, Sagen und Balladen, die die Zuschauer schauen und staunen lassen. Salz 30. 09 | 15:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Das Bayer Kultur-Magazin 15 Krampf ist Trumpf Das Hochgeschwindigkeitstheater des Herbert Fritsch Text: Reiner Ernst Ohle · Fotos: Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin Seinen Ruf als Theaterkünstler ist so legendär wie sein Regiestil – für das Feuilleton ist Herbert Fritsch ein „Bühnenberserker“ oder der „Horrorkasperl“ – seine Arbeiten werden als „Fritschiade“ oder auch schon einmal als „Hysterientheater“ bezeichnet. Ohne Frage bewegt der gegenwärtig an Lebensjahren älteste Nachwuchsregisseur die Republik und wirbelt mit seiner „Volldampfkomik“ das Regiefach mächtig auf. Fünf Jahre ist es her, dass er als Schauspieler auf die andere Seite wechselte und sich dem Inszenieren verschrieb. Hinter ihm lag eine respektable Schauspielerkarriere, die nach einer Ausbildung an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule in München ihren Anfang in den neunziger Jahren an der Volksbühne Berlin nahm, die unter der Leitung von Frank Castorf vor ihrem Aufstieg zur wichtigsten deutschen Bühne des Jahrzehntes stand. Bis 2007 blieb er an der Berliner Volksbühne im 16 Engagement, wo er eine feste Größe in einem legendären Ensemble war. Seit seinem Abschied von der Volksbühne arbeitet er als freier Regisseur an verschiedenen deutschen Bühnen wie dem Schauspiel Leipzig, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, dem Bremer Theater oder dem Thalia Theater in Hamburg. Als Regisseur adoptiert Herbert Fritsch die Maximen seines Schauspielerdaseins: Theater heißt Volldampf – die Bühne ist ein radikal künstlicher, anarchischer Spielplatz. Das Leben findet im Laufschritt statt, Wahnwitz und Tempo sind die wesentlichen Stilprinzipien. Pro Saison hat er schon einmal fünf bis sechs Stücke an seinen Partnerbühnen herausgebracht. Und so wie er an der Berliner Volksbühne in den Neunzigern und den Nullerjahren als Extremschauspieler in den Inszenierungen von Frank Castorf von den einen geliebt und verehrt und von den anderen verachtet und gehasst wurde, begleiten extreme Urteile auch seine Karriere als Regisseur. Wie dem auch sei: mit seinen Regiearbeiten ist der Regisseur Fritsch bis zum Berliner Theatertreffen vorgestoßen, dem jährlichen Leistungsmessen der deutschsprachigen Bühnen, dessen Zusammensetzung einer Jury renommierter Theaterkritiker obliegt. Als einziger Regisseur war er im Mai 2011 dort mit zwei Inszenierungen platziert, beide Produktionen sind nicht in den theateraffinen Millionenstädten der Republik entstanden, sondern kamen aus den Randbezirken des Stadttheaterbetriebes: Nora aus Oberhausen und Der Biberpelz aus Schwerin. Sein Theater richtet Fritsch fernab von mächtigen dramaturgischen Konzepten, Theorien oder politischen Zwecken ein – dokumentarische Ansätze entfallen ebenso wie jede andere Form der Realitätsnachahmung. Politische Botschaften sind ihm fremd: „Eine Botschaft habe ich überhaupt nicht. Ich möchte die Leute ein wenig in Verwirrung stürzen, mit dem was ich da tue, weil es anregend ist für den Geist. Ich will mich bloß nicht als Schlaumeier aufspielen. Eine falsch verstandene Intellektualität, die interessiert mich nicht. Mich interessiert es mehr, zu zeigen, dass ich überhaupt nichts verstehe. Wer von mir eine politische Aussage haben will – ich wüsste nicht, was ich sagen soll“, sagt er im Interview. Und wo kommt die Energie her? „Ich weiß nicht, wo die Energie herkommt. Ich reflektiere das nicht ständig. Ich lasse mich auf das Spiel ein, und wundere mich oft, was herauskommt“, antwortet er offen. Seine Aufgabe sieht er darin, bei seinen Schauspielern, „die Schleusen zu öffnen. Ich lese den Text nur einmal. Die Schauspieler bringen den Text mit, ich reagiere auf ihr Spiel. Sie erzählen das Stück.“ Als Regisseur setzt er ganz auf die Schauspieler: auf ihre Ideen, ihre Sprache, Gesten, Grimassen und Ausbrüche. Lockere, coole, authentische Schauspieler mag Fritsch nicht: „Bei mir ist Krampf Trumpf“ und „Der Autor ist nur ein Mitglied des Ensembles, kein Gott.“ Er sieht sich selbst als ein Spieler, dessen Arbeiten auf den Proben entstehen. Der Zweck seines Theaters erschöpft sich nicht in einem l’art pour l’art-Gedanken: „Es geht darum, einen lustvollen Abend zu gestalten und das Publikum verrückt zu machen. Ich will Theater als Kraftwerk begreifen, die Zuschauer in extremste Verwirrungen stürzen. Und dadurch eine Form von krasser Unterhaltung entwickeln, die den Leuten letztlich nur gut tun kann. Wenn das gelingt, ist das wunderbar“. Parallel arbeitet Fritsch als Medienkünstler. Er entwickelte beispielsweise eine Fototechnik zur dreidimensionalen analogen Verzerrung, die patentiert wurde, und zeigte mehrere Ausstellungen in Deutschland und der Schweiz mit Fotoarbeiten und Computeranimationen. Seine Arbeit mit Kunstfilmen begann in den 1980er Jahren. Seit 2000 münden alle Bestrebungen im intermedialen Kunstprojekt hamlet_X. Fritsch ist dabei Schauspieler, Film- und Theaterregisseur, Autor, Performer, Fotograf und Zeichner. Diener zweier Herren 12.09 | 19:30 | Bayer Kulturhaus Das Bayer Kultur-Magazin 17 Endlich wieder Oper! Das neue Opernabo von Bayer Kultur startet mit vier außergewöhnlichen Projekten Text: Volker Mattern · Foto: peuserdesign.de Gleich zu Beginn der neuen Spielzeit, am 9. September 2012 hält mit Christoph Willibald Glucks Opernserenade Le cinesi die Gattung Oper wieder Einzug in die Angebotspalette von Bayer Kultur. Damit wird eine schmerzhafte Lücke geschlossen – mit einem dramaturgisch-konzeptionellen Ansatz jenseits des gängigen Repertoires. Dies zeigt gleich das erste Projekt exemplarisch: Denn die entzückende frühe Oper des großen Opernreformators Gluck hat einen kleinen Nachteil: Sie ist nicht abendfüllend. Und das ist auch der Hauptgrund, warum sie so selten in den Spielplänen auftaucht. Der Komponist Karsten Gundermann (der lange in Peking gelebt hat und der wohl der einzige Europäer ist, der im Stil der Peking Oper komponieren kann), hat mit seiner Bearbeitung für l’arte del mondo und die Potsdamer Musikfestspiele hier Abhilfe geschaffen. In musikalisch und dramaturgisch äußerst geschickter Art und Weise hat er zwei Rollen, die mit berühmten Darstellern der China National Peking Opera Company besetzt sind in Glucks Oper integriert und darüber hinaus auch das Glucksche Orchester durch typische Instrumente der Peking Oper ergänzt. Geht das denn, werden Sie nun wahrscheinlich fragen? Und wie! Das haben die Aufführungen im Rahmen der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci 2011 gezeigt. Die Produktion in der Regie von Igor Folwill und 18 unter der Musikalischen Leitung von Werner Ehrhardt wurde von Publikum und Presse gleichermaßen stürmisch gefeiert. Die Wiederaufnahme-Premiere findet nun im Bayer Kulturhaus statt, bevor diese Produktion im Rahmen einer China-Tournee u. a. in Peking zu sehen sein wird. Junge Oper Leverkusen heißt unsere Operninitiative deshalb, weil Bayer Kultur auch hier auf junge, hochtalentierte Sängerinnen und Sänger, Regisseure, Bühnenbildner und Dramaturgen setzt. Daher gibt es – neben l’arte del mondo – einen zweiten wichtigen Partner: Die Rheinische Opernakademie der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Neben dem Internationalen Opernstudio Köln, dem Stadttheater Aachen und dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen ist die Junge Oper Leverkusen ab der kommenden Spielzeit ebenfalls Mitglied in dieser vorbildlichen Nachwuchs-Akademie. Auch hier wird Unbekanntes den Spielplan bestimmen, wobei der Schwerpunkt im Bereich der Kammeroper des 20. und 21. Jahrhunderts angesiedelt sein wird. Drei Opern aus Barock und (Vor)Klassik in historischer Aufführunspraxis auf der einen Seite, ein Werk der 20. oder 21. Jahrhunderts auf der anderen Seite: unbekanntes Abseits des allseits bekannten Repertoires. Neben den „Chinesen“ von Christoph Willibald Gluck erfährt dieses Konzept mit der Ausgrabung von Johann Peter Abraham Schulz’ Peters Bryllup (in Kooperation mit l’arte del mondo, den Musikfestspielen Potsdam-Sansoucci, dem WDR und SONY), einem konzertanten Mozart-Abend mit Edita Gruberova (ebenfalls mit l’arte del mondo) sowie der zeitgenössischen Kammeroper Leinen aus Smyrna des jungen Komponisten Edward Rushton als Studio-Produktion seine erste inhaltliche Konkretisierung. Dass Edita Gruberova, die prima donna assoluta unserer Zeit, im Rahmen der Jungen Oper Leverkusen und im Kontext unseres stART-Projekts zwei masterclasses für die Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln gibt, freut uns ganz besonders! Ein neues, sehr attraktives Opernabonnement mit vier Aufführungen pro Spielzeit und einem ambitionierten Spielplan. Wir laden Sie herzlich dazu ein! Le Cinesi SO 09.09 | 18:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Kulturkalender August.12 SA 25.08 20:00 Altenberger Kultursommer SO 26.08 11:00 Vernissage: Margarita Broich 16 August/September/Oktober 12 Mplus KUNST Dom BK September.12 SA 01.09 18:00 Eröffnungsfest MO 03.09 19:30 Vivo Sinfoniaorkesteri SK SO 09.09 18:00 Le Cinesi Oper MO 10.09 20:00 Dejan Lazic KL DI 11.09 19:30 Dejan Lazic KL MI 12.09 19:30 Diener zweier Herren SCHk DO 13.09 19:30 Valentin Radutiu | Per Rundberg KM FR 14.09 20:00 Valentin Radutiu | Per Rundberg KM FR 14.09 19:30 Mit Hebel am Tisch Studio FR 14.09 vorm. Das singende Cello Mm! DO 20.09 11:00 Workshop: „Ehrensache“ Mm! DO 20.09 19:30 Ehrensache -16+x DO 20.09 19:00 Fontanes Effie Briest Film FR 21.09 11:00 Ehrensache -16+x FR 21.09 19:30 Déjà-vu? SCHh FR 21.09 20:00 Festival Alte Musik Knechtsteden Mplus FR 21.09 21:45 Frederik Köster Jam SA 22.09 n. V. Chor gesucht! Mm! SA 22.09 14:30 Kinderatelier: „Der Seelenvogel“ -8+x SA 22.09 19:30 Kann denn Liebe Sünde sein B&B SO 23.09 14:00 Musikalische Streiche -8+x SO 23.09 18:00 Kann denn Liebe Sünde sein B&B MI 26.09 19:30 Frank Schulz Lit DO 27.09 19:00 Angst essen Seele auf Film SA 29.09 19:30 Der Ghetto Swinger SCHm SA 29.09 22:00 Gil Mehmert Talk SO 30.09 19:30 GP Signum Quartett Musik SO 30.09 15:00 Salz -8+x SO 30.09 17:00 Blaupause KLM BK FO BK Wu BK BK BK Kr BK BK BK BK Fo BK BK Ks BK BK BK BK BK BK BK Fo BK BK BK BK BK Oktober.12 Herausgeber: Bayer AG Communications | Bayer Kultur Verantwortlich: Dr. Volker Mattern Redaktion: Sarah Zollmarsch Texte: Peter Härtling Der Wanderer (Auszug); Brigitte Landes Dieser komische einsame Moment; Christoph Vratz stART-Newcomer Weitere Texte: Volker Mattern, Reiner Ernst Ohle, Bettina Welzel Redaktionelle Mitarbeit: Regina Bernt, Carolin Sturm Designkonzept: Büro Kubitza, Leverkusen Layout und Realisation: wedeldesign, Bochum Titelbild: Caroline Neven Du Mont Bildnachweis S. 2: Pedro Malinowski, S. 5: dpa Druck: Ollig-Druck, Köln Auflage: 3.000 © Bayer AG Communications | Bayer Kultur 2012 Redaktion KUNSTstoff Bayer Kulturhaus Nobelstraße 37 51373 Leverkusen Telefon 0214.30-41277 | Telefax 0214.30-41282 MO 01.10 10:00 Workshop: „Papiertheater“ MO 01.10 19:30 Alexej Gorlatch DI 02.10 20:00 Alexej Gorlatch DO 04.10 19:30 R. Ortega Quero | K. Titova FR 05.10 20:00 R. Ortega Quero | K. Titova MO 08.10 10:00 bis MI 10.10: Jugendatelier SO 14.10 11:00 Matinée „Vor der Uraufführung“ FR 19.10 10:00 Skulpturenpark Köln SA 20.10 19:30 Strindberg Project DE SO 21.10 18:00 Barfuß auf dem Eise UA MO 22.10 19:30 Barfuß auf dem Eise FR 26.10 19:00 Leverkusener Kunstnacht FR 26.10 19:30 Das Leben der Termiten… SO 28.10 11:00 Zinnober: Schnee von gestern DI 30.10 19:30 Barfuß auf dem Eise MI 31.10 19:30 Barfuß auf dem Eise Mm! KL KL KM KM -16+x SCHm Mm! Tanz SCHm -16+x KUNST Studio Jazz SCHm SCHm BK BK Wu BK Kr BK BK BK Fo BK BK BK BK BK BK BK Änderungen vorbehalten! Karten Karten-/Abonnementbüro im Bayer Kulturhaus, Leverkusen Öffnungszeiten: MO-DO 9:00-16:00 | FR 9:00-13:00 Telefon 0214.30-41283/84 | Telefax 0214.30-41285 Kurzparkmöglichkeit (15 Min.) für Kunden des Kartenbüros vor der Kulisse. Abendkassen je 1 Std. vor Veranstaltungsbeginn Bayer Kulturhaus, Nobelstraße 37, 51373 Leverkusen | Telefon 0214.30-65973 Forum, Am Büchelter Hof, 51373 Leverkusen | Telefon 0214.406-4157 kultur.bayer.de