Differentialdiagnose der Anämie M. Wilhelm, Klinikum Nürnberg Aufgrund ihrer vielfältigen Ursachen, die das Gesamtgebiet der inneren Medizin betreffen, ist eine Anämie ein häufiger Befund. Jede neu diagnostizierte Anämie ist als ein „akuter“ Fall, der eine rasche Abklärung erfordert, anzusehen; seltener liegt aber auch ein echter „Notfall“, der eine sofortige Klinikeinweisung erfordert, vor. Für diese Unterscheidung ist nicht alleine die klinische Symptomatik Ausschlag gebend, da diese nur schlecht mit dem gemessenen Hb-Wert korreliert. Die Beschwerden bei Auftreten einer Anämie sind eher abhängig von der Geschwindigkeit des Abfalls, vom Alter, eventuellen Begleiterkrankungen und der zugrunde liegenden Störung. Somit reicht das Spektrum von einer ausgeprägten schweren Anämie mit nur geringen Symptomen bis zu einem relativ geringen Hb-Abfall, der sich primär als Notfall präsentiert. Das weitere Vorgehen in der Praxis ist somit in den meisten Fällen von der zugrunde liegenden Ursache abhängig. Die vordringliche Entscheidung ist zunächst ob die Abklärung ambulant in der Praxis möglich ist oder eine sofortige Klinikeinweisung geboten scheint. Letzteres ist z. B. der Fall wenn neben der Anämie auch andere hämatologische Zellreihen (Thrombozyten, Leukozyten) verändert sind oder atypische Zellen im Differentialblutbild gefunden werden. Ist aber die Anämie zunächst das einzige Leitsymptom, so muss die Abklärung bezüglich der zugrundeliegenden Störung auch möglichst rasch, umfassend und dabei kostensparend sein. Bewährt hat sich in der Praxis das Vorgehen entsprechend der Retikulozytenzahl oder dem Wert für das mittlere korpuskuläre Volumen (MCV). Wählt man als Entscheidungsparameter das MCV, so sollte bei einer Erniedrigung (=mikrozytäre Anämie) als nächstes der Ferritinwert bestimmt werden. Eine Erniedrigung beweist den Eisenmangel. Ist dagegen der Ferritinwert normal oder erhöht, liegt neben sehr seltenen Ursachen entweder eine Thalassämie oder eine Anämie im Rahmen einer Tumorerkrankung oder chronischen Entzündung vor. Bei einer normozytären Anämie sollte zunächst die Retikulozytenzahl bestimmt werden. Ist diese erniedrigt, handelt es sich um eine Bildungsstörungen z. B. im Rahmen einer renalen Anämie oder aplastischen Anämie. Bei Retikulozyten im Normbereich liegt möglicherweise eine Knochenmarkinfiltration durch maligne Zellen oder wiederum eine sekundäre Anämie vor. Erhöhte Retikulozyten sprechen für eine Hämolyse oder eine Blutung als Ursache. Grundsätzlich wird man bei erniedrigten oder nicht adäquat erhöhten Reticulozytenzahlen meist eine Knochenmarkpunktion zur Differentialdiagnose durchführen müssen. Bei einer makrozytären Konstellation ist wiederum das Verhalten der Retikulozyten wegweisend. Erhöhte Zahlen sprechen wiederum für eine Hämolyse, normwertige oder erniedrigte Werte sind typisch für einen Mangel an Vitamin B12 oder Folsäure, eine Bildungsstörung im Rahmen eines myelodysplastischen Syndroms oder eine akute Leukämie, sowie eine direkte oder indirekte Schädigung des Knochenmarks durch Alkoholismus oder bestimmte Medikamente. Mit diesem rationellen Vorgehen können weit über 90 % aller Anämien differentialdiagnostisch zugeordnet werden. Daneben gibt es noch äußerst seltene Formen, die nur von einem entsprechenden Spezialisten diagnostiziert werden können. Neben diesem rationellen Vorgehen wird in dem Vortrag auch auf diagnostische Fallstricke und die therapeutischen Besonderheiten einzelner Krankheitsbilder eingegangen.