Journal Club Bild: iStock/dedMazay, Montage: LW Tübingen – Hörforschung Mit 20 taub wie Opa? Marlies Knipper und ihr Team klären am Hörforschungszentrum Tübingen die molekularen Grundlagen der Reizverarbeitung im Innenohr auf. Musik macht Spaß, keine Frage. Sie hebt die Laune, trägt durch lange Arbeitstage, übertönt das nervige Sirren der Zentrifuge und das einschläfernde Schwappen des Schüttlers. Auch die Doktoranden im Labor von Marlies Knipper am Hörforschungszentrum Tübingen hören bei der Arbeit gerne Musik aus dem MP3-Player. „Eine Katastrophe“, findet die Chefin. „Und das sind Leute, die auch noch selbst in der Hörforschung arbeiten!“ Für einen Hörschaden braucht es nicht unbedingt hohe Dezibelwerte. Auch relativ geringe Lärmdosen, wie sie tagein tagaus aus dem Kopfhörer plätschern, können mittel- bis langfristig das Gehör schädigen. Bereits jeder Fünfte über 14 Jahre hat keine normale Hörschwelle mehr. Wird die nächste Generation, mit Marlies Knippers Worten, „mit 20 taub wie Opa“ sein? In Tübingen stellte man sich der Bedrohung und richtete ein Hörforschungszentrum ein, das in Deutschland seinesgleichen sucht: Hörforscher und Kliniker aus der Hals-Nasen-Ohren-Klinik ergänzen sich zu einem neurosensorischen Zentrum, in das bald auch Forscher aus benachbarten Disziplinen wie Gleichgewicht, Schmecken und Riechen kooperativ eingebunden werden sollen. Calcium fürs Gehör Marlies Knipper ist mit ihrer Arbeitsgruppe 2003 in die neuen Räume eingezogen und findet die Bedingungen „nahezu ideal“. Als Grundlagenforscherin gefällt ihr besonders, dass Ärzte am Hörforschungszentrum viel Zeit und Platz für eigene Forschung haben. Nur die Interdisziplinarität könnte etwas stärker ausgeprägt sein: Noch arbeiten unter dem Dach des Zentrums vor allem Hörforscher und HNO-Ärzte – von Knippers AG, die die Reizverarbeitung im Innenohr unter- sucht, bis hin zu der Gruppe um HansPeter Zenner, die an Cochlear-Implantaten und Hörprothesen arbeitet. Gemeinsam mit Walter Marcotti, Department of Biomedical Science, Uni Sheffield, konnten die Tübinger Forscher kürzlich den Mechanismus einer besonders beeindruckenden Eigenschaft des Gehörs aufklären: Die Fähigkeit, Schall über einen weiten Lautstärkebereich hinweg zu verarbeiten – vom Fallen einer Stecknadel bis hin zum Starten eines Düsenflugzeugs. Entscheidend hierfür ist das Membranprotein Synaptotagmin IV. Fehlt das Protein, geht die Sensibiltität für sehr leise Töne verloren (Nat Neurosci 2010, 13(1):45-52). Synaptotagmine sind eine Familie von Membranproteinen, die auf ein CalciumSignal hin die Bindung von Membranlipiden und sogenannten SNARE-Proteinen (soluble N-ethylmaleimide-sensitive-factor attachment protein receptor) regulieren und dadurch die Fusion von synaptischen Vesikeln mit der Plasmamembran in direkter Kopplung mit neuronaler Aktivität steuern können. Im Ohr allerdings, so die herrschende Lehrmeinung, seien Synaptotagmin I und II nicht vorhanden. Daher werde die Rolle des Calcium-Schalters hier nicht von Synaptotagminen, sondern von einem verwandten Protein, Otoferlin, übernommen. Foto: AG Knipper Unerwarteter Fund Marlies Knipper und ihr Tübinger Team (darunter Lukas Rüttiger (re.) und Christoph Franz (vo. Mi.)) untersuchen die molekularen Grundlagen des Hörens. 36 Die Idee, dass Synaptotagmin IV an der audio-sensorischen Synapse eine Rolle spielen könnte, hatte als erster Stuart Johnson, Postdoc im Labor von Walter Marcotti. Er hatte beobachtet, dass sich innere Haarzellen von Synaptotagmin IVKnockout-Mäusen in elektrophysiologischen Experimenten nicht wie normale Zellen verhielten. Sie zeigten eine nichtlineare Abhängigkeit der Vesikelfusion von Calcium, die mehr Ca2+-Moleküle pro freigesetztem Vesikel erfordert und dadurch die Empfindlichkeit der neuronalen Übertragbarkeit für Schall-Intensitäten 11/2010 Journal Club senkt. Sehr leise Töne, bei denen wenig Ca2+ zur Verfügung steht, wären dadurch nicht mehr hörbar. Die Hörforscherszene in Europa ist klein. „Man kennt sich“, sagt Marlies Knipper, die mit den Leuten von Walter Marcotti schon öfter auf Kongressen beim Bier zusammen gesessen hatte. Und so wusste Walter Marcotti gleich, wen er anrufen konnte, um den Fund aus der Elektrophysiologie auch molekularbiologisch anzugehen. Bald schon wechselten die ersten Nager über den Ärmelkanal – Sheffielder Mäuse kamen nach Tübingen zu Hörtest, InnenohrImmunfluoreszenz und RT-PCR, Tübinger Mäuse reisten nach Sheffield zur Elektrophysiologie und Elektronenmikroskopie. Tatsächlich fanden die Tübinger Forscher Jutta Engel und Christoph Franz Synaptotagmin IV in reifen inneren Haarzellen von erwachsenen Wildtyp-Mäusen, nicht aber in unreifen Haarzellen von neugeborenen Mäusen. Außerdem fanden sie Synaptotagmin I und II, die nach herrschender Lehrmeinung in den inneren Haarzellen nichts zu suchen hatten. „Am meisten Sorge hat uns bereitet, dass wir alle diese Proteine tatsächlich gefunden haben“, sagt Marlies Knipper. Krisenkonferenzen mit Sheffield wurden einberufen, Primer überprüft und die Spezifität der amplifizierten Produkte zur Kontrolle nachsequenziert. „Selbst wenn andere Gruppen nach der Nature-Veröffentlichung nun plötzlich auch Synaptotagmine im Ohr finden und charakterisieren, wissen wir immer noch nicht, was Synaptotagmin IV eigentlich macht“, gibt Knipper zu bedenken. „Wir können nicht völlig ausschließen, dass nicht doch eventuell neue besondere Isoformen der Synaptotagmine I und II in den Haarzellen exprimiert werden.“ Synaptotagmin IV ist insofern untypisch, als es selbst gar kein Ca2+ bindet. Die Tübinger und Sheffielder Forscher nehmen an, dass an der auditorischen Synapse verschiedene Synaptotagmine für eine feinabgestufte Transmitterausschüttung zusammenwirken. Aspirin auf die Ohren Spezialist für Hörtests bei Mäusen und Ratten in der Arbeitsgruppe Knipper ist Lukas Rüttiger. Er hat ein Rattenmodell für akute und chronische Phantom-Höreindrücke (Tinnitus) entwickelt, das in Deutschland derzeit einzigartig ist (Hear Res 2003, 180(1-2):39-50): „Wir dressieren die Tiere zuerst darauf, uns durch ihr Verhalten zu zeigen, wenn sie einen Ton hören“, legt Marlies Knipper dar. Die Ratten lernen, in 11/2010 einer Box zwischen zwei Zuckerwasserquellen hin und her zu sausen, solange sie einen Ton hören; bei Stille hingegen sollen sie ruhig auf einer Plattform sitzen bleiben. Dann lösen die Forscher bei den Ratten durch Gabe von Natriumsalicylat (Vorstufe von Acetylsalicylsäure) Tinnitus aus. Die Tiere laufen trotz objektiver Stille zwischen den Belohnungsquellen hin und her – sie hören offenbar einen Phantom-Ton. Damit die Lektion sitzt, müssen Knippers Studentinnen jedes Tier jeden Tag ein bis zwei Stunden lang trainieren. „Wenn ich gewusst hätte, worauf ich mich einlasse, hätte ich nie damit angefangen“, sagt Knipper. „Wir brauchen typischerweise mehr als sechs Monate für eine einzige Versuchsgruppe, die dann manchmal nicht mehr als eine einzige Grafik für eine Publikation ergibt.“ Laborbedarf Life Science Chemikalien Stress und Tinnitus Ein Knalltrauma, ein Tumor, ein Sturz oder eine unzureichend behandelte Infektion des Innenohrs – Tinnitus kann viele Ursachen haben. Sogar Taube können unter den lästigen Phantomgeräuschen leiden. Nicht zuletzt wird Stress als eine mögliche Ursache für Tinnitus diskutiert. „Stress ist nicht die primäre Ursache, kann aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand nach einem Hörschaden zusätzlich einen Tinnitus entwickelt“, meint Marlies Knipper. Wenn es einmal gelänge, die beteiligten Kandidaten pharmakologisch zu beeinflussen, könnten Hörschäden möglicherweise sogar schon vorbeugend behandelt werden. „Vielleicht kann man irgendwann einfach eine Pille einwerfen, ehe man in die Disko geht“, sagt Knipper. Für die Zukunft schwebt Marlies Knipper ein „Zentrum für Sensorik“ in Tübingen vor, in dem alle Sinnesdisziplinen vertreten sind, vor allem auch die in Tübingen traditionell starke Augenforschung. Noch allerdings sind die Gräben zwischen den Disziplinen tief, obwohl Auge und Ohr auf molekularer Basis mehr gemeinsam haben als man früher dachte. „Ich gebe die Hoffung nicht auf“, lacht die Tübinger Forscherin. Möglicherweise haben die Planer des Klinikums, ohne es zu ahnen, die Zukunft vorweggenommen: Die Straße, in der das neue Hörforschungszentrum am Rande des Universitätsklinikums gebaut wurde, ist nach Elfriede Aulhorn benannt. Und die war eine bekannte Tübinger Augenärztin und 1970 die erste Ordinaria im Fach Augenheilkunde in Deutschland. Christine Kost 37 Alle Produkte auch in unserem INTERNET-SHOP! www.carlroth.de + Neuheiten + Sonderangebote 0800/5699 000 gebührenfrei e borfüchs a L e u a l Sch TH n bei RO e l l e t s e b Carl Roth GmbH + Co. KG Schoemperlenstraße 3-5 _ 76185 Karlsruhe Tel: 0721/5606 0 _ Fax: 0721/5606 149 E-Mail: [email protected] _ Internet: www.carlroth.de