das Tag für Tag an unserer Lebensgeschichte

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WIENERIN
dossier
erinnern
ist alles
Auch wenn wir sie nicht alle bewusst abrufen können: Erinnerungen
prägen uns. Ohne sie hätten wir keine Vorstellung von uns selbst. In
unserem Dossier nehmen wir Sie mit auf eine Reise ins Gedächtnis,
das Tag für Tag an unserer Lebensgeschichte schreibt.
Text Mareike Müller Illustrationen Ellen Haas / Weinper & Co
i
ch erinnere mich“ – so beginnt jeder einzelne der
mehr als 1.000 Sätze im gleichnamigen Büchlein
von Joe Brainard. Es sind Grübeleien, Erkenntnisse, Fragmente und Erinnerungen an und über
Familie, Freunde, Zeitgeschehen. Der US-Künstler
hat sie schon 1975 aufgeschrieben und so eine neue
Form der Autobiografie erfunden, die jetzt auch auf
Deutsch erschienen ist (Walde + Graf-Verlag, € 15,40).
Wie viele der 1.000 Brainard-Sätze tatsächlich wahr sind?
Nun, die Begebenheiten und Begegnungen können sich so
zugetragen haben. Oder auch ganz anders. Schließlich sei
­alles, was wir erinnern, „datengestützte Erfindungen“, behauptet Hirnforscher Wolf Singer. Erinnerungen seien wahrscheinlich keine exakten Rekonstruktionen des Erlebten,
­außerdem würden sie beim Abrufen aus dem Gedächtnis
subjektiv bewertet, vermuten auch andere Forscher. Dennoch ist die Fähigkeit, sich zu erinnern, die „mentale Zeitreise“, wie der Psychologe Endel Tulving formulierte, einzigartig und faszinierend. Und die Vorstellung, nicht mehr quasi
auf Knopfdruck wichtige Erlebnisse aus dem eigenen Leben
170 Dezember 2011
abrufen zu können – inklusive der Gefühle, die man damals
empfand –, wäre doch beängstigend, oder?
Erinnerungen sind nämlich nicht nur nette, traurige oder
banale Bilder, die irgendwo in unserem Kopf herumschwirren. Vielmehr baut das Ich darauf auf: „Unser Gedächtnis ist
unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser
Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts“, befand Filme­
macher Luis Buñuel.
wir sind gedächtnis. In diesem Dossier wollen wir dem
Geheimnis im Kopf auf die Spur kommen – denn gerade heute, in unseren Highspeedzeiten, haben viele Menschen das
Gefühl, sich immer weniger merken und damit kaum noch
innere Bilder abspeichern zu können. Vielleicht auch deswegen hat Facebook ein Update der Nutzerprofile inklusive neuer „Timeline“ angekündigt, die von heute bis zur Geburt „die
Geschichte deines Lebens“ fotografisch erzählen soll.
Doch keine Sorge, unser Hirn ist von Natur aus schon ein
denkbar ausgeklügeltes Wunderwerk, das viel mehr abspeichert, als wir glauben – und je erinnern werden ... schön war die zeit – oder?
An die ersten zwei bis drei Lebensjahre können
wir uns nicht erinnern. „Kindheitsamnesie“ heißt
das Phänomen, der Grund dafür ist unbekannt.
Im Alter zwischen 10 und 30 erleben wir hingegen
einen „memory bump“, heißt: an diese Zeitspanne
haben wir besonders viele Erinnerungen.
Vom Damals ins
Heute. Unsere Erinnerung ist eine Sammlung
aus Eindrücken und
Gefühlen. Für dieses
Dossier gestalteten wir
Collagen aus persönlichen Momenten im
Leben von WIENERINBeautychefin Martina
Parker.
171
WIENERIN
dossier
Festplatte
im Kopf
Wie der Faden eines Wollknäuels durchziehen Erinnerungen unser Leben:
Mal liegen sie klar vor uns, mal sind sie verworren und einige sind wie
abgeschnitten. Wie Erinnerungen funktionieren und warum sie so
bedeutsam sind, erklärt Gedächtnisforscher Simon Rumpel im Interview.
 Herr Rumpel, können wir uns heute schlechter erinnern – weil zu viel auf uns einstürzt, wir oft abgelenkt
werden und Wissen nur noch übers Internet abrufen?
Simon Rumpel: Bevor Sie sich an etwas erinnern
können, müssen Sie sich die Information erst merken.
Diese Gedächtnisbildung ist in etwa so, wie im Schreibprogramm des Computers auf „Speichern“ zu drücken.
Doch der Prozess des Speicherns wird durch sehr viele
Faktoren beeinflusst. Ob der Merkvorgang gut funktioniert, hängt beispielsweise davon ab, ob die Situation sehr
aufregend ist oder Sie unter Stress stehen. Und klar, wenn
Sie bereits wissen, Sie müssen eine Info nur googeln,
dann merken Sie sich diese wahrscheinlich erst gar nicht.
Diese Tendenz wird durch unser heutiges Arbeiten
durchaus verstärkt.
 Was sind eigentlich Erinnerungen?
Um beim Computervergleich zu bleiben: „Erinnern“
entspricht dem Abrufen der vorher gespeicherten
Information, dem Öffnen der Schreibdatei. Unser Hirn
besteht aus Abermillionen miteinander verknüpften
Nervenzellen. Die Verbindungen zwischen den Zellen
sind ein Leben lang veränderbar, sprich: Unser Hirn ist
kein starres Gebilde, sondern plastisch. Bei der Gedächtnisbildung führen Erfahrungen dazu, dass sich diese
Verschaltungen im Hirn strukturell und dauerhaft
verändern. Es wird somit eine Gedächtnisspur im
Netzwerk angelegt, die das Hirn beim nächsten Erinnern ausliest.
 Das klingt jetzt sehr sachlich.
Lassen Sie es mich poetischer ausdrücken, mit Tennessee
Williams: „Alles Leben ist Erinnerung, außer dem einen
172 Dezember 2011
Augenblick der Gegenwart, der so schnell vergeht, dass man
ihn kaum fassen kann.“ Alles ist Gedächtnis, denn das Jetzt
ist schon vorbei. Wir sind unsere Erinnerung.
 Heißt: Ohne Erinnerungen wäre Leben schwierig?
Erinnerungen steuern alles. Wir sammeln ständig
Erfahrungen und greifen auf sie zurück, damit wir lernen
und uns anpassen können – weil wir in einer sich ständig
verändernden Umwelt leben. Nehmen wir ein simples
Beispiel: Könnten wir uns nicht auf neue Situationen
einstellen, könnten wir nicht mal mit dem neuen iPhone
umgehen. Ohne Erinnern gibt es kein Lernen!
 Erinnerungen können aber auch trügen. Vergleicht
man Zeugenaussagen, erinnern sich oft zwei Menschen
an dasselbe Ereignis gänzlich unterschiedlich. Wann
sollten wir unserem Gedächtnis misstrauen?
Wir haben ja nur die Erinnerung – es ist somit schwer
festzustellen, ob diese richtig oder falsch ist. Fakt ist:
Wenn wir uns erinnern, finden in den Nervenzellen
ähnliche biochemische Prozesse wie bei der ursprünglichen Gedächtnisbildung statt. Das ist ein Hinweis
darauf, dass die Gedächtnisspur bei jedem Erinnerungsvorgang leicht verändert wird. Es stellt sich somit auch
die Frage, inwiefern eine Gedächtnisspur, die schon sehr
häufig abgerufen wurde, noch exakt das OriginalEreignis wiedergibt.
 Wo Erinnerung ist, ist auch Vergessen. Warum?
Das Hirn steckt in einem Dilemma. Einerseits muss das
Hirn beim Merkvorgang Veränderungen in seinem neuronalen Netzwerk vornehmen. Andererseits muss diese
Gedächtnisspur über lange Zeit aufrechterhalten werden,
„Erinnerungen
sind Spuren im
Netzwerk dER
nERVENZELLEN.“
um als Erinnerung zu dienen. Wenn wir Neues lernen, darf
nichts überschrieben werden – um wieder einen Vergleich
aus der Computerwelt zu bemühen. Doch wie ein Rechner
hat auch das Gehirn nur gewisse Kapazitäten. Wir vermuten: Manche alte Informationen könnten durch das Lernen
neuer Dinge korrumpiert werden. Darüber hinaus besteht
aber auch die Möglichkeit, dass eine Erinnerung im Verborgenen vorhanden ist, der Prozess, sie sich wieder ins
Gedächtnis zu rufen, aber nicht funktioniert.
Foto Getty Images
 Sich nicht an etwas erinnern zu können, kann beunruhigen. Etwa, wenn eine Narkose einem Teile der Erinnerung nimmt, die Minuten kurz vor der Betäubung
einfach aus dem Gedächtnis fallen.
Ja, das ist sehr unheimlich. Denn dann fehlt Ihnen ein
Stück von Ihnen selbst. Erklärbar ist der Vorgang so: Die
Anästhesie verhindert den Transfer einer Erinnerung
vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Man nimmt an,
dass Informationen zunächst als bestimmte Muster neuronaler Aktivität vorliegen. Während dieser Phase des
Kurzzeitgedächtnisses hat sich aber noch keine Gedächtnisspur ins Hirn gegraben. Die Betäubung beeinflusst
nun dieses Aktivitätsmuster und löscht somit die Information, bevor die strukturellen Änderungen in der
Verschaltung des neuronalen Netzwerks passieren – also
zum Langzeitgedächtnis werden. Ist aber einmal der
Übergang zum Langzeitgedächtnis gelungen, kann auch
eine Anästhesie nicht mehr die Erinnerung an z. B. den
eigenen Namen löschen.
 Bleiben uns eher traurige Erlebnisse gut im
Gedächtnis? Oder fröhliche?
Wenn Sie eine Situation gefühlsmäßig als sehr stark
erleben, ist es leichter, sich diese Erfahrung zu merken.
Das gilt in beide Richtungen – für Negatives wie für
Positives.
 Lässt es sich trainieren, sich besser zu erinnern?
Ob man den Vorgang selbst trainieren kann, ist noch
unklar. Fest steht: Stress und Zeitmangel sind keine guten
Voraussetzungen. Wenn Sie etwas lernen wollen, tun Sie
dies am besten in Ruhe und mit viel Zeit. Und wiederholen Sie das Gelernte in größeren Zeitabständen, damit
sich der neuronale Prozess setzen und später wiederholt
werden kann – und die Gedächtnisspur vertieft wird.
 Wäre es nicht sehr hilfreich, Erinnerungen gezielt
löschen zu können? Etwa für Liebesbeziehungen, weil
wir dann nicht immer wieder in alte Muster verfielen?
Nein, genau das Gegenteil gilt: Wenn Sie nicht in alte
Muster zurückfallen wollen, müssen Sie Erfahrungen
integrieren können. Sie müssen flexibel sein, um sich zu
verändern. Und das Gehirn ist ja veränderbar: Die
neurobiologischen Grundlagen sind da.
 Das bedeutet: Eine Frau, die behauptet, sie falle
immer auf denselben Typ Mann herein …
... hat nichts gelernt.
Weil sie ihre Erfahrungen
nicht dazu nutzt, sich zu
Erinnerungen festverändern. Es gibt allerhalten – und testen.
dings mittlerweile medikamentöse Ansätze, ErinneCHECK. Erinnerungsvermögen
rungen gezielt zu löschen
und Konzentrationsfähigkeit
prüft kostenlos ein Online-Test
(siehe auch S. 180). Denn
unter gedaechtnisonline.de.
manchmal kann es besser
sein, sich nicht zu erinZEITZEUGEN. Erinnern, um
nern, etwa an besonders
Zeitgeschichte nicht zu vergesschreckliche Ereignisse,
sen, wollen die Oral History-Prodie zu einer schwerwiejekte Erinnern.at, at.centropa.
genden Traumatisierung
org und gedenkdienst.at.
geführt haben. GrundsätzKLICK. Der Wiener Fotograf
lich gilt aber: Erfahrungen,
Stephan Rauch bietet ein „Story
die dramatisch sind, sind
of Life“-Abo an, bei dem wichtige
auch Teil des Lebens.
persönliche Ereignisse festgehalWarum gibt es beispielsten werden. storyoflife.at
weise Schmerz? Er ist auch
dazu da, dass wir lernen:
sprich mit mir. Menschen,
die Ihre Lebensgeschichte aufGewisse Erfahrungen sind
schreiben, gibt es einige, etwa
nicht gut für uns. Beim
persoenliche-worte.at, biogra
nächsten Mal können wir
fien-peham.com, ihre-biogra
uns daran erinnern und
phie.at. Lassen Sie sich Arbeitsuns entsprechend anders
proben zeigen, um zu sehen, ob
verhalten. Ihnen der Stil gefällt.
BLEIB doch ...
Unser Experte: Neurobiologe Simon Rumpel,
Gruppenleiter am Wiener „Research Institute of Molecular Pathology“ (imp.ac.at).
HÖR ZU. Bei Erinnern in Zukunft reden Autoren des Mandelbaum Verlags im Volkstheater
Wien über Erinnerungskultur.
Nächster Termin: 28. Februar
2012, mandelbaum.de.
173
schreib’s auf!
Wir können uns nicht an alles erinnern, nur weil wir das gern wollen. Doch mit
Techniken aus der Schreibtherapie können wir zumindest unser Gedächtnis
trainieren – und Erinnerungen bewahren. Wie dringt man schreibend ins
Unbewusste vor? Ein Selbstversuch von Mareike Müller.
174 Dezember 2011
WIENERIN
dossier
trügerisches gefühl.
M
ein Gedächtnis ist ein unzuverlässiger Partner. Lese ich ein Buch,
kann ich mich hinterher genau erinnern, wo ein denkwürdiger Satz
stand. Soll ich hingegen Wichtiges
aus meinem Leben rekonstruieren,
kommen mir nur die immer selben
paar Erlebnisse in den Sinn. Dann fiel mir ein neues Buch in
die Hände: Die heilende Kraft des Schreibens (€ 15,40, Patmos). Nicht, dass ich mich von irgendetwas heilen will. Aber
neugierig war ich schon, wie ich mich schreibend ins Unbewusste beamen würde, zur Erinnerung, die laut Jean Paul ja
Erinnern wir uns an Erlebnisse in der Jugend, beschreiben wir diese oft als besonders emotional.
Gehirnforscher sind da kritischer: Viele angeblich
höchst emotionale Erinnerungen lassen sich im
Hirn nur als relativ schwaches Gefühl messen ...
das „einzige ­Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Also los, auf ins Paradies.
Methode 1: Gelenkte Assoziation
„Denken Sie an einen schönen Ferienort, an dem Sie sich als
Kind wohlgefühlt haben“, lese ich. „Wie fühlte es sich dort an,
welche Gerüche, Düfte, Geräusche gab es?“ Sofort erinnere
ich mich an Ferien in Dänemark. Kurz zweifle ich: Was werde
ich, die Ober-Verdrängerin, noch wissen – außer, dass Dänemark mein Kindheitsparadies war? Nach fünf Minuten bin
ich baff: An so viel erinnere ich mich noch?! Die klebrig-körnige Dachpappe des Ferienhauses, die unter meinen Knien
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WIENERIN
dossier
Wussten Sie, dass ...
... wir nur etwa alle drei Wochen etwas
erleben, das sich uns extrem einprägt?
knirschte, wenn ich auf das Flachdach kletterte. Den Duft der
Heidelbeeren. Das Rauchen des kräftigen Westwindes in den
Dünen. Ein schönes Gefühl zu merken, was sich in meinem
Kopf verbirgt. Es fließt nur so aus mir heraus, ich werde planlos zu anderen, tieferen Erinnerungen gelenkt. Nur manchmal fragt die Stimme im Hinterkopf: „Was bringt mir das
jetzt? Und wo bleiben die verdrängten Erinnerungen?“ Aber
vielleicht bin ich einfach nur zu ungeduldig ...
Methode 2: Freies Assoziieren
Entspannt an alte Kraftquellen annähern, rät das Buch. Ich
erinnere mich an ungestüme Pferde im Freien, die ich als
Zwölfjährige bewunderte. Heißt das, ich müsste mein Leben
darauf abchecken, wie viel mir Freiheit wert ist? Sigmund
Freund würde nicken, denn laut ihm holt man sich dank dieser Methode abgespaltene Anteile der eigenen Persönlichkeit
ins Bewusstsein – und soll sie ins Ich integrieren. Aha ... Beim
nächsten Versuch versage ich: Schöne Erinnerung aufschreiben. Dann das erste Wort notieren, das einem dazu einfällt.
Nun das nächste Wort – plus die erste Idee, die man zu beiden
Worten hat. Bis zehn Begriffe stehen. Reiten. Pferde. Stärke,
beginne ich. „Wie blöd ist das denn“, denke ich dann. Nächster
Versuch. Ich verkrampfe und merke, wie mein Hirn vorsortiert. Kurze Pause! Beim nächsten Mal klappt’s. „Gut mit Kindern können“ endet in „Eigenständigkeit“. Was das bedeutet,
weiß ich nicht. Aber es macht Spaß, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Bloß ärgert mich, dass sich meine Texte nicht halb
so literarisch lesen wie die Beispiele aus dem Buch.
Methode 3: Freewriting
Ein gefühlsstarkes Erlebnis beschreiben – drei Minuten lang,
jedes Detail. Ich entscheide mich für eine komplizierte Liebesgeschichte vor vielen Jahren. Dabei fällt mir ein unwichtiges Detail ein: Wie ich einen Brief schrieb auf der kalten
Glastischplatte des Schreibtisches. Plötzlich erscheint mir
die Kälte des Materials als Symbol für meine eigene Gefühlskälte dem damaligen Partner gegenüber. „Ist das jetzt Spinnerei?“, frage ich mich. „Oder erlebe ich jetzt genau das, was
das Schreibtherapiebuch versprach: Klarheit über sich selbst
zu finden und Identität zu stiften?“ Denn es ist ja so: Schreibt
man den eigenen Erlebnissen Bedeutungen zu, erkennt man
einen Sinn. So was wie einen roten Faden im Leben. Höchst
subjektiv, finden Sie? Nun, es geht ja auch ums eigene Leben.
Methode 4: Serielles Schreiben
Drei Kraftorte erinnern und mit allen Sinnen beschreiben.
176 Dezember 2011
Sag mal, OMI
Elfriede, 83, aus
wien erinnert sich.
Früher haben sich die Leute
viel mehr besucht als heute.
Als ich sieben war, ­staunten
Besucher: „Was, du lässt
das Kind schon die Zeitung
­lesen?“, fragten sie meine
Oma, bei der ich in Hernals
aufwuchs. „Ja“, sagte sie,
„das Kind soll wissen, wie’s
in der Welt zugeht.“ Die Leidenschaft zum Lesen hab
ich mir bis heute bewahrt.
kriegsnöte. Zurückerinnern kann ich mich bis
in das Alter von zweieinhalb
Jahren – ich könnte Ihnen
das Zimmer aufzeichnen
von früher. Im Bürgerkrieg
1934 schoss das Militär im
Karl-Marx-Hof in die Häuser hinein. Es herrschte
große Verzweiflung: Überall
wurde Arbeit abgebaut, wir
tauschten die Birnen auf 15
Watt aus, um Strom zu sparen. Schon mit vier Jahren
dachte ich: „Wenn ich groß
bin, mache ich es anders“,
denn dauernd beschäftigten
mich die Probleme der Erwachsenen, deren Verdrießlichkeit, Nöte, Streit. Eine
gewisse Harmoniesucht ist
mir gegeben. Aber ich bin
kein Hascherl. Ich lass mir
nicht auf den Kopf machen
und sag noch Danke dafür.
humor hilft. Auch
wenn meine Kindheit sehr
traurig war, habe ich viel
Humor. Manche ­Menschen
halten mich für oberflächlich. Doch das ist mir
wurscht, denn ich muss nur
vor mir bestehen. Es gibt
keine anderen Menschen
als die, die auf dem Planeten
sind. Das setzt sich vom
Kindergarten bis ins Seniorenheim fort – das muss
man verkraften.
vom ja zum nein. Eine
akademische Bildung habe
ich nicht – ich war Kontoristin –, aber ich hab einen
Hausverstand, auf den ich
stolz bin. Den Satz „Ich
kann nicht“ durfte ich als
Kind nicht sagen. Wenn du
willst, kannst du alles! Ich
war ein zartes Kind, aber
mit dem Mut eines Mannes.
Heute nehme ich mir das
Recht heraus, auch „Nein“
zu sagen. Das kann man von
kleinen Kindern lernen ...
berufstraum. Gern
wäre ich auf die Grafische
zum Studieren gegangen,
aber es war kein Geld da.
Später hab ich mit den Kindern und Enkeln viel gezeichnet und gebastelt. Von
den Enkelkindern habe ich
alles zurückbekommen,
was ich als Kind entbehren
musste: offene Zuneigung
und bedingungslose Anerkennung. Die Omi war die
Omi und immer da für sie.
Eislaufliebe. Eine
Familie zu haben, war für
mich das größte Glück. Jung
habe ich geheiratet und
Kinder bekommen. Otto
lernte ich über einen Jugendfreund kennen, mit 14.
Den Jugendfreund habe ich
sehr verehrt, doch der hat
von mir nichts wissen wollen. Mein Otto stellte sich
mit „Käßmann“ vor, ich rief:
„Pflanzen Sie mich nicht,
wie ist Ihr echter Name?“
Ich dachte, es heißt doch
niemand „Käsemann“. Der
Otto gefiel mir. Er fragte
mich, ob ich eislaufen könne. Nach Omis Erlaubnis besorgte er mir sogar
Schlittschuhe. Wir sind zum
Engelmann gegangen, Verdunkelung war angeordnet.
Es herrschte ja Krieg. Es hat
dann noch acht Monate gedauert, bis ich mir ein erstes
Busserl hab rauben lassen ...
vERGISSMEIN(nicht).
Drei- bis fünfmal täglich haben wir unwillkürliche
Erinnerungen, etwa weil ein Song uns an den Ex
denken lässt oder ein Geruch an Omi. Meist vergessen wir sofort, uns je daran erinnert zu haben.
Als in mir schreibend Bilder vom Meer, von einem Flusslauf
und einer Pferdeweide aufsteigen, wird mir klar: Natur ist
mein Kraftort! Und ich habe ihn in den vergangenen Jahren
viel zu wenig besucht. Das will ich ändern! Ich freue mich
über diese klare Erkenntnis. Zwar habe ich noch immer keine
Früh-Erinnerung aus der Tiefe geholt, die mir bislang verschlossen war. Das Buch aber verspricht: Je häufiger wir uns
Erinnerungen mit den Schreibtechniken annähern, desto
größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auch an mehr
erinnern – und ein „größeres Erinnerungsnetz“ aufbauen.
Methode 5: Literarisierung
An ein leidvolles Ereignis denken – und schreibend den Ballast loswerden. Bildlich gesprochen packe ich einen Rucksack und gehe an einen meiner Kraftorte. Und tatsächlich:
Obwohl das Leid im Rucksack – die schwere Krankheit meiner Mutter während meiner Jugend – mich niederdrückt,
wiegt der Rucksack mit jedem Wort weniger. Es ist, als ob
durch das In-Worte-Fassen das eigentliche Leid unwichtig
wird. Wow. Schreibend wird es mir wichtiger, detailreich zu
beschreiben, wie ich den Rucksack an den Kraftort trage, um
ihn dort zu lassen – statt schmerzhaft nachzuempfinden, worin das Leid eigentlich bestand. Stück für Stück werden die
Angst um die Mutter und die eigene Unsicherheit in Portiönchen geteilt. Schließlich bekommt das Leid am Kraftort – ein
wunderschöner Strand – statt einer Schleife den Vermerk:
„Kann weg.“ Ich habe die schlimme Erfahrung, so schmerz178 Dezember 2011
haft sie war, überstanden. Und bin heute so, weil ich genau
das erlebt habe. Erinnerungen sind immer auch Erfahrungen,
aus denen man lernt.
Methode 6: Clustering
Diese Übung raubt mir fast den Nerv. Stichworte aufschreiben zu Beruf, Stärken, Schwächen, Freunden, Freizeit – und
wie ich mein Leben bewältige. Wie, nur Stichworte?! Nun soll
ich den Begriff, der mir am wichtigsten erscheint, zum Kernwort machen und dazu assoziative Wortketten entwickeln,
ein „Cluster“. Wieder nur Stichworte! Irgendwann darf ich
dann richtig schreiben. Der erste Satz soll angeregt sein durch
eines der Cluster-Worte. Dann einfach drauflos formulieren – aber immer wieder Elemente des Clusters integrieren.
„Widersprüche“ steht als Kernwort bei mir. Ich will Musterschülerin sein: auf die Stichworte schielen und das Cluster.
Funktioniert nicht. Also nehme ich es nicht ganz so streng
und schreibe vor mich hin. Ein letztes Mal staune ich über
mich selbst: Teils lese ich zwar Gedanken, die ich schon kenne – neu erfunden habe ich mich nicht. Doch was da hier und
da nach oben drängt, zwischen den Zeilen oder buchstäblich,
gibt mir Kraft. Denn es sagt mir: Ich bin so – und noch viel
mehr. Der Alltag lässt uns das viel zu oft vergessen.
Als ich den Kugelschreiber niederlege, stimme ich dem
US-Psychologen Richard Wiseman zu: Es macht glücklicher,
Dinge aufzuschreiben, als nur über sie zu reden. WIENERIN
dossier
einmal
löschen, bitte
Gedächtnis extrem: Hat ein Mensch etwas Traumatisches erlebt,
können die Erinnerungen daran zum Riesenproblem werden – und die Psyche
dauerhaft lähmen. Ein Medikament verspricht nun Heilung. Sind wir auf
D
dem Weg zur Vergiss-Pille?
ie Waffe am Kopf ging es ins Hinterzimmer, vor ihm der Tresor, hinter ihm die
Männer. Jahrelang holten den Kanadier
Joel Coutu die Erinnerungen an einen
Raubüberfall ein: Wieder und wieder
durchlebt er im Kopf den Moment, als er
den Tresorschlüssel nicht fand. „Töte
ihn“, hörte er, dann schlug einer der Räuber zu. Coutu
glaubte, er würde sterben. Das sagt er in der Arte TV-Doku
Das Ende der Angst. Zwölf quälende Jahre litt er unter einer
posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
emotionenblocker. Sein Glück war, am Douglas Insti­
tute in Montreal in der Propranolol-Studie des klinischen
Psychologen Alain Brunet zu landen. Von Propranolol, einem Mittel
Jill Price erinnert
gegen
Bluthochdruck,
sich an alles.
weiß man, dass es Adrenalin blockiert. Man weiß
Wäre es nicht toll, alle Ereignisse aus dem eigenen ­Leben
auch: Emotionen verim Gedächtnis abrufen zu könstärken die Erinnerung –
nen? Jill Price findet: nein. Die
was wiederum durch Ad45-jährige US-­Amerikanerin errenalin gefördert wird
innert sich tatsächlich an ­alles,
und zu einer besseren
Gutes wie Schlechtes, was sie
Speicherung des Erlebseit der Pubertät erlebt hat, sie
nisses führt. „Propranokann den ständigen Gedanken­
strom ihres Gedächtnisses nicht
lol blockiert die Fähigabschalten – er beherrscht sie.
keit, dass wir uns durch
Wie sehr diese Fähigkeit sie
emotionale Verstärkung
­belastet, beschreibt sie in Die
besser erinnern können“,
Frau, die nicht vergessen kann
sagt Studienleiter Alain
(€ 20,60, Kreuz-Vlg.).
Brunet.
Superhirn?
180 Dezember 2011
Bislang hatten Studien ergeben: Behandelt man Menschen, die ein schlimmes Ereignis durchgemacht haben,
etwa vergewaltigt oder im Krieg traumatisiert wurden, in
den Stunden unmittelbar nach dem Erlebnis mit Propranolol, lässt sich die Erinnerung beeinflussen, bevor sie sich ins
Langzeitgedächtnis eingräbt – inklusive der belastenden
Gefühle. Statt Adrenalin dockt Propranolol an den Rezeptoren im zentralen Nervensystem an. Doch alle Menschen
nach schlimmen Erlebnissen vorsorglich mit dem Medikament zu behandeln, sei nicht sinnvoll, sagt Brunet. Denn
nach einem traumatischen Ereignis leide nur eine Minderheit an der psychischen Erkrankung PTBS – und zudem suche ja nicht jeder Betroffene eine Notfallambulanz auf.
keine löschpille. Interessant war für den Forscher daher,
ob das Mittel auch dann wirkt, wenn das belastende Ereignis
jahrelang zurückliegt. Lassen sich Erinnerungen nachträglich rekonsolidieren, also: verändern und neu abspeichern?
Tatsächlich zeigte sich bei fast allen der 50 Teilnehmer an
Brunets Experiment, dass sie ihre Erinnerungen umbewerten konnten. Sechs Wochen lang dauerte bei Joel Coutu der
Prozess. Er nahm das Medikament ein, musste sich mündlich
und schriftlich an jedes schmerzhafte Detail des Raubüberfalls erinnern. Danach sagte er: „Meine Erinnerungen an das
Ereignis haben sich nicht verändert. Ich kann mich an alles
erinnern. Aber der emotionale Teil der Erinnerung ist weg:
Traurigkeit, Schmerz, Wut, das beklemmende Gefühl.“
Propranolol löscht also keine Erinnerung, es ist keine Vergiss-Pille, die man schluckt, um den schlimmen Moment auszuradieren. Das Medikament wandelt aber die Gefühle des
abgespeicherten Ereignisses um: Aus einem ganz schrecklichen wird ein normal schlechtes. Noch ist allerdings unklar,
ob das Medikament jemals gängige Therapie werden wird. 
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