WIENERIN dossier erinnern ist alles Auch wenn wir sie nicht alle bewusst abrufen können: Erinnerungen prägen uns. Ohne sie hätten wir keine Vorstellung von uns selbst. In unserem Dossier nehmen wir Sie mit auf eine Reise ins Gedächtnis, das Tag für Tag an unserer Lebensgeschichte schreibt. Text Mareike Müller Illustrationen Ellen Haas / Weinper & Co i ch erinnere mich“ – so beginnt jeder einzelne der mehr als 1.000 Sätze im gleichnamigen Büchlein von Joe Brainard. Es sind Grübeleien, Erkenntnisse, Fragmente und Erinnerungen an und über Familie, Freunde, Zeitgeschehen. Der US-Künstler hat sie schon 1975 aufgeschrieben und so eine neue Form der Autobiografie erfunden, die jetzt auch auf Deutsch erschienen ist (Walde + Graf-Verlag, € 15,40). Wie viele der 1.000 Brainard-Sätze tatsächlich wahr sind? Nun, die Begebenheiten und Begegnungen können sich so zugetragen haben. Oder auch ganz anders. Schließlich sei ­alles, was wir erinnern, „datengestützte Erfindungen“, behauptet Hirnforscher Wolf Singer. Erinnerungen seien wahrscheinlich keine exakten Rekonstruktionen des Erlebten, ­außerdem würden sie beim Abrufen aus dem Gedächtnis subjektiv bewertet, vermuten auch andere Forscher. Dennoch ist die Fähigkeit, sich zu erinnern, die „mentale Zeitreise“, wie der Psychologe Endel Tulving formulierte, einzigartig und faszinierend. Und die Vorstellung, nicht mehr quasi auf Knopfdruck wichtige Erlebnisse aus dem eigenen Leben 170 Dezember 2011 abrufen zu können – inklusive der Gefühle, die man damals empfand –, wäre doch beängstigend, oder? Erinnerungen sind nämlich nicht nur nette, traurige oder banale Bilder, die irgendwo in unserem Kopf herumschwirren. Vielmehr baut das Ich darauf auf: „Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts“, befand Filme­ macher Luis Buñuel. wir sind gedächtnis. In diesem Dossier wollen wir dem Geheimnis im Kopf auf die Spur kommen – denn gerade heute, in unseren Highspeedzeiten, haben viele Menschen das Gefühl, sich immer weniger merken und damit kaum noch innere Bilder abspeichern zu können. Vielleicht auch deswegen hat Facebook ein Update der Nutzerprofile inklusive neuer „Timeline“ angekündigt, die von heute bis zur Geburt „die Geschichte deines Lebens“ fotografisch erzählen soll. Doch keine Sorge, unser Hirn ist von Natur aus schon ein denkbar ausgeklügeltes Wunderwerk, das viel mehr abspeichert, als wir glauben – und je erinnern werden ... schön war die zeit – oder? An die ersten zwei bis drei Lebensjahre können wir uns nicht erinnern. „Kindheitsamnesie“ heißt das Phänomen, der Grund dafür ist unbekannt. Im Alter zwischen 10 und 30 erleben wir hingegen einen „memory bump“, heißt: an diese Zeitspanne haben wir besonders viele Erinnerungen. Vom Damals ins Heute. Unsere Erinnerung ist eine Sammlung aus Eindrücken und Gefühlen. Für dieses Dossier gestalteten wir Collagen aus persönlichen Momenten im Leben von WIENERINBeautychefin Martina Parker. 171 WIENERIN dossier Festplatte im Kopf Wie der Faden eines Wollknäuels durchziehen Erinnerungen unser Leben: Mal liegen sie klar vor uns, mal sind sie verworren und einige sind wie abgeschnitten. Wie Erinnerungen funktionieren und warum sie so bedeutsam sind, erklärt Gedächtnisforscher Simon Rumpel im Interview. Herr Rumpel, können wir uns heute schlechter erinnern – weil zu viel auf uns einstürzt, wir oft abgelenkt werden und Wissen nur noch übers Internet abrufen? Simon Rumpel: Bevor Sie sich an etwas erinnern können, müssen Sie sich die Information erst merken. Diese Gedächtnisbildung ist in etwa so, wie im Schreibprogramm des Computers auf „Speichern“ zu drücken. Doch der Prozess des Speicherns wird durch sehr viele Faktoren beeinflusst. Ob der Merkvorgang gut funktioniert, hängt beispielsweise davon ab, ob die Situation sehr aufregend ist oder Sie unter Stress stehen. Und klar, wenn Sie bereits wissen, Sie müssen eine Info nur googeln, dann merken Sie sich diese wahrscheinlich erst gar nicht. Diese Tendenz wird durch unser heutiges Arbeiten durchaus verstärkt. Was sind eigentlich Erinnerungen? Um beim Computervergleich zu bleiben: „Erinnern“ entspricht dem Abrufen der vorher gespeicherten Information, dem Öffnen der Schreibdatei. Unser Hirn besteht aus Abermillionen miteinander verknüpften Nervenzellen. Die Verbindungen zwischen den Zellen sind ein Leben lang veränderbar, sprich: Unser Hirn ist kein starres Gebilde, sondern plastisch. Bei der Gedächtnisbildung führen Erfahrungen dazu, dass sich diese Verschaltungen im Hirn strukturell und dauerhaft verändern. Es wird somit eine Gedächtnisspur im Netzwerk angelegt, die das Hirn beim nächsten Erinnern ausliest. Das klingt jetzt sehr sachlich. Lassen Sie es mich poetischer ausdrücken, mit Tennessee Williams: „Alles Leben ist Erinnerung, außer dem einen 172 Dezember 2011 Augenblick der Gegenwart, der so schnell vergeht, dass man ihn kaum fassen kann.“ Alles ist Gedächtnis, denn das Jetzt ist schon vorbei. Wir sind unsere Erinnerung. Heißt: Ohne Erinnerungen wäre Leben schwierig? Erinnerungen steuern alles. Wir sammeln ständig Erfahrungen und greifen auf sie zurück, damit wir lernen und uns anpassen können – weil wir in einer sich ständig verändernden Umwelt leben. Nehmen wir ein simples Beispiel: Könnten wir uns nicht auf neue Situationen einstellen, könnten wir nicht mal mit dem neuen iPhone umgehen. Ohne Erinnern gibt es kein Lernen! Erinnerungen können aber auch trügen. Vergleicht man Zeugenaussagen, erinnern sich oft zwei Menschen an dasselbe Ereignis gänzlich unterschiedlich. Wann sollten wir unserem Gedächtnis misstrauen? Wir haben ja nur die Erinnerung – es ist somit schwer festzustellen, ob diese richtig oder falsch ist. Fakt ist: Wenn wir uns erinnern, finden in den Nervenzellen ähnliche biochemische Prozesse wie bei der ursprünglichen Gedächtnisbildung statt. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Gedächtnisspur bei jedem Erinnerungsvorgang leicht verändert wird. Es stellt sich somit auch die Frage, inwiefern eine Gedächtnisspur, die schon sehr häufig abgerufen wurde, noch exakt das OriginalEreignis wiedergibt. Wo Erinnerung ist, ist auch Vergessen. Warum? Das Hirn steckt in einem Dilemma. Einerseits muss das Hirn beim Merkvorgang Veränderungen in seinem neuronalen Netzwerk vornehmen. Andererseits muss diese Gedächtnisspur über lange Zeit aufrechterhalten werden, „Erinnerungen sind Spuren im Netzwerk dER nERVENZELLEN.“ um als Erinnerung zu dienen. Wenn wir Neues lernen, darf nichts überschrieben werden – um wieder einen Vergleich aus der Computerwelt zu bemühen. Doch wie ein Rechner hat auch das Gehirn nur gewisse Kapazitäten. Wir vermuten: Manche alte Informationen könnten durch das Lernen neuer Dinge korrumpiert werden. Darüber hinaus besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine Erinnerung im Verborgenen vorhanden ist, der Prozess, sie sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, aber nicht funktioniert. Foto Getty Images Sich nicht an etwas erinnern zu können, kann beunruhigen. Etwa, wenn eine Narkose einem Teile der Erinnerung nimmt, die Minuten kurz vor der Betäubung einfach aus dem Gedächtnis fallen. Ja, das ist sehr unheimlich. Denn dann fehlt Ihnen ein Stück von Ihnen selbst. Erklärbar ist der Vorgang so: Die Anästhesie verhindert den Transfer einer Erinnerung vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Man nimmt an, dass Informationen zunächst als bestimmte Muster neuronaler Aktivität vorliegen. Während dieser Phase des Kurzzeitgedächtnisses hat sich aber noch keine Gedächtnisspur ins Hirn gegraben. Die Betäubung beeinflusst nun dieses Aktivitätsmuster und löscht somit die Information, bevor die strukturellen Änderungen in der Verschaltung des neuronalen Netzwerks passieren – also zum Langzeitgedächtnis werden. Ist aber einmal der Übergang zum Langzeitgedächtnis gelungen, kann auch eine Anästhesie nicht mehr die Erinnerung an z. B. den eigenen Namen löschen. Bleiben uns eher traurige Erlebnisse gut im Gedächtnis? Oder fröhliche? Wenn Sie eine Situation gefühlsmäßig als sehr stark erleben, ist es leichter, sich diese Erfahrung zu merken. Das gilt in beide Richtungen – für Negatives wie für Positives. Lässt es sich trainieren, sich besser zu erinnern? Ob man den Vorgang selbst trainieren kann, ist noch unklar. Fest steht: Stress und Zeitmangel sind keine guten Voraussetzungen. Wenn Sie etwas lernen wollen, tun Sie dies am besten in Ruhe und mit viel Zeit. Und wiederholen Sie das Gelernte in größeren Zeitabständen, damit sich der neuronale Prozess setzen und später wiederholt werden kann – und die Gedächtnisspur vertieft wird. Wäre es nicht sehr hilfreich, Erinnerungen gezielt löschen zu können? Etwa für Liebesbeziehungen, weil wir dann nicht immer wieder in alte Muster verfielen? Nein, genau das Gegenteil gilt: Wenn Sie nicht in alte Muster zurückfallen wollen, müssen Sie Erfahrungen integrieren können. Sie müssen flexibel sein, um sich zu verändern. Und das Gehirn ist ja veränderbar: Die neurobiologischen Grundlagen sind da. Das bedeutet: Eine Frau, die behauptet, sie falle immer auf denselben Typ Mann herein … ... hat nichts gelernt. Weil sie ihre Erfahrungen nicht dazu nutzt, sich zu Erinnerungen festverändern. Es gibt allerhalten – und testen. dings mittlerweile medikamentöse Ansätze, ErinneCHECK. Erinnerungsvermögen rungen gezielt zu löschen und Konzentrationsfähigkeit prüft kostenlos ein Online-Test (siehe auch S. 180). Denn unter gedaechtnisonline.de. manchmal kann es besser sein, sich nicht zu erinZEITZEUGEN. Erinnern, um nern, etwa an besonders Zeitgeschichte nicht zu vergesschreckliche Ereignisse, sen, wollen die Oral History-Prodie zu einer schwerwiejekte Erinnern.at, at.centropa. genden Traumatisierung org und gedenkdienst.at. geführt haben. GrundsätzKLICK. Der Wiener Fotograf lich gilt aber: Erfahrungen, Stephan Rauch bietet ein „Story die dramatisch sind, sind of Life“-Abo an, bei dem wichtige auch Teil des Lebens. persönliche Ereignisse festgehalWarum gibt es beispielsten werden. storyoflife.at weise Schmerz? Er ist auch dazu da, dass wir lernen: sprich mit mir. Menschen, die Ihre Lebensgeschichte aufGewisse Erfahrungen sind schreiben, gibt es einige, etwa nicht gut für uns. Beim persoenliche-worte.at, biogra nächsten Mal können wir fien-peham.com, ihre-biogra uns daran erinnern und phie.at. Lassen Sie sich Arbeitsuns entsprechend anders proben zeigen, um zu sehen, ob verhalten. Ihnen der Stil gefällt. BLEIB doch ... Unser Experte: Neurobiologe Simon Rumpel, Gruppenleiter am Wiener „Research Institute of Molecular Pathology“ (imp.ac.at). HÖR ZU. Bei Erinnern in Zukunft reden Autoren des Mandelbaum Verlags im Volkstheater Wien über Erinnerungskultur. Nächster Termin: 28. Februar 2012, mandelbaum.de. 173 schreib’s auf! Wir können uns nicht an alles erinnern, nur weil wir das gern wollen. Doch mit Techniken aus der Schreibtherapie können wir zumindest unser Gedächtnis trainieren – und Erinnerungen bewahren. Wie dringt man schreibend ins Unbewusste vor? Ein Selbstversuch von Mareike Müller. 174 Dezember 2011 WIENERIN dossier trügerisches gefühl. M ein Gedächtnis ist ein unzuverlässiger Partner. Lese ich ein Buch, kann ich mich hinterher genau erinnern, wo ein denkwürdiger Satz stand. Soll ich hingegen Wichtiges aus meinem Leben rekonstruieren, kommen mir nur die immer selben paar Erlebnisse in den Sinn. Dann fiel mir ein neues Buch in die Hände: Die heilende Kraft des Schreibens (€ 15,40, Patmos). Nicht, dass ich mich von irgendetwas heilen will. Aber neugierig war ich schon, wie ich mich schreibend ins Unbewusste beamen würde, zur Erinnerung, die laut Jean Paul ja Erinnern wir uns an Erlebnisse in der Jugend, beschreiben wir diese oft als besonders emotional. Gehirnforscher sind da kritischer: Viele angeblich höchst emotionale Erinnerungen lassen sich im Hirn nur als relativ schwaches Gefühl messen ... das „einzige ­Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Also los, auf ins Paradies. Methode 1: Gelenkte Assoziation „Denken Sie an einen schönen Ferienort, an dem Sie sich als Kind wohlgefühlt haben“, lese ich. „Wie fühlte es sich dort an, welche Gerüche, Düfte, Geräusche gab es?“ Sofort erinnere ich mich an Ferien in Dänemark. Kurz zweifle ich: Was werde ich, die Ober-Verdrängerin, noch wissen – außer, dass Dänemark mein Kindheitsparadies war? Nach fünf Minuten bin ich baff: An so viel erinnere ich mich noch?! Die klebrig-körnige Dachpappe des Ferienhauses, die unter meinen Knien 175 WIENERIN dossier Wussten Sie, dass ... ... wir nur etwa alle drei Wochen etwas erleben, das sich uns extrem einprägt? knirschte, wenn ich auf das Flachdach kletterte. Den Duft der Heidelbeeren. Das Rauchen des kräftigen Westwindes in den Dünen. Ein schönes Gefühl zu merken, was sich in meinem Kopf verbirgt. Es fließt nur so aus mir heraus, ich werde planlos zu anderen, tieferen Erinnerungen gelenkt. Nur manchmal fragt die Stimme im Hinterkopf: „Was bringt mir das jetzt? Und wo bleiben die verdrängten Erinnerungen?“ Aber vielleicht bin ich einfach nur zu ungeduldig ... Methode 2: Freies Assoziieren Entspannt an alte Kraftquellen annähern, rät das Buch. Ich erinnere mich an ungestüme Pferde im Freien, die ich als Zwölfjährige bewunderte. Heißt das, ich müsste mein Leben darauf abchecken, wie viel mir Freiheit wert ist? Sigmund Freund würde nicken, denn laut ihm holt man sich dank dieser Methode abgespaltene Anteile der eigenen Persönlichkeit ins Bewusstsein – und soll sie ins Ich integrieren. Aha ... Beim nächsten Versuch versage ich: Schöne Erinnerung aufschreiben. Dann das erste Wort notieren, das einem dazu einfällt. Nun das nächste Wort – plus die erste Idee, die man zu beiden Worten hat. Bis zehn Begriffe stehen. Reiten. Pferde. Stärke, beginne ich. „Wie blöd ist das denn“, denke ich dann. Nächster Versuch. Ich verkrampfe und merke, wie mein Hirn vorsortiert. Kurze Pause! Beim nächsten Mal klappt’s. „Gut mit Kindern können“ endet in „Eigenständigkeit“. Was das bedeutet, weiß ich nicht. Aber es macht Spaß, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Bloß ärgert mich, dass sich meine Texte nicht halb so literarisch lesen wie die Beispiele aus dem Buch. Methode 3: Freewriting Ein gefühlsstarkes Erlebnis beschreiben – drei Minuten lang, jedes Detail. Ich entscheide mich für eine komplizierte Liebesgeschichte vor vielen Jahren. Dabei fällt mir ein unwichtiges Detail ein: Wie ich einen Brief schrieb auf der kalten Glastischplatte des Schreibtisches. Plötzlich erscheint mir die Kälte des Materials als Symbol für meine eigene Gefühlskälte dem damaligen Partner gegenüber. „Ist das jetzt Spinnerei?“, frage ich mich. „Oder erlebe ich jetzt genau das, was das Schreibtherapiebuch versprach: Klarheit über sich selbst zu finden und Identität zu stiften?“ Denn es ist ja so: Schreibt man den eigenen Erlebnissen Bedeutungen zu, erkennt man einen Sinn. So was wie einen roten Faden im Leben. Höchst subjektiv, finden Sie? Nun, es geht ja auch ums eigene Leben. Methode 4: Serielles Schreiben Drei Kraftorte erinnern und mit allen Sinnen beschreiben. 176 Dezember 2011 Sag mal, OMI Elfriede, 83, aus wien erinnert sich. Früher haben sich die Leute viel mehr besucht als heute. Als ich sieben war, ­staunten Besucher: „Was, du lässt das Kind schon die Zeitung ­lesen?“, fragten sie meine Oma, bei der ich in Hernals aufwuchs. „Ja“, sagte sie, „das Kind soll wissen, wie’s in der Welt zugeht.“ Die Leidenschaft zum Lesen hab ich mir bis heute bewahrt. kriegsnöte. Zurückerinnern kann ich mich bis in das Alter von zweieinhalb Jahren – ich könnte Ihnen das Zimmer aufzeichnen von früher. Im Bürgerkrieg 1934 schoss das Militär im Karl-Marx-Hof in die Häuser hinein. Es herrschte große Verzweiflung: Überall wurde Arbeit abgebaut, wir tauschten die Birnen auf 15 Watt aus, um Strom zu sparen. Schon mit vier Jahren dachte ich: „Wenn ich groß bin, mache ich es anders“, denn dauernd beschäftigten mich die Probleme der Erwachsenen, deren Verdrießlichkeit, Nöte, Streit. Eine gewisse Harmoniesucht ist mir gegeben. Aber ich bin kein Hascherl. Ich lass mir nicht auf den Kopf machen und sag noch Danke dafür. humor hilft. Auch wenn meine Kindheit sehr traurig war, habe ich viel Humor. Manche ­Menschen halten mich für oberflächlich. Doch das ist mir wurscht, denn ich muss nur vor mir bestehen. Es gibt keine anderen Menschen als die, die auf dem Planeten sind. Das setzt sich vom Kindergarten bis ins Seniorenheim fort – das muss man verkraften. vom ja zum nein. Eine akademische Bildung habe ich nicht – ich war Kontoristin –, aber ich hab einen Hausverstand, auf den ich stolz bin. Den Satz „Ich kann nicht“ durfte ich als Kind nicht sagen. Wenn du willst, kannst du alles! Ich war ein zartes Kind, aber mit dem Mut eines Mannes. Heute nehme ich mir das Recht heraus, auch „Nein“ zu sagen. Das kann man von kleinen Kindern lernen ... berufstraum. Gern wäre ich auf die Grafische zum Studieren gegangen, aber es war kein Geld da. Später hab ich mit den Kindern und Enkeln viel gezeichnet und gebastelt. Von den Enkelkindern habe ich alles zurückbekommen, was ich als Kind entbehren musste: offene Zuneigung und bedingungslose Anerkennung. Die Omi war die Omi und immer da für sie. Eislaufliebe. Eine Familie zu haben, war für mich das größte Glück. Jung habe ich geheiratet und Kinder bekommen. Otto lernte ich über einen Jugendfreund kennen, mit 14. Den Jugendfreund habe ich sehr verehrt, doch der hat von mir nichts wissen wollen. Mein Otto stellte sich mit „Käßmann“ vor, ich rief: „Pflanzen Sie mich nicht, wie ist Ihr echter Name?“ Ich dachte, es heißt doch niemand „Käsemann“. Der Otto gefiel mir. Er fragte mich, ob ich eislaufen könne. Nach Omis Erlaubnis besorgte er mir sogar Schlittschuhe. Wir sind zum Engelmann gegangen, Verdunkelung war angeordnet. Es herrschte ja Krieg. Es hat dann noch acht Monate gedauert, bis ich mir ein erstes Busserl hab rauben lassen ... vERGISSMEIN(nicht). Drei- bis fünfmal täglich haben wir unwillkürliche Erinnerungen, etwa weil ein Song uns an den Ex denken lässt oder ein Geruch an Omi. Meist vergessen wir sofort, uns je daran erinnert zu haben. Als in mir schreibend Bilder vom Meer, von einem Flusslauf und einer Pferdeweide aufsteigen, wird mir klar: Natur ist mein Kraftort! Und ich habe ihn in den vergangenen Jahren viel zu wenig besucht. Das will ich ändern! Ich freue mich über diese klare Erkenntnis. Zwar habe ich noch immer keine Früh-Erinnerung aus der Tiefe geholt, die mir bislang verschlossen war. Das Buch aber verspricht: Je häufiger wir uns Erinnerungen mit den Schreibtechniken annähern, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auch an mehr erinnern – und ein „größeres Erinnerungsnetz“ aufbauen. Methode 5: Literarisierung An ein leidvolles Ereignis denken – und schreibend den Ballast loswerden. Bildlich gesprochen packe ich einen Rucksack und gehe an einen meiner Kraftorte. Und tatsächlich: Obwohl das Leid im Rucksack – die schwere Krankheit meiner Mutter während meiner Jugend – mich niederdrückt, wiegt der Rucksack mit jedem Wort weniger. Es ist, als ob durch das In-Worte-Fassen das eigentliche Leid unwichtig wird. Wow. Schreibend wird es mir wichtiger, detailreich zu beschreiben, wie ich den Rucksack an den Kraftort trage, um ihn dort zu lassen – statt schmerzhaft nachzuempfinden, worin das Leid eigentlich bestand. Stück für Stück werden die Angst um die Mutter und die eigene Unsicherheit in Portiönchen geteilt. Schließlich bekommt das Leid am Kraftort – ein wunderschöner Strand – statt einer Schleife den Vermerk: „Kann weg.“ Ich habe die schlimme Erfahrung, so schmerz178 Dezember 2011 haft sie war, überstanden. Und bin heute so, weil ich genau das erlebt habe. Erinnerungen sind immer auch Erfahrungen, aus denen man lernt. Methode 6: Clustering Diese Übung raubt mir fast den Nerv. Stichworte aufschreiben zu Beruf, Stärken, Schwächen, Freunden, Freizeit – und wie ich mein Leben bewältige. Wie, nur Stichworte?! Nun soll ich den Begriff, der mir am wichtigsten erscheint, zum Kernwort machen und dazu assoziative Wortketten entwickeln, ein „Cluster“. Wieder nur Stichworte! Irgendwann darf ich dann richtig schreiben. Der erste Satz soll angeregt sein durch eines der Cluster-Worte. Dann einfach drauflos formulieren – aber immer wieder Elemente des Clusters integrieren. „Widersprüche“ steht als Kernwort bei mir. Ich will Musterschülerin sein: auf die Stichworte schielen und das Cluster. Funktioniert nicht. Also nehme ich es nicht ganz so streng und schreibe vor mich hin. Ein letztes Mal staune ich über mich selbst: Teils lese ich zwar Gedanken, die ich schon kenne – neu erfunden habe ich mich nicht. Doch was da hier und da nach oben drängt, zwischen den Zeilen oder buchstäblich, gibt mir Kraft. Denn es sagt mir: Ich bin so – und noch viel mehr. Der Alltag lässt uns das viel zu oft vergessen. Als ich den Kugelschreiber niederlege, stimme ich dem US-Psychologen Richard Wiseman zu: Es macht glücklicher, Dinge aufzuschreiben, als nur über sie zu reden. WIENERIN dossier einmal löschen, bitte Gedächtnis extrem: Hat ein Mensch etwas Traumatisches erlebt, können die Erinnerungen daran zum Riesenproblem werden – und die Psyche dauerhaft lähmen. Ein Medikament verspricht nun Heilung. Sind wir auf D dem Weg zur Vergiss-Pille? ie Waffe am Kopf ging es ins Hinterzimmer, vor ihm der Tresor, hinter ihm die Männer. Jahrelang holten den Kanadier Joel Coutu die Erinnerungen an einen Raubüberfall ein: Wieder und wieder durchlebt er im Kopf den Moment, als er den Tresorschlüssel nicht fand. „Töte ihn“, hörte er, dann schlug einer der Räuber zu. Coutu glaubte, er würde sterben. Das sagt er in der Arte TV-Doku Das Ende der Angst. Zwölf quälende Jahre litt er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). emotionenblocker. Sein Glück war, am Douglas Insti­ tute in Montreal in der Propranolol-Studie des klinischen Psychologen Alain Brunet zu landen. Von Propranolol, einem Mittel Jill Price erinnert gegen Bluthochdruck, sich an alles. weiß man, dass es Adrenalin blockiert. Man weiß Wäre es nicht toll, alle Ereignisse aus dem eigenen ­Leben auch: Emotionen verim Gedächtnis abrufen zu könstärken die Erinnerung – nen? Jill Price findet: nein. Die was wiederum durch Ad45-jährige US-­Amerikanerin errenalin gefördert wird innert sich tatsächlich an ­alles, und zu einer besseren Gutes wie Schlechtes, was sie Speicherung des Erlebseit der Pubertät erlebt hat, sie nisses führt. „Propranokann den ständigen Gedanken­ strom ihres Gedächtnisses nicht lol blockiert die Fähigabschalten – er beherrscht sie. keit, dass wir uns durch Wie sehr diese Fähigkeit sie emotionale Verstärkung ­belastet, beschreibt sie in Die besser erinnern können“, Frau, die nicht vergessen kann sagt Studienleiter Alain (€ 20,60, Kreuz-Vlg.). Brunet. Superhirn? 180 Dezember 2011 Bislang hatten Studien ergeben: Behandelt man Menschen, die ein schlimmes Ereignis durchgemacht haben, etwa vergewaltigt oder im Krieg traumatisiert wurden, in den Stunden unmittelbar nach dem Erlebnis mit Propranolol, lässt sich die Erinnerung beeinflussen, bevor sie sich ins Langzeitgedächtnis eingräbt – inklusive der belastenden Gefühle. Statt Adrenalin dockt Propranolol an den Rezeptoren im zentralen Nervensystem an. Doch alle Menschen nach schlimmen Erlebnissen vorsorglich mit dem Medikament zu behandeln, sei nicht sinnvoll, sagt Brunet. Denn nach einem traumatischen Ereignis leide nur eine Minderheit an der psychischen Erkrankung PTBS – und zudem suche ja nicht jeder Betroffene eine Notfallambulanz auf. keine löschpille. Interessant war für den Forscher daher, ob das Mittel auch dann wirkt, wenn das belastende Ereignis jahrelang zurückliegt. Lassen sich Erinnerungen nachträglich rekonsolidieren, also: verändern und neu abspeichern? Tatsächlich zeigte sich bei fast allen der 50 Teilnehmer an Brunets Experiment, dass sie ihre Erinnerungen umbewerten konnten. Sechs Wochen lang dauerte bei Joel Coutu der Prozess. Er nahm das Medikament ein, musste sich mündlich und schriftlich an jedes schmerzhafte Detail des Raubüberfalls erinnern. Danach sagte er: „Meine Erinnerungen an das Ereignis haben sich nicht verändert. Ich kann mich an alles erinnern. Aber der emotionale Teil der Erinnerung ist weg: Traurigkeit, Schmerz, Wut, das beklemmende Gefühl.“ Propranolol löscht also keine Erinnerung, es ist keine Vergiss-Pille, die man schluckt, um den schlimmen Moment auszuradieren. Das Medikament wandelt aber die Gefühle des abgespeicherten Ereignisses um: Aus einem ganz schrecklichen wird ein normal schlechtes. Noch ist allerdings unklar, ob das Medikament jemals gängige Therapie werden wird.