Sozialpsychiatrie anthropologische Aspekte

Werbung
Psychische Erkrankung, Sucht und
Menschenwürde
Anstösse zu einer anthropologischen Psychiatrie
Prof. Dr. Thomas Bock, Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf
Stuttgart 17. Juno 2010
Ausgangsthesen
• Es gibt kaum noch junge Mensche mit
Psychosen ohne jahrelangen Konsum.
• Der Ausschluss von Menschen mit
Doppeldiagnosen ist weltfremd.
• Die Kooperation von Psychiatrie und
Suchteinrichtungen ist immer noch von
Misstrauen geprägt - ein Dilemma!
Übersicht
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Vom Risiko reduktionistischer Betrachtung
Anthropologie psychischer Erkrankungen
Wechselwirkung Psychose u.a. - Sucht
Eigener Sinn und psychische Erkrankung
Eigensinn und Psychose u.a.
Menschenwürdige Psychiatrie?
Widersprüche im System? - Integrierte Behandlung!
(1) Unzulässige Vereinfachungen
bzgl. Psychose
• „Warum ist Herr x psychotisch?“- „Er hat eine Psychose“
• „Warum ist Frau M. so aufgeregt?“ - „Sie agiert.“
• „Wir wissen nicht, was Herr P. nach der Entlassung
macht, lasst uns zur Sicherheit eine rechtliche Betreuung
einrichten“.
• „Herr B ist doch schon 22; der muss endlich zuhause
ausziehen.“
• Frau P. hört Stimmen. - Sie hat eine Schizophrenie.
• Herr S. nimmt seine Pillen nicht. Er ist noncompliant.
Problematische Vereinfachungen
bzgl. Sucht
• „Warum darf Frau S. nicht mehr an der Suchtgruppe
teilnehmen?“ - „Sie nimmt Neuroleptika“.
• „Warum sollen wir den Betreuungsvertrag mit Frau P.
lösen?“ - „Für Komorbide sind wir nicht zuständig“
• „Wer abhängig ist, darf kein Medikamente nehmen“.
• „Wir können Ihr Psychose nur behandeln, wenn Sie vorher
clean / trocken sind.“
• „Warum habt Ihr Herr P. doch nicht in den Entzug
aufgenommen?“ - „Der spinnt doch auch ohne Drogen“.
Unzulässige Vereinfachungen
in der Theorie
• „Psychosen werden nicht vererbt“
Vulnerablität, gen. Potential 50%, Gene müssen „geweckt“ werden
• „Hirnstoffwechsel verursacht keine Psychosen“
somat. Eigendynamik nach psych. Belastung, Gehirn „gebahnt“
• „Familienatmosphäre (HEE) und Rückfälle“
keine Ursache, sondern Wechselwirkung. Entlastung entscheidend
• Rückfälle vermeiden? - nicht um jede Preis
Vermeiden des Lebens? Zunahme Negativsymptome/Depression?
(2) „Wie gesund ist krank?“
anthropologischer Verstehensansatz
• Ängste: zunächst (Selbst)Schutz vor Gefahr,
Risiko: Verselbständigung, Verallgemeinerung,
Zuspitzung, Lähmung und Panik
• Zwänge: Rituale geben Halt, Schutz vor Zerfall
Gefahr: Einengung, Blockade, Gefängnis
• Depressionen: emotionaler Totstellreflex, Schutz
aber: kognitive/affektive Teufelskreise,
Verzweiflung, Leere, Selbstgefährdung
• Manien: Flucht nach vorne, aus Überanpassung,
Grenzen sprengen ohne Befreiung,
aber: Selbstgefährdung, sozialer Schaden
• Borderline: „Grenzgänger“, Dauer-Pubertät?
schwierige Balance von Bindung und Autonomie,
bis zu: Selbstverletzung, Fremdgefährdung
• Psychosen: Reizoffenheit/ Dünnhäutigkeit, Traum
ohne Schlaf, Rückgriff kindliche Wahrnehmung
Extremer Eigensinn, bis zum: Verlust eigener Grenzen
• Sucht: harmloser Genuss, funktionaler Konsum,
Regression, Eigendynamik mit verschied. Schwellen
bis zu: Abhängigkeit, Kontrollverlust, evtl. Psychose
Mehrfache Eigendynamik
Psychische Erkrankung = Lebenskrise
dünnhäutiger Menschen mit dem Risiko
mehrfacher Eigendynamik:
• Psychisch: z.B. depressive Denkmuster
• Familiär: Auf und Ab bei bipolarer Störung
• Sozial: Ausgrenzung, Benachteiligung
• Körperlich: Veränderungen im Hirnstoffwechsel machen immer „vulnerabler“
Allgemeine Komorbidität
sinnlos addieren oder Wechselwirkung verstehen?
•
•
•
•
•
•
•
Symptome als Bewältigungsstrategien,
Symptome 1.und 2. Ordnung
z.B. Zwang als Schutz vor Psychosen
Depression als Folge von Psychosen (inkl.
Behandlungsfehlern)
Hypomanie als Ausgleich von Depression
Wahn als Erklärung von Halluzination
Zunehmende Vulnerabilität, Destabilisierung
(3) Komorbidität Psychose u.a. - Sucht
Addition oder Wechselwirkung?
•
•
•
Hypothese: Drogeninduzierte Psychose
Sucht als Selbstmedikation - gegen Erkrankung
und/oder Nebenwirkungen von Medikation mit
dämpfenden und/oder anregenden Substanzen
Langfristiger Konsum - Verlust sozialer
Kompetenz - Verlust von Ressourcen, um in
Krise nicht psychotisch zu werden
Anthropologische Aspekte
kognitiver Psychosen + Sucht?
• Jede Psychose ist anders
Symptome erzählen Geschichten
• Jedem Menschen möglich
verschiedene Schwellen für
Überflutung und Reizentzug
• Wie Traum, aber ohne
Schutz des Schlafs Wunschund Angstanteile einer Psychose
• Rückgriff kindliche
Wahrnehmung Warum auch
später noch alles auf sich beziehen?
• Kritische Zeiten
Krisen als Chance
• Auch jede Sucht?
Erzählt auch Konsum Geschichten?
• Jedem Menschen möglich?
verschiedene Schwellen für
Abhängigkeit
• Wie Traum, aber unter
Deckmantel der Sucht?
Wunsch- und Angstanteile der Sucht
• Rückgriff kindliches
Verhalten? Leugnen von
Verantwortung oder von Scheitern?
• Kritische Zeiten?
Krisen noch Anlass oder nur Vorwand?
Anthropologische Aspekte
affektiver Psychosen + Sucht?
• Depression ungleich
Trauer, Manie kein Glück
Leere und Verzweiflung - zwei Seiten
einer Medaille
• Zeitgefühl geht verloren
Depression u. Manie ewig, Verzweiflung/Leichtsinn umso größer
• Überanpassung
Unmöglichkeit, allen zu genügen
• Gefühle verstärkt oder
betäubt?
Leere und Verzweiflung - Teufelskreis
der Sucht
• Zeitgefühl geht verloren
Verzweiflung betäubt, Leichtsinn
verstärkt
• Ausbruch ohne Befreiung
Selbstbetrug der Abhängigkeit
• Verzweiflung an
• Sinnverlust verstärkt und
Sinnverlust Kreisen um sich selbst,
ignoriert Kreisen um sich selbst,
Hungern nach Bedeutung
Vermeintliche Bedeutung
„Menschen müssen im Unterscheid zu anderen
Lebewesen um ihr Selbstverständnis/-gefühl
ringen. Es gehört zu unseren Möglichkeiten, an
uns zu zweifeln und dabei auch zu verzweifeln,
über uns hinaus zu denken und uns dabei auch zu
verlieren ...
Wer darüber psychotisch wird, ist also kein Wesen
vom anderen Stern, sondern zutiefst menschlich“.
(trialogische „blauen“ Broschüre: „Es ist normal, verschieden zu sein“)
Zwei Kulturen
psychopathologische Sicht
anthropologische Sicht
(4) Subjektiver Sinn und Psychose
- Extrempositionen • Psychosen sind sinnlos und zufällig. Hirnstoffwechsel entgleist ohne Bezug zum Erleben.
Symptome zu hinterfragen, sinnlos und schädlich.
• Psychotische Erfahrung verschafft ungewohnten
und überwältigenden Zugang zu unbewussten
Erlebnissen und Konflikten. Aufarbeitung notwendig für nachhaltige Stabilisierung. Symptomreduktion mit Medikamenten kann helfen, doch
nur im Rahmen einer tragenden, reflektierenden
Beziehung, um das Erlebte zu integrieren.
Ebenen des subjektiven Sinn
„Meine Psychose hat mit meiner
bisherigen Lebenserfahrung zu tun.“
Entstehung
Bezug zu
der Psychose Lebensereignissen
Symptomerleben
„In meiner Psychose fühle ich mich
lebendiger.“
positiv
„Seit meiner Psychose besseren Zugang zu
meinen inneren Impulsen.“
Auswirkungen
der Psychose
positiv
„Psychose ist vom Himmel
gefallen
Unbelastete
Vergangenheit
„In meiner Psychose war ich
stark verunsichert.“
negativ
Seit meiner Psychose habe ich das
Vertrauen in mich verloren.“
negativ
Antworttendenzen
• Über 75% sehen Lebensereignisse in
Zusammenhang mit der Entstehung der Psychose.
• Knapp 50% erleben die Psychose auch positiv.
• Nur knapp 40% stimmen eher negativen
Auswirkungen der Psychose zu.
• 60% betonen auch konstruktive Veränderungen,
die mit der Psychose einhergehen.
Zusammenhänge
• Bezug zu bestimmten Lebensereignissen ist
verknüpft mit auch positiven Symptomen
und eher optimistischer Perspektive.
Auftrag an Psychotherapie
Salutogenese: Förderung von “Kohärenz” wichtig.
• Belastende Symptomen stehen im
Zusammenhang mit subjektiv eher negativen
Auswirkungen.
Auftrag an Psychiatrie
„Ist der Mensch 'auf der Suche nach Sinn„ fündig
geworden, dann wird er glücklich. Auf der anderen
Seite wird er dann aber auch leidensfähig. Leiden
bringt nämlich den Menschen nicht an und für sich
zur Verzweiflung. Sondern nur Leiden, das ohne
Sinn zu sein scheint, führt zur Verzweiflung.“
(V. Frankl, 1997, S. 265)
(5) Eigensinn und Psychose
„Höllenhunde“ am Eingang der Psychiatrie
„Krankheitseinsicht“
Patient denkt wie Arzt
„Compliance“
Patient tut, was Arzt will
• Vorleistung des
Patienten?
oder
• primär unsere
Aufgabe?
• Unterwerfungsritual
des Patienten?
oder
• Ergebnis gemeinsamer
Anstrengungen?
Wer nimmt Einsicht in
was?
Wieviel Eigensinn tut
gut?
Noncompliance oder Eigensinn?
Noncompliance
Eigensinn
• Krankheitsmerkmal?
• Misslungene Kooperation
• Schlechte Prognose?
• Herausforderung
• Ringen um Autonomie
• Lebensqualität
Andere Kooperationskultur:
• Unbedingter Gehorsam - schlechtes Zeichen
• Eigensinn - Ringen um Identität gute Prognose,
Besonderes Beziehungsangebot
(6) „menschenunwürdige“
Psychiatrie?
•
•
•
•
Früher:
Große Säle
keine Privatsphäre
Weggesperrt in
Anstalten
Stigmatisierendes
Verständnis
•
•
•
•
Heute:
Akutstation o.Ruhe
Anonymität o.
Beziehung
Ambulantes Ghetto
Reduktionistisches
Verständnis
Kriterien für eine
menschenwürdige Psychiatrie
Trialog
• Verhandlung auf Augenhöhe
• Angehörige selbstverständlich einbeziehen
Milieu
• Soteria = stationäres Hometreatment
• Hometreatmet = ambulante Soteria
Integrierende Versorgung
Widersprüche in der Haltung?
Psychiatrie
Suchthilfe
• Integrativ, verstehend • Konfrontativ, abgrenzend
• Am Erleben orientiert • Person zählt nur abstinent
Sprache der Symptome
•
•
•
•
Meist inkl. Medikation
Niedrigschwellig (?)
Supportiv
Ziel: Leben mit
Erkrankung
sonst spricht die Droge
•
•
•
•
Meist ohne Medikation
Hochschwellig (?)
Motivation fordernd (?)
Ziel: Abstinenz
Komb. Sucht- und Psychosentherapie
Sozialpsychiatr. Psychosen Ambulanz
• Beratungsstelle für junge
Frauen und Männer von 18 bis
35 Jahren
• Motivation
• Entwöhnung
• Therapie
• Selbsthilfe
• Ambulanz, Krisentagesklinik,
Hometreatment (I.V.)
• Familie, Angehörige, Freunde
• Bezugstherapie
• Div. Psychotherapiegruppen
• Offene Angebote, Alltag
• Pharmakotherapie
• Soziale Unterstützung
Hamburger Modell
der Integrierter Versorgung (DAK, AOK, ....)
• Jahrespauschale auf Basis der Kosten 2006
• Zunächst für Patienten mit akuter oder langfristiger
Psychose-Erfahrung / Bipolarer Störung
• für alle Klinik-Leistungen: stationär, tagesklinisch,
ambulant
• Plus Bonus für beteiligte Facharzt-Praxen
• Hometreatment-Team (1:15) inkl. Psychother.,
24 Std. tel. erreichbar
• Kooperation mit amb. Pflege, Psychotherapie,
sozialpsychiatrischen Diensten
Neue Belohnungsmechanismen
• Statt „Full-house“-Prinzip Belohnung guter
ambulanter Arbeit - inkl. HomeTreatment
• Umwidmung von stationär gebundenen
Ressourcen möglich
• Zusammenarbeit mit ärztl./psther. Praxen
und Gemeindepsychiatrie „lohnt“ sich
• Hometreatment und Krisenbetten als
Perspektive (Behandeln, wo es am wenigsten Angst macht)
Vorteile
„win - win - win“-Vertrag
Patienten / Angehörige
• Anderer Kontext, Einbeziehung Familie
• Kontinuität, Verbindlichkeit, Krisenintervention
• Weniger Einweisung + Zwang
Klinik
• Flexibler Einsatz von Ressourcen,
• Planungssicherheit
Kassen
• Kostendeckelung, -transparenz
„Noncompliance“ als
Beziehungsangebot
Beispiel:
„Der Kellergeist“
Beispiel „Kellergeist“
•
•
•
•
•
•
Erstes Bemühen um Behandlung scheitert
Verzweiflung der Angehörigen
„Flasche geben“ - Coabhängigkeit, Regression?
Annäherung auf Umwegen
Dolmetschen
Ringen um/mit Eigensinn
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit
Zusamenfassung
• Anthropologisches Verständnis auch hilfreich im Hinblick
auf Komorbidität
• Symptome haben eine Sprache; Sinn-Bedürfnis begründet
Psychotherapie
• Eigensinn = Lebensqualität, nicht Krankheitsmerkmal:
Krankheitseinsicht = meine Aufgabe, Compliance =
Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen
• Umgang mit Psychose u.a. und mit Sucht folgt
verschiedenen Paradigma, Misstrauen der Institutionen?
Trialog als Klammer?!
• Experienced Involvement - neuer Aufbruch (Vorsprung
der Suchtbehandlung)
• Behandlung im angstfreien Raum? Würde in „Integrierter
Versorgung“!
(5) Eigensinn und Psychose
• Sinne gehen eigene Wege
Nerven im
Hörzentrum nur zu 1/3 vom Ohr .....
• eigener Sinn der Psychose
Subjektive
Bedeutung, Sinn-Bedürfnis (s. Hamb.SuSi-Projekt)
• Suche nach Eigenem und nach Sinn
Verbindung von Psychotherapie und Sozialpsychiatrie
• Psychose als Form des Eigensinns
Unverständlichkeit als „letzter Hort von Eigenheit“
Empfinden Sie sich als eigensinnig?
Ist Eigensinn für Sie liebenswert/anstrengend?
Konkretisierung für
Erstbehandlung
•
•
•
•
•
•
Je früher, desto vorsichtiger
Hilfe, wo sie am wenigsten Angst macht
Einbeziehung der Familie von Anfang an
Verstehen im Zusammenhang
Flexible kontinuierliche Begleitung
Soviel Normalität wie möglich
Zitat Prof. Thea Schönfelder
Pionierin der Familientherapie
„Das Einzige, das mich von meinen
psychotischen Patienten unterscheidet, ist
meine Fähigkeit, sie gesünder zu sehen, als
sie das z.Z. können“.
„Wovon der Mensch zutiefst und zuletzt
durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht,
noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum
Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens
zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden
und zu erfüllen.…“
VIKTOR FRANKL
Herunterladen