Wie gesund ist krank? Überblick und Zugang zum Verständnis psychischer Erkrankungen Prof. Dr. Thomas Bock Verden 8.10.2015 Übersicht • Hamburg Stadt der Widersprüche • Menschheit kränker ..... • oder Krankheit menschlicher? • Beispiel Stimmen hören • Sinnbedürfnis und Kohärenz • Was hilft gegen (Selbst)Stigmatisierung? Irre menschlich Hamburg, Peerprojekt, Arbeit! (1) Hamburg - Stadt der Widersprüche? • Hamburg: meiste Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankung - Warum? • Hamburg: Bestwerte im „Glücksatlas“ • Ungerecht? Blankenese glücklich, Jenfeld krank? • Oder typisch? Spannweite arm-reich macht krank! • Oder beides im Leben möglich - Krankheit u. Glück? • Herausforderung: Gerade Menschen mit längerfristiger Erkrankung Perspektiven eröffnen • Verteilung der Ressourcen? Je kränker, desto weniger Hilfe? - in der allg. Medizin undenkbar (2) Menscheit kränker? • Zahlen sehr verschieden - abhängig von Definition • Angaben verschieden - abhängig von Interessen • Mehr Krankheit oder Behandlungsbereitschaft? • Menschen kränker oder ehrlicher? • Ärzte ehrlicher oder schneller? • Soziale Unterschiede! Exkurs: Soziale Ungleichheit und psychische Gesundheit (Becker T 2012) • 9 von 12 Studien zeigen in soziökonomisch Schlechten Wohngebieten höhere Prävalenz (Muntaner u.a. 2004) • Verursachung oder Selektion? • Bundesgesundheitssurvey: 2,5 x höheres Risiko bei Männern, ca. 1,5 x bei Frauen (Mauz & Jacobi 2008) • Zuviel und zuwenig Streß/Arbeit machen krank • Mehr psychische Erkrankungen in Ländern mit Einkommensunterschied! (Wilkinson & Pickett 2010) Arbeitslosigkeit macht krank • Arbeitslose mehr Depression, Angst, psychosomatische Störung • Weniger Subjekt. Wohlbefinden, Selbstwert • Männer > Frauen, • Arbeiter > Angestellte • psychische Störung mit Arbeit 16%, ohne 34% • Längsschnitt: Arbeitslosigkeit macht Stress. • dto für alleinerziehende Frauen, Migranten (Paul & Moser 2009, Gesundheitssurvey, Canor-Graae & Selten 2005) „Diese neuen Patienten leiden nicht wie die alten an Psychosen oder schweren psychiatrischen Störungen .... sondern an verschiedenartigen Traumata, die sie in eine chronische Hilflosigkeit stürzen, die zwischen ängstlichem Unbehagen und Verzweiflung schwankt. Prekarität, Ausgeschlossensein und Arbeitslosigkeit fügen narzißtische Wunden zu, deren Hauptkennzeichen eine Abnahme der Selbstachtung und in der Folge die Erschütterung des Selbstvertrauens ist“. (Ehrenberg 2011) Macht des Marktes • Erst mehr Angebot oder erst mehr Nachfrage? • Diagnosen großzügiger • Doppeldiagnose aus ökonomischen Gründen? • Ausweitung DSM 5 – Trauer über 2 Wochen – Bes. kindliche Trotzreaktion – Leichte kognitive Störung • Stigmatisierung u. Verschiebung von Ressourcen Menschheit kränker? Zwischenergebnis • Im Kernbereich eher keine Zunahme! • Verschiebungen zwischen Diagnosen • Zunahme Demenzen • Evtl. somatoforme Störungen + somatische Komorbidität • Erkrankung früher (s. kulturelle/sexuelle Akzelleration) • Menschheit älter (mit/ohne Erkrankung, Unterschiede!) • Annäherung zwischen Geschlechtern (z.B. mehr Männer depressiv, mehr Frauen Alkohol) (3) Krankheit menschlicher? • Welches Bild von psychischer Erkrankungen vermittelt Psychiatrie? • Welches Bild vermitteln die Medien? Angst / Vorurteile abhängig • von Diagnosen!(Schizophrenie - Psychose - Depression - „Burn out“) • von Erfahrung, Bildung, Schicht! • vom Krankheitskonzept! Krankheitskonzept und Vorurteile (Angermeyer&Schomerus 2012) • Biologisches Modell wirkt nicht entstigmatisierend Vorurteile u. Wunsch nach sozialer Distanz stärker • „Schuldzuweisung“ nicht (mehr) entscheidend! Annahme fehlender Kontrolle? • Häufigkeit in Bevölkerung eher überschätzt! Zusammenhang mit soz. Distanz widersprüchlich • Begegnung wichtig: Anthropologische Sicht baut Brücken: Annahme eines fließenden Übergangs! Unzulässige Vereinfachungen Pathologie in der Praxis Dialoge im klinischen Alltag: • „Warum ist Herr x psychotisch?“- „Er hat eine Psychose“ • „Warum ist Frau M. so aufgeregt?“ - „Sie agiert.“ • „Frau P. hört Stimmen. Sie hat eine Schizophrenie“. • „Herr S. nimmt die Pillen nicht. Er ist noncompliant“. Unzulässige Vereinfachungen in der Theorie In der Theorie • Psychische Erkrankungen = Genetik + Stoffwechsel • Rückfälle vermeiden um jeden Preis - und das Leben gleich mit • Ausweitung des Krankheitsbegriffs - zum Nachteil der mehr Beeinträchtigten! „Wie gesund ist krank?“ eine Übersicht • Ängste: zunächst (Selbst)Schutz vor Gefahr, Risiko: Verselbständigung, Verallgemeinerung, Zuspitzung, Lähmung und Panik • Zwänge: Rituale geben Halt, Schutz vor Zerfall Gefahr: Einengung, Blockade, Gefängnis • Depressionen: emotionaler Totstellreflex, Schutz aber: kognitive/affektive Teufelskreise, Verzweiflung, Leere, Selbstgefährdung • Manien: Flucht nach vorne, aus Überanpassung, Grenzen sprengen o. Befreiung, Abwehr Verzweiflung aber: Selbstgefährdung, sozialer Schaden • Borderline: „Grenzgänger“, Langzeit-Pubertät? schwierige Balance von Bindung und Autonomie, bis zu: Selbstverletzung, Fremdgefährdung • Psychosen: Reizoffenheit/ Dünnhäutigkeit, Traum ohne Schlaf, Rückgriff kindliche Wahrnehmung bis zum: Verlust eigener Grenzen Komorbidität - Addieren oder verstehen? EigenSinn und Psychose • Sinne gehen eigene Wege Nerven im Hörzentrum nur zu 1/3 vom Ohr ..... • Suche nach Eigenem und Sinn Verbindung von Psychotherapie und Sozialpsychiatrie • eigener Sinn der Psychose Subjektive Bedeutung, Sinn-Bedürfnis (s. Hamb.SuSi-Projekt) • Psychose als Form des Eigensinns Unverständlichkeit = letzter Hort von Eigenheit, Herausforderung „Eigensinn und Psychose“, Paranusverlag Anthropologische Sicht Philosophie des Trialogs? „Menschen müssen im Unterscheid zu anderen Lebewesen um ihr Selbstverständnis/-gefühl ringen. Es gehört zu unseren Möglichkeiten, an uns zu zweifeln und dabei auch zu verzweifeln, über uns hinaus zu denken und uns dabei auch zu verlieren ... Wer darüber psychotisch wird, ist also kein Wesen vom anderen Stern, sondern zutiefst menschlich“. (trialogischen „blauen“ Broschüre: „Es ist normal, verschieden zu sein“) (4) Beispiel Eine junge Stimmenhörerin Erfahrung Netzwerk Stimmenhören • • • • • • • • Die Stimmen sind wahr, du hörst sie ja Reden wie mit einem Nachbarn Jede Erklärung ist besser als keine Nicht allein mit den Stimmen bleiben Nicht alles gefallen lassen Wieder Herr im eigenen Haus werden Spiegel der eigenen Befindlichkeit? Stimmen integrieren und entkräften Zitat Ron Coleman: Mir war erlaubt, mir meine Erfahrung zueigen zu machen. Ich konnte zum ersten Mal über die Stimmen reden, ohne dass sie als Teil einer Krankheit gesehen wurden. Sie wurden als Teil von mir, von dem, was mit mir passiert war, verstanden. Das machte es viel leichter damit umzugehen. (5) Sinn-Bedürfnis bei Psychosen? Trialog in der Forschung Gegenpositionen: • “Psychosen sind sinnlos und zufällig. Hirnstoffwechsel entgleist ohne Bezug zum Erleben. Symptome zu hinterfragen, sinnlos und schädlich”. • “Psychotische Erfahrung verschafft ungewohnten und überwältigenden Zugang zu unbewussten Erlebnissen und Konflikten. Aufarbeitung notwendig für nachhaltige Stabilisierung. Symptomreduktion mit Medikamenten kann helfen, doch nur im Rahmen einer tragenden, reflektierenden Beziehung, um das Erlebte zu integrieren”. (D.Buck) Aufbau des Fragebogens: Subskalen Positives Erleben Negatives Erleben Verstehbarkeit hat mit meiner der Entstehung bisherigen Lebensd. Biografie erfahrung zu tun.“ „Meine Psychose Positives Psychose fühle ich Symptommich viel erleben lebendiger.“ „In meiner „Ich habe in meiner Psychose Positive einiges fürs Leben Auswirkungen gelernt.“ Unverständnis/ „Meine Psychose ist vom Himmel Unbelastete gefallen“ Vergangenheit „In meiner Negatives Psychose war ich Symptomstark erleben verunsichert.“ „Seit meiner Psychose bin ich gleichgültiger Negative mir selbst und dem Auswirkungen Leben gegenüber geworden.“ Krankheitsverlauf Vergangenheit: Entstehung der Psychose Gegenwart: Symptomerleben Zukunft: Auswirkungen der Psychose Einschätzung? • Wieviel % sehen Psychose in Zusammenhang mit Lebensereignisse? • Wieviel % erleben die Psychose auch positiv? • Wieviel % betonen auch konstruktive Veränderungen durch Psychose? Antworttendenzen • Ca. 80% sehen Psychose in Zusammenhang mit Lebensereignisse? • Knapp 50% erleben die Psychose auch positiv. • 60% betonen auch konstruktive Veränderungen durch Psychose. Zusammenhänge • Wer Bezug zum eigenen Leben herstellt, sieht aktuelle Symptome / Zukunft zuversichtlicher Auftrag Psychother. (Salutogenese/Kohärenz) • Wer Symptome als belastend erlebt, befürchtet auch eher negative Auswirkungen. Auftrag an Psychiatrie (Beistand, Entlastung) Vergleich mit anderen schweren Erkrankungen? Zitat zu Sinn und Leid „Ist der Mensch 'auf der Suche nach Sinn‘ fündig geworden, dann wird er glücklich. Auf der anderen Seite wird er dann aber auch leidensfähig. Leiden bringt nämlich den Menschen nicht an und für sich zur Verzweiflung. Sondern nur Leiden, das ohne Sinn zu sein scheint, führt zu Verzweiflung.“ VIKTOR FRANKL (6) Was hilft (nicht) gegen Vorurteile? (-) • Reduktionismus (Meta-Analysen Angermeyer & Schomerus) • Hochglanzbroschüren (+) • Begegnungsprojekte • Annahme fließender Übergänge • Gesellschaftliches Engagement für Sensibilität und Toleranz z.B. Irre menschlich Hamburg Irre menschlich Hamburg Beispiel für eine „trialogische Bürgerinitiative“ • Info für Journalisten „aus erster Hand“ • Begegnungsprojekte in (Hoch)Schulen und Betrieben (Toleranz und Sensibilität) • Tage der offenen Tür „Psychiatrie macht Schule“ • Trialogische Fortbildung Gesundheitsberufe, Jugendhilfe, Lehrer, Pastoren, Polizei, Wohnungswirtschaft, Bewährungshilfe, Jobcenter • Kulturprojekte, Ausstellungen, Filme u.a. • Allgemein: Website, Hörfunk-, Kinospot www.irremenschlich.de Zitat Ron Coleman: Mir war erlaubt, mir meine Erfahrung zueigen zu machen. Ich konnte zum ersten Mal über die Stimmen reden, ohne dass sie als Teil einer Krankheit gesehen wurden. Sie wurden als Teil von mir, von dem, was mit mir passiert war, verstanden. Das machte es viel leichter damit umzugehen. Der Verein Irre menschlich ist auf Spenden und Sponsoren angewiesen Plakatbeispiele: Plakatbeispiele: Selbstwirksamkeit statt Selbststigmatisierung Hamburger Peer-Projekt Genesungsbegleiter für Betroffene und Angehörige Schnittstelle ambulant - stationär in allen Hamb. Kliniken Ergebnisse • Bei Erfahrenen: mehr Selbstwirksamkeit, weniger Krankenhaustage (rct-Studie) • Bei Angehörigen: weniger Belastung, mehr Lebensqualität (Pilotstudie) • Peers: Empowerment, Inklusion (Fragebögen, Befragung) • Institution: Weniger Vorurteile, mehr Koop (internet-B.) Was trägt zu Prävention bei? • • • • Jeder Mensch will nützlich sein Bedeutung hilft gegen Wahn Anerkennung wirkt gegen Depression Politische Dimension von Prävention: Krieg, Gewalt, Armut, Arbeit .... (Priebe) • . Wie wird Psychiatrie niedrigschwelliger • • • • • • Lücke zw. Station und Ambulanz Lücke zw. Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie Nebeneinander Jugendhilfe und - psyhiatrie Falsche Gewichtung / Belohnungsmechanismen Unfair gg. Schwer-Kranken / Erreichbaren Idee Integrierter Versorgung: Hamburg / Hana Beispiel aus „Eigensinn und Psychose“ „Der Kellergeist“ „Das Einzige, das mich von meinen psychotischen Patienten unterscheidet, ist meine Fähigkeit, sie gesünder zu sehen, als sie das z.Z. können“. Prof. Thea Schönfelder, Pionierin der Familientherapie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Es folgen Film und Interview mit Samuel Enslin