gedanken attributionen

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I
Zur gedichteten Philosophie
der Philosophischen Untersuchungen
1 »Ich bin ein zweitrangiger Dichter.«
Bereits im ersten Gedanken des Vorwortes zu den PhU spricht Wittgenstein
die außergewöhnliche sprachliche Form seines Buches an:
In dem Folgenden veröffentliche ich Gedanken, den Niederschlag philosophischer Untersuchungen, die mich in den letzten 16 Jahren beschäftigt haben. Sie
betreffen viele Gegenstände: Den Begriff der Bedeutung, des Verstehens, des
Satzes, der Logik, die Grundlagen der Mathematik, die Bewußtseinszustände
und Anderes. Ich habe diese Gedanken alle als Bemerkungen, kurze Absätze,
niedergeschrieben. Manchmal in längeren Ketten, über einen Gegenstand,
manchmal in raschem Wechsel von einem Gebiet zum andern überspringend. 8
Die Bemerkungen, von denen Wittgenstein hier spricht, sind im Text der PhU
durch eine fortlaufende Nummerierung gekennzeichnet. Es fällt an ihnen vor
allem die Vielfältigkeit ihrer Gestaltung auf: Behauptungen, Erwägungen,
Begründungen und Widerlegungen stehen neben Fragen, Bekräftigungen,
Ausrufen, Beispielen und bisweilen dialogischen Sequenzen. Diese Vielgestaltigkeit erschwert es, in den PhU eine systematische Erörterung oder die
Entwicklung und Verteidigung einer Theorie zu erkennen. Denn weder weist
der Text eine explizite Ordnung oder Hierarchisierung seiner Teile auf, die
über die durchnummerierte Aneinanderreihung hinausginge, noch ist eine
solche unmittelbar aus der Gestaltung der Bemerkungen zu entnehmen. Das
systematische Verhältnis der Bemerkungen zueinander ist damit nicht unmittelbar einsehbar und ein geordnetes, vom Autor vertretenes Gefüge von
Thesen und Argumenten alles andere als augenfällig. Daher liegt es nahe, von
der philosophischen Analyse des Textes eine Ordnung und Explikation der
Bemerkungen zu erwarten, so dass die philosophischen Theorien, Thesen und
8
Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen; in: Ludwig Wittgenstein Werkausgabe
Band 1. Frankfurt/M. 1989, S. 231. Die abschnittsweise Einteilung des Vorwortes in »Gedanken« auf den folgenden Seiten orientiert sich an den Unterteilungen, die Wittgenstein durch
Gedankenstriche voneinander trennt. Für eine Erörterung von verschiedenen Entwürfen des
Vorwortes siehe: Pichler, A.: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen – Vom Buch zum
Album. Amsterdam 2004, S. 56–78 und S. 281–282. In der gesamten Arbeit wird in Zitaten aus
deutschsprachigen Werken die Rechtschreibung des Originals beibehalten.
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I Zur gedichteten Philosophie der Philosophischen Untersuchungen
Argumente des Textes nachvollziehbar werden. Diesem Vorhaben entspringen so auch die ersten Kommentare zu den PhU. 9 Anschaulich drückt sich
das Bemühen um die explizite Darstellung der im Text enthaltenen argumentativen Strukturen etwa in den Baumdiagrammen Gordon Bakers und Peter
Hackers aus. 10 Diese Diagramme ermöglichen gleichsam als Landkarten eine
Navigation durch die Argumente des Textes, indem sie logische Beziehungen zwischen den Bemerkungen in ihren wesentlichen Zügen offenlegen. Bei
ihrer Herstellung wird durch Abstraktion von der sprachlichen Oberfläche
des Textes ein verdeckter oder ungeordneter argumentativer Zusammenhang
zutage gefördert und in ein logisch kohärentes Narrativ integriert. Auf diese
Weise soll dargestellt werden, was der Text eigentlich sagt. Diese Raffinierung von Wittgensteins Bemerkungen erscheint notwendig, da Wittgensteins
eigener Stil und seine Komposition der Bemerkungen eine klare Sicht auf die
argumentativen Zusammenhänge seiner Philosophie zuweilen behindern, wie
etwa Hans Joachim Glock feststellt:
Wittgenstein’s work contains or at least intimates plenty of powerful and
profound arguments. It is just that, because of his idiosyncratic style, these
arguments need to be spelled out by painstaking exegesis and reconstruction. 11
Die hier angedeutete Spannung zwischen der sprachlichen Gestaltung der
PhU und der systematischen Darstellung philosophischer Gedanken expliziert Glock kurz darauf:
It is true that Wittgenstein’s style of writing is inimical to any systematic
philosophizing. But the problem is just a stylistic one. 12
Aus diesen Zitaten spricht die Überzeugung, dass die sprachliche Gestaltung
der PhU nur (»just«) ein stilistisches Problem ist, das den philosophischen
Kern der Bemerkungen zwar verschleiern kann, aber eigentlich nicht betrifft.
Diese Sichtweise ist jedoch problematisch. Denn der Text bringt die philosophische Arbeit und sich selbst in einen Zusammenhang mit dem Streben nach
Klarheit und dem Herstellen übersichtlicher Darstellungen. Dies wird besonders offensichtlich in den Bemerkungen 89–133, die häufig als MethodenKapitel der PhU gelesen werden. Mit diesen Bemerkungen thematisieren die
PhU explizit sprachliche Darstellungsformen nicht nur als eine Wurzel der
philosophischen Verwirrung, sondern auch als Mittel der philosophischen
Klärung. Die lange Entwicklungsgeschichte dieser Bemerkungen, die etwa
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10
11
12
Vgl. v. Savigny, E.: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen – Ein Kommentar für Leser
Band 1. Frankfurt/M. 1988, S. 1–17; Baker, G. P./Hacker, P. M. S.: An Analytical Commentary
on Wittgenstein’s Philosophical Investigations. Oxford 1988, S. xiii–xix.
Baker/Hacker, Analytical Commentary, S. 76–79.
Glock, H. J.: Was Wittgenstein an analytic philosopher?, Metaphilosophy, 35 (2004), 4, S. 437.
Ibid., S. 440.
I Zur gedichteten Philosophie der Philosophischen Untersuchungen
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im sog. »Big Typescript« (Ts 213) von 1933 in dem Kapitel »Philosophie«
zusammengetragen sind, bezeugt ihre große Bedeutung für Wittgenstein. Ein
Leser, der Wittgensteins Buch dementsprechend als Beitrag zu einer philosophischen Klärung verstehen will, muss sich daher auch zu ihrer besonderen
sprachlichen Gestaltung verhalten. Wenn man dabei die Position vertreten
möchte, dass die sprachliche Form der PhU philosophisch unerheblich ist,
bleibt als Ausweg nur die Auffassung, sie als misslungenen Versuch einer
klaren Darstellung anzusehen. Glock scheint diese Sicht tatsächlich zu favorisieren, wenn er schreibt:
There is a striking irony about Wittgenstein’s work that has largely gone
unnoticed. Wittgenstein devoted his philosophy to the pursuit of clarity, but
he pursued this end in a fashion that is at times extremely obscure. 13
Demnach hätte Wittgenstein zwar eine klare Darstellung angestrebt, aber
einen obskuren Ausdruck hergestellt. 14 Die PhU wären damit hinsichtlich
ihrer Darstellungsform grandios gescheitert. Doch mit dem bloßen Hinweis
auf ein ironisches Verhältnis von Ambition und Produkt kann die sprachliche
Gestalt von Wittgensteins Schriften nicht ausreichend behandelt werden. Gerade weil diese so außergewöhnlich ist und als Mittel des Klärens thematisiert
wird, hat jede Auslegung des Werkes hier eine Begründungspflicht. Positionen, die die sprachliche Darstellungsform als philosophisch unerheblich oder
hinderlich ansehen, können dabei natürlich keine Gründe in der Philosophie
Wittgensteins angeben. Denn jede inhaltliche oder methodische Begründung
der Darstellungsform würde ja einen inneren Bezug von Ausdrucksweise
und philosophischem Gehalt konstatieren und somit der vertretenen Auffassung widersprechen. Entsprechende Begründungen müssen also außerhalb
der Philosophie liegen. Glocks Lösung dieses Problems besteht darin, die
sprachliche Form einem Ästhetizismus Wittgensteins zuzuschreiben:
13
14
Ibid., S. 432; vgl. Glock, H. J.: »Clarity« is not Enough!; in: Haller, R./Puhl, K.: Wittgenstein
und die Zukunft der Philosophie. Wien 2002, S. 81–83.
Der Begriff »obskur« zur Beschreibung von Wittgensteins Sprache scheint charakteristisch für
Positionen, die Wittgensteins sprachlichen Darstellungsmitteln keine philosophische Bedeutung
zukommen lassen; vgl. Thomas Binkleys Beschreibung der intellektuellen Atmosphäre dieser
Ansicht: Wittgensteins »remarks are said to be elusive or elliptical so that it is difficult to discern
what he is saying on account how he says it. We are encouraged to detach what he means from
what he says – to restate more clearly what Wittgenstein states only obscurely.«, Binkley, T.:
Wittgenstein’s Language. The Hague 1973, S. 7. Zur Ausweisung von Wittgensteins Stil als
»obskur« siehe auch: Anscombe, G. E. M.: An introduction to Wittgenstein’s Tractatus. London
1959, S. 18; Baker /Hacker, Analytical commentary, S. xiii; Carnap, R.: Memoirs of Wittgenstein
by Rudolf Carnap; in: Fann, K. T. (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein: the man and his philosophy,
New Jersey 1978, S. 33.
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I Zur gedichteten Philosophie der Philosophischen Untersuchungen
Because of his aesthetic aspirations, Wittgenstein often condensed his remarks
to the point of impenetrability and failed to spell out the arguments in support
of his claim. 15
Wittgensteins Ästhetizismus wird hier als Grund (»because«) für das Verfehlen (»failed«) eines klaren Ausdrucks angesehen. Dieser Grund betrifft
nicht den philosophischen Kern – die Darlegung von Argumenten zur Stützung von Thesen (»arguments in support of his claim«) – sondern stellt eine
Disposition des Autors dar. Eine verwandte Argumentation vertreten Jaakko
und Anna-Maija Hintikka. Ihre Variante führt die Angabe einer persönlichen Disposition jedoch ins Extrem, indem die Autoren über die Attribution
einer persönlichen »Schrulle« hinausgehen und eine Lese-Rechtschreib-Störung diagnostizieren. 16 Wittgensteins sprachlicher Ausdruck wird dabei als
notwendige Folge einer pathologischen Einschränkung ausgewiesen. 17 Die
Diagnose impliziert also, dass Wittgenstein die sprachliche Form seiner Texte
nicht frei wählen konnte. Der Begründungspflicht wird hier also mit einer ursächlichen Erklärung nachgekommen. Dementsprechend sind Hintikka zufolge vernünftige Auslegungen von Wittgensteins Texten auf Grundlage der
sprachlichen Gestaltung nicht möglich. 18 Wenn Wittgensteins sprachlicher
Ausdruck nach dieser Interpretation etwas »zeigt«, dann sein Unvermögen,
eine lineare Argumentation herzustellen.
Sowohl in Form von Glocks Attribution eines Ästhetizismus als auch in
Form von Hintikkas psychopathologisierender Erklärung ist ein persönlicher Mangel des Autors für die Form des Textes verantwortlich, welcher
dadurch als misslungener Versuch einer klaren Darstellung gedeutet wird. 19
Die sprachliche Gestaltung der PhU erscheint damit als philosophisch irrelevant und wird als ein Hindernis für das Verständnis des Textes ausgewiesen.
Die philosophische Analyse hat demnach darzustellen, was Wittgenstein
selbst klar dargestellt hätte, wenn sein persönliches Schreibvermögen dazu
ausgereicht hätte.
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Glock, Analytic philosopher, S. 434.
Hintikka, J. /Hintikka, A.-M.: Wittgenstein the Bewitched Writer; in: Haller, R./Puhl, K.:
Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie. Wien 2002, S. 131–150. Die entsprechenden
diagnostischen Kriterien sind heute unter einer anderen Bezeichnung zu finden; die früher in
Deutschland existierende und der von Hintikka und Hintikka genannten »Dyslexia« entsprechende Diagnose der »Legasthenie« ist in der gegenwärtigen Diagnostik nach ICD-10 durch
»Lese-Rechtschreib-Störung« ersetzt worden.
Ibid., S. 136–139; Hintikka/Hintikka sprechen von »impediment« (Ibid., S. 136) und »handicap« (Ibid., S. 137).
Ibid., S. 138–140.
Auch Stephen Hilmy erkennt in Wittgensteins Darstellungsform die Folge eines persönlichen Mangels, der das Schreiben eines »richtigen« Buches verhinderte; Hilmy, S.: The later
Wittgenstein: the emergence of a new philosophical method. Oxford 1987, S. 15–17.
I Zur gedichteten Philosophie der Philosophischen Untersuchungen
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Zur Unterstützung dieser Auffassung könnte der zweite Gedanke des
Vorwortes zu den PhU angeführt werden. Darin kritisiert Wittgenstein anscheinend die sprachliche Form seines eigenen Textes:
Meine Absicht war es von Anfang, alles dies einmal in einem Buche zusammenzufassen, von dessen Form ich mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene
Vorstellungen machte. Wesentlich aber schien es mir, daß darin die Gedanken
von einem Gegenstand zum andern in einer natürlichen und lückenlosen Folge
fortschreiten sollten.
Nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen
Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, daß mir dies nie gelingen würde.
Daß das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; daß meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, in einer Richtung weiterzuzwingen. 20
Wittgenstein gesteht hier ein, dass er hinsichtlich der sprachlichen Ausgestaltung trotz großer Bemühungen nicht das erreicht hat und niemals erreichen
wird, was er angestrebt hatte. Wittgenstein hat offenbar mehrere Versuche
unternommen, ein Buch »aus einem Guss« herzustellen, und sieht dieses
Vorhaben als endgültig gescheitert an. Das Ideal einer »lückenlosen Folge«
wird dabei der vorliegenden Form der philosophischen Bemerkungen gegenübergestellt. Gemessen an diesem Ideal, scheinen die Bemerkungen eine
inferiore Form zu sein (»das Beste«, »nur«). Diese Erklärung könnte man
also als Eingeständnis der Mangelhaftigkeit der Form der PhU lesen, was als
Beleg ihrer philosophischen Irrelevanz angeführt werden könnte.
Tatsächlich kann kaum bezweifelt werden, dass Wittgenstein seinen persönlichen Schreibfertigkeiten sehr kritisch gegenüberstand. Wirft man einen
Blick in die Manuskripte aus seinem Nachlass, so gehört das selbstkritische
Ringen mit seinen Schreibergebnissen sogar zu den wesentlichen Eindrücken,
die die Dokumente vermitteln. Besonders bezeichnend, aber nur beispielhaft
ausgewählt, mag dieser Auszug sein:
Ich drücke, was ich ausdrücken will doch immer nur »mit halbem Gelingen«
aus. Ja auch das, [sic] nicht sondern vielleicht nur mit einem Zehntel. Das will
doch etwas besagen. Mein Schreiben ist oft nur ein »Stammeln«. 21
Dieser Eintrag ist der unmittelbare Ausdruck Wittgensteins, dass er nicht
so zu schreiben vermochte, wie er es wollte. Er führt an dieser Stelle sogar
selbst den Vergleich mit einer Pathologie des Sprechens an. Ist Wittgenstein in
seinem Streben nach einer klaren Darstellungsform also tatsächlich grandios
gescheitert?
20
21
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 231.
Wittgenstein’s Nachlass, Ms 154, 1v[1].
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