Peter Hagedorn Technische Mechanik Band 3 Dynamik Websites zum Buch http://www.harri-deutsch.de/1835.html http://www.dyn.tu-darmstadt.de/pub/tm/band3/ Der Autor Professor Peter Hagedorn vertritt an der Technischen Universität Darmstadt das Fach Technische Mechanik in Lehre und Forschung. Er hält seit mehreren Jahrzehnten Vorlesungen über Technische Mechanik und über Technische Schwingungslehre für Hörer unterschiedlicher Fachrichtungen. Verlag Harri Deutsch Gräfstr. 47 60486 Frankfurt www.harri-deutsch.de [email protected] Fax: 069 77 01 58 69 Bibliografische Information der Deutschen Nationalibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 978-3-8171-1835-9 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Vervielfältigung des Buches – oder von Teilen daraus –, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autor und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler keine Haftung. 4., überarbeitete Auflage 2008 c Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch GmbH, Frankfurt am Main, 2008 Druck: fgb – freiburger graphische betriebe <www.fgb.de> Printed in Germany Vorwort Dieser Band entspricht dem dritten Teil einer dreisemestrigen Vorlesung, die ich seit mehr als 30 Jahren für Hörer verschiedener Fachrichtungen an der Technischen Universität Darmstadt halte; zwei weitere Bände behandeln die Statik und die Festigkeitslehre. Niveau und Aufbau der drei Bücher orientieren sich an den Lehrveranstaltungen, wie sie besonders für Ingenieur–Studenten an praktisch allen Hochschulen angeboten werden. Die unterschiedliche Vorbildung, die unsere Studenten von der Schule mitbringen, hat zur Folge, daß in den Vorlesungen für die Erstsemester Grundbegriffe und mathematische Hilfsmittel sehr elementar eingeführt werden müssen. Ich war in dem vorliegenden Buch bemüht, das Gebäude der Mechanik auf dem soliden Fundament dieser Grundlagen systematisch aufzubauen. Die freundliche Aufnahme des Buches, die sehr schnell Neuauflagen notwendig machte, zeigt mir, daß dies zumindest teilweise gelungen ist. Dank des Einsatzes der Herren Dr.–Ing. Daniel Hochlenert und Dipl.–Ing. Florian Fischer war es möglich, die gesamte Reihe von Grund auf zu überarbeiten, so daß die drei Bände jetzt in einem neuen Layout vorliegen. Dabei wurden in allen drei Bänden zahlreiche Verbesserungen, neue Beispiele und – bei der numerischen Behandlung von Aufgaben mittels Matlab, insbesondere in den Bänden 1 und 3 – eine Reihe von Ergänzungen vorgenommen. Viele dieser Änderungen gehen direkt auf Anregungen der Herren Hochlenert und Fischer zurück, die auch die Erstellung der reproduktionsfähigen Vorlagen überwacht haben. Ich danke beiden für den unermüdlichen Einsatz. Mit der vorliegenden Auflage des Bandes 3 wurde Kapitel 5 (Dynamik der Systeme) vollkommen überarbeitet. Dies betrifft sowohl die Darstellung als auch teilweise die Notation. Weiterhin wurden in Kapitel 3 neue Beispiele zu Stößen starrer Körper mit und ohne Reibung eingefügt, die klar die Schwierigkeiten der Behandlung von Stößen in der Starrkörpermechanik belegen. Diese Änderungen wurden im wesentlichen durch Dr. Hochlenert angeregt, der sie dann auch eingearbeitet hat. Manche Kollegen und viele Studenten haben mich in der Vergangenheit auf mögliche Verbesserungen hingewiesen, die hier eingearbeitet wurden. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Dem Verlag Harri Deutsch danke ich für die bewährt gute Zusammenarbeit. Darmstadt, im Juli 2008 Peter Hagedorn [email protected] Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1 2 Kinematik 2.1 Kinematik des Punktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die geradlinige Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Erste Bemerkungen zu Differentialgleichungen . . . . . 2.1.3 Die allgemeine („krummlinige“) Bewegung . . . . . . . 2.2 Kinematik des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung des ren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Ebene Bewegung starrer Körper, der Momentanpol . . 2.2.3 Relativbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Ergänzungen zur Kinematik des starren Körpers∗ . . . 2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . star. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 3 4 12 25 25 30 37 43 52 3 Dynamik des Massenpunktes und des Punkthaufens 3.1 Das Newtonsche Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Freie und geführte Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Arbeitssatz für den Massenpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der Punkthaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Der Schwerpunktsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Arbeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Impulssatz, Anwendung auf den Stoß . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Drallsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Umrechnungsformeln für Impuls, Drehimpuls und kinetische Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6 Das Zweikörperproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 100 107 4 Dynamik des starren Körpers 4.1 Ebene Bewegung starrer Körper . . . . . . . . . . 4.1.1 Schwerpunktsatz und Drallsatz . . . . . . 4.1.2 Arbeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Stoß und Drehstoß . . . . . . . . . . . . . 4.2 Allgemeine räumliche Bewegung starrer Körper∗ 4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 111 111 128 132 142 149 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 57 64 71 78 78 81 83 91 153 5 Dynamik der Systeme∗ 5.1 Eine Umformung der Bewegungsgleichungen (D’Alembertsche Trägheitskräfte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . 160 II Inhaltsverzeichnis 5.3 5.4 Lagrangesche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6 Einführung in die Schwingungslehre 6.1 Systeme mit einem Freiheitsgrad . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Freie ungedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Freie gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Systeme mit zwei Freiheitsgraden . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Freie ungedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen . . . . . . . . 6.3 Der Balken: Ein System mit unendlich vielen Freiheitsgraden 6.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 187 187 188 193 199 199 205 209 212 7 Elemente der Hydromechanik 7.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Das Grundgesetz der Dynamik für ideale Flüssigkeiten 7.3 Die Bernoullische Gleichung . . . . . . . . . . . . . 7.4 Der Sonderfall der Hydrostatik . . . . . . . . . . . . . 7.5 Der Impulssatz für stationäre Bewegung . . . . . . . . 7.6 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 217 217 220 223 227 228 231 8 Aufgaben mit Lösungen 8.1 Kinematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Roboterarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Geführter Bolzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Geführte Dreieckscheibe . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Ebenes Getriebe aus zwei Stangen . . . . . . . . . 8.1.5 Planetengetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.6 Durch zwei Muffen geführte Stange . . . . . . . . . 8.1.7 Verriegelungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . 8.1.8 Kurbeltrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.9 Sonnenschirm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.10 Ebenes Getriebe mit einer Stange und zwei Rädern 8.2 Dynamik von Massenpunkten und starren Körpern . . . . 8.2.1 Katapultwagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Radrennfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Bowlingbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Zylindrische Walze auf glatter und rauher Bahn . . 8.2.5 Schweres Seil auf Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.6 Walze auf Schlitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.7 Walze auf Förderband . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.8 System aus zwei Rollen und Seil . . . . . . . . . . 8.2.9 Kreisscheibe auf schiefer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 233 233 235 237 239 242 244 246 250 252 254 256 256 257 260 262 264 267 269 272 274 . . . . . . . III Inhaltsverzeichnis 8.3 8.4 8.2.10 Kippender Stab auf beschleunigtem Wagen . 8.2.11 Stoß von Hantel auf starre Unterlage . . . . . 8.2.12 Walze auf Knüppeldamm . . . . . . . . . . . 8.2.13 Stoß von elastischer Hantel auf Stab . . . . . 8.2.14 Hochlauf eines Elektromotors . . . . . . . . . 8.2.15 Stoß einer rollenden Kugel gegen eine Stufe . 8.2.16 Stoß einer Kreisscheibe auf ein Drehkreuz . . 8.2.17 Stoß einer Laufkatze auf einen Puffer . . . . . 8.2.18 Kippender Quader . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.19 Stoß zwischen Stab und Massenpunkt . . . . 8.2.20 Blockieren eines Rotors . . . . . . . . . . . . 8.2.21 Stoß auf rollenden Ring . . . . . . . . . . . . 8.2.22 Stab auf Transportwalze . . . . . . . . . . . . Schwingungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Wagen mit Federkombination . . . . . . . . . 8.3.2 System mit zwei Wagen . . . . . . . . . . . . 8.3.3 System zweier Körper . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Walze auf einer schiefen Ebene . . . . . . . . 8.3.5 Drehelastisch gelagerter Rotor . . . . . . . . 8.3.6 Schwingende Walze . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.7 Kiste auf LKW . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.8 Schwingende Quadratscheibe . . . . . . . . . 8.3.9 Schwingender, lotrechter Balken . . . . . . . 8.3.10 Schwingende Hantel . . . . . . . . . . . . . . 8.3.11 Klingel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.12 Balken mit Drehfeder . . . . . . . . . . . . . 8.3.13 Halbzylinder auf Rütteltisch . . . . . . . . . . Hydromechanik idealer Flüssigkeiten . . . . . . . . . 8.4.1 Reduzierstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Düsenmundstück . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Flüssigkeitsmanometer . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 Zylindrische Klappe . . . . . . . . . . . . . . 8.4.5 Radialdiffusor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.6 Springbrunnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.7 Druckbehälter . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.8 Offener Behälter mit zwei Ausflüssen . . . . . 8.4.9 Fernwärmeleitung . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.10 Behälter mit Verteilerrohr . . . . . . . . . . . 8.4.11 Ausflußrohr mit veränderlichem Querschnitt . 8.4.12 Wasserstrahlpumpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 278 281 283 285 286 288 291 293 295 297 299 301 304 304 306 307 309 310 313 314 315 318 320 322 323 325 327 327 328 330 332 334 336 338 340 341 344 346 349 A MATLAB-Aufgaben 351 A.1 ARCHIMEDISCHE Spirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 A.2 Gelenkviereck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 A.3 Schiefer Wurf mit Luftwiderstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 IV Inhaltsverzeichnis A.4 A.5 A.6 A.7 A.8 Massenpunkt am Ende eines sich verkürzenden Fadens Punkt auf rauher, schiefer Ebene (räumlich) . . . . . . Schwingung auf rauher, schiefer Ebene . . . . . . . . . Rutschende Leiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschleunigung eines PKW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 362 366 369 373 B Massenträgheitsmomente starrer Körper 385 C Beweis der Identität (5.140) 391 Index 393 Die mit ∗ gekennzeichneten Abschnitte können bei einer ersten Lektüre weggelassen werden. 1 Einleitung In diesem Buch befassen wir uns mit der Bewegung von Massenpunkten und starren Körpern unter dem Einfluß von Kräften, d.h. wir behandeln die Kinetik einfacher mechanischer Systeme. Im internationalen Sprachgebrauch hat sich hierfür allerdings statt des korrekten Ausdrucks „Kinetik“ die Bezeichnung Dynamik (englisch: dynamics) durchgesetzt. Eigentlich bedeutet Dynamik ja „Lehre von den Kräften“, während hier die Bewegung unter der Wirkung von Kräften im Mittelpunkt unserer Betrachtungen steht. Wir schließen uns dem modernen Sprachgebrauch an und verwenden die Bezeichnung „Dynamik“ anstelle von „Kinetik“. Als Lehre von den Bewegungen und den Kräften verwendet die Dynamik Begriffe der Statik, d.h. der Geometrie der Kräfte, und der Kinematik, also der Geometrie der Bewegung. Mit der Statik haben wir uns schon in TM 1 (= Technische Mechanik, Bd. 1) beschäftigt. Die Kinematik wurde bisher noch nicht behandelt. Wir müssen uns daher zunächst der Beschreibung der Bewegungen, d.h. also der Kinematik, widmen, bevor wir dann in der Dynamik den Zusammenhang zwischen den Kräften und den Bewegungen genauer untersuchen. Zu den Grundbegriffen aus der Statik (TM 1) und der Festigkeitslehre (TM 2) tritt dabei als zusätzlicher, neuer Begriff die Zeit auf. Damit sind Raum, Zeit, Masse und Kraft die wichtigsten Grundbegriffe der Dynamik. Der Kraftbegriff kann allerdings durch die ersten drei Größen erklärt werden. Wir beschränken uns in der Dynamik hier im wesentlichen auf Massenpunkte und auf starre Körper. Diese Begriffe sind aus TM 1 und TM 2 bekannt. In der klassischen Newtonschen Mechanik1 , die für eine hinreichend genaue Behandlung der meisten mechanischen Probleme der Technik ausreicht, geht man von der Existenz einer absoluten Zeit sowie eines absolut ruhenden Bezugssystems, eines sogenannten Inertialsystems, aus. Lediglich bei wenigen, speziellen Problemen der Technik muß man über den Rahmen dieser klassischen Mechanik hinausgehen, um auf zufriedenstellende Lösungen zu kommen. Wir fassen die Grundlagen der klassischen Mechanik in den Newtonschen Gesetzen zusammen, die in etwas anderer Form auch schon in TM 1 angegeben wurden. Sie sind zwar nicht in dieser Formulierung bei Newton zu finden, es ist jedoch heute allgemein üblich, sie mit seinem Namen zu verbinden. Das erste Gesetz, auch Trägheitsgesetz genannt, besagt: Es existiert ein Bezugssystem (Inertialsystem), bezüglich dessen jeder Massenpunkt in Ruhe oder in gleichförmiger Bewegung bleibt, wenn er 1 Nach dem Physiker und Astronom Sir Isaac Newton, *1643 in Woolsthorpe, †1727 in Kensington (heute London). 2 1 Einleitung nicht durch Kräfte gezwungen wird, diesen Zustand zu ändern. Das zweite Gesetz (= Bewegungsgesetz, Grundgesetz der Dynamik) lautet: In diesem Inertialsystem gilt für einen Massenpunkt der Zusammenhang #„ F = m #„ a, (1.1) d.h. der Kraftvektor ist proportional zum Beschleunigungsvektor; die Proportionalitätskonstante ist die Masse (träge Masse). Das dritte Gesetz (= Gegenwirkungsgesetz, Gesetz von actio & reactio) besagt: Die wechselseitigen Beeinflussungen zweier Körper sind immer gleich und entgegengerichtet: Übt ein Körper 1 eine Kraft auf einen Körper 2 aus, so ist diese gleich groß und entgegengerichtet zu der Kraft, die der Körper 2 auf den Körper 1 ausübt. Dieses dritte Newtonsche Gesetz wird auch oft prägnant durch die Gleichung actio = reactio (1.2) formuliert. Wir nehmen im folgenden an, daß die drei Gesetze für Massenpunkte gelten und werden daraus dann Aussagen für andere Körper herleiten. Als von den Newtonschen Gesetzen unabhängiges Axiom führen wir in Kapitel 3 und 4 noch den Drehimpulssatz oder Drallsatz ein, den man nur für Spezialfälle aus diesen „Gesetzen“ ableiten kann. 2 Kinematik 2.1 Kinematik des Punktes 2.1.1 Die geradlinige Bewegung In der Kinematik beschränken wir uns darauf, die Lage von Körpern in Abhängigkeit von der Zeit, d.h. die Bewegung zu beschreiben. Zunächst behandeln wir die Kinematik eines Punktes und führen die Grundbegriffe Geschwindigkeit und Beschleunigung anhand der geradlinigen Bewegung ein. Gemäß Abb. 2.1 betrachten wir einen sich auf einer gegebenen Geraden bewegenden Punkt P . Seine Lage wird auf der Geraden durch die einzige Koordinate x beschrieben. Als Bewegung bezeichnen wir die Funktion x(t), also die Abhängigkeit der Variablen x von der Zeit t. Graphisch kann sie z.B. wie in Abb. 2.2 dargestellt werden. x α Δx O P x(t) 2.1: Zur geradlinigen Bewegung eines Punktes t t + Δt t 2.2: Zum Begriff der mittleren Geschwindigkeit Die mittlere Geschwindigkeit in dem Zeitintervall von t bis t + Δt ist durch den Quotienten vm = Δx x( t + Δt) − x( t ) = Δt Δt (2.1) definiert (Δ = „Delta“). Gemäß Abb. 2.2 ist die mittlere Geschwindigkeit in dem gegebenen Zeitintervall proportional zur Steigung der Sekante an die gegebene Kurve x(t): vm ∼ tan α (2.2) (α = „alpha“). Als momentane Geschwindigkeit oder auch einfach Geschwindigkeit 4 2 Kinematik zum Zeitpunkt t = t bezeichnen wir den Grenzwert v( t ) := lim Δt→0 Δx = ẋ( t ) Δt (2.3) der mittleren Geschwindigkeit für Δt → 0. Wie man sieht, ist dies die Ableitung von x(t) nach t. Die Geschwindigkeit v(t) ist demnach proportional zur Steigung der Tangente an der Stelle t = t in Abb. 2.2. Die mittlere Beschleunigung in dem Zeitintervall (t, t + Δt) ist als am = Δv Δt (2.4) definiert und die (momentane) Beschleunigung zum Zeitpunkt t als a( t ) := lim Δt→0 Δv = ẍ( t ) . Δt (2.5) Kennt man die Bewegung x(t), so kann man Geschwindigkeit ẋ(t) und Beschleunigung ẍ(t) durch Differentiation bestimmen. Die Formelzeichen v und a für Geschwindigkeit und Beschleunigung sind international gebräuchlich, sie entsprechen den englischen Bezeichnungen „velocity“ bzw. „acceleration“, die ihrerseits aus dem Lateinischen kommen. Definitionsgemäß werden Geschwindigkeit und Beschleunigung im SI–System in m/s bzw. m/s2 gemessen. 2.1.2 Erste Bemerkungen zu Differentialgleichungen Im Newtonschen Grundgesetz (1.1) sind die Kräfte in der Regel nicht konstant; auch nur in wenigen Fällen sind sie vorgegebene Funktionen der Zeit. Meist hängen die Kräfte vom Ort und auch von der Geschwindigkeit ab. Die Luftwiderstandskraft ist ein typisches Beispiel einer solchen geschwindigkeitsabhängigen Kraft. Nehmen wir an, daß die Kraft als Funktion des Ortes, der Geschwindigkeit und der Zeit gegeben ist, so nimmt das Newtonsche Grundgesetz (1.1) für die geradlinige Bewegung die Form m ẍ(t) = F (x(t), ẋ(t), t) (2.6) an, wobei die Funktion F (x, ẋ, t ) bekannt und gleich der Summe aller auf den Massenpunkt in x–Richtung wirkenden Kräfte ist. Das Grundgesetz der Dynamik führt also auf eine Gleichung der Art ẍ(t) = a(x(t), ẋ(t), t) , (2.7) wobei die rechte Seite eine Funktion von x, ẋ und t ist. Wir nehmen jetzt an, daß die Funktion a(x, ẋ, t ) bekannt und die Bewegung x(t) zu bestimmen ist. Gleichungen der Art (2.7), die einen Zusammenhang zwischen den Ableitungen einer 5 2.1 Kinematik des Punktes (unbekannten) Zeitfunktion, der Funktion selbst und der Zeit herstellen, bezeichnet man als Differentialgleichungen. Eine Lösung der Differentialgleichung (2.7) ist eine Funktion x(t), die – in (2.7) eingesetzt – diese für alle Zeiten erfüllt. In der Mechanik, aber auch in vielen anderen Bereichen der Physik und der Technik, spielen Differentialgleichungen eine zentrale Rolle, und entsprechend viel Aufmerksamkeit wird ihnen in den Mathematik–Vorlesungen gewidmet. Da dies aber oft erst zu einem späteren Zeitpunkt geschieht, werden wir (2.7) an dieser Stelle etwas näher beleuchten. Zunächst stellen wir fest, daß die Differentialgleichung (2.7) von zweiter Ordnung ist (Die Ordnung einer Differentialgleichung ist die Ordnung der höchsten in ihr auftretenden Ableitung). Der Grund dafür ist, daß im Grundgesetz der Dynamik zwar Beschleunigungen, aber keine höheren Zeitableitungen von x(t) auftreten. Beschleunigung als Funktion der Zeit Im folgenden besprechen wir die wichtigsten Spezialfälle von (2.7). Zunächst betrachten wir den Fall, in dem die Beschleunigung lediglich Funktion der Zeit ist. Dann reduziert sich (2.7) zu ẍ(t) = a(t) , (2.8) wobei die rechte Seite eine gegebene Funktion der Zeit t ist. Die Integration dieser Gleichung bezüglich t liefert (2.9) v(t) = ẋ(t) = a(t) dt + C1 . Die Geschwindigkeit kann also durch Integration aus der Beschleunigung ohne weiteres bestimmt werden, wenn a(t) vorgegeben ist. Die Integrationskonstante C1 ist dabei noch festzulegen. Anstelle des unbestimmten Integrals kann man auch das bestimmte Integral v(t) − v(0) = t a(t) dt (2.10) 0 schreiben, bzw. v(t) = t a(t) dt + v(0) , 0 (2.11) wobei v(0) = ẋ(0) = v0 (2.12) 6 2 Kinematik jetzt die Bedeutung der Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t = 0, d.h. der Anfangsgeschwindigkeit hat. Ganz analog liefert eine zweite Integration nunmehr t x(t) = v(t) dt + x0 (2.13) 0 mit x0 als Anfangslage. Als erstes Beispiel zu (2.8) betrachten wir den Sonderfall der Bewegung mit konstanter Beschleunigung a(t) ≡ a0 = const . (2.14) v(t) = a0 t + v0 (2.15) Dies führt mit (2.11) auf und daraus folgt mit (2.13) t2 + v0 t + x0 , (2.16) 2 d.h. die Koordinate x(t) ist eine quadratische Funktion der Zeit, während die Geschwindigkeit v(t) = ẋ(t) linear in t ist (s. Abb. 2.3). x(t) = a0 ẍ a = ẍ â a0 π/ω 2π/ω t t ẋ v = ẋ â/ω v0 t (für v0 = −â/ω) t x x â/ω 2 t x0 2.3: Zur Bewegung (2.16) t (für x0 = 0) 2.4: Zur Bewegung (2.20) Als zweites Beispiel behandeln wir die Bewegung mit harmonischer Beschleunigung a(t) = â sin ωt , (2.17) 7 2.1 Kinematik des Punktes wobei ω (ω = „omega“) und â gegebene Konstanten sind. Hier ergibt die Integration der Beschleunigung t t 1 sin ωt dt + v0 = − â cos ωt + v0 , (2.18) v(t) = â ω 0 0 so daß â (cos ωt − 1) + v0 ω ist. Eine weitere Integration liefert schließlich â t (cos ωt − 1) dt + v0 t + x0 x(t) = − ω 0 â â t + x0 = − 2 sin ωt + v0 + ω ω v(t) = − (2.19) (2.20) Der Verlauf der Beschleunigung a(t), der Geschwindigkeit v(t) und der Bewegung x(t) ist für x0 = 0, v0 = −â/ω in Abb. 2.4 dargestellt. Man bezeichnet eine solche durch trigonometrische Zeitfunktionen beschriebene Bewegung als harmonische Schwingung. Offensichtlich gehören zu einer harmonischen Schwingung x(t) eine Geschwindigkeit und eine Beschleunigung, die ebenfalls harmonisch sind. Beschleunigung als Funktion der Geschwindigkeit Als zweiten Sonderfall von (2.7) betrachten wir ẍ(t) = a ẋ(t) ; (2.21) hier ist die Kraft bzw. die Beschleunigung als Funktion der Geschwindigkeit vorgegeben, wie es z.B. beim Luftwiderstand der Fall ist. Mit v = ẋ (2.22) schreibt sich (2.21) als dv = a(v) dt und dies kann auch als dv = dt a(v) (2.23) (2.24) geschrieben werden („Trennung der Veränderlichen“). Auf der linken Seite steht in (2.24) jetzt ein Ausdruck, der lediglich von v abhängt, während die rechte Seite nur t enthält. Beide Seiten können daher gemäß t v dv = dt (2.25) v0 a(v) 0 8 2 Kinematik integriert werden. Bezeichnet man die Stammfunktion (d.h. das Integral) von 1/a(v) mit G(v), so folgt (2.26) G(v) − G(v0 ) = t aus (2.25). Damit ist t als Funktion von v bekannt. Gelingt es, (2.26) nach v aufzulösen, so ergibt sich daraus (2.27) v(t) = f (v0 , t) . Eine weitere Integration liefert dann x(t) = x0 + t f (v0 , t) dt . 0 (2.28) Im Gegensatz zu dem ersten Sonderfall (2.8) der Differentialgleichung (2.7) war es hier nicht möglich, beide Seiten von (2.21) ohne weiteres zu integrieren, da in (2.21) die rechte Seite nicht als Funktion von t vorliegt. Es war daher notwendig, zunächst die Trennung der Veränderlichen durchzuführen. Als Beispiel zu (2.21) behandeln wir die Differentialgleichung ẍ(t) = g − k ẋ2 (t) , (2.29) wobei g und k konstant sind. Diese Differentialgleichung beschreibt einen Körper im freien Fall unter Berücksichtigung des Luftwiderstandes, der in guter Näherung quadratisch in der Geschwindigkeit ist. Trennung der Veränderlichen in (2.29) liefert zunächst mit ẋ = v dv = dt , g − k v2 und die Integration mit v0 = 0 ergibt v t dv dt , 2 = 0 g −kv 0 woraus 1 k √ =t artanh v g gk folgt. Auflösung nach v liefert g v(t) = tanh t g k , k (2.30) (2.31) (2.32) (2.33) und der Verlauf dieser Funktion ist in Abb. 2.5 wiedergegeben. Man erkennt an (2.29) (durch Nullsetzen von ẍ) und auch an (2.32), daß für große Zeiten die Ge- 9 2.1 Kinematik des Punktes v vend α t 2.5: Verlauf der Geschwindigkeit gemäß (2.33) schwindigkeit gegen den endlichen Grenzwert g vend := lim v(t) = t→∞ k (2.34) strebt. Die Beschleunigung zum Zeitpunkt t = 0 entspricht der Steigung im Koordinatenursprung in Abb. 2.5, und es gilt tan α ∼ g. Eine weitere Integration von (2.33) ergibt x(t). Beschleunigung als Funktion der Lage Als dritten Sonderfall von (2.7) untersuchen wir noch die Differentialgleichung ẍ(t) = a x(t) , (2.35) die sich ergibt, wenn die Beschleunigung als Funktion der Lage gegeben ist. Dabei schreiben wir (2.35) zunächst als dv = a(x) dt (2.36) dv = a(x) dt . (2.37) bzw. Multiplikation beider Seiten mit v ergibt v dv = a(x) v dt , (2.38) wobei nun auf der rechten Seite das Produkt vdt durch dx ersetzt werden kann. Damit kann (2.38) gemäß v x v dv = a(x) dx (2.39) v0 x0 integriert werden. Mit H(x) als der Stammfunktion von a(x) folgt hieraus v 2 − v02 = H(x) − H(x0 ) , 2 (2.40) 10 2 Kinematik und Auflösung nach v bzw. ẋ (sofern möglich) liefert (2.41) ẋ = h(x, x0 , v0 ) . Hier kann nun wieder die Trennung der Veränderlichen durchgeführt werden, und die Integration von x x0 dx = h(x, x0 , v0 ) t dt (2.42) t0 ergibt schließlich t(x), also die Zeit t als Funktion der Ortskoordinate x. Als Beispiel betrachten wir die Bewegung mit zum Weg proportionaler Beschleunigung, die auf die Differentialgleichung (2.43) ẍ(t) = − ω 2 x(t) mit der positiven Konstanten ω 2 führt. Das Minuszeichen in (2.43) zeigt an, daß die Beschleunigung dem Weg entgegengerichtet ist. Wir schreiben (2.43) als dv = − ω 2 x(t) , dt (2.44) integrieren gemäß v 2 v dv = − ω v0 x (2.45) x dx x0 und erhalten so v 2 − v02 = − ω2 2 x2 − x20 2 , (2.46) was wir als ẋ2 = v02 − ω 2 (x2 − x20 ) schreiben. Die Trennung der Veränderlichen führt schließlich auf x t dx = dt (v02 + ω 2 x20 ) − ω 2 x2 x0 0 (2.47) (2.48) mit der Lösung x(t) = x0 cos ωt + v0 sin ωt . ω (2.49) Auch hier hat sich als Lösung der Differentialgleichung eine harmonische Schwingung ergeben, wobei x(t) durch trigonometrische Funktionen beschrieben wird. 11 2.1 Kinematik des Punktes Die Berechnung des Integrals (2.48) ist allerdings etwas mühevoll und hier auch gar nicht notwendig. Es gibt nämlich einen viel einfacheren Weg zur Lösung von (2.43). Diese Differentialgleichung, die wir auch als ẍ(t) + ω 2 x(t) = 0 (2.50) schreiben, ist linear (in der unbekannten Funktion x(t) und deren Ableitungen) und besitzt konstante Koeffizienten. Für solche Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten kann man stets mit Hilfe des Exponentialansatzes x(t) = eλt (2.51) Lösungen finden, wobei λ (λ = „lambda“) eine noch zu bestimmende Konstante ist. Einsetzen von (2.51) in (2.50) führt auf (λ2 + ω 2 ) eλt = 0 . (2.52) Soll (2.51) eine Lösung sein, so muß (2.52) für alle t gelten, so daß die Konstante λ der Gleichung (charakteristische Gleichung) λ2 + ω 2 = 0 (2.53) genügen muß. Die Konstante λ muß daher einen der Werte λ1 = + i ω , (2.54) (2.55) √ annehmen, wobei i := −1 die imaginäre Einheit ist. Der Lösungsansatz (2.51) erfüllt also die Differentialgleichung, sofern λ einen der beiden Werte λ1 , λ2 (Eigenwerte) annimmt. Damit wurden zwei partikuläre Lösungen von (2.50) gefunden. Die Differentialgleichung ist aber linear, so daß auch jede Linearkombination dieser partikulären Lösungen wieder eine Lösung von (2.50) ergibt. Da die Exponentialfunktion hier komplexe Werte annimmt, lassen wir komplexe Konstanten G und H zu und erhalten so die allgemeine Lösung λ2 = − i ω x(t) = G eiωt + H e−iωt (2.56) (komplexe Größen werden hier durch Unterstreichung gekennzeichnet). Für beliebige G und H ist (2.56) eine Lösung von (2.50). Durch geschickte Wahl der komplexen Integrationskonstanten G und H gelingt es, die durch (2.56) dargestellte Lösung reell zu machen. Dazu wählen wir die Integrationskonstanten gemäß H = G∗ (2.57) komplex konjugiert zueinander. Bezeichnet man den Real– und den Imaginärteil von G jeweils mit C, S, so ist (2.57) gleichbedeutend mit 1 (C − i S) , 2 1 H = (C + i S) . 2 G= (2.58a) (2.58b) 12 2 Kinematik Da G und H beliebig sind, können auch C und S beliebige Werte annehmen. Damit folgt wegen eiα = cos α + i sin α und e−iα = cos α − i sin α mit α = ωt aus (2.56) x(t) = C cos ωt + S sin ωt . (2.59) Dies ist für C = x0 , S = v0 /ω mit (2.49) identisch. Wir schließen diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß sich die Differentialgleichungen der Mechanik, die sich aus dem Grundgesetz der Dynamik ergeben, selbst in dem einfachen Fall (2.7) (geradlinige Bewegung) im allgemeinen nicht analytisch lösen lassen. Die oben angegebenen Sonderfälle bilden Ausnahmen. Heutzutage bereitet es andererseits meist keine Schwierigkeiten, numerische Lösungen von gewöhnlichen Differentialgleichungen zu vorgegebenen Anfangsbedingungen zu berechnen. Selbst auf einfachen PCs ist dies eine leicht zu bewältigende Aufgabe. Für die numerische Lösung gewöhnlicher Differentialgleichungen stehen in dem schon in der Statik besprochenen Softwarepaket Matlab verschiedene Algorithmen zur Verfügung, die z.B. über die Befehle ode23 oder ode45 (ode = ordinary differential equation) aufgerufen werden können. Im Anhang A werden wir eine Reihe von Beispielen dynamischer Probleme mittels Matlab behandeln. Trotzdem kommt den analytischen Lösungen, dort wo sie möglich sind, eine große Bedeutung zu: Sie gewähren Einblick in die allgemeinen Zusammenhänge und dienen als Testfälle für numerische Verfahren. 2.1.3 Die allgemeine („krummlinige“) Bewegung In diesem Abschnitt befassen wir uns mit der Beschreibung der räumlichen Bewegung eines Punktes auf einer beliebigen (krummlinigen) Bahn. Die Lage eines Punktes P im dreidimensionalen Raum wird durch den von einem Bezugspunkt O # „ aus definierten Ortsvektor #„ r (t) = OP (t) als Funktion der Zeit beschrieben. Geschwindigkeit und Beschleunigung des Punktes P werden dann durch die Ableitungen des Ortsvektors nach der Zeit definiert. Wir müssen also jetzt Vektorfunktionen ableiten, und dabei spielt das Bezugssystem eine wesentliche Rolle. Es ist unmittelbar einsichtig, daß sich die Bewegung eines Punktes einem ruhenden Beobachter anders darstellt, als einem, der in einem sich bewegenden Fahrzeug sitzt. Wir legen nun ein Bezugssystem dadurch fest, daß wir die Einheitsvektoren (Basis#„ #„ #„ vektoren) k1 , k2 , k3 angeben. Die Ableitung eines Vektors #„ r (t) nach t bezüglich des Bezugssystems K wird dann folgendermaßen definiert. Wir schreiben den Vektor #„ r (t) als #„ #„ #„ #„ r (t) = r1 (t) k1 + r2 (t) k2 + r3 (t) k3 (2.60) und definieren die Ableitung von r(t) nach t in K als #„ #„ #„ #„ ṙ (t) = ṙ1 (t) k1 + ṙ2 (t) k2 + ṙ3 (t) k3 . (2.61)