Pressezentrum Dokument 3985 Sperrfrist: 17.06.2004; 14:30 Uhr Veranstaltung: Klar, ich glaube, aber die Kirche kann mir gestohlen bleiben Ein ökumenisches Gespräch zur Religiosität von Jugendlichen Referent/in: Schwab, Dr. Ulrich (Prof.) Ort: Roxy Halle 2, Schillerstr. 1 (Ulm) Programm Seite: 212 Kirchliche Jugendarbeit – ein Beitrag aus evangelischer Perspektive In seinem 1898 erschienenem Lehrbuch hat der evangelische Theologe Achelis einen auch heute noch beeindruckenden Überblick über das Gebiet der Praktischen Theologie gegeben. 1 In diesem Werk werden auch die damals noch relativ neuen "Jünglingsvereine" erwähnt und als eine "höchst beachtenswerte Zeiterscheinung" gewürdigt, da sie helfen können, dem "irreligiösen und sittenlosen Treiben unter den Gesellen, Lehrlingen und jugendlichen Handarbeitern" Einhalt zu gebieten 2. Behandelt wird die Arbeit der Jünglingsvereine aber nicht in der Katechetik, sondern in der sog. "Koinonik", also dem Kapitel, welches sich in besonderer Weise den Tätigkeiten der Inneren Mission und damit der christlichen Sozialarbeit verpflichtet weiß. In der Tat ist die Jugendarbeit ursprünglich nicht aus einem (schul-)pädagogischen Impuls heraus entstanden, sondern war in ihren Anfängen ein Kriseninstrument zur Linderung von Notlagen junger Menschen vornehmlich in den Städten. So unterschiedliche Modelle wie das Rettungshaus von Johannes Falk in Weimar, die Sonntagssäle von Passavant in Basel und die Jünglingsvereine von Döring in Elberfeld waren in ihrem Ansatz alle zugleich religiös und sozial orientiert und standen mit dieser Ausrichtung mehr oder weniger im Einfluss der Erweckungsbewegung. Es ist hier also zunächst einmal nicht wie in der Katechetik der Erziehungsgedanke, sondern die religiös motivierte soziale Hilfe, die zur Entstehung der Jugendarbeit führen sollte. Dieser Ansatz im Bereich der sozialen Hilfe hatte Konsequenzen auch für die theoretische Behandlung der Jugendarbeit. Jugendarbeit rückte zwar in der theoretischen Reflexion bald schon in ein Verhältnis zur Konfirmandenarbeit, blieb aber der schulischen Bildung gegenüber ein Fremdkörper. Der Bildungsgedanke an sich spielt zwar schon früh in der Theoriebildung der Jugendarbeit eine Rolle, jedoch stärker im Sinne von beruflicher Fortbildung als im Sinne von umfassenden Bildungsprozessen. Allerdings hatte schon Schleiermacher in seiner Pädagogikvorlesung aus dem Jahre 1826 gefordert, dass es in der Gesellschaft auch Raum geben muss für das gemeinsame gesellige Leben der Jugend außerhalb von Schule und Berufsausbildung. Die durch die Ausbildung bedingte Trennung der Jugend unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen solle ergänzt werden durch Formen gemeinsamer Geselligkeit im Sinne von "freier Tätigkeit und Spiel", um auf diese Weise den Einseitigkeiten der beruflichen Ausbildung etwas entgegensetzen und so auch den Gemeingeist der Gesellschaft wieder stärken zu können. 3 Schleiermacher dachte von einer Anthropologie des Jugendalters her und zielte bei seinen Überlegungen demgemäß auf alle Jugendlichen. Eine solche Begründung der Jugendarbeit fiel damals nicht auf fruchtbaren Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 Boden. Vielmehr wurde "die Arbeit an den Jünglingen" als diakonische Aufgabe für spezielle Kreise unter den Jugendlichen gesehen. Das führte schließlich auch dazu, dass die Religionspädagogik, die sich in ihren Anfängen von kirchlichen Kontexten emanzipieren wollte, die Jugendarbeit der Kirchengemeinden und Verbände nicht als ihr Gebiet betrachtete. Religionspädagogik war auf die Schule und damit auf alle Jugendliche bezogen. Jugendarbeit dagegen galt als Anliegen der "Inneren Mission" und legitimierte sich - vor der Jugendbewegung - durch spezielle Problemlagen von Jugendlichen außerhalb der Schule. Bis in die Gegenwart hinein wird die Jugendarbeit häufig nicht der Religionspädagogik, sondern der Diakonie und Gemeindearbeit zugeordnet Achelis war darin schulbildend. Auf der anderen Seite sind schulische Lehrkräfte im Rahmen ihres Dienstauftrages bis heute nicht mit Jugendarbeit konfrontiert. Insofern entspricht also die theoretische Aufteilung auch den Arbeitstrukturen in der Praxis und hat darin ihr Recht. Eine solche Einteilung war und ist aber trotzdem problematisch, weil sie zuwenig erkennen lässt, dass Jugendarbeit natürlich auch Bildungsprozesse anstößt und eben nicht nur ein Moment sozialer Hilfe darstellt. Sachgerecht erscheint es mir von daher, Jugendarbeit als Bereich sozial-religiöser Bildung und damit auch als Teilbereich einer umfassenden Theorie religiöser Bildung zu verstehen. Bildung ist nicht auf einzelne Handlungsfelder begrenzbar, sondern wird erst dann hinreichend verstanden, wenn die Vernetzungen unterschiedlicher Bildungsorte bei Kindern und Jugendlichen erfasst werden. Damit aber rückt auch die Jugendarbeit in den Kontext von Bildung. Ein solcher Ansatz ist in der religionspädagogischen Diskussion von verschiedenen Seiten bereits angedacht worden. In den frühen 80er Jahren entwarf Christof Bäumler mit dem Ansatz einer "Religionspädagogik als Friedenserziehung" ein Modell für eine umfassend verstandene Religionspädagogik. 4 In Anlehnung an sozialethische Erwägungen zur Friedensthematik forderte Bäumler eine theologisch fundierte Zielvorstellung für das gesamte religionspädagogisches Handeln, die sowohl den gesellschaftlichen Kontext als auch die je einzelne Person im Blick habe und eine gerechte und auf Versöhnung zielende Interessensvermittlung beinhalte. Ihr wären dann die einzelnen Handlungsfelder unterzuordnen. Auch Karl Ernst Nipkow betont in seinem Werk immer wieder die Verknüpfung religionspädagogischer Handlungsfelder im Kontext einer umfassenden Bildungstheorie. Er geht aus von einer Bildungsverantwortung der Kirche, die sich nicht nur allein auf religiöse Erziehung im kirchlichen Kontext, sondern auf die Bildung des Menschen überhaupt bezieht: "Die Kirche erfüllt nicht nur dann ihre Rolle im Bildungssystem, wenn und sofern sie ihre pädagogische und bildungspolitische Mitwirkung an die Verkündigung des Evangeliums zurückbindet, sondern auch dann, wenn und sofern sie vorbehaltlos dem Wohl des Menschen dient." 5 Bildung wird damit zu einer Grundaufgabe kirchlichen Handelns überhaupt. Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren deutlich ein neuer Trend hin zur Wiederentdeckung des Bildungsbegriffs festzustellen. In seinem großen Essay "Bildung" versteht der Pädagoge Hartmut v. Hentig unter Bildung ein Orientierungswissen darüber, was den Menschen zur Person macht. 6 Und offensichtlich müssen wir angesichts einer neuen Flut von Ansprüchen an den Menschen in der Wissens- und Lerngesellschaft gerade im Bildungswesen wieder mehr Klarheit darüber bekommen, was Ziel und Auftrag unseres Erziehens ist: genau dies thematisiert eine Theorie der Bildung. Die jüngst von der EKD vorgestellte Denkschrift "Maße des Menschlichen" formuliert evangelische Perspektiven zur Bildung in unserer Gesellschaft und betont die Notwendigkeit Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 eines Bildes vom Menschen, das allen Bildungs- und Erziehungsprozessen zugrunde liegt. Die Denkschrift plädiert für ein ganzheitliches Verständnis von Bildung, welches nicht nur auf formale Verwertbarkeit zielt: "Die Fragen nach dem Woher und Wohin, dem Zusammenhalt der Menschen in Solidarität und sozialer Gerechtigkeit, dem Leben zwischen den Generationen, dem Erhalt von Frieden und dem Umgang mit der Natur und der Schöpfung sind keine Halbwertszeit-Fragen. Ohne diese substantiellen Fragen gibt es keine Entwicklung zur Selbständigkeit, zum qualitativen Umgang mit Sachen und Menschen und zum sinnvollen Gebrauch neuer Kommunikationstechniken. Der Mensch gewinnt seine Würde daraus, wie er seine Erfahrungen, Gefühle, Hoffnungen und Ängste verarbeitet und auf dem Hintergrund einer konkreten Lebenslage denkt und handelt." 7 Bildung zielt somit nicht nur auf die Entfaltung der Person, sondern bezieht sich immer auch auf den gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie stattfindet. Personorientiertes und gesellschaftsbezogenes Lernen gehören zusammen und werden beide bezogen auf die Sinnfrage, die nicht nur einen Nebenaspekt von Bildung meint, sondern ins Zentrum von Bildung und Erziehung gestellt gehört. Erst die Sinnfrage kann erklären, wozu wir welches Wissen brauchen und wollen. Das wird z.B. in der von der PISA-Studie angestoßenen Diskussion, in der die außerschulische Bildung so gut wie überhaupt nicht beachtet wird, viel zu wenig bedacht. Welche Folgen aber hat nun ein solches ganzheitliches, am Menschen und seiner Würde orientiertes Bildungsverständnis für die Jugendarbeit selber? Was gewinnt also die Jugendarbeit, wenn sie sich einlässt auf den Dialog mit der Religionspädagogik? Das soll nun in folgenden Thesen kurz umrissen werden: 1. Jugendarbeit ist orientiert an den Jugendlichen als Subjekte ihrer Praxis Spätestens seit den Entwürfen von Müller, Kentler, Mollenhauer und Giesecke zu einer Theorie der Jugendarbeit wird klar formuliert, dass die Jugendlichen selbst als Subjekte ihrer Praxis zu gelten haben. 8 Zunächst war damit schlicht die Erkenntnis gemeint, dass Jugendarbeit primär nicht aus dem Interesse einer Institution an ihrer Selbsterhaltung begründet werden kann, sondern dass eine pädagogisch verantwortete Jugendarbeit sich in erster Linie den Bedürfnissen der Jugendlichen selbst zuzuwenden habe. Für C. Wolfgang Müller war damals klar, dass damit auch Abschied zu nehmen ist von der einen Konzeption für alle Jugendlichen. Darin sah er nichts anderes als eine ideologisch verbrämte Benachteiligung unterschiedlicher Gruppen von Jugendlichen. Für eine an den Jugendlichen selbst orientierte und damit spezifizierte Jugendarbeit sah er zwei Voraussetzungen: Erstens, "dass junge Leute vorgängige Erfahrungen besitzen, dass sie also nicht als unbeschriebene Blätter in der Jugendarbeit auftauchen und dort das Einmaleins des Lebens lernen müssen, dass sie ein Bewusststein ihrer Sorgen und Freuden haben, dass es irgendetwas gibt, was sie interessiert und irgend etwas anderes, was sie nicht interessiert" 9 Zweitens, "dass Erziehung in dieser allgemeinen Jugendarbeit keine Einbahnstrasse ist, durch die der Erzieher den Zögling auf ein imaginäres Erziehungsziel zutreibt, sondern dass beide Bildungspartner (...) annähernd die gleiche Chance haben, sich wechselseitig zu beeinflussen und zu verändern." 10 Müller zielte damit auf den sozialen Lernprozess einer Gruppe, die er zu Recht als stilbildend für eine an den Jugendlichen selbst orientierte Jugendarbeit ansah. Nicht vorgängige Inhalte, die wie nach einem schulischen Lehrplan zu vermitteln wären, sollten also die Jugendarbeit prägen, sondern die Fragen und Interessen, die die Jugendlichen mitbrachten. Damit aber gilt gemäß den Lernstrukturen des sozialen Lernens in einer Gruppe, dass auch die daran teilnehmende Leitung in diesen sozialen Lernprozess eingebunden ist und sich darin verhält. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 Albert Scherr hat diesen Ansatz 1997 aufgenommen und daraus seine Konzeption einer "subjektorientierten Jugendarbeit" entwickelt. Auch Scherr geht es darum, die Jugendlichen als Subjekte ihrer Praxis wahrzunehmen und danach zu fragen, welche gesellschaftlichen Strukturen eine emanzipatorische Praxis und damit eine gelungene Subjektbildung behindern. Scherr will damit eine Jugendarbeit, die sich an alle Jugendlichen richtet und die er insofern als "Bildungsarbeit" versteht, als Jugendarbeit "Chancen zur Wissensaneignung und zur Verarbeitung von Erfahrungen eröffnet." 11 Freilich sieht Scherr aufgrund des Fehlens einer allgemein akzeptierten Gesellschaftstheorie keine Möglichkeit, diesen Subjektansatz anders als durch das vorfindliche Interesse der Jugendlichen, Subjekt zu sein, zu begründen. Hier wäre m.E. eine tragfähigere Begründung des Subjektansatzes durch eine allgemeine, anthropologisch orientierte Bildungstheorie leistbar. Dazu nun die zweite These: 2. Jugendarbeit zielt - im Namen des Evangeliums - auf die Würde und Freiheit des Menschen und ist dabei kritisch auf gesellschaftliche Praxis bezogen. Jugendarbeit, die sich an den Jugendlichen als Subjekte ihrer Praxis orientiert, könnte dies ausweisen als Teil einer umfassenden Bildungstheorie, die sich an der Würde des Menschen orientiert. Damit wäre noch klarer formuliert, was sich aus dem Verständnis von Jugendarbeit als Teil einer umfassenden Bildungsarbeit ergibt. Sie ist orientiert an einem Menschenbild, welches dem jeweiligen Bildungsgedanken zugrunde liegt. Für christliche Jugendarbeit wird dabei die Würde des Menschen letztlich nicht einfach als Maxime gesetzt, sondern ergibt sich darüber hinaus aus der Geschichte Gottes mit den Menschen, erhält mit diesem Verweis also eine theologische Letzt-Begründung. Die Bibel betrachtet den Menschen stets als Teil der von Gott gewirkten Schöpfung. Der gesamte Kosmos, alles Sichtbare und Unsichtbare, ist Gottes Werk - und so auch der Mensch. Dabei ist es für das biblische Schöpfungsverständnis wesentlich, dass die Dinge nicht einfach an sich existieren, sondern dass Gott seine Schöpfung sinnvoll geschaffen hat. So ist es nicht einfach das Chaos einer beziehungslosen Mannigfaltigkeit, in welches Gott den Menschen stellt, sondern Gott ordnet das Chaos. Er gibt den geschaffenen Dingen einen Namen und gründet damit zugleich Beziehungen, setzt die Dinge zueinander in ein Verhältnis (Gen 1). Das gilt natürlich auch für den Menschen, der in Psalm 8 im Angesicht des gewaltigen Sternenhimmels als Winzling erscheint, und für den in biblischer Sicht doch zugleich gilt, dass der Mensch nicht nur Zufallsprodukt einer chemisch günstigen Evolution ist. Die Besonderheit des Menschen hängt dann vor allem damit zusammen, dass der Mensch in einer besonders nahen Beziehung zu Gott steht: Gott gedenkt seiner, nimmt sich des Menschen an. Im Psalm heißt es darum weiter: "mit Ehre und Hoheit kröntest du ihn" (Ps 8, 6). Diese Zuwendung Gottes ist es, aus der heraus die Bibel den Menschen versteht und beschreibt. Ein Verständnis des Menschen "an sich" - losgelöst von aller Bezüglichkeit - ist der Bibel dagegen völlig fremd. Der Mensch ist Teil der Schöpfung und darum von Gott gewollt und auf Gott hin geordnet. In diesem Sinne ist er dann sogar "Kind Gottes" (1 Joh 3,1). Somit gilt also auch gerade für das biblische Verständnis vom Menschen, dass der Mensch als Geschöpf notwendig auf Beziehungen hin angelegt ist und das in mehrfacher Weise: im Hinblick auf sein Verhältnis zur Natur, die er nicht einfach zerstören kann, wenn er nicht sich selbst zerstören will, im Hinblick auf seine Mitmenschen, ohne die er ebenfalls nicht existieren könnte, und schließlich im Hinblick auf Gott, durch den er geworden ist und durch den er lebt. Wenn der Mensch eine dieser drei grundlegenden Beziehungsdimensionen - zur Natur, zu den Menschen, zu Gott - abbricht, zerstört er ein wesentliches Stück seiner eigenen Existenz und bedroht damit letztlich sich selbst. Deshalb ist dem Menschen ein Gesetz gegeben, damit er diese ihn tragenden Beziehungen beachtet und nicht vergisst (Dtn 30,11 ff.). Und auch das Evangelium ist im Kern nichts anderes als die Geschichte von dem Bemühen Gottes, den Menschen wieder an die für ihn notwendigen Beziehungen zu erinnern (Mk 1,15). Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 Im Kontext der Schöpfung erfährt sich der Mensch als in besonderer Weise mit Vernunft begabt. Er ist in der Lage, auch zu sich selbst in eine Beziehung zu treten. Diese Selbstreflexion ermöglicht es ihm, zu sich selbst in Distanz zu treten und so vom eigenen Tun auch Abstand zu gewinnen. Darin erfährt sich der Mensch als frei, weil er an sein Tun nicht einfach gebunden ist, sondern auch andere Möglichkeiten des Handelns mit bedenken kann. Freilich ist diese Freiheit zugleich begrenzt: der Mensch erlebt sich zugleich auch als fremdbestimmt, als gebunden: er ist nicht allein Herr im eigenen Haus. Menschliches Handeln ist nicht nur vernünftiges Handeln. Und so wie die Freiheit des Handelns schon im Innern des Menschen ihre Grenzen erfährt, so ist sie natürlich auch in Bezug auf die Welt selbst notwendig begrenzt. Freiheit muss im Umgang mit den anderen konkret bestimmt werden, und dies ist - seitdem der Mensch das Paradies verlassen hat - immer auch konfliktreich. Zum christlichen Verständnis von Freiheit gehört also das Akzeptieren des eigenen Begrenztseins notwendig hinzu, wenn Freiheit nicht dazu missbraucht werden soll, dass der Mensch alle anderen Beziehungen sich selbst unterordnet und somit nur noch die eigene Selbstdurchsetzung zum Maßstab aller Dinge erklärt. Christlich verstandene Freiheit ist eben auch ein Beziehungsbegriff: man kann sie nur miteinander, nicht gegeneinander konkretisieren. Subjektorientierte Jugendarbeit ist möglich und nötig, weil Gott den Menschen in Freiheit und Liebe geschaffen hat und dadurch das Subjektsein des Menschen theologisch in der Beziehung zu Gott seine Wurzeln hat. Diese Freiheit ist weder absolut gegeben noch ungefährdet in ihrem Bestand. Sie will mit der Freiheit anderer versöhnt sein und sie will erarbeitet sein. Es gehört zu den wichtigen Lernaufgaben im Leben, diese Arbeit für die Freiheit immer wieder aufnehmen zu können. Eine an der Würde des Menschen orientierte Jugendarbeit könnte daran einen wichtigen Anteil haben. 3. Jugendarbeit ist Teil der Kirche im Kontext ihrer Bildungsverantwortung Wie eingangs erwähnt, war es ein langer Weg, bis Jugendarbeit als Teil kirchlicher Arbeit akzeptiert war. Auch heute noch ist eine an den Jugendlichen als Subjekten ihrer Praxis orientierte Jugendarbeit häufig noch nicht Bestandteil kirchlichen Selbstverständnisses. Vielmehr wird die Jugendarbeit weithin bloß als Zugang zur nachwachsenden Generation verstanden, die damit an die Kirche gebunden werden soll. Zu diesem Vorhaben hat sich Wilhelm Stählin schon 1918 m.E. bis heute maßgeblich geäußert: " ‘Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft!’ Mit dieser Weisheit begründet jede Gruppe den Eifer der Agitation, mit der sie die ihr zugängliche Jugend umwirbt. Diese Jugend will aber überhaupt nicht ‘gehabt’ werden, sondern will nur selbst ihre Jugend haben.“ 12 Ich habe an anderer Stelle hierzu formuliert, dass Jugendarbeit notwendig für die Kirche ist, weil es Jugendliche gibt. 13 Wenn die Kirche ihren Dienst im Namen des Sendungsauftrags an alle Menschen erfüllt, so muss sie ihre Arbeit auch an diesen Menschen ausrichten. Das führt zu sehr unterschiedlichen Formen, unter denen Jugendarbeit eben die auf Jugendliche abzielende ist. Die spezifischen Formen der Jugendarbeit ergeben sich dann aus der Wahrnehmung der Lebenslagen von Jugendlichen und ihren Interessen und Bedürfnissen. Als solche sind diese Formen freilich veränderbar und müssen jeweils ihrer Zeit angepasst werden. Eine Kirche, die ihren Sendungsauftrag gegenüber Kindern und Jugendliche ernst nimmt, wird von daher zu fragen haben, wie sie sich mit ihrer Gemeindearbeit auf den jeweiligen lebensweltlichen Kontext der Jugendlichen einstellen kann. Gerade die Anfänge der Jugendarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind ein sehr lebendiger Beleg dafür, wie aufgrund neuer Notlagen neue Formen kirchlicher Arbeit geschaffen wurden. Es versteht sich von selbst, dass Jugendarbeit damit einer permanenten Weiterentwicklung unterliegt. Die Kirche kann ihrem Auftrag nur dann am Ort der Jugendlichen gerecht werden, Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 6 wenn sie sich auf diese Gegebenheiten einlässt und ihre Arbeitsformen daran anpasst. Also ist es eine sich ihres Sendungsauftrags bewusste Kirche selbst, die sich angesichts der Lebenslagen der Jugendlichen hier einer permanenten Reform unterzieht. Dabei wird sich zeigen, dass Jugendarbeit nicht mehr bloß auf den Bereich der Kirchengemeinde bezogen bleiben kann. Die Problemlagen der Jugendlichen in ihrer Gesellschaft dürfen nicht übergangen werden. Hierzu gehört etwa die Frage der Jugendarbeitslosigkeit und das Problem, dass immer mehr Betriebe sich aus dem Ausbildungsbereich zurückziehen. Hierzu gehört die neue Armut, die nachweislich vor allem Kinder und Jugendliche trifft und hierzu gehört das Problem der kulturellen Integration von ethnischen Minderheiten in unserem Land. Dies sind Problemstellungen, auf die nicht nur in den Kirchengemeinden reagiert werden kann. Vielmehr bedürfen die Jugendlichen in unserer Gesellschaft zunehmend einer Lobby auch auf politischer Ebene, wie dies nur Institutionen leisten können. Viele Jugendliche haben ja heute das Gefühl, dass Erwachsene sich wenig um die Problemlagen der Jugendlichen kümmern. Eine Kirche, die sich ihres Sendungsauftrags für Jugendliche bewusst ist, könnte auch an dieser Stelle notwendige Akzente in unserer Gesellschaft setzen. Jugendarbeit ist notwendig für die Kirche, weil es Jugendliche gibt. Aber Jugendarbeit ist nicht nur Dienst der Kirche an der Jugend, sondern Jugendliche sind auch selbst Kirche. Wir taufen mit guten Grund schon Säuglinge, weil wir sagen, Gottes Gnadenzuspruch ist nicht durch uns verdient, sondern uns durch Jesus Christus geschenkt. Weil Jugendliche Anteil an dieser geschenkten Rechtfertigung haben, weil sie ein Teil der Kirche Jesu Christi sind, haben sie auch einen Anspruch auf Raum in dieser Kirche, haben sie ein Recht darauf, dass Kirche jugendgemäß gestaltet werden kann. Jugendliche sind nicht „die Zukunft“ der Kirche, sie sind ein äußerst lebendiger Teil ihrer Gegenwart – und dies gilt es auch in den Gemeinden stärker als bisher ernst zu nehmen! Somit wird eine subjektorientierte Jugendund Gemeindearbeit bei den Jugendlichen selbst ansetzen – und kann als Institution darin dann natürlich auch ihre Relevanz für Jugendliche erweisen. Sie tut dies im Bewusstsein ihrer Bildungsverantwortung für alle Menschen und erweist sich dabei als aktiver Teil unserer Gesellschaft. 4. Jugendarbeit ist Bildungsarbeit im sozialen Kontext Wenn Jugendarbeit nun abschließend noch einmal in ihrem Charakter als Bildungsarbeit besonders betont wird, so soll nun auch gezeigt werden, was die Jugendarbeit selbst zu einem evangelisch fundierten Verständnis von Bildung beizutragen hat. Es kann ja nicht darum gehen, einen auf schulische Lernprozesse zugeschnittenen Bildungsbegriff einfach zu übernehmen. Bildung zielt auf die Würde des Menschen, sie ist ein Recht des Menschen und ist - aus christlicher Perspektive - gegründet in der Beziehung Gottes zu den Menschen. Im Ausgang von der Jugendarbeit kann der Bildungsgedanke dahin profiliert werden, dass Bildung niemals ohne Persönlichkeitsbildung geschehen kann. Bildung ist viel mehr als Lernen von Inhalten. Das ist in der Bildungstheorie oft besprochen, im schulischen Alltag aber immer noch zuwenig umgesetzt. Bildung im Kontext von Jugendarbeit zeigt sich als orientiert an den Erfahrungen der Jugendlichen selbst. Sie erfahren sich und ihre soziale Umwelt und können aus diesen Erfahrungen heraus ihre eigene Persönlichkeit weiter gestalten. Sie übernehmen Verantwortung und lernen Engagement zu gestalten. Jugendarbeit zielt ja nicht zuletzt darauf, dass Jugendliche selbst an der Gestaltung und Leitung von Gruppenprozessen beteiligt sind und aus dem Erfolg - aber auch aus dem Scheitern - solcher Prozesse profitieren. Jugendarbeit ist immer noch und Gott sei Dank ein Experimentierfeld für Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Dazu gehören auch schmerzhafte Erfahrungen gerade im sozialen Bereich, die in der Jugendarbeit nicht ausgeblendet werden. Neuere Konzeptionen, wie die Erlebnispädagogik, setzen gerade hier an und entwickeln ein Lernen an den persönlichen Grenzen. Das setzt geschulte Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 7 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voraus. Freilich werden auch im schulischen Kontext genügend "Grenzerfahrungen" angeboten - aber werden dort auch Hilfestellungen zur Bearbeitung dieser Grenzen angeboten? An dieser Stelle zeigt sich, dass hier in der Jugendarbeit ein umfassenderes Bildungsverständnis konkret geworden ist. Hier ist der die Person im Blick und nicht nur spezifische Teilleistungen von ihr. In der Schule ist das häufig einfach nicht zu leisten. Dazu gehören dann schließlich auch Hilfestellungen im sozialen Bereich. Es redet sich leicht von Subjektwerdung, aber es ist für viele Jugendliche heute aufgrund ihrer Lebensverhältnisse sehr schwierig geworden, ihren eigenen Weg gehen zu können. Ein umfassendes Bildungsverständnis wird deshalb auch die Bildung hemmende gesellschaftliche Verhältnisse benennen und in geeigneter Weise auf eine Veränderung hinarbeiten. Einige Schulen - hier vor allem Hauptschulen in sozialen Brennpunkten - haben begonnen, sich Hilfestellung für ihre Schülerinnen und Schüler aus der Jugendarbeit an die Schule zu holen, weil sie verstanden haben, dass ein umfassendes Bildungskonzept nicht auf das Klassenzimmer begrenzt bleiben kann, sondern den sozialen Kontext notwendig mit berücksichtigen muss. Hervorragend und anschaulich schildert Inger Hermann in ihrem Buch "Halt's Maul, jetzt kommt der Segen..." was heute hier zu leisten ist. Sie schildert wie es ihr gelingt, durch neue, der Jugendarbeit verwandte Elemente einen Zugang zu ihren Kindern in der Schule zu bekommen. Ihr Resümee lautet folgendermaßen: "Wenn ich einmal glaubte, der Weg ginge über Wissensvermittlung zur Erziehung und nur ausnahmsweise zur Beziehung mit den Schülern, so sehe ich den Weg des heutigen Religionsunterrichtes eher umgekehrt: Von der Beziehung allmählich zur Erziehung und dann durchaus auch zur Wissensvermittlung. Heilsgeschichte ohne Heilung geht völlig an den Bedürfnissen der Kinder und damit auch der Schule und der Gesellschaft vorbei." 14 Es sind die Problemlagen der Kinder selbst, die heute ein integratives religionspädagogisches Konzept auf der Schnittstelle von Schule und Jugendarbeit notwendig machen. Soweit die Thesen zu einem weiten religionspädagogischen Verständnis von Bildungsarbeit. Es sollte damit deutlich gemacht werden, dass es nicht darum geht, die Jugendarbeit der Verbände und Kirchengemeinden religionspädagogisch zu vereinnahmen, sondern dass die der Kirche heute gestellte Aufgabe in der Tat ein integratives religionspädagogisches Konzept erfordert, welches auf einem umfassenden Bildungsverständnis beruht. Es geht um eine Vernetzung der verschiedenen Handlungsfelder, weil die Problemlagen, auf die wir stoßen, selber schon längst nicht mehr nur an einem Ort bearbeitbar sind. In diesem Sinne ist das hier skizziertes bildungstheoretische Verständnis von Jugendarbeit im Kontext eines integrativen religionspädagogischen Ansatzes ein notwendiges Element unserer Zeit. Achelis ist für das 21. Jahrhundert fortzuschreiben. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 8 1 Achelis, Ernst Christian: Lehrbuch der Praktischen Theologie, 2 Bde., Leipzig 1898. 2 Achelis, a.a.O., Bd 2, 404 f.) 3 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Ausgewählte pädagogische Schriften, hrsg. von Ernst Lichtenstein, Paderborn 1964, S. 241 ff. 4 Bäumler, Christof / Lämmermann, Godwin / Wagner, Falk / Walter, Alfred: Friedenserziehung als Problem von Theologie und Religionspädagogik. München 1981. 5 Nipkow Karl Ernst: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Gütersloh 1990, S. 16. 6 Hentig, Hartmut v.: Bildung. München, Wien 1996. 7 Kirchenamt der EKD: Maße des Menschlichen. Hannover 2003, 27. 8 Müller, C. Wolfgang / Helmut Kentler / Klaus Mollenhauer / Hermann Giesecke: Was ist Jugendarbeit? München 1964. 9 A.a.O., 22 10 A.a.O. 11 Scherr, Alfred: Subjektorientierte Jugendarbeit. Eine Einführung in die Grundlagen emanzipatorischer Jugendarbeit. Weinhein 1997, 60. 12 Stählin, Wilhelm: Der neue Lebensstil. Ideale deutscher Jugend. Hamburg, 4. Aufl. 1925, 9. 13 Schwab, Ulrich: Evangelische Jugendarbeit als Teil der Kirche heute. Begründungen und Perspektiven. In: deutsche jugend 47, 1999, S. 322-329. 14 Hermann, Inger: "Halt's Maul, jetzt kommt der Segen..." Kinder auf der Schattenseite des Lebens fragen nach Gott. Stuttgart 1999. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.