Call for Papers: Stimmungen und Vielstimmigkeit der Aufklärung. Interdisziplinäre Tagung vom 1. bis 3. September 2016 an der Universität Luzern, SNF-Förderprofessur „Stimmung und Polyphonie: Musikalische Paradigmen in Literatur und Kultur“ Noch heute beruft man sich auf Errungenschaften und Grundwerte der Aufklärung, wobei meist auf sehr ausgewählte Diskurse oder Formeln zurückgegriffen wird. Unser Anliegen besteht darin, nicht nur einer epistemisch-transzendentalen Tradition zu folgen, sondern vor allem auch die monistisch-naturalistische Diskurslinie der Aufklärung neu zu sichten. In dieser Linie wird der Mensch als Einheit innerhalb der Natur verstanden – als denkendes und handelndes, aber vor allem auch empfindendes Wesen. Dabei maßen die Aufklärer gerade dem Akustischen eine besondere Rolle zu: Im Ohr sitzt die „Seel’“ – heißt es etwa bei Barthold Hinrich Brockes. Ausgehend von diesem ‚acoustic turn‘ der Aufklärung fokussieren wir bei unserer Tagung mit der ‚Stimmung‘ und der ‚Vielstimmigkeit‘ zwei musikalische Paradigmen, die es als diskursive Bündelungspunkte inter- und transdisziplinär zu untersuchen gilt. Historisch besehen trifft man in der Frühaufklärung, d.h. ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert, auf eine intensive musiktheoretische Debatte um Fragen der richtigen musikalischen ‚Temperatur‘. Im Spannungsfeld zwischen Tonartencharakteristik und Modulierbarkeit propagiert fast jede Theorie mit ihrer jeweils eigenen rhetorischen, metaphorischen oder naturwissenschaftlichen Argumentation eine individuelle Lösung. Trotz der Heterogenität der einzelnen Ansätze zeichnet sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel ab, in dessen Verlauf sich das Harmoniemodell zusehends von einer äußeren, als statisch aufgefassten Sphärenharmonie ablöst und sich in den einzelnen Menschen verlagert, dessen sinnliches Vermögen fortan den Bezugspunkt für die ‚richtige‘ Stimmung bildet. Neben den andauernden Versuchen, Stimmungen mathematisch und physikalisch exakt – und in diesem Sinn objektiv – zu berechnen, rückt die Stimmung somit immer stärker in einen Schwellenbereich zwischen Innen- und Außenwelt und eröffnet dadurch eine diskursive Schnittstelle, an deren Theoretisierung Physiologie, Medizin und Philosophie gleichermaßen partizipieren. Man kann also davon ausgehen, dass sich das Aufkommen der neuen physiologisch begründeten Ästhetik der späteren Aufklärung zu einem wesentlichen Anteil auf dem Rücken des Stimmungsparadigmas (und damit verwandten Paradigmen wie etwa jenem der ‚Resonanz‘) vollzog. Der beschriebene Paradigmenwechsel im Stimmungsdiskurs der Aufklärung bedingte jedoch eine zweite Frage, die zunächst einen Spannungspol bildet: Die Frage nach der Organisation von Vielstimmigkeit. Denn gerade die Loslösung des Stimmungsparadigmas von der Vorstellung der prästabilierten Sphärenharmonie und – damit einhergehend – die Pluralisierung verschiedener Stimmungssysteme, verlangte nach neuen Koordinations- und Organisationsoptionen. Was im ersten Moment innermusikalisch nicht in den Blick kommt, wird über die Disziplinverschränkung mit den politischen Anliegen der Aufklärung augenfällig. So ist eine der beliebtesten literarischen, aber auch philosophisch-ästhetischen, ja sogar ökonomischen Debattierform der Dialog. Mehrstimmigkeit ist in einer Diskussionskultur des Salons paradigmatisch. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Harmonik und Melodie, wie es Rousseau in vermeintlicher Absetzung von Rameau darstellt, macht deutlich, dass der einzelnen Melodie die klangliche Qualität der menschlichen Stimme zugesprochen wird. Der musikalische Kontrapunkt wie die Form des Dialogs zielt auf eine zumindest intendierte Gleichwertigkeit aller Stimmen, welche sich in die Diskussion einmischen und das Ihre beitragen. So werden im Laufe des 18. Jahrhunderts äußerst dynamische Modelle entwickelt, welche nicht auf eine Essenz abzielen, sondern den Dialog in Figuren der Selbstreflexion und Suspension immer offenhalten. Aus der Sicht der musikalischen Paradigmen von Stimmung und Vielstimmigkeit kann man nur unterstreichen, wie sehr die pluraliter verstandenen „Lumières“ im Prozess des „Enlightenments“ zu verstehen sind. Damit werden die Stimmen nicht zu einer Syntheseleistung gezwungen, sondern in einem Stimmungssystem zueinander in Beziehung gesetzt, zueinander ‚temperiert‘ – wie es im Fachjargon der Zeit und darüber hinaus lauten könnte. Das Prozessuale äußert sich zusätzlich im Wechselspiel zwischen künstlerisch vermitteltem Inhalt und künstlerischer Form – was in den literarischen Gattungen der Komödie, der Satire, der Poesie etc. besonders zum Ausdruck kommt. Wenn sich die Tagung für ästhetische Produktionen und Reflexionen interessiert, so immer auch mit Blick auf die Gegenwart – doch weniger im Sinne eines postmodernen Nebeneinanders als vielmehr im Sinne einer Aktualisierung der musikalischen Parameter der Aufklärung und deren sozialpolitischen Dimensionen selbst. Die Beschäftigung mit der historisch eingrenzbaren Aufklärung sucht den Anschluss an eine unabgeschlossene Aufklärung der Gegenwart. Die Anschlussfähigkeit konzentriert sich auf Fragen der Unabschließbarkeit und des Prozessualen heutiger Diskussionen und Diskurslinien, aber auch auf Fragen nach dem Menschen selbst – in seinem Denken, Handeln und Fühlen. Wenn Stimmung und Polyphonie als Parameter der heutigen Kultur Urständ feiern, so ist deren Profil aus der Sicht der Aufklärung zu schärfen. Dafür bilden ästhetische Modelle und Kunstwerke die Grundlage zur heutigen Diskussion. In der Konfrontation der historischen mit der gegenwärtigen Aufklärung ist gerade durch den ästhetischen Fokus ein Mehrwert zu erwarten, welche wiederum auf weitere Felder von Interkulturalität, Politik und Umwelt übertragbar sind. Um das breite Diskursfeld von Stimmung und Vielstimmigkeit möglichst facettenreich auszuleuchten, ist die Tagung betont interdisziplinär und transdisziplinär angelegt. Experten aus Musik- und Literaturwissenschaft, aber auch aus der Philosophie und der Musikpraxis sollen in einen Dialog zueinander treten. Darüber hinaus bietet das zeitgleich stattfindende Lucerne Festival einen idealen Rahmen, um die Diskussion mit ästhetischen Erfahrungen zu bereichern. In einem Lecture Recital lässt der Cembalist Johannes Keller verschiedene Stimmungen aus der Warte der historischen Aufführungspraxis sinnlich erfahrbar werden. Die Relevanz der Paradigmen von Stimmung und Vielstimmigkeit für das aktuelle Komponieren wird in einem Werkstattgespräch mit dem Komponisten Michel Roth diskutiert, dessen Oper „Die künstliche Mutter“ beim Lucerne Festival ihre Uraufführung erlebt. Die Konferenz wird vom 1. bis 3. September 2016 an der Universität Luzern und Aufführungsorten des Lucerne Festivals stattfinden. Die Vortragsdauer sollte 30 Minuten nicht überschreiten. Um die Einreichung eines Themenvorschlags mit kurzer Erläuterung (maximal eine halbe Seite) wird per Mail an [email protected] bis zum 30. Oktober 2015 gebeten. Die Ergebnisse der Tagung sollen möglichst zeitnah publiziert werden. Für Unterkunft (Hotel) und Verpflegung wird gesorgt. Ökozertifizierte Reisekosten von Bahnfahrten werden voraussichtlich übernommen. Prof. Dr. Boris Previšić Laure Spaltenstein, postdoc Silvan Moosmüller, MA