Hans Peter Bull: Keine Angst vor dem Volksentscheid 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Mit Recht wird zwar immer wieder bemerkt, dass die plebiszitären Elemente der Weimarer Reichsverfassung von Demagogen rechts und links missbraucht worden sind — aber diese finden immer auch andere Chancen; die Schlachten um die Referenden waren eher Nebenschauplätze. Aber die Gegner von Plebisziten verweisen auf die konservativen Abstimmungsergebnisse in der Schweiz, erinnern an eine retardierende schulpolitische Abstimmung in Nordrhein-Westfalen und malen uns aus, dass bundesweite Plebiszite für die Todesstrafe und gegen die Integration der Ausländer durchaus Erfolgschancen hätten. Eine eindeutige Prognose, welche politischen Richtlinien von Plebisziten zu erwarten wären, ist nicht möglich. Vieles spricht für die skeptische Einschätzung von Claus Arndt: „Im allgemeinen begünstigen Stimmungen und Emotionen in der Politik eher die Erhaltung von Bestehendem als auf Reformen gerichtete Strömungen, so dass es Reformparteien in der Regel schwerer haben werden, die Menschen für ihre Ziele zu motivieren. Meistens werden sich daher die Instrumente erhöhter Volksbeteiligung eher zur Verhinderung bestimmter Vorhaben als zu Innovationen mobilisieren lassen.“ Aber es gibt andere Gründe, mehr unmittelbare Demokratie zu wagen. Das Volk trägt die Folgen der Entscheidungen, also auch derer, die nach Ansicht der Politiker und Experten „falsch“ sind. Oft genug irren sich Abgeordnete, Minister und Beamte, Verbandsvertreter und Professoren; das Recht auf Irrtum hat aber auch der einzelne Wähler, die einzelne Wählerin. Wer Bürgerinnen und Bürger insgeheim für unmündig hält, mag viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, ist aber doch auch auf dem verkehrten Weg. Denn: Wer die Demokratie will, darf nicht dem Volke von vornherein misstrauen. [...] Selbstverständlich kann die unmittelbare Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen nicht zum Normalfall werden. Im Großen und Ganzen hat sich das parlamentarische System bewährt und wird auch akzeptiert. Niemand will ständige Volksabstimmungen über beliebige politische Streitfragen; die Teilnahmequote würde schnell schrumpfen. In dem Meinungskampf vor einer Volksabstimmung würden selbstverständlich die Parteien und Gruppen Kampagnen durchführen, um für ihre Position zu werben. Der Ausgang einer Volksabstimmung hinge überdies von der Fragestellung ab; schon bei ihrer Formulierung können die Aussichten für die eine oder die andere Entscheidung beeinflusst werden. Daraus folgt aber kein Nein zu neuen Formen der Volksbeteiligung, sondern nur die Notwendigkeit überlegter Ausgestaltung. [...] Ich meine, der Volksentscheid sollte als Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse eingeführt werden. In dieser Ausgestaltung wäre er der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts funktional gleichwertig. Das Gericht würde dadurch vielleicht sogar etwas entlastet; jedenfalls würde es weniger in die Versuchung geführt, politische Streitpunkte als verfassungsrechtliche aufzunehmen. Der große Vorteil eines Vetorechts im Vergleich zu einer positiven Forderung liegt darin, dass der Weg zu Alternativen nicht verbaut wird. Während es bei einem positiven Vorschlag auf die Details ankommt, lässt die bloße Negation einer konkreten, vom Parlament beschlossenen Lösung mancherlei Auswege zu, insbesondere bleibt die Aufgabe, die Vielfalt der widerstreitenden Interessen auszugleichen und in ein angemessenes Gesamtsystem zu bringen, bei den Instanzen, die dafür hinreichend ausgerüstet sind, also „dem Gesetzgeber“ in Gestalt des Parlaments und der Regierung mitsamt ihrem Stab. Wird ein Vetorecht in dem Sinne, dass Parlamentsbeschlüsse vom Volk aufgehoben werden können, für zu weit gehend gehalten, so bleibt als Kompromissvorschlag das suspensive Veto. Das Volk hat dann das Recht, eine erneute Verhandlung im Parlament zu fordern. Für das Parlament läge darin die Chance, die oft beklagte Bürgerferne zu überwinden, sich also den Meinungen und Stimmungen in der Bevölkerung stärker aufzuschließen, ohne seine Entscheidungskompetenz aufgeben zu müssen. Die Abstimmung des Volkes hätte großes Gewicht für den zweiten Durchgang im Parlament, aber die Gewissensfreiheit der Abgeordneten, sich auch gegen eine Mehrheit des Volkes zu entscheiden, bliebe erhalten. Aus: DIE ZEIT Nr. 14, 31.3. 1989, S.4; zit. nach: W. Bremer: Partizipation im Parteienstaat. Paderborn (Schöningh) 1989, S. 159f. [Rechtschreibung den neuen Regeln angepasst.] BULL-KEINEANGST.rtf