Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler*•

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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler*•
Thomas Phleps
„Lange dauerte es nicht, und Eisler begann über Wagner zu reden, genauer gesagt: zu schimpfen. Es
war ungeheuerlich: Er nannte ihn einen kompletten Scharlatan, einen Kitschier der schlimmsten Art,
einen geschmacklosen Wichtigtuer. […] Schließlich kam der Augenblick, wo mir seine Schimpftiraden reichten. Ich sagte: ,Ja, Herr Eisler, was Sie so erzählen, mag ja richtig sein. Ich bin schon
einverstanden, aber dieser furchtbare Wagner, er hat doch […] den ,Tristan‘ geschrieben.‘ Eisler verstummte. Es wurde still im Zimmer, ganz still. Dann sagte er sehr leise: ,Das ist etwas ganz anderes.
Das ist Musik.‘ Vier Jahre später – ich war längst in Deutschland – , las ich in den Zeitungen, Eisler
sei gestorben. Und ich las, daß er, der große Musiker, der Jude Hanns Eisler, sich auf seinem Totenbett die Partitur von ,Tristan und Isolde‘ habe geben lassen“ (Reich-Ranicki 1999, 129f.).
Ja, so mag es gewesen sein: Wenn man, wie Marcel Reich-Ranicki in seiner wagneresk
überschriebenen Autobiographie Mein Leben, den „Joker“ Tristan ausspielte, brach das
Kartenhaus der Eislerschen Wagner-Aversion zusammen. Im gleichen Jahr 1958, von dem
hier berichtet wird, betonte Eisler gegenüber seinem Gesprächspartner Nathan Notowicz:
„Es ist klar, und das muß man sich immer wiederholen: Kein Musiker konnte sich jemals
dem Zauber der Tristan-Partitur entziehen, ich auch nicht“ (Notowicz 1971, 38). Allerdings
gebe es „einen gewissen Zustand der Übersättigung, wo man es einfach dann nicht mehr
haben will“. Was man wo ,nicht mehr haben will‘, bleibt unklar und wird auch nicht klarer,
wenn man Eislers Gedanken über Zurücknahmen und Gestehungskosten hinzuzieht, die er
kurz vor seinem Tod in seinem großen Vortrag Inhalt und Form anhand des Tristan und
zumal des Tristan-Vorspiels exemplifizierte. Grob gesagt bleibt der Widerspruch (oder die
Dialektik, wie man’s nimmt), dass der Tristan ein „geniales Stück Musik ist, […] neuartig
in der Harmonik, in der Melodik, in den Ausdruckscharakteren“, aber zugleich durch dieses
Neue „die deutsche Musik für fünfzig Jahre wirklich verratzt“ habe – ganz abgesehen
davon, dass man bei Wagners „Rauschmusik“ „das Gehirn an der Garderobe“ abzugeben
hat (Eisler 1982, 510-513). – Doch zu diesem „Gift Wagner“, d.h. zu Eislers – wie Thomas
Mann es nannte – „komische[r] Ambivalenz seines Verhältnisses zu dem großen Demagogen“ (Mann 1984, 73) später mehr. Zunächst ein kleiner und auf den Beginn seines Vorspiels eingeschränkter Blick auf das „geniale Stück Musik“.
„Dieses kleine Vorspiel“, schrieb Richard Wagner im Januar 1860 über eine Konzertprobe aus Paris an Mathilde Wesendonk, „dieses kleine Vorspiel war den Musikern so un*• Schriftfassung eines Vortrages anlässlich des Internationalen Symposions „Hanns Eisler – Homo
politicus“ vom 27. bis 28. Februar 2009 in Wien, veranstaltet vom Wissenschaftszentrum Arnold
Schönberg am Institut für musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende
Kunst Wien. Vor allem um zahlreiche Notenbeispiele gekürzt erschienen in: Musik-Kontexte.
Festschrift für Hanns-Werner Heister. Bd. 2. Hg. v. Thomas Phleps und Wieland Reich.
Münster: Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat 2011, S. 713-724.
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Thomas Phleps
begreiflich n e u , daß ich geradesweges von Note zu Note meine Leute wie zur Entdeckung
von Edelsteinen im Schachte führen mußte“ (Golther 1920, 250). Das „so unbegreiflich“
Neue bündelte sich für die nachfolgenden Komponistengenerationen im so genannten
Tristan-Akkord, dem – um des Meisters Bild fortzuführen – hochkarätigsten Diamanten
seiner ertragreichen Edelsteinmine. Aber auch den Musikologen bot der Akkord, laut
Adorno eine Akzidentie, die in der kompositorischen Gewichtsverteilung zur Hauptsache
wird, immer wieder die Gelegenheit, sich an dessen Rubrizierung in die gängigen Harmonielehren abzuarbeiten. Und nach fast 120 Jahren Tristan-Vorspiel schließlich ist für
Heinrich Poos (1987, 50) bspw. das Merkwürdige dieser Takte „der vertraute Ton“, der
„durch alle Fremdheit dennoch hindurchklingt“. Merkwürdig vertraut wohl eher, weil wir
die Takte zu kennen meinen. Aber ist dem wirklich so?
Der Einstieg bringt ein Sequenzmodell, das eine mechanische Identität der einzelnen
Glieder vermeidet. So weichen Eröffnungsmodell und erste Sequenz in einem entscheidenden Intervall voneinander ab. In der ersten Sequenz tritt die große Sext anstelle der kleinen
des Modells: h-gis für a-f. Diese Abweichung ergibt sich aus der Bezogenheit der ganzen
Periode auf ihre virtuelle Grundtonart, die harmonische a-Moll-Skala, in der es f, aber gis
heißt.1 Diese virtuelle Grundtonart wird durch die Auswahl der charakteristischen Ecknoten
umschrieben und in der ersten Sequenz, die unvariiert auf dem Dominantseptakkord von h
enden würde, durch die Abwandlung gis-h auf G7 geführt, den Dominantseptakkord von
C-Dur als Paralleltonart von a-Moll (cf. Adorno 1977, 44f.). Um nun aber das Neue, die
zukunftsweisende materiale Disposition des Eröffnungsmodells stichwortartig zu umreißen:
Nach der kleinen Sext a–f setzt eine absteigende chromatischer Fortschreitung ein, die ab
Takt 2 mit einer gegenläufigen in der Oberstimme konkurriert, zugleich aber durch echoartiges Neubeginnen im Bass verstärkt wird:
Notenbeispiel 1: Richard Wagner – Tristan und Isolde, T. 1-3: Chromatik
Die – neben dem Einstiegs-a – nicht chromatisch gereihten Töne h und gis wiederum sind
krebsförmig der gegenläufigen Oberstimme verbunden, deren Anfangs- und Endpunkt sie
markieren:
1 Peter Petersen (1989, 173) hat darauf hingewiesen, dass Wagner „einmal die Tonika A als Ziel
des Tristan Vorspiels auskomponiert hat, nämlich in dem extra geschriebenen Konzertschluß für
das Vorspiel“ – eine wenig bekannte Fassung, da auch in Konzertaufführungen stets die Version
‚Vorspiel und Isoldes Liebestod‘ mit H-Dur als Schlussakkord gespielt wird.
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
Notenbeispiel 2: Richard Wagner – Tristan und Isolde, T. 1-3: Einbindung der ,freien‘ Töne
Zugleich aber gewährt eben diese Nichteinbindung von h und gis in die chromatischen
Fortschreitungen gleichsam einen Blick in die nahe Zukunft, denn exakt diese beiden Töne
führen zur eben erwähnten Abweichung in der ersten Sequenz.
Für diese umfassende bzw. alles erfassende Disposition der Tonbeziehungen in den ersten Takten des Tristan könnten noch weitere Aspekte angeführt werden – bspw. die krebsgängige Anordnung der Materialkonstellationen des Ausgangsmodells im dritten Modell,
das allerdings das Tonmaterial um den Tritonus c–fis erweitert und auf H7 hinausläuft (und
– nach mehrfachen Wiederholungen – erneut nach E7 gelangt, um sich schließend und ein
letztes Mal die Grundtonart a-Moll meidend zur VI. Stufe F-Dur zu begeben):
Notenbeispiel 3: Richard Wagner – Tristan und Isolde, T. 1-3 und T. 8-11
All diese konstruktiven kompositorischen Verfahrensweisen wurden nie so recht betont,
obwohl sie zumal für den ,Tiefsinn des Handwerks‘ im Schönbergkreis hochbedeutsam sind
– auch Eisler spricht in seinem Inhalt und Form-Vortrag allein vom „Schreckgespenst der
Sequenz“, die hier „Triumphe“ feiere (Eisler 1982, 512). Im Vordergrund der ungezählten
Analysen des Tristan-Anfangs stand und steht die harmonische Inspektion – aufgrund der
bis dahin in der Tat unerhörten Klangfortschreitungen, durch die „sich die chromatische
Linie des Liebesmotivs hindurchzwängt“ (Kurth 1923, 51), mit einigem Recht. Ohne mir
anzumaßen, zur Lösung dieser mehr als hundertjährigen Versuche, die Klänge des Tristan
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Thomas Phleps
zu erklären, beizutragen, sei kurz nur ein Versuch angeführt, zugegebermaßen der mir genehmste:
Notenbeispiel 4: Richard Wagner – Tristan und Isolde, T. 1-3: Harmonik
Zunächst ein Tritonus-Großterz-Quart-Klang: der Tristan-Akkord, hier unzureichend als
quintverminderter f-Moll-Septakkord beschrieben. Anschließend zwei Klänge, die – durch
Tonversetzung verunklart – gleich aufgebaut sind: Beide verbinden zwei Tritoni durch eine
große Terz. Diese dem Tristan-Akkord folgenden Klänge nutzen die tritonusverwandten
Umdeutungsmöglichkeiten zum Dominantseptakkord der virtuellen Grundtonart a-Moll –
allerdings ohne darauf zu zielen, denn E7 ist in dieser neuen Umgebung gespannter Klänge
– wie Ernst Kurth (1923, 50) bereits ausführte – „technisch wie der Wirkung nach – zu einer Stellung“ vorgerückt, „wie sie früher nur konsonanten Dreiklängen zukam“: der eines
Auflösungsakkordes (und nicht einer Dominante).
Jegliche Beschreibung, welcher Stufe der Tristan-Akkord angehört oder woher er
stammt, ist unzureichend, weil er – so Schönberg (1966, 311) – „überallher stammen kann“.
Wesentlich sei einzig die Kenntnis der Anwendungsmöglichkeiten und Wirkungen eines
solchen Akkordes, den Schönberg unter die so genannten „vagierenden Akkorde“ einreiht.
Diese vagierenden Akkorde schaffen „neue Verkehrswege“, da sie „heimatlos zwischen den
Gebieten der Tonarten herumstreichende Erscheinungen von unglaublicher Anpassungsfähigkeit und Unselbständigkeit [sind], Spione, die Schwächen auskundschaften, sie benützen, um Verwirrung zu stiften; Überläufer, denen das Aufgeben der eigenen Persönlichkeit
Selbstzweck ist; Unruhestifter in jeder Beziehung, aber vor allem: höchst amüsante Gesellen“.
Diese – von Schönberg in seiner Harmonielehre von 1911 vorgenommene – bedeutungsfreie Einordnung des Tristan-Akkords in die Spezies der „in jedem Klima“ gedeihenden vagierenden Akkorde ist zwar trefflich formuliert, trifft indes auf den semantisch wohl
platzierten Einsatz dieses Akkordes und seiner wohl disponierten Umgebung beim Autor
selbst und den ihn Umgebenden durchaus nicht zu. Und „höchst amüsant“ ist der heimatlose Geselle Tristan-Akkord nun ganz und gar nicht. Wo er hintritt, um eine der gedrehten
Redewendungen Schönbergs zu zitieren, wo er hintritt, wächst Gras bzw. – in unserem
Falle: seliges Nichts. „Sehnsüchtig blicke ich oft nach dem Land Nirwana. Doch Nirwana
wird mir schnell wieder Tristan“, notierte Wagner (Golther 1920, 260).
Aber ich möchte ja weder über Wagners Tristan schreiben, noch eine – gewiss lohnende – Geschichte der Tristan-Rezeption erzählen, sondern von den Verkehrswegen des
Tristan-Akkords und das gemeinhin als Sehnsuchtsmotiv bezeichnete Sequenzmodell des
Tristan in Hanns Eislers Œuvre berichten. Bereits in seinem Op. 1, der ersten Klaviersonate,
die der Lehrer Schönberg vor der Kenntnis des letzten Satzes weiterempfahl, ist in der
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
Durchführung eben dieses dritten Satzes (und durch die Anweisung „Sehr breit“ aus dem
Satztempo fallend) der Tristan-Einstieg eingelassen:
Notenbeispiel 7: Hanns Eisler – 1. Sonate für Klavier op. 1, 3. Satz, T. 54-57
Während über die Bedeutung dieser musiksprachlichen Fremdnutzung keine Aussage
getroffen, noch nicht einmal sinnvoll spekuliert werden kann, ist vor allem in der wortgebundenen Musik Eisler ein komplexer Bedeutungsradius auszumachen, der nachfolgend
zumindest skizziert sei. Tristan-Akkord und vielfach auch das Sequenzmodell dienen Eisler
auf dreierlei Weise zur inhaltlichen Präzisierung des eigenen Textes.
1) Zum einen wird an den tradierten, durch die Musikgeschichte gereichten Bedeutungshorizont von Liebesfreud, Liebesleid und Liebestrank angeknüpft. In Eislers „völlig ernst[en]
und völlig unironisch[en]“ (Notowicz 1971, 52) Zeitungsausschnitten op. 11 (1925-27)
ironisiert auf diesem Background der Akkord in den zu Heiratsannoncen depravierten
Liebesliedern des „ängstlichen und schüchternen“ (T. 5f.) Kleinbürgermädchens und des
nach einer „guten Frau“ (T. 10) fahndenden Grundbesitzers die gesellschaftlich waltenden
Geschlechterrollen, in der Enquete eines Landschulrates die scheinheilige Suada, es sei
„eine Sünde“ (T. 13)2, gegen Arme hart zu sein.
Und in der abschließenden Frühlingsrede an einen Baum im Hinterhaushof, die mit den
Worten „Ich bitte Sie sehr, zu blühen, Herr Baum: Vergessen Sie nicht: es ist Frühling!“
einsetzt, ist der Einstieg in die Liebestrunkenheit mehrfach präsent. Zunächst erklingt die
(um eine kleine Terz erhöhte) 1. Sequenz des Vorspiels mit einem leicht amputierten
Tristan-Akkord – der Ton fis fehlt – unter der letzten Satzhälfte des eben Zitierten: „nicht:
es ist Frühling“ (T. 3f.), dann – exakt wiederholt – beim „unmöglichen“ Träumen „vom
grünen Walde“ (T. 17f.), dann der Akkord melodisch zerlegt in der Singstimme und abschließend im Klavier zur Frage „Vielleicht meinen Sie, daß es überflüssig ist in uns’rer
Zeit zu blühn?“, ebenso abschließend im Nachfolgenden „Was sollen junge, zarte Blätter
auf den Barrikaden?“. Schließlich im folgenden und letzten Satz des Liedes, der an den
ersten anknüpft: „Damit hätten Sie gar nicht Unrecht, Herr Baum! Vergessen Sie: es ist
Frühling“ (T. 35-39). Hier aber hat sich nicht nur textlich etwas geändert – „Vergessen Sie“
statt „Vergessen Sie nicht“, sondern auch musikalisch: das vormals vermisste fis ist nun
2 Hier erst, unter „eine Sünde“ und nach zahlreichen um einen Ton ,falsch‘ gebildeten, erklingt der
korrekte Tristan-Akkord.
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Thomas Phleps
vorhanden, der Tristan-Akkord indes trotzdem nicht, da das as zunächst zum a verschoben
wird und erst beim chromatischen Anstieg der Oberstimme sich einfindet:
Notenbeispiel 8: Hanns Eisler – Frühlingsrede an einen Baum im Hinterhaushof, T. 1-4 und T. 35-39
Bis auf diese doch diskrete Anspielung – die zudem den Text an der Nachtgeweihten „Lied
postkoitaler Dankbarkeit“ (Dieter Schnebel, zit. n. Busch/Klüppelholz 1983, 182) anbindet:
„O sink’ hernieder, Nacht der Liebe, gib Vergessen, daß ich lebe“ – bis auf diese
Anspielung scheint die in ihrer Tragweite durchaus beachtenswerte Tristan-Komponente
des – salopp formuliert – ,Sex kulturell‘ als Wagnersche Klimax von lauter lautem Gefühl
bei Eisler keine Rolle zu spielen.
2) Die zweite Implantation dieses musiksprachlichen Fremdkörpers rekurriert ebenfalls auf
das tradierte Motiv der unter Zuhilfenahme des Zaubertrankes mit unwiderstehlich dämonisierender Gewalt aneinandergeketteten Liebenden. Nur dass der Trank jetzt in Form faschistischer Ideologie von der NS-Führerclique den zu Volksgenossen formierten Deutschen
gereicht wird, um den Rest ihres Lebens deren durchaus nicht dämonischen Gewalttätigkeiten zu ,weihen‘.
In der 1961, kurz vor seinem Tod, von Eisler für die Pariser Inszenierung von Brechts
Schweyk im zweiten Weltkrieg nachkomponierten 1.Szene. In den höheren Regionen folgt
im Anschluss an Hitlers Frage: „Wie steht in Europa der kleine Mann zu mir?“ in den Celli
solo (T. 85-92) ein wörtliches Zitat der Tristan-Takte 1-3 und 8-113, bedeutsam vereint mit
der dem Reichsführer SS Heinrich Himmler in den Mund gelegten Ergebenheitsadresse
„Mein Führer“ (T. 88f.) und durch den nachfolgenden Himmlerschen Stimmungsbericht,
der kleine Mann bete ihn „zum Teil“ an „wie einen Gott und zum Teil“ liebe er ihn „wie
3 Bei dem Zitat von T. 8-11 fehlen der 3. Oberstimmenton e2 und der 2. Ton der Unterstimme
(ebenfalls e1), sodass die aufwärts wie abwärts geführten chromatischen Linien hier unterbrochen
werden.
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
eine Geliebte“, breiter ausgeführt. Aber bereits der Frage Hitlers ist die Cello-Eingangs
phrase unterlegt, subtextuell verklammert mit den Führer-Initialen, indem sie bedeutsam
vom a zum (nicht mehr originalen) h geführt wird (T. 81-85):
Notenbeispiel 9: Hanns Eisler – Schweyk im zweiten Weltkrieg (Bertolt Brecht)
1.Szene. In den höheren Regionen, T. 77-93
Im 1936 komponierten Lied der Kupplerin aus Brechts Rundköpfen und Spitzköpfen, einer
Parabel über die „unerhörte Verführungskraft“ (Brecht) faschistischer Phraseologie, den
weichen Repressionsapparat der Nazis also, erklingt der Tristan-Einstieg gar dreimal hintereinander, lediglich oktavversetzt unter der Textstelle „Wo ich Liebe sah und schwache
Knie, war’s beim Anblick von Marie [Geld also, T.P.]. Und das ist sehr bemerkenswert“
und ein weiteres Mal – kurz vor Lied-Ende – unter „und der Grund ist: Geld macht
sinnlich“ (T. 14-19 u. T. 29-35, Notenbeispiel 10). Doch was ist der Grund, dass Eisler in
diesem „ordinär“ überschriebenen Kuppellied den Tristan gewissermaßen für den Zahlungsverkehr freigibt? An Brecht, dem das Lied zunächst nicht gefällt, schreibt Eisler, auf diese
Stellen hinweisend: „man soll die meister immer dort ehren wo es notwendig ist“ (Brief
vom 24.8.1936, zit. n. Klemm 1974, 112). Die ,Ehre‘, die er Wagner zuteil werden lässt –
so Eisler 1935 in seinem noch heute lesenswerten Aufsatz Musik und Musikpolitik im
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Thomas Phleps
faschistischen Deutschland –, diese ,Ehre‘ ist die Verwandtschaft seiner „im tiefsten Sinn
reaktionäre[n] Geisteshaltung“ mit „der der Faschisten, die die ,Erlösung‘ durch den
,Helden‘ (Führer) anstelle der Lösungen durch den Klassenkampf zu propagieren verpflichtet sind“ (Kapitel Richard Wagner, Eisler 1973, 343-346):
Notenbeispiel 10: Hanns Eisler – Lied der Kupplerin (Bertolt Brecht), T. 14-19 und T. 29-35
In diesem Zusammenhang tendiert das Zitieren der Tristan-Sequenzen zum Plakat politisch
korrekten Verhaltens, dessen aufklärerische Funktion die Enttarnung der allgemeinen, hypnotisierenden „Wirkung der Wagner’schen Opiummusik“ als Prototyp musikalischer Vernebelungstechnik im Faschismus zum Ziel hat.
Eislers eigene, erklärende Worte zu den Szenen der Höheren Regionen im Schweyk
bringen die Funktion dieses politisch korrekten, ernsthaften Umgangs mit dem Tristan auf
den Punkt: „Die Musik ermöglicht die Darstellung der deutschen Barbarei; ohne Parodie,
Karikatur, ohne die beliebten Kabarettscherze. Verbrecher werden als Verbrecher gezeigt.
Die Musik bleibt ernst und ohne gute Laune, auch nachdem gesiegt worden ist. Dort hört
man so traurig berühmte Herren singen wie Hitler, Göring, Himmler [...] In diesen Stücken
zitiere ich reichlich Wagner, weil er der Lieblingskomponist der Nazis war [...] Die Musik
der ,Höheren Regionen‘ – das ist Sentimentalität und Unrat, das sind die Reste der falschesten und widerlichsten Romantik. Eine distanzierende Musik; erbarmungslos, böse Enthüllung“ (zit. n. Schebera 1974, 92).
Der Versuch einer rationalen Bewältigung des ,Falles Wagner‘ zieht sich wie ein roter
Faden durch Eislers Schriften. Immer wieder sucht Eisler die Widersprüchlichkeiten der
eigenen musikalischen Erfahrung mit dieser Musik in ein dialektisches Spannungsverhältnis
zu zwingen, das einerseits vor „unkritischem Wagnertum“, den bedenklichen musikalischinhaltlichen Ausdruckscharakteren – er nennt des Öfteren Sentimentalität (statt Empfindungen), Schwulst (statt Größe), Bombast (statt Kraft) – , überhaupt der dekadenten, faschismusnahen Geisteshaltung warnt, zugleich aber auch vor einer „oberflächlichen Ablehnung“
Wagners, die sein „kühnes Neuerertum“, seine „revolutionäre Materialbehandlung“, über-
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
haupt seine Musik als Scharnierstelle zur Neuen unterschätzt (Eisler 1982, 232f.). Die
Bewältigungsstrategien Eislers gipfeln in der wahrhaft dialektischen Notiz von 1952: „Wer
ist für Wagner? ( – außer ich?)“ (ib., 239).
3) Während die beiden bislang präsentierten semantischen Schichten in ihrer musikalischen
Substanz Wagner pur präsentieren und zumindest für den Ein- resp. Nachtgeweihten
unüberhörbar als bedeutungstragendes Fremdmaterial in die Musik geschoben werden,
verfährt die dritte weitaus unauffälliger. Aus gutem Grunde, denn sie ist nicht – wie Schicht
1 und 2 – vom äußeren Anlass, letztlich dem politischen Engagement Eislers abgezogen,
sondern als musiksprachliche Chiffre persönlichen psychischen Niedergedrücktseins, der
depressiven Grundbefindlichkeit des Komponisten in seine Musik eingelassen. Hier arbeitet
sie in gleicher Weise unter Ausschluss der Öffentlichkeit wie seine agile, verschiedensten
geistigen Freuden des Lebens zugewandte Außenansicht und sein allseits goutierter Witz
das „so schmerzliche“ Innenleben lebenslang im Verborgenen zu halten vermochte. Wenig
bekannt übrigens, dass Eisler bereits zu Beginn der 1920er Jahre in seinem Tagebuch dieses
„Scheindasein“ bis hin zu Suizidgedanken reflektierte und eine Oper mit dem Titel Der Tod
konzipierte (Eisler 1983, 11f.).
Notenbeispiel 11: Hanns Eisler – Sechs Lieder op. 2, VI (Klabund), T. 1-4
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Zur gleichen Zeit entstanden auch die Sechs Lieder op. 2, deren letztes die Anfangszeile des
zugrundeliegenden Klabund-Gedichts – „Ich habe nie vermeint mich selber zu erkennen“ –
gleich mehrfach kodiert (T. 1-4). „Zu erkennen“ zitiert das ,Schicksalsmotiv‘ aus Wagners
Walküre, im Klavier melodisch gedoppelt, in der anschließenden textfreien Passage variierend wiederholt und im nächsten Takt bedeutsam in eine nur wenig modifizierte Übernahme des ersten Taktes vom Finale der 1. Klaviersonate Eislers geführt. Zudem durchzieht
der Tristan-Einstieg das gesamte Lied – deutlich semantisiert bereits zu Beginn, wo der
Akkord in Originalgestalt, allein den Basston in die Gesangsstimme verlagernd, das Textwort „nie“ infiziert. 4 Dass in diesem Ich-Lied tatsächlich das kompositorische Subjekt
spricht, stellt die Tonbuchstabensignierung h1 (anns) – e1 (isler) von „selber“ (harmonisch
zu E-Dur erweitert) außer Frage. Das zweite Lied aus op. 2 bestätigt diese Bedeutungsebene
des Tristan-Akkords, indem es die Anfangszeile „Ach, es ist so dunkel“, zunächst weitergeführt mit „in des Todes Kammer“, am Schluss wiederholt und nicht nur mit einem Ausrufezeichen versieht, sondern auch mit dem Tristan-Akkord:
Notenbeispiel 12: Hanns Eisler – Sechs Lieder op. 2, II (Klabund), T. 12-14
Nun ist der Rekurs auf die „süße / heil’ge / ew’ge Nacht“ Wagnerscher Todessehnsucht –
zumal im Kontext der Nacht- und Todeslieder Op. 2 – durchaus als Stilmittel des jungen
aufstrebenden Komponisten anzusehen und weniger als Ausdruck einer depressiven
Lebensphase – freilich schon hier nur unter Verzicht auf die in Eislers Tagebuch aphoristisch verschlüsselten Reflexionen über die Gefahr, „gut gestimmt zu sein“ (Eisler 1983, 14).
Wenige Jahre später indes ist in dem bedeutsamen Lied „Depression“ aus dem (komponierten) Tagebuch des Hanns Eisler op. 9, das den im Jahr 1926 erfolgten Bruch mit Schönberg
verblüffend direkt protokolliert,5 die Chiffre deutlich definiert. Hier kommentiert der
Akkord den Konflikt und den damit verbundenen psychischen Druck, den die Aufkündigung der eingeforderten Vasallentreue durch den – in der von Eisler „präzisierten“ Diktion
des ,Meisters‘ – „mit Modeworten vollgepfropften ,dernier cri‘-Bürgerknaben“ (zit. n. Eisler 1976, 31) zur Folge hat: Nachdem zu Liedbeginn unter der an Schönbergs Schmährede
4 Alle drei Zitatnachweise verdanke ich Károly Csipák (1975, 257).
5 In diesem Zusammenhang hochbedeutend: Das Lied beginnt (in Teil II des Tagebuchs) in T. 139
und endet in T. 167 – und d. h. 13. 9. = Geburtstag Schönbergs, 6. 7. = Geburtstag Eislers.
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
angelehnten Zeile „Wenn man ein dummer schlechter Bürgerknabe ist“ (T. 1-3) der Einstieg
des weihnachtlichen Freudenliedes O du fröhliche erklungen ist, schließt das Klavier unter
der Folgezeile „O wie alles häßlich ist“ (T. 4f.) ein Zitat des vierten Liedes aus Schönbergs
15 Liedern nach Stefan George op. 15 an: „Da meine Lippen reglos sind“. Innerhalb dieser
Zitatballung wird nun der Tristan-Akkord exakt unter das Textwort „schlechter“ platziert,
Bezug nehmend auf die fatalen Folgen des Zaubertrankgenusses, der im Tristan durch den
Verzicht auf einen eigenen Willen zum Verlust des Lebenswillens führt:
Notenbeispiel 13: Hanns Eisler – Tagebuch des Hanns Eisler op. 9, Depression, T. 1-5
Allerdings darf man hier das musikalische Umfeld nicht außer Acht lassen, denn der
„Depression“ folgt mit dem „Guten Rat“, „doch nicht so niedergeschlagen“ zu sein, ein
Lied, das die Internationale mit der Quartenrakete aus Schönbergs 1. Kammersinfonie und
den bewusst unpräzisen Schönberg-Initialen A – Dis zusammenprallen lässt – aber auch
hier, in diesem zweiten Zitat- und Anspielungsfeuerwerk des Tagebuchs erklingt erneut der
Tristan-Akkord, im Anschluss an einen vierstimmigen Internationale-Kanon und zu den
aufmunternden Worten „Frisch sein!“, dem freilich die Tristanlose Aufforderung „Die
Augen auf statt zu!“ folgt.
Zu Zeiten des erzwungenen Exils, das den Ausnahmezustand zur Normalität und den
Willen zum Überleben zur unverzichtbaren Voraussetzung seiner tagtäglichen Bewältigung
erklärt, wird diese dritte semantische Schicht des Tristan-Einstiegs, die subkutane Chiffre
der Depression, zum Inventar Eislerschen Komponierens – vielfach präsent spätestens
1939, als sich die „finsteren Zeiten“ für den durch Deportationsdrohungen Verunsicherten,
vom Kriegsbeginn Verschreckten und aufgrund seiner Missbilligung des Hitler-StalinPaktes zum Renegaten Abgemusterten potenzieren.
Diesen verzweifelt-desolaten Zustand des Komponisten enthüllt u.a. der am 26. Oktober 1939 in New York komponierte Spruch 1939: „In den finsteren Zeiten, wird da noch
gesungen werden? Ja! Da wird gesungen werden von den finsteren Zeiten.“ Die musiksprachlichen Kanäle, die sich zur Semantik dieser Brecht-Vertonung verbinden, werden aus
Quellen gespeist, die allesamt der meist im Exil entwickelten personalen Musiksprache des
Komponisten entspringen und sich hier auf engstem Raum zu einem kleinen Kompendium
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seiner dodekaphonen Verfahrensweisen und musiksprachlichen Bedeutungsträger verdichten:
Notenbeispiel 14: Hanns Eisler – Spruch 1939 (Bertolt Brecht), T. 11-13
In der Begleitung zweimal die Depression-Chiffre Tristan-Akkord, durch die Gesangstöne
h1 und e1 zusätzlich personalisiert. Dazu die exiltypische B-A-C-H-Motivformel, deren
konventionelle Symbolebene als Trauergestus bei Eisler semantisch insofern eingegrenzt
ist, als sie – spätestens mit Kompositionsbeginn der Deutschen Sinfonie im Jahr 1935 – die
Trauer um die Niederlage und die Opfer der Arbeiterklasse im Kampf gegen Unterdrückung
und Faschismus markiert. Und in der Melodie eine Anapäst-Figur repetierter Töne, die –
nicht zuletzt aufgrund der identischen rhythmischen Struktur – seit der Weimarer Republik
als eislertypischer Symbolträger des Begriffs Klassenkampf fungiert.6 Dieses Klassenkampf-Signet kehrt – vierstimmig und fortissimo akzentuiert unter die Oberstimmenmelodie
e3–h2 geschoben – im Klaviernachspiel des Liedes wieder und präzisiert unmissverständlich, wovon Eisler „in den finsteren Zeiten“ singen muss. Vom antifaschistischen (Klassen-)
Kampf nämlich, der durch den stalinistischen Bruderkuss mit Nazi-Deutschland am 27.
August 1939 zur Disposition gestellt und durch den Überfall auf Polen am 1. September
1939 in eine neue Phase getreten ist.
Die Zeiten bleiben finster, aber sie ändern sich. Eisler, seit April 1942 nach Los Angeles, in die Nähe Hollywoods also übergesiedelt und zum erfolgreichen oder zumindest:
geschätzten Filmmusikkomponisten avanciert, fasst die ersten Eindrücke des Freundes
Brecht mit der nach den Engeln benannten Stadt in 5 Elegien zusammen, die zwar einen
neuen Ton anschlagen, sich aber weiterhin der bewährten musiksprachlichen Bedeutungsträger bedienen. In der vierten Elegie, die ihre Dialektik mit den Begriffen Paradies und
Hölle treibt, verbinden sich einmal mehr Tristan-Akkord, H-E-Initiale und KlassenkampfSignet (T. 8-10).
6 Das hat Manfred Grabs (1974, 118), ausgehend von Eislers Musik zur Maßnahme (1930), überzeugend nachgewiesen.
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
Notenbeispiel 15: Hanns Eisler – (Hollywood) Elegie 4 (Bertolt Brecht)
Der neue Ton, den Eisler in den Hollywood-Elegien anschlägt, dieser milde, Schärfe vermeidende Ton verdichtet sich in einer melodischen Wendung, die erstmals in dem am 18.
April 1943 als letztes der fünf Anakreontischen Fragmente komponierten Lied In der Frühe
(T. 213-27) aufscheint. Während sich die kriegerische Annexion der Grenzstaaten durch
Nazi-Deutschland schon längst zum Weltkrieg entgrenzt hat, führt In der Frühe textlich die
Kategorie Heimat ein und benennt in der Melodie offen das daran geknüpfte Heimweh als
das des Eisler Hanns (e2 und h1 bilden die jeweiligen Einsatztöne der wiederholten Zeile
„Mein arm heimatlich Land“). Das sind wahrlich neue Töne, die freilich beim zweiten
Auftritt dieser melodischen Wendung eine neue Perspektive erhalten. Im einen Monat
später komponierten ersten der Hölderlin-Fragmente – An die Hoffnung – tritt sie unter der
Zeile „Doch atmet kalt“ auf, jetzt verkoppelt mit dem Tristan-Akkord:
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Notenbeispiel 16: Hanns Eisler – Hölderlin-Fragmente, I. An die Hoffnung, T. 9-12
Hier präsentiert sich ein zunächst überraschender Widerspruch zwischen dem innig-warmen
Ton der melodischen Wendung und einem Text, dessen Zielperspektive kein „heimatlich
Land“, sondern der Tod ist. Dass darunter der Tristan-Akkord „gesanglos schlummert“
(unter diesen Worten erscheint er wenig später – in T. 17 – ein weiteres Mal)7, mag zunächst
der Rede vom Lebensabend verpflichtet sein, macht aber – zumal hier durchaus kein
Wonnereich der Nacht herbeigesehnt wird, sondern die Kälte den Tag aushauchen lässt –
eine inhaltliche Klärung nicht leichter.
Eine Aufhellung kommt von prominenter, aber unerwarteter Stelle, denn die bar jeglicher textlicher oder musikalischer Wiederholungen, gerade hier auf rhythmische Begleitformeln oder die am Anfang des Liedes exponierte Polyphonie verzichtende lakonischknappe Formulierung des ,Tatbestandes‘ ist als kompositorischer Gegenentwurf zur Vertonung des Hölderlin-Textes durch Max Reger angelegt. In diesem 1912 entstandenen,
romantisch-monumentalen Op. 124 für Alt und Orchester wird zwar ständig von „Hoffnung“ gesprochen, die musikalische Rede aber ist ein einziger resignativer Seufzer, oder
wie Albrecht Dümling (1981, 80) einst formulierte: „ein Versinken in nächtliche Träume
oder eine ästhetische Sehnsucht zum Tode wie in Wagners ,Tristan’“. Entscheidend allerdings ist, dass Regers Komposition reger Gast auf Heldengedenkfeiern war, zumal im
faschistischen Deutschland, in dem solcherart formulierte Nachtgedanken vom schönen Tod
resp. Heldentod schon vor Kriegsbeginn bei den Volksgenossen die allein darauf abgestellte
Konjunktur ideologisch ankurbeln halfen. Dass Eisler hier tatsächlich gegen die zum
Heldengedenken und -produzieren funktionalisierte Musik Regers ankomponiert, stellt sein
diskreter Verweis exakt an dieser widersprüchlichen Stelle außer Frage:
7 Zuvor erklang er bereits unter dem Wort „Haus (der Trauernden)“ (T. 2) und in durch eine
Zusatznote und Oktavierungen verunklarter Form beschließt er das Lied, rekurrierend auf die
Instrumentaltakte vor der Frage „Wo bist Du?“ (T. 4-6). Auch in der Elegie 1943, dem dritten der
Hölderlin-Fragmente, erklingt der Akkord über zwei Takte unter den Worten „dem gärenden
Geschlecht“.
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
Notenbeispiel 17a: Hanns Eisler – An die Hoffnung, T. 10-12
Notenbeispiel 17b: Max Reger – An die Hoffnung op. 124, T. 48f.
An eine Stadt, das fünfte der Hölderlin-Fragmente, führt den im Affront gegen die hoffnungslos funktionalisierte Musik Regers entwickelten unsentimentalen Ton der Innigkeit
weiter aus. In diesem exquisiten ,Schubertlied‘ (das allerdings nicht – wie häufig bei Eisler
– auf der montierenden Transformation Schubertscher Originalmusik basiert, vgl. Phleps
1988 u. 1989) wechselt ein liedhaft geführter Refrain mit betont gestisch gestalteten Zwischenteilen. Der fast liebenswürdige melodische Charme des Refrain entfaltet sich aus dem
Verbund melodische Wendung und Tristan-Akkord und schiebt den vom B-A-C-H-Motiv
repräsentierten Traueraspekt „kühl, höflich und zärtlich“ in die dialektische Konstellation
von „Rückerinnerung“ und „Vorblick auf die Zukunft“ (Eisler 1975, 193 u. 261). Im ersten
Refrain (T. 1-10) werden gefährdete Begriffe wie „Mutter“ oder „Vaterlandsstädte“ durch
die Positionierung auf leichte Taktteile oder Triolierung von ihrer ideologischen Belastung
entbunden, die „Vaterlandsstädte“ indes und im letzten Refrain ihre „fröhlichen Gassen“
gleichzeitig vom Tristan-Klang neu signiert. Beim zweiten Auftritt des Refrain erklingen
melodische Wendung und Tristan-Akkord übrigens exakt und bedeutungsvoll unter der
Zeile „fesselt’ der Zauber auch mich“ (T. 41). Und in der Tat hat sich diese Kombination zu
einer Chiffre der Sehnsucht verdichtet, die das letzte Hölderlin-Fragment, Erinnerung,
ebenso infiziert wie weitere Werke aus dieser Zeit (bspw. Die Heimkehr).
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Thomas Phleps
Notenbeispiel 18: Hanns Eisler – Hölderlin-Fragmente, V. An eine Stadt, T. 1-10
Außer in dieser Kombination melodische Wendung und Tristan-Akkord scheint mir die
Aufgabe, einen Ton der Innigkeit fern jeglicher Sentimentalität zu komponieren, von Eisler
am klarsten und – wenn Sie erlauben: schönsten im Lob des Kommunismus aus Brechts
Mutter gelöst, textlich wie musikalisch in der Tat „das Einfache, das schwer zu machen ist“
– und dieses musikalisch mehrfach mit den Tristan-Akkord: hier allerdings harmonisch
deutlich gekennzeichnet als V. Stufe von G-Phrygisch (d-f-as-c; cf. T. 5 und 22).
Notenbeispiel 19: Hanns Eisler – Lob des Kommunismus (Bertolt Brecht), T. 20-28
Nur am Schluss – und dies auch erst in der Ende 1950 für das Berliner Ensemble
entstandenen Fassung – verwandelt die Flöte (ganz kurzfristig) mit ihrem e2 die phrygische
I. Stufe, g-Moll also, in einen freilich den Bass in den Hochton verlagernden Tristan-Klang.
Wie diese kompositorische Maßnahme Eislers zu deuten ist, bleibt mir ein Rätsel, zu dessen
Lösung ich nicht beizutragen vermag.
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Verkehrswege des Tristan-Akkords bei Hanns Eisler
Literatur
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Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1972
Adorno 1977
Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 13: Die musikalischen Monographien. Hrsg. von
Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21977
Busch/Klüppelholz 1983
Hermann J. Busch und Werner Klüppelholz (Hrsg.): Musik – gedeutet und gewertet. Texte zur musikalischen Rezeptionsgeschichte, München u. Kassel: dtv / Bärenreiter 1983
Christensen 1987
Thomas Christensen: Schoenberg's Opus 11, No. 1. A Parody of Pitch Cells from Tristan, in: Journal
of the Arnold Schoenberg Institute 10, 1987, Nr. 1, S. 38-44
Csipák 1975
Károly Csipák: Probleme der Volkstümlichkeit bei Hanns Eisler (= Berliner musikwissenschaftliche
Arbeiten, Bd. 11), München u. Salzburg: Katzbichler 1975
Dümling 1981
Albrecht Dümling (Hrsg.): Friedrich Hölderlin vertont von Hanns Eisler, Paul Hindemith, Max
Reger, München: Kindler 1981
Eisler 1973
Hanns Eisler: Musik und Politik. Schriften 1924-1948. Textkritische Ausgabe von Günter Mayer
(= Gesammelte Werke, Serie III, Bd. 1), München: Rogner & Bernhard 1973
Eisler 1975
Hanns Eisler: Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Übertragen und erläutert
von Hans Bunge (= Gesammelte Werke, Serie III, Bd. 7), Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik
1983
Eisler 1976
Hanns Eisler: Materialien zu einer Dialektik der Musik. Hrsg. von Manfred Grabs, Leipzig: Reclam
1976
Eisler 1982
Hanns Eisler: Musik und Politik. Schriften 1948-1962. Textkritische Ausgabe von Günter Mayer
(= Gesammelte Werke, Serie III, Bd. 2), Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1982
Eisler 1983
Hanns Eisler: Musik und Politik. Schriften. Addenda. Textkritische Ausgabe von Günter Mayer
(= Gesammelte Werke, Serie III, Bd. 3), Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1983
Golther 1920
Wolfgang Golther (Hrsg.): Richard Wagner an Mathilde Wesendonk. Tagebuchblätter und Briefe
1853-1971, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1920 (74.-83. Aufl.)
Gostomsky 1976
Dieter Gostomsky: Tonalität – Atonalität. Zur Harmonik von Schönbergs Klavierstück op. 11, Nr. 1,
in: Zeitschrift für Musiktheorie 7, 1976, H. 1, S. 54-71
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Thomas Phleps
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Akademie der Künste der DDR 1974, S. 114-129
Klemm 1974
Eberhardt Klemm: Hanns Eisler an Bertolt Brecht 1933 bis 1936. Briefexzerpte und Kommentare,
in: Deutsches Jahrbuch für Musikwissenschaft für 1972, Leipzig: Peters, S. 98-113
Kurth 1923
Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Berlin: Max Hesse 31923
Mann 1984
Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Frankfurt/M.: Fischer
1984
Notowicz 1971
Nathan Notowicz: Wir reden hier nicht von Napoleon. Wir reden von Ihnen! Gespräche mit Hanns
Eisler und Gerhart Eisler. Übertragen und hrsg. von Jürgen Elsner, Berlin: Verlag Neue Musik 1971
Petersen 1989
Peter Petersen: „. . . eine Form und ein Name: Tristan“. Strukturelle und semantische Untersuchungen an Hans Werner Henzes Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester, in: Verbalisierung und
Sinngehalt. Über semantische Tendenzen im Denken in und über Musik heute. Hrsg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 21), Wien u. Graz: Universal Edition 1989, S. 148-176
Phleps 1988
Thomas Phleps: Die Kunst zu erben oder Was haben Hanns Eislers Wiegenlieder mit Franz Schubert zu tun?, in: Neue Zeitschrift für Musik 149, 1988, H. 11, S. 9-13
Phleps 1989
Thomas Phleps: „Das wird ein Winter, mein Junge!“ – Anmerkungen zu Hanns Eislers Ballade von
den Säckeschmeißern, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 31, 1989, H. 2, S. 118-130
Poos 1987
Heinrich Poos: Die Tristan-Hieroglyphe. Ein allegoretischer Versuch, in: Richard Wagner – Tristan
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Reich-Ranicki 1999
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999
Schebera 1974
Jürgen Schebera: Bühnenmusik im Eislerschen Vokalschaffen, in: Hanns Eisler Heute. Berichte,
Probleme, Beobachtungen. Hrsg. von der Akademie der Künste der DDR. Redaktion Manfred Grabs
(= Forum Musik in der DDR, Arbeitsheft 19), Berlin: Akademie der Künste der DDR 1974, S. 85-94
Schönberg 1966
Arnold Schönberg: Harmonielehre [1911], Wien: Universal Edition 71966
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