musik & bildung aus Musik & Bildung 4/1997 Zusatzmaterial Heft 1/2002 Werkaneignung als Zeit-Prozeß Das Präludium aus Hanns Eislers „Deutscher Sinfonie“ in der Oberstufe Niko Lamprecht Eislers „Deutsche Sinfonie“ – politische Musik in der Sek. II Manchmal finden sich Werke, denen Geschichte wie eingebrannt ist- mit hörbaren „Brandschichten“: Hanns Eislers Deutsche Sinfonie gehört mit Sicherheit dazu. Schon der Titel (als Symbol des „anderen“ Deutschland nach 1933) zeigt das politische Bewußtsein des Komponisten. Eisler (1898-1962) schreibt das Werk im Exil; in Schüben entstehen 1935 bis 1939 die ersten zehn Sätze der Sinfonie an verschiedenen Orten (Moskau, Paris, USA...), aus unterschiedlichsten Intentionen und Situationen heraus. Zunächst geht es Eisler und seinem Texter Brecht „nur“ um den Protest gegen den NSStaat, ab Kriegsbeginn werden die Klänge und Texte der Sinfonie auch zum Zeichen der Humanität in einer barbarischen Zeit: „Seht unsere Söhne, es ist ihnen kalt!“ heißt es im 11. und letzten Satz, welcher 1957 beendet wurde. Gemeint sind – wie in einer Rückblende – alle Opfer des Faschismus, in den KZs, an den Fronten ... Weitere Brandschichten betreffen die Rezeption: 1937 wird eine Teil-Uraufführung anläßlich einer IGNMTagung in Paris durch Intervention HitlerDeutschlands abgesetzt.1 Auch nach 1945 macht sich die Sinfonie rar, die DDR läßt das Werk ihres „proletarischen Komponisten“ zwar 1959 uraufführen, die Komplexität der Musik stößt im realen Sozialismus aber eher auf freundliches Befremden: Massen ließen sich dafür nicht begeistern. Der kapitali- 1 stische Westen wiederum wartet – sicher nicht aus musikalischen Gründen – mit der Erstaufführung bis 1983. Anno 1997 kann man sich hoffentlich mit mehr Gelassenheit dem Werk annähern – ich versuche es hier exemplarisch und behutsam, sozusagen „Adagio con brio“: Die Entdeckung der Langsamkeit – oder: Werkaneignung in der Oberstufe als Zeit-Prozess Frei nach Nadoinys Roman mochte ich für die Oberstufe ein Modell der Werkannäherung vorstellen, welches unserer medialen und bald vielleicht virtuellen Umwelt mit ihrem Trend zur schnellen (und dadurch oberflächlichen?) Wirklichkeitsaneignung das Gegenbild langsamer und organisch entwickelter Schritte entgegenstellt. Schließlich gewinnt Nadoinys Held auch mit den Tugenden der Langsamkeit (Sorgfalt und Konstanz) sein Selbstvertrauen und findet seine Lebensaufgaben ... Ich gehe von folgenden Vorgaben aus: • Trotz Lehrplanvorgaben etc. muß der Oberstufenunterricht frei von Zeitdruck sein.2 • Der Werkaneignungsprozeß sollte möglichst „organisch“ und „ganzheitlich“ verlaufen! Die „Erledigung“ von Musikstücken im 45-Minuten-Takt kommt meiner Meinung nach ihrer Hinrichtung gleich! Um schülerseits Hör- bzw. Rezeptionsblockaden3 auszuschließen, muß der Unterricht neben den theoretisch- analytischen Feldern auch emotionale Reaktionen zulassen und anregen. • Musik muß als „Phänomen“ vorurteilsfrei erleUbar gemacht werden. Wie bei Martin Wagenscheins Anregungen für Naturwissenschaftler sollte auch der Musiklehrer ein Stück im Hinblick auf Einzelphänomene „neu“ hören lernen; er muß in die Erlebniswelt des (meist naiven) Erst-Hörers (= Schüler) hineinschlüpfen können. • Die „Dramaturgie des Unterrichts“4 und die Staffelung der Anspruchsebenen müssen stimmen: Bei der Werkannäherung sollten emotionale Primärerfahrungen im Vordergrund stehen; allmählich wächst dann der analytische Anteil; erst gegen Ende sucht man Jetzt mit der Partitur) nach Zusammenhängen, versucht das Werk als Ganzes bzw. als Form zu erfassen oder umzusetzen. Schwächere Schüler haben dadurch zumindest einen vagen „Umriß“ gewonnen: „Die letzten Sachen habe ich nicht ganz verstanden – aber ich kenne das Stück jetzt sehr gut!“ Aus den Vorbemerkungen ergibt sich der epochale Charakter, welcher nicht Unterrichtseinheiten von zwei bis vier Stunden, sondern Zeitintervalle von vier bis sechs Wochen als Maß erfordert. Zum Unterricht 1. Stunde Konfrontation – Erstwahrnehmung Vorinformationen werden nicht gegeben. „lhr hört jetzt ein euch vielleicht unbekanntes Stück. Schreibt beim Hören musik & bildung Zusatzmaterialien Heft 1/2002 (oder danach) auf, was euch zur Musik einfällt, wie sie auf euch wirkt, was sich in ihrem Verlauf verändert.“ Man hört das Stück ein- oder zweimal, einzige Regel: Beim Hören und nacKfolgenden Schreiben wird nicht diskutiert, es geht um Eigen-Erfahrungen. Ich persönlich sammie diese Spontantexte (siehe Abb. S. 17) dann ein und lese sie daheim. Sie vermitteln interessante Werkprofile und geben zudem Aufschluß über die Persönlichkeiten der Schüler. Wer diese Arbeit scheut, kann natürlich im Gespräch ein Brainstorming versuchen. 2. Stunde Musik – Emotion – Sprache Vorarbeit: Die wichtigsten, häufigsten oder originellsten Begriffe/Aussagen der Spontantexte werden auf Overheadfolie übertragen, wobei sich zwei Wege anLieten: • Die Schüleraussagen sind bereits dem Werkverlauf entsprechend „chronologisch“ geordnet, beim Hören geht es dann nur um den Mitvollzug (und ggf. die Ergänzung) der Zuordnungen. • Man sortiert die Aussagen zwar nach Werkabschnitten, würfelt sie aber durcheinander. Dann muß die Gruppe hörend zuordnen: Was beschreibt den Anfang des Stückes? Welche Begriffe passen zum Mittelteil? Je nach Lerngruppe ergeben sich hier bereits interessante Diskussionen, in denen oft schon gezielt musikalische Prozesse verbalisiert werden. Der Gesprächsleiter sollte hier nicht zu sehr forcieren, der Weg bleibt das Ziel. 3. bis 5. Stunde Hör-Aufgaben Jeweils zu Beginn der Stunden wird das Gesamtstück gehört. Dann kommen gezielte Höraufträge, (je nach Lerngruppe gemischt): „Welche Taktart hat das Stück? Wiederholen sich Abschnitte? Wo taucht ein Dauerton (Orgelpunkt) auf?“ –Es kommt nur darauf an, die emotionale Gesamt-Erfahrung jetzt langsam zu differenzieren, in jeder Stunde Einzelphänomene wahrzunehmen. „Welches musikalische Mittel sorgt jeweils für die Eindrücke?“ 2 M3 Präludium der „Deutschen Sinfonie“ O Deutschland, bleiche Mutter! Wie sitzest du besudelt Unter den Völkern. Unter den Befleckten Fällst du auf. Von deinen Söhnen der ärmste Liegt erschlagen. Als sein Hunger groß war Haben deine anderen Söhne Die Hand gegen ihn erhoben. Das ist ruchbar geworden. Mit ihren so erhobenen Händen Erhoben gegen ihren Bruder Gehen sie jetzt frech vor dir herum Und lachen in dein Gesicht. Das weiß man. In deinem Hause Wird laut gebrüllt, was Lüge ist Aber die Wahrheit Muß schweigen. Ist es so? Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber Die Unterdrückten beschuldigen dich? Die Ausgebeuteten Zeigen mit Fingern auf dich, aber Die Ausbeuter loben das System Das in deinem Haus ersonnen wurde! Und dabei sehen dich alle Den Zipfel deines Rockes verbergen, der blutig ist Vom Blut deines Besten Sohnes. Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man. Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer Wie beim Anblick einer Räuberin. O Deutschland, bleiche Mutter! Wie haben deine Söhne dich zugerichtet Daß du unter den Völkern sitzest Ein Gespött oder eine Furcht! Bertolt Brecht musik & bildung Zusatzmaterialien Heft 1/2002 6. bis 8. Stunde Partiturarbeit Partituren erwecken manchmal – speziell in Grundkursen – Berührungsängste. Die Vertrautheit mit dem Stück senkt jedoch diese Schwelle, dennoch empflehlt sich das von Dickreiter5 dargestellte Verfahren des langsamen Synchronisierens. Man hort Abschnitt fur Abschnitt durch, marViert die jeweils fuhrenden Stimmen, geht auch spielerisch mit der Partitur um: Man präsentiert einen Kurzabschnitt und laßt ihn lokalisieren, oder man macht Hörburchgange mit Unterbrechungen: „ln welchem Takt befinden wir uns jetzt?“ Zuletzt werden die Aussagenblöcke der zweiten Stunde zugeordnet, Notentext, Klang und Emotion werden so vernetzt. 9. bis 12. Stunde Struktur-Analyse Falls noch nicht geschehen, ordnet man spatestens jetzt die Hörabschnitte aus der 2. Stunde bestimmten musikalischen Prozessen bzw. Parametern zu. Neben diese Vernetzungsarbeit treten Strukturund Formfragen. Ausgehend von der zu Beginn gegebenen Reihe kann man die Dodekaphonie (in nationalsozialistischer Sicht „musikalischer Bolschewismus“) einfuhren (M 1), die nachfolgenden Verarbeitungswege (Krebs, Umkehrung etc.) evtl. auch verfolgen. Die Harmonik, Rhythmik, Dynamik etc. Können – je nach Lerngruppenstand – isoliert oder synchron untersucht werden, in jedem Fall soll jetzt die Partitur zum Analyse-Steinbruch werden. Die Begriffe „Sinfonie“ und „Praludium“ sollten ebenfalls diskutiert werden. Der bereits vor 1933 entstandene Kampfbegriff des „musikalischen Bolschewismus“ (und seine spezifische Anwendung auf die „gleichberechtigten“ Töne der Dodekaphonie) wäre natürlich fast eine eigene Unterrichtsreihe wert (vgl. Eckhard John, Musikbolschewismus, Stuttgart-Weimar 1994, bes. S. 30 und 336 ff.; s. a. Ulrich Dibelius, Herausporderung Schonberg, München 1974, S. 110 ff.)! 13. und 14. Stunde Werk-Kontext „Wer nur Musik versteht, versteht auch diese nicht!“6 – man sollte jetzt die in- 3 haltlichen Ebenen des Stückes angehen. Diverse Wege sind moglich: • Biographiearbeit: Erforschung derVita Eislers (evtl. auch Brechts) per Hausaufgabe und folgender Auswertung. • Zeiten- und Funktionswandel: Intentionen und Intentions- bzw. FunktionsUrechungen bei Eisler und der Deutschen Sinfonie 1935 ff. (M 2). • „Entartete Musik": Welche rassischen, politischen und musikalischen Positionen verbargen sich hinter diesem NSKampfbegriff? Wäre Eisler auch als NichtKommunist verboten worden?7 • Kontrastierung: Wie klang 1933-45 die NS-gemaße Musik? Ein krasses Beispiel ist beispielsweise Schenkendorfs HitlerHymne (H B 4). • Sprache und Musik: Welche Verbindung gehen sie im „Präludium“ ein? Weshalb veränderte Eisler die Textvorlage Brechts (M 3)? – Aktualisierung: Ist die Deutsche Sinfonie bereits zum historischen FossTl geworden (M 4)? 15. bis...? Stunde Gesamtbild/Transposition Ein zusammenfügender, vielleicht auch künstlerischer Abschluß rundet die Sequenz ab. Ich sehe verschiedene Varianten: • Persönlicher Bericht: Wie habe ich die Epoche erlebt? Welche Zugänge haben sich mir geöffnet? Wo lagen die Probleme? • Strukturschema: Mit Hilfe eines Musterblattes bemüht sich jeder Schüler um ein zusammenfassendes Ubersichtsblatt zum Werk (M 5). • Transposition: Mit den altbewährten Mitteln der graphischen Notation oder „frei“ (Beispiele von Klee oder Kandinsky kann man vorher zeigen) wird der Werkverlauf visuell umgesetzt. Diese „Bilder“ vertiefen oft noch einmal die Wahrnehmung, da die Klänge in ihrer Qualität („warm – kalt, scharf – weich“ usw.) erfaßt werden müssen. • Textarbeit für die Oberstufe/den Leistungskurs: Lektüre einer musikwissenschaftlichen Deutung/Analyse des Werkes. Die theoretische Uberfrachtung solcher Texte ist nunmehr durch die Bekanntschaft mit dem Werk gemildert, die Schüler wissen zumindest, worauf sich derAutor (in seiner Sprache) bezieht. Die Barriere von gleichzeitiger Nicht-Bekanntschaft mit Werk und Text entfällt. Variante hierzu: Man zerteilt den zu behandelnden Text in beliebige Abschnitte und läßt die Schüler das „Puzzle“ zusammenfügen: Welche Stelle wird jeweils beschrieben? Die Musik-SpracheZuordnung (vgl. z. Stunde) vollzieht sich jetzt auf hohem Niveau. 1 Phleps, Thomas: Hanns Eislers „Deutsche Sinfo- nie“, Kassel u. a. 1988, S. 58. 2 Vgl. Rumpf, in: „Erkenntnisse lassen sich nicht weitergeben wie Informationen“, Seminar-Reader Gesamthochschule Kassel, FB 1 1985/86; siehe auch Joerger: Einführung in die Lernpsychologie, Freiburg u. a. 121987. 3 Siehe Sievritts: Original undArrangement, Wiesbaden 1989, S. 3-11. 4 Vgl. Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, Heidelberg 1959. 5 Dickreiter: Partiturlesen, Mainz 31988. 6 frei nach Lemmermann bzw. Lichtenberg, vgl. Lemmermann: Musikunterricht, Bad Heilbrunn 31984, S. 131. 7 Gute Einführungen bieten hierzu Dümling/Girth: Entartete Musik, Düsseldorf 1988, S. 5-9, 127-149; Rösing/Oerter/Bruhn (Hg.): Handbuch Musikpsychologie, München/Wien/Baltimore 1985, S. 338 ff. Einstiegsliteratur zur Deutschen Sinfonie gibt es bei: Betz: Hanns Eisler: Musik einer Zeit, die sich eben bildet, München 1976. Dümling/Girth: Entartete Musik, Düsseldorf 1988, S. 176-179. Gerhartz: „Furcht und Elend des Faschismus“, in: Konzertführer Alte Oper, Frankfurt/Main 19. 2. 1992 Phleps: Hanns Eislers „Deutsche Sinfonie, Kassel u. a. 1988. Partitur: Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1994. Wer den Beitrag mit allen Materialien und Bildern lesen will, kann das Heft beim Leserservice von Musik & Bildung bestellen (solange Vorrat reicht): Musik & Bildung, Leserservice Weihergarten 5 55116 Mainz Telefon: 06131/246-857 E-mail: Zeitschriften.leserservice@ schott-musik.de